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Full text of "Aufsätze, Reden und Briefe"

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in  2010  with  funding  from 

University  of  Toronto 


littp://www.arcliive.org/details/p1  aufstzeredenOI  adle 


Victor  Adlers 
Aufsätze,  Reden  und  Briefe 


Herausgegeben  vom  Parteivorstand   der  Sozial- 
demokratischen Arbeiterpartei  Deutschösterreichs 


Erstes  Heft: 

Victor  Adler  und  Friedrich  Engels 


<i> 


Wien  1922 

Verlag  der  Wiener  Volksbuchhandlung 


153 
N-  \. 

Alle  Reclite    vorbehalten. 

Copyright  1922  by  Wiener  Volksbuchhandlung. 
Wien  VI,  Gumpendorferstraße  18 


9  38ö'^-' 


Inhaltsverzeichnis. 

Seit« 

Victor  Adit'is  Aufsätze,  F{eden  und  Briefe IV 

Victor  Adler  und  Friedrich  l^ngels.  Vorbemerkuugeu VI 

I.  Bis  zu  Engels'  Tod. 

Briefe:  -liinner  18«8  bis  April  189<) i 

V  1-  i  e  d  r  i  c  ii    K  n  g  e  1  s    über    d  e  u    A  u  t  i  ^  e  in  1 1  i  s  in  ii  s    .    .    .    .  (i 

Der   4.  Mai    in    London.  \oh  FiitMlrich  FiigrU ,S 

Briefe:  November  1890 15 

Friedrich   Engels'  s  i  ebz  igs  te  r  CJeburt  >  tag  .    . 17 

Briete:  Dezember  ISiX)  bis  Juni  1891      20 

Engels  an  den  Parteitag  in  Wien  (189  1 ) 2H 

Briefe:  Juli  1S91  bis  Mai  1892. 27 

filngels  an  den  Parteitag  in  Wien  (1892) 88 

Briefe:  August  1892  bis  Oktober  1892 m 

Die  Wiener  M  ar\- Fei  er  1  89:^ .58 

Briefe:  März  189.S 66 

Aus  der  M  ailestschrifl  189^ 69 

E  n  g  e  1  s  i  n  W  i  e  n 70 

Briefe:  Oktober  189;;  bis  März  1894 77 

Engels  a  n  den  Parte  itai<-  in  Wie  n  (1894)       9.5 

Briefe:  April  1894  bis  .lull  1890 9<; 

II.  Aufsätze  und  Reden  Adlers  nach  Engels'  Tod. 

Friedlich  Engels  („Arbeiter-Zeitung",  11.  August  1895) 1:11 

Genosse  Leo  Franke!  (.Arbeiter-Zeitung".  :!1.  März  1896)      .   .   .  140 

E  1  e  0  n  0  r  M  a  r  x  -  A  v  e  1  i  n  g  tot  („ Arbeiter-Zeitun.ü",  4.  Ajtril  1898)  .  141 
Was    uns    Karl    Marx    ist    (Marx-Fesf-^chrift  der  <">steireichischen 

Sozialdemnkiatie,  März  1908) 14:i 

Der    X  a  c  h  1  a  ß    v  i  >  n    M  a  r  x.  F  n  ü-  e  1  >    und    1.  a  s  ^  a  1 1  e  (_  ArbeitPr- 

Zeitunp-,  1.").  März  190:}) lll 

Marx-Feier  1903  (Gedenkrede  am  16.  März  hm) 157 

]■;  i  n  Gede  n  klag  („Arbeiter-Zeitung",  5.  August   1905) 1  <.'; 

i;  i  H  Brief  von  Friedrich  l-^ngels  („Der  Kampf",  1.  März  1908)  176 
D  e  r  B  r  i  e  f  \v  e  c  ii  -.  e  1  z  \\  i  <  c  h  c  n  M  a  r  x  u  n  d  K  n  y  e  N  („Der  Kampf". 

1.  Oktober  191:}) 178 

Da<  .lahrli  u  n  dert  von  Karl  Marx  ( „Der  Wahre  .lakob",  April  1918)  187 


IV  Victor  Adlei-s  Aufsätze,  Reden  und  Briefe 


Victor   Adlers   Aufsätze,   Reden  und  Briefe. 

Was  Victor  Adler  uns  war,  ist  in  unser  aller  Be^^^ißtseln, 
denn  jeden  Tag  tritt  sein  Wirken  von  neuem  in  allen  Lebens- 
iiußerungen  der  österreichischen  Arbeiterbewegung  in  Erschei- 
nung. Der  Wunsch,  die  Lebensgeschichte  des  Mannes,  der  das 
österreichische  Proletariat  geeinigt  und  zu  entscheidender 
Machtstellung  geführt,  zu  besitzen,  ist  oft  geäußert  worden. 
Wir  wollen  mit  den  Vorarbeiten  für  die  Biographie  beginnen, 
indem  Avir  die  in  Zeitungen  und  Zeitschriften  verstreuten 
Aufsätze  und  Reden  Victor  Adlers,  ergänzt  durch  den  politisch 
wesentlichen  Teil  seines  Briefwechsels,  sammeln  und  ver- 
öffentlichen. 

Bei  dem  intensiven  politischen  Leben  der  gegenwärtigen 
Periode,  das  alle  Kräfte  für  die  Aufgaben  des  Augenblicks  in 
Anspinich  nimmt,  ist  auch  diese  Arbeit  nicht  mit  einem  Schlag 
/u  leisten.  Wir  haben  uns  daher  entscblossen,  Victor  Adlers 
Aufsätze,  Peilen  und  Briefe  heftweise  herauszugeben,  wobei 
jedes  der  Hefte  ein  abgerundetes  Ganzes  bilden  soll.  Die 
Gliederung  des  Stoffes  kann  sich  endgültig  erst  im  Laufe  der 
Arbeit  ergeben,  doch  ist  vorläufig  die  Teilung-  in  folgende  zwölf 
Hefte  geplant : 

I.  Victor  Adler  und  Friedrich  Engels. 
II.  Victor  Adler  und  Engelbert  Pernerstorfer.  Briefe  au.s  der  Jugendzeil. 

III.  Victor  Adler  und  die  Gründung  der  österreichischen  Sozialdemokratie. 

IV.  Victor  Adlers  Reden  und  Aufsätze  über  sozialdemokratische  Taktik. 
V.  Victor  Adler  und  der  Wahlrechtskampf  in  Österreich. 

VI.  Victor  Adler  und  die  „Arbeiter-Zeitung". 
VII.  Victor  Adler  als  Parlamentarier.        * 
VIII.  Victor  Adler,  die   Gewerkschaften   und   Genossenschaften. 
IX.  Victor  Adler  als  Arzt,  Hygieniker  und  Sozialpolitikcr. 
X.  Victor  Adler  und  August  Bebel.  Aus  dem  Briefwechsel. 
XI.  Victor  Adler  und  die  Intei nationale. 
XII.  Materialien  zu  einer  Biographie  Victor  Adlers.  Bibliographie. 

Die  Redaktion  der  einzelnen  Hefte  werden  wir  Ge- 
nossen, die  mit  der  betreffenden  Materie  besonders  vertraut 
sind,  übertragen.    Sie   werden    ihre    Arbeit  in  Verbindung  mit 


Victor  Adlers  Aufsätze.  Redeu  und  Briefe 


F'riedrich  Adler,  iii  desseu  Obhut  sich  der  Nachlaß  seines 
Vaters  befindet,  ausführen.  Die  Eeihenfolge  des  Erscheinens 
der  Plefte  hängt  von  der  Zeit  der  Fertigstellung  ab. 

Wir  beginnen  die  Veröffentlichimg  mit  der  Herausgabe 
des  fesselnden  Briefwechsels  zwischen  Viktor  Adler  und 
Friedrich  Engels,  der  uns  Einblick  gewährt  nicht  nur  in  eine 
Zeit  der  wichtigsten  politischen  Entscheidungen  und  Kämpfe, 
sondern  auch  in  das  persönliche  Leben  Victor  Adlers,  das  in 
den  schweren  Kümmernissen,  die  ihn  in  jener  Periode  be- 
drückten, erhellt  wurde  durch  die  warme  Freundschaft  des 
großen  Meisters  der  sozialistischen  Theorie  und  Taktik.  Wir 
glauben  den  siebzigsten  Geburtstag  unseres  Victor  Adler  nicht 
schöner  feiern  zu  können,  als  indem  v.-ir  diese  Briefe,  an  denen 
ein  Stück  seines  Herzeus  hing,  allen  zugänglich  machen,  die 
ibn  lieben  und  verehren. 

Wien,  im  Juni  1922. 

Der  Parteivorstand 
der     Sozialdemokratischen    Arbeiterpartei     Deutschösterreichs. 


VI  Victor  Adler  und  Friedlich  Engels 


Victor  Adler  und  Friedrich  Engels. 

Vorbemerkaiigeii. 

Das  Interesse  Violoi-  Adlers  für  die  ArlSeilerbcwpgung  und  die  sozia- 
listische Literatur  geht  weit  in  seine  Universitäts-,  ja  sogar  Gyninasiasten- 
zeit  zuiück*).  Anfang  der  ac-Jitziger  Jahre  beginnt  er  aber  aucli  praktisch  der 
Bewegung  näherzukommen.  So  schreibt  er  am  20.  März  1881  an  s-einen 
Bruder  Siegmund: 

Ich  fange  jetzt  an,  konsequent  hinunter-  oder  viohnehr  lünauf- 
steigend,  mich  mit  den  hiesigen  Arbeiterführern  bekanntzumachen  —  wie 
PS  sclieint,  diu'chweg  gute  Menschen,  alx?r  schlechte  Musikanten.  Wer  da 
große  agitatorische  Begabung  und  Energie  hätte,  könnte  AVundor  tun  — 
nun,  jeder  nach  seinem  Können  —  daß  ein  Mensch  Avie  Du,  sich  in 
das  vierzehnte  Jahrhundert  verliert  und  gelehrten  Staub  frißt,  statt  in 
der  goldenen  Sonne  der  Gegenwart  zu  arbeiten,  zu  kärapfen  und  zu 
bluten,  ist  traurig  —  selir  traurig  —  nun  Du  geh.-t  eigene  Wege  und 
machst  vielleicht  plötzlich  einen  Sprung. 

Tin  Sommer  1883  (Juli  bis  Oktober)  unternimmt  \iclor  Adler  eine 
Sludienreise  durch  Deutschland,  die  ScJiweiz  und  England,  um  die  Ein- 
ricJitungen  der  Gewerbeinspektion  kennen  zu  lernen.  Die  Absichten, 
die  ihn  leiten,  sind  durchaus  sozialistische.  In  Österreich  sollte 
1884-  die  Gewerbeinspektion  eingeführt  werden;  er  will  Gewerbe- 
inspektor werden,  um  gegenüber  den  Veriuschungsversuchen  im 
Interesse  der  herrschenden  Klassen,  die  zu  fürchten  waren,  die  Wahrheit 
über  die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  Öslerreicli  ans  Liclit  zu  bringen. 
Seine  wahren  Absichten  T\nirden  vorzeitig  durchschaut  und  der  zum  Zentral- 
gewerbeinspektor bestimmte  Dr.  Migerka  verhinderte  seine  Anstellung,  als 
(iewerbeinspeklor.  Als  Resultat  dieser  Periode  ergaben  sich  Adlers  .Vbhand- 
King  ül>er  ,.Die  Fabriksinspektion,  insbesondere  in  England  und  der 
Schweiz"**)  sowie  Kritiken,  die  er  später  den  Jahresberichten  der  Gewerlx'- 


*)  Heinrich  Scheu  erzählt  in  seinen  ,, Erinnerungen"  aus  der  Zeil, 
als  er  1870,  nach  dem  HochveiTatsprozeß,  Sammlungen  für  die  Inhaftierten 
und  deren  Familien  einleitete:  „Die  Partei  war  —  wie  in  anderen  Beziehungen 
—  völlig  auf  sich  gestellt.  Nur  einmal  erschienen  zwei  junge  Studenten  bei 
mir,  um  an  die  L'nterstützungskasse  einen  Beitrag  abzugeben,  der  statt 
unter  einem  Namen  mit  einem  revolutionären  Vers  Freiligraths  in  der 
Sammelliste  des  ,, Volkswillen"  quittiert  werden  sollte.  Einundzwanzig  Jahre 
darnach  wurde  ich  in  überras<'.hender  Weise  an  jenen  Besuch  erinnert.  Es 
war  im  Hochsommer  des  Jahres  189J.  Ich  war  von  London  zum  Internatio- 
nalen Kongreß  nach  Brüssel  gekommen  und  traf  dort  mit  Victor  Adler  zu- 
sammen, und  zwar,  wie  ich  glaubte,  zim^  erstenmal  in  meinem  Leben.  ,, Er- 
innern Sie  sich  nicht",  fragte  er  mich,  ,,an  die  zwei  Studenten,  die  Ihnen 
damals  Geld  für  die  Inhaftierten  brachten?"  Wie  der  Blitz  zuckte  es  mir 
(ixwrh  das  Gehirn,  als  ich  ihn  schärfer  ins  Auge  faßte:  ,,Was",  rief  ich, 
,.jene  zwei  Studenten"  —  —  , .waren  Pernerstorfer  und  ich!"  (,, Wiener  Hoch- 
verratspiozeß",  Ausgabe  Wien  1911,  Seite  225.) 

**)  Verlag  Gustav  Fischer,  Jena,  1884  (Scparatabdiiick  aus  den  Jahr- 
büchern für  Nationalökonomie  und  Statistik,  Neue  Folge.  Band  VIII.) 


Victor  Adler  und  Friedrich  Engels  VII 

lnspektion  in  der  „Gleichheit"  und  „Arbeiter-Zeitung"  angedeihen  ließ,  die 
wei>ftn  der  liefen  Sachkenntnis,  aus  der  sie  hen^orgingen,  von  den  Betroffenen 
besonders  unangenehm  empfunden  wurden. 

Auf  seiner  Studienreise  kommt  Victor  Adler  im  Sommer  1883  nach 
London.  Sein  erster  BesucJi  bei  Friedrich  Engels  gilt  nicht  nur  dem  Manne, 
der  ihm  bei  seinen  Studien  über  die  Fabrik^inspektion  in  England  behilflich 
sein  konnte,  sondern  vor  allem  dem  großen  sozialistischen  Theoretiker, 
dessen  Freund  Karl  Marx  wenige  Monate  vorher  dahingeschieden  war.  Adler 
hatte  ein  Empfehlungh;s<.-hreiben  von  Leo  Frankel  mit,  der  1871  als  Mit- 
glied der  Pariser  Commune  an  herv-orragender  Stelle  gestanden  und  in  den 
achtziger  Jahren  in  Wien  lebte*).  Dieses  Einführungsschreiben  lautet: 

Wien,   am   14.   Juli    1883. 
Mein  lieber  Engels! 

Überbringer  dieses,  Parieigenosse  Dr.  Adler,  beabsichtigt  eine 
Studienreise  nach  Deutschland  und  England  zu  maclien,  um  die  Insti- 
tution des  Fabriksinspektorats  eingehend  zu  studieren.  Da  Du  Dich  schon 
in  den  vierziger  Jahren  mit  den  englischen  Fabriksberichten  bescliäftigt 
hast,  und  bessc'r  als  irgendeiner  in  der  Lage  bist,  diese  Institution  zu 
kennen,  vermagst  Du  es  auch  am  leichtesten,  diesbezügliche  Auskünfte 
zu  erteilen  und  so  Herrn  Dr.  Adler  bei  seinem  Studiimi  an  die  Hand 
zu  gehen. 

Dein  freundliches  Klntgegenkommen  allen  gegenüber,  die  sich  mit 
Ernst  der  Arbeitersache  widmen,  enüiebt  mich  wohl,  Dir  den  Überbringer 
dieses  besonders  zu  empfehlen,  weshalb  ich  Dir  auch  schon  im  vor- 
hinein meinen  besten  Dank  für  Dein  Entgegenkommen  hiemit  ausdrücke. 

Dich  herzlichst  grüßend,  verbleibe  ich  wie  immer  Dein  Dich  ho<-li- 
schätzender  und  aufrichtiger  Freund 
;  L  c  o    F  r  a  n  k  e  I . 

Über  diesen  ersten  \erkehr  Adlers  mit  Engels  konnten  bisher  leider 
keinerlei  schriftliche  Mitteilungen  aulgefunden  werden.  Aus  seinen  Er- 
zählungen wissen  wir,  welchen  starken  Eindruck  Engels  und  sein  Heim  da- 
mals auf  ihn  gemacht.  Engels  begrüßte  auf  das  lebhafteste  Adkrs  Plan, 
Cewcrbeinspektor  zu  werden,  er  meinte,  daß  wir  Agitatoren  genug  hätten, 
aber  niemand,  cfer  den  Verwaltungsapparat  kennt,  und  gerade  solche  werden 
uns  abgehen,  wenn  wir  zur  MacJit  kommen. 

So  stark  der  Eindruck,  den  Friedrich  Engels  auf  Viktxir  Adler  bei  ihrer 
ersten  pei-sonlichen  Begegnung  machte,  auch  gewesen,  so  entsprang  die 
innige  Freundschaft,  die  sie  bis  an  Engels'  Lebensende  verknüpfte,  doch  erst 
ihrem  zweiten  Zusanunentreffen,  das  erst  sechs  Jahre  später,  nach  dem 
Internationalen  Sozialistischen  Kongreß  in  Paris  im  Juli  1889  stattfand  *). 
Während  Adler  vor  dem  Londoner  Aufenthalt  im  Jahre  1889  nur  Karten 
von  den  Neujahrsfeiern   im  Kreise  seiner  Familie  und  persönii<-lien  Freunde 


*)  Vergleiche    Viktor    Adlers  Nekrolog    auf  Leo    Frankel,    der  im  vor- 
iHgenden  Hefte  wiedergegeben  ist.  (Nr.  67.) 

*"*)  Am  17.  Juli   1889  schreibt  Engels  aus  London  an  Sorge:   „Nächste 
Woche  kommt  Adler  aun  Wien  von  Paris  herüber." 


VIII  Victor  Adler  und  Friedrich  Engels 

an  Engels  sandle,  beginnt  im  Dezember  1889  ein  Briefwechsel*),  der  durch 
fünfeinhalb  Jahre  bis  zu  Engels'  Tod  vvälirt.  Während  dieser  Zeit  sahen 
sich  Adler  und  Engels  noch  einigemale.  Nach  dem  Brüsseler  Internationalen 
Kongreß  im  August  1891  verbrachte  Adler  gemeinsam  mit  Bebel  drei  Tage 
in  London  bei  Engels**).  Im  Sommer  1893  trafen  sich  Adler  und  Engels  zu- 
näjchst  am  Internationalen  Kongreß  in  Zürich,  sodann  kam  Engels  nac-.h 
Österreich  und  hielt  sich  mehrere  Tage  in  Wien  auf.  Im  Juli  1905  war  Adler 
nahezu  zwei  Wochen  am  Sterbelager  seines  Freundes. 

Der  Briefwechsel  zwisclien  iVdler  und  Engels  fällt  in  eine  der  wich- 
tigsten Perioden  der  Aj'beiterbewegung  in  Österreich.  Der  1.  Mai  1890  zeigt, 
daß  das  österreichische  Proletariat  den  Beschluß  dos  Pariser  Internationa.lf;n 
Sozialistenkongresses  besser  in  die  Tat  umzusetzen  versteht,  als  es  in  irgend- 
einem anderen  Lande  gelmgt.  Die  Maifeier  hebt  das  Kraftbewußtsein  der 
Arbeiterklasse,  sie  geht  zur  Offensive  über  und  hat  am  10.  Oktober  1893  den 
für  alle  überraschend  großen  und  schnellen  Erfolg  der  Einbringung  der  Wahl- 
reform durch  den  Grafen  Taaffe.  Die  Sozialdemokratie  rückt  in  den  Mittel- 
punkt des  Interesses,  die  Ausgestaltung  der  „Arbeiter-Zeitung"  zu  zweimal 
wöchentlichem  und  scliließlich  am  1.  Jänner  1895  zu  täglichem  Erscheinen  wird 
nötig.  Auf  alle  dies-e  Kämpfe,  Erfolge  und  dazugehörigen  Verfolgungen  wirft  der 
Briefwechsel  zwischen  Adler  und  Engels  aufklärende  Schlaglichter,  er  wird  bei 
dem  restlosen  Vertrauen,  das  sie  füreinander  hatten,  in  vielen  Punkten  zu 
einer  wichtigen  GeschicJitsgueile  jener  Periode.  Engels  ist  der  eifrigere  Brief- 
schreiber, während  Adler  meistens  nur  zur  Urlaubszeit  oder  im  Gefängnis  — 
wir  finden  Briefe  aus  dem  Bezirksgericlit  Neubau  und  dem  in  Rudolfsheim, 
während  aus  der  viermonatigen  Haft  im  Landesgericht  1890  sich  keiner  vor- 
findet -—  Zeit  findet,  ausführlicher  zu  schreiben.  Vor  allem  sind  es  auch 
offizielle  Einladungen  zu  den  österreichischen  Parteitagen,  an  die  Adler  aus- 
führlidierc  Mitteilungen  anknüpft. 

Vieles  in  den  Briefen  ist  rein  persönlicher  Natur,  und  es  mußte  sehr 
ernst  die  Frage  erwogen  werden,  ob  und  inwieweit  sie  überhaupt  zu  ver- 
öffentlichen seien.  Dal>ei  waren  vor  allem  Victor  .Adlers  Wünsche  selbst  zu 
berücksichtigen.  Wir  besitzen  nun  eine  ausführliche  Darlegung  seines  Stand- 
punktes über  derartige  Veröffentlichungen  in  seinem  Aufsatz  über  den 
„Briefwechsel  zwischen  Marx  und  Engels".  Dort  sagt  er: 

Die  Frisclie,  Unmittelbarkeit,  Lebendigkeit  dieser  Briefe  gibt  ihnen 
einen  unerschöpflicJien  Reiz.  Sie  ersetzen  den  mündlichen  Gedanken - 
austauscli  der  zwei  Freunde  und  sind  darum  urspriinglicher,  ungehenamter 
im  Ausdruck  als  selbst  Tagebücher  gemeinhin  sind,  die  doch  die  Absicht 
hai)en  festzuhalten,  was  von   dem   Eindmck,  der  Slinunung  des   Augen- 


*j  Den  ersten  Brief  an  Adler  schrcibt  Engels  am  4.  Dezember.  Drei 
Tage     später   schreibt   er   an   Sorge:     „Für   den    1.    Mai    1890   wird   überall 
gearbeitet.    In    Österreich   geht's    auch   sehr  gut.    Adler  hat  die  Sache  famos 
in    Ordnung    gebracht,   die    Anarchisten    sind    tot    dort."     (Briefe  an  Sorge,' 
Seite  326.) 

**)  Engels  schreibt  am  9.  August  1891  an  Sorge:  „Louise  Kautsky  ist 
in  Wien,  geht  mit  Wiener  Mandat  nach  Brüssel,  bringt  Adler  mit  nach 
London,  viellciclit  auch  Bebel,  dem  ich  nacli  der  Schweiz  geschrieben, 
aber  noch  keine  Antwort."  Am  2.  September  189!  meldet  Engels  an  Sorge 
„Adler  von  Wien  und  Bebel  waren  drei  Tage  hier,  sehr  fidel  und  zufrieden 
mit  dem  Kongreß." 


Victor  Adler  und  Friedrich  Engels  IX 


blicks  aufbewahrt  werden  soll.  Diese  Briefe  abpr  sind  aus  der  Stande 
für  die  Stunde  entstanden  und  haben  ihren  Beruf  erfüllt,  wenn  sie  das 
Auge  —  fast  möchte  man  sagen  das  Ohr!  —  des  Empfängers  getroffen, 
der  seinerseits  sie  als  aus  dem  Flusse  der  Gedanken  und  der  Stimmung 
entspringend  aufnimmt  und  nicht  als  festgefrorene,  statTgewordene 
Meinungen  mißversteht.  Das  Bild  dieser  absoluten  Offenheit,  Ungezügelt- 
heit und  Ungeniertheit  in  dem  Verkehr  zweier  gewaltiger  Menschen  gibt 
dem  Briefwechsel  ein  ganz  besonderes  psychologisches  Interesse;  aber 
gerade  hierin  liegt  auch  eine  ernste  Gefahr  des  Mißverständnisses,  ja  des 
Mißbrauchs  solcher  Veröffentlichungen.  Bedarf  es  schon  großer  Vorsicht 
und  Liebe  zur  Wahrhaftiglceit,  aus  einzelnen  aus  dem  Zusammenhang 
gerissenen  Stellen  von  Werken  und  Reden,  die  für  die  öffentlicJikeit 
bestimmt  sind,  die  richtigen  Schlüsse  zu  ziehen,  so  ist  die  Gefahr  hier 
lim  so  großer,  daß  Kommentatoren,  auch  wenn  sie  besten  Willens  wären, 
aus  einzelnen  Äußenmgen  dieser  Briefe  völlig  falsche  Schlüsse  ziehen, 
indem  sie  für  fest  und  starr  ansehen,  was  fließt,  als  Meinung,  was  nur 
Einfall,  als  Urteil,  was  nur  Stimmung.  Aus  Zeugnissen  größter  subjektiver 
Wahrheit  können  so  Bilder  größler  objektiver  Unwahrheit  gewonnen 
werden,  Marx  und  Engels  hatten  nicht  nötig,  in  ihrem  Verkehr  vor  Ein- 
seitigkeiten auf  der  Hut  zu  sein,  denn  sie  waren  sicher,  daß  vom  Emp- 
fänger die  andere  Seite  gekannt  und  vorausgesetzt  wurde. ....  Die  Briefe 
sind  erfüllt  von  einem  unaufhörlichen  Ringen  nach  Selbstverständigung, 
von  schonungsloser,  bohrender  Selbstkritik,  daneben  aber  findet  man  auf 
jeder  Seite  übermütigste  Paradoxie  bis  zur  burschikosen,  ja  blutigen 
Selbstironie.  So  im  vergleich  lieh  anziehend  und  fesselnd  das  ist,  die  Emp- 
findung wlixi  manchen  Leser  beschleiclien,  daß  es  indiskret  ist  und  daß 
eine  Art  Scbamhaftigkeit  sicli  dagegen  sträubt,  sich  in  das  nun  nackt 
daliegende  innerste  Gedankenleben  dieser  zwei  großen  Menschen  zu 
drängen.  Aber  eben  ihre  geschichtliche  Größe  macht,  daß  sie  den  An- 
spruch auf  Schonung  verwirkt  haben,  und  Bebel  hat  recht,  wenn  er  im 
Vorwort  sagt:  „Vor  allem  hat  die  sozialistisch  denkende  Welt  Anspruch, 
ein  unverfälschtes  Bild  von  dem  Werdegang,  dem  Fühlen  und  Denken 
der  beiden  Männer  zu  erhallen,  die  als  die  Begründer  des  modernen 
wissenschaftlichen  Sozialismus  angesehen  werden  müssen  und  die  für 
ihn  als  die  Sache  des  Proletariats  ihre  ganze  Persönlichkeit  einsetzten." 

Während  der  Kriegszeit  allerdings  fühlte  er  sich  oft  durch  den  viel- 
fachen Mißbrauch,  der  mit  Zitaten  aus  Briefen  der  sozialistischen  Klassiker 
getrieben  wurde,  abgestoßen  und  äußerte  gelegentlich:  „Am  liebsten  würde 
ich  alle  Briefe,  die  ich  besitze,  verbrennen!"  Aber  er  hat  sich  doch  niemals 
dazu  entschließen  können.  Im  Gegenteil,  er  hing  mit  besonderer  Pietät  an 
den  Briefen  von  Friedrich  Engels  und  hat  sich  aus  dessen  Nachlaß  durch 
Bebel  und  Bernstein  seine  eigenen  Briefe  zurückerstatten  lassen.  Ja,  er  hatte 
sich  sogar  entschlossen,  einen  der  Briefe  von  Engels  selbst  im  „Kampf"  zu 
veröffentlichen.  Und  so  dürfen  wir  wohl  annehmen,  daß  wir  seinen 
Wünschen  nicht  entgegenhandeln,  wenn  wir  seinen  Briefwechsel  mit  Engels 
der  Öffentlichkeit  zugänglich  machen.  War  einmal  die  Publikation  im 
Prinzip  entschieden,  so  bot  die  Frage  des  Ausmaßes  der  Veröffentlichung 
weit  weniger  Schwierigkeiten.  Nur  was  noch  Lebende  verletzen  konnte    und 


X  Victor  Adler  und  Friedrich  Engels   . 

zwar  durchweg  vStellen  ohne  politisches  Interesse  —  im  ganzen  bloß  etwa 
vierzig  Zeilen  — "  wurden  weggelassen.  Die  betreffenden  Stellen  sind,  um 
Sie  von  den  von  Adler  oft  angewendeten  zwei  Gedankenstrichen  —  —  zu 
unterscheiden,  durch  ! — . — 1  angedeutet. 

Leider  sind  nicht  alle  Briefe  erhalten  geblieben  oder  mindestens 
konnten  bisher  nicht  alle  aufgefunden  werden.  Eine  Anzahl  von  Briefen 
Adlers  an  Engels,  die  Bebet  übersehen  hatte,  wurden  im  Archiv  der  Sozial- 
demokratischen Partei  Deutschland  gefunden  und  wurden  ebenso  wie  die  im 
Nachlaß  Victor  .'\dlets  befindlichen  hier  wiedergegeben.  Vielleicht  werden 
sich  in  Zukunft  noch  einige  Lücken  —  die  allerdings  nicht  störend  sind  — 
ausfüllen  lassen. 

Wir  liaben  es  mit  einem  der  seltenen  Kälio  zu  tun,  wo  das  Interesse 
für  beide  Briefschrieber  ein  gleich  großes  ist.  Und  so  wuchs  unsere  Ver- 
öffentlichung über  den  ursprünglich  gesteckten  Rahmen  hinaus,  indem  es 
nahelag,  das  Bild  der  Beziehungen  von  Friedrich  Engels  zur  österreichischen 
Arbeiterbewegung  überhaupt  durch  Wiedergabe  seiner  Begrüßungsschreiben 
an  die  österreichischen  Parteitage,  von  Artikeln,  die  er  für  österreichische 
Parteiorgane  geschiieben,  und  schließlich  von  Briefen  an  andere  abzuinjnden. 
Engels'  Interesse  für  die  österreichischen  Probleme  geht  weit  zurück*),  aber 
besonders  intensiv  wiu'de  es  in  der  Zeit,  in  der  er  )nit  N'ictor  Adler  in 
persönlicher   Freundschaft  verbunden   war. 

Die  vorliegende  Veröffentlichung  zerfällt  ganz  naturgemäß  in  zwei 
Teile,  die  durch  den  Tod  von  Friedrich  Engels  zeitlich  geschieden  sind.  Im 
zweiten  Teil  sind  jene  Aufsätze  und  Reden  Adleis  zusammengefaßt,  die 
das  Lebenswerk  von  Marx  und  Engels  zum  Hauptgegenstand  haben.  Er  wird 
von  jenen,  die  mit  dem  Studi\im  der  sozialistischen  Literatur  erst  beginnen, 
mit  Vorteil  vor  dem  ersten  Teil  gelesen  werden.  Bei  der  Anordnung  des 
Stoffes  haben  wir  uns  schliefiiich  für  die  streng  chronologische  Ordnung 
entschlossen.  l)adui>c.h  erleidet  der  Briefwechsel  einige  rnterbre<'hungen, 
aber  d<'r  Leser  erfährt  so  rechtzeitig,  auf  was  —  etwa  Engels  .Aufcnttialt  in 
Wien  —  in   späteren   Briefen  Bezug  genommen  wird. 

Der  zweite  Teil  ist  vollständig,  der  Briefwechsel  in  allen  Hauptfragen 
ohne  Erläuterungen  verständlich.  Wir  haben  uns  daher  darauf  beschränkt, 
in  Anmerkungen  auf  Zusammenhänge  \  or  allem  mit  der  österreichischen 
I'arteigeschichte  kurz  hinzuweisen,  ohne  auf  Vollständigkeit  .'Anspruch  zu 
machen.  Insbesondere  wurden  die  Titel  der  Bücher  und  Artikel,  von  denen 
die  Rede  ist,  genauer  festgestellt,  über  die  erwähnten  Personen  kurze  An- 
gaben und  Literaturnachweise  gegeben.  Die  Vornamen  und  Spitznamen 
des  engeren  Freundeskreises,  die  im  Briefw-echsel  vorkommen,  haben  wir 
nicht  jedesmal  ergänzt,  sondern  in  einem  alphabetischen  Verzeichnis  der 
.,PersonenbezeicJinungen"  zusammengestellt  'Seite  XIL.  In  zwei  Fällen  — ■ 
Loo  Franke!  und  Eieanor  Marx-Aveling  —  konnten  wir  die  ausführliche 
(Charakteristik,  die  Victor  Adler  selbst  von  diesen  Personen  gegeben,  durch 
Alnlruck  der  Nachrufe,  die  er  verfaßt,  beibringen.  Wie  wir  uns  überhaupt 
bemüht  haben,  auch  in  den  Anmerkungen  Victor  Adler  und  Friedrich  Engels 
selbst  sprechen  zu  lassen.  Friedrich   Adler. 

*)  Vergleiche  seinen  am  28.  Jänner  18i8  in  der  ,, Deutschen  Brüsseler 
Zeitung"  veröffentlichten  Artil<el:  ,.ner  Anfang  des  Endes  in  Österreich." 
Wiederabgedruckt   im  ..Kampf",  VI    Band,  Seite  393  bis  307. 


I.  Bis  zu  Engels'  Tod. 


Personenbezeichnungen. 

Adelheid  =  Adelheid  Dworzak-Popp. 

Alle  siehe  „der  Alte". 

August  =  August  Bebel. 

Clara  =  Clara  Zetkin. 

Der  Alte   =:Wlilhelm  Liebknecht 

Domela  =:  F.  Domela  Nieuvvenhuis 

Ede  =  Eduard  Bernstein. 

Emma  =  Emma  Adler. 

General  =  Friedrich  Engels. 

Julius  =  Julius  Molleler. 

K.  K.  =  Karl  Kautsky. 

Karl  =  Karl  Kautsky. 

Laura  =  Laura  Lafargue. 

Lenchen  =  Helene  Demuth. 

Leo  =  Leo  Frankel. 

Ijouise  (Luise)  r=  Louise  Kautsky- Freyberger. 

Ludwig  =  Dr.  Ludwig  Freyberger. 

Mumma  =  Louise  Kautsky-Freyberger. 

Onkel  =  Julius  Motteier. 

Paul  rz:  Paul  Singer. 

Storfer  =  Pernerstorf  er. 

Tante  =  Frau  Motteier. 

Tussy  =  Eleonor  Marx-Aveling 

Victor  =  Victor   Adler 


Briefe:  Jänner  1888  bis  April  1690. 


Briefe:  Jänner  1888  bis  April  1890. 

1. 

Neujahrspostkarte  an  Engels.  (Poststempel  1.  Jänner  18S8.) 

„Prosit  Neujahr!''  1888. 

Emma  Adler.     Josef  ine  Braun.     H.  Braun.     Leo  Franke]. 

Hermann  Bahr.       Klem^ntine   Spie^ler.       Dr.   V.   Adler. 

Leopold  Braun.  Ad.  Braun. 

2. 

Neujahrspostkarte  an  Engels.  (Poststempel  7.  Jänner  1889.) 

,, Prosit  Neujahr!'*     (Wegen  Hainfeld  verspätet!) 

Ferd.  Leißner.      Emma  Adler.      Dr.  V.  Adler.      S.  Bondi. 

Karl  Kautsky.        Ad.  Braun.        Mumma.        Fritz  Adler. 

Leo    Franke!.     L.   Braun.     Dr.   Eppinger.     Pernerstorfer. 

Anna  Pernerstorfer. 


Engels  an  Adler. 


3. 

London,  4.  Dezember  89 


Lieber  Adler 
»       Den  Cloots  von  Avenel  *)    habe    ich    Dir    aus    folgenden 
Gründen  zur  Bearbeitung  empfohlen : 

Nach  meiner  (und  Marx')  Ansieht  enthält  das  Buch  die 
erste  auf  archivalische  Studien  gestützte,  richtige  Darstellung 
speziell  der  kritischenEpocheder  Französischen 
Revolution,  nämlich  die  Zeit  vom  10.  August  bis 
9.  Thermidor. 

Die  pariser  Commune  und  Cloots  waren  für  den  Pro- 
pagandakrieg als  einziges  Rettungsmittel,  während  das  Comite 
de  salut  public  Staatsmänner  te,  Angst  hatte  vor  der 
euiopäischen  Koalition,  Frieden  suchte  durch  Teilung  der 
Koalierten.  Danton  wollte  Frieden  mit  England,  das  heißt  Fo.x 


*)  Georges  Avenel:  Anarcharsis  Cloots,  l'orateur  du  genre  humain, 
Paris,  A.  Lacroix  Verboekhoven  &  Co.,  1865.  2  Bände,  894  Seiten. 


Briefe:  Jänner  1888  bis  April  1890 


mid  der  englischen  Opposition,  die  bei  den  Wahlen  aus  Ruder 
zu  kommen  hoffte.  "Robespierre  mogelte  in  Bas^l  mit  Österreich 
und  Preußen  und  wollte  mit  diesen  i>ich  arrangieren.  Beide 
gingen  zusammen  gegen  die  Commune,  um  vor  allen  Dingen  die 
Leute  zu  stürzen,  die  den  Propagandakrieg,  die  Republikani- 
sierung  Europas  wollten.  Das  gelang,  die  Commune  (Hebert, 
Cloots  etc.)  wurde  geköpft.  Von  da  an  aber  wurde  Friede 
unmöglich  zwischen  denen,  die  mit  England  allein,  und  denen, 
die  mit  den  deutfscheu  Mächten  allein  Frieden  schließen  wollten. 
Die  englischen  Wahlen  fielen  zugunsten  Pitts  aus.  Fox  war 
auf  jahrelang  von  der  Regierung  ausgeschlossen,  das  ruinierte 
Dantons  Stellung.  Robespierre  siegte  und  köpfte  ihn.  Aber  — 
und  diesen  Punkt  hat  Avenel  nicht  hinreichend  hervor- 
gehoben —  während  nun  die  Schreckensherrschaft  bis  ins 
Wahnsinnige  gesteigert  wurde,  weil  sie  notwendig  w^ar,  um 
Robespierre  unter  den  bestehenden  inneren  Bedingungen  am 
Ruder  zu  erhalten,  wurde  sie  total  überflüssig  durch  den  Sieg 
von  Fleurus,  24.  Juni  1894,  der  nicht  nur  die  Grenzen  befreite, 
sondern  Belgien  und  indirekt  das  linke  Rlieinufer  an  Frank- 
reich überlieferte,  und  da  wurde  Robespierre  auch  überflüssig 
und  fiel  24.  Juli. 

Die  ganze  Französische  Revolution  wird  beheri-scht  vom 
Koalitionskrieg,  alle  ihre  Pulsationen  hängen  davon  ab.  Dringt 
flie  Koalitionsarmee  in  Frankreich  ein  —  Überwiegen  des 
Vagus,  heftiger  Herzschlag,  revolutionäre  Krisis.  Muß  sie  fort, 
dann  überwiegt  der  Sympathicus,  der  Herzschlag»  verlangsamt 
sich,  die  reaktionären  Elemente  drängen  sich  wieder  in  dpn 
Vordergrund,  die  Plebejer,  die  Anfänge  des  sj^äteren  Prole- 
tariats, deren  Energie  allein  die  Revolution  gerettet,  werden 
zur  Räson  und  zur  Ordnung  gebracht. 

J)ie  Tragik  ist,  daß  die  Partei  des  Krieg-es  ä  outrance,  des 
Krieges  um  die  Völkerbefreiung,  recht  behält  und  daß  die 
Republik  mit  ganz  Eui'opa  fertig  wird,  aber  erst,  nachdem  diese 
Partei  selbst  längst  geköpft,  und  statt  des  Propagandakrieges 
nun  der  Baseler  Friede  und  die  Bourgeoisorgie  des  Direk- 
toriums kommt. 

Das  Bucli  muß  total  umgearbeitet  und  gekürzt  werden 
—  die  Deklaruiererei  muß  heraus,  die  Tatsachen  aus  den  ge- 
wöhnlichen Cieschichtsbüchern  ergänzt  und  klar  hervorgehoben 
werden.     Cloots  kann  dabei  ganz  in  den  Hintergrund  treten; 


Briefe :  Jänuer  1888  bis  April  1890. 


aus  den  Lundis  revolut.  *)  können  die  wichtigsten  Sachen  ein- 
geschoben werden  —  so  kann's  ein  Werk  über  die  Revolution 
werden,  wie  bis  jetzt  kein's  existiert. 

Die  Darlegung-,  wie  die  Schlacht  von  Fleurus  die 
Schreckensherrschaft  stürzte,  ist  gegeben  1842  in  der  (ersten) 
„RJ^eini^schen  Zeitung"  von  C\  F.  Koppen  in  einer  ausgezeich- 
neten Kritik  von  H.  Leos  (restihichte  der  Französischen 
Revolution**). 

drüß'  Deine  Frau  und  Luise  K.  vielmals.  Dein 


4. 

Adler  an  Engels. 

Verehrter  Freund! 


V.  Engels. 


Wien,  21./1.  1890***). 


Du  hast  so  gegründete  Veianlassung,  mir  böse  zu  sein, 
daß  ich  meinen  Brief  mit  sehr  langen  Erklärungen  beginnen 
sollte.  Die  mir  so  unerwartet  freundliche  Aufnahme  im  Sommer, 
Dein  ausführlicher  Brief  im  Dezember,  ja  sogar  Deine  Neu- 
jahrskarte haben  mir  bis  jetzt  kein  Wort  abringen  können.  Was 
mich  entschuldigt,  ist  eine  Zerrissenheit  meiner  ganzen  Zeit 
und  Ai-beit^möglichkeit,  die  mir  keine  Muße  läßt,  ausführlich 
über  Dinge  zu  schreiben,  die  Dich  vermutlich  interessiei'cn  und 
nur  ausführlich  wollte  ich  Dir  schreiben.  Da  ich  nun  sehe,  daß 
ich  dazu  nicht  komme,  so  will  ich  wenigstens  ein  ]>ebenszeichen 
von  mir  geben.  Die  Verschleppung  meiner  Haft,  die  ins  Thi- 
glaubliche  geht  (am  7.  Dezember  hat  der  Oberste  (»erichtshol' 
entschieden  und  noch  heute  habe  ich  keine  Zustellungf),    läßt 


*)    Georg   Avenel:     Lundis    levolutjoniiiiires    1871 — ]87i-,    Nouveaux 
ecJaiicissements  sur  la  Revolution  francaiso.  Paris  J87.'). 
**;  Erschien  1842  in  Halle. 
***)  Im  Originalbrief  steht  anstatt  1890  als  Schreibfehler  1889. 

t;  Die  ..Arbeiter-Zeitung"  vom  31.  Jänner  1890  meidet:  .Am 
2-i.  Jänner  wurde  Genossen  Dr.  Adler  das  am  7.  Dezember  gefällte  Urteil 
des  Obersten  Gerichtshofes  zugestellt.  So  wie  die  Beschwerde  gegen  die 
Verhandlung  vor  dem  Aiisnahmsgcnchtshnf  wurde  auch  die  fk-rufung  gegen 
das  Strafausmaü  als  unbegründet  zurückgewiesen  und  die  vier  Monate  ver- 
schärften .Arrestes,  verbunden  mit  einem  Fastlag  in  jedem  Monat,  als  eine 
dem  Delikt  , angemessene  Strafe'  erkannt.  Genosse  Adler  mußte  zur 
Ordnung  seiner  Angelegenheiten  kurzen  Strafaufschub  verlangen  und  wird 
seine  Haft  im  Laufe  des  Februar  antreten."  Cber  den  Prozeß  selbst  vergleiche 
die  Broschüre:  Die  „Gleichheit"  vor  dem  Ausnahmsgericht.  Stenographischer 
Bericht  über  die  Schlußverhandlung  gegen  Dr.  V.  Adler  und  L.  A.  Brel- 
schneider  am  27.  Juni  1889.  Wien  1889. 


Briefe :  Jänner  1888  bis  April  1890 


nriich  so  schwer  zu  etwas  Vernünftigem  kommen.  Diese  Esel 
meinen,  ich  werde  am  1.  Mai  mit  Bomben  im  Sack  in  den  Prater 
spazieren  gehen  und  wollen  mich  durehauf»  an  dem  Tage  drin 

haben Nun  lebe  ich  seit  dem  Sommer  im  Provisorium; 

dazu  eine  Menge  widerwärtiger  .l*rivatgeschäfte  —  es  ist  zum 
Davonlaufen.  Der  Lichtpunkt  sind  die  Parteiverhältnisse.  Nicht 
nur,  daß  die  letzte  Spur  von  Anarchisterei  verschwunden  ist, 
haben  wir  ihre  Hauptquelle  verstopft,  da  der  Polizeirat  Frankl, 
das  Haupt  der  Lockepitzel  von  uns  endlich  weggeschimpft 
wurde.  Derlei  ist  auch  nur  in  Österreich  möglich,  wo  nicht  ein- 
mal Niedertracht  und  Polizeiperfidie  ordentlich  gemacht 
werden,  alle  Behörden  untereinander  Krieg  führen  und  es  mög- 
lich ist,  ihre  Eifersucht  auszunützen  —  dabei  ist  das  politische 
Ansehen  der  Partei  nach  außen  sehr  gewachsen  und  unter  den 
Arbeitern  so  groß  wie  nie  zuvor.  Alle  Organisationen,  die  ge- 
,'^chaffen  waren,  uns  umzubringen,  sind  in  unseren  Händen;  alle 
Blätter,  die  schlechtesten  Presseerzeugnisse  werden  massenhaft 
abgesetzt ;  ja  sogar  die  guten  wachsen  riesig ;  „riesig"  für  unsere 
Verhältnisse.  Die  „Arbeiter-Zeitung''  hat  9000  Auflage;  vor 
einem  Jahre  die  „Gleichheit"*)  5000  —  die  Schwierigkeit  ist 
nur,  die  Leute  zu  beschäftigen  und  wach  zu  erhalten  —  ohne 
Wahlrecht.  Nun  werden  in  gar  nicht  ferner  Zukunft  unsere 
politischen  Verhältnisse  ein  neues.  Gesicht  bekommen.  Der  be- 
rühmte „Ausgleich''  bedeutet,  daß  wir  statt  nationaler  Parteien 
endlich  Torys  und  Whige,  freilich  mit  ganz  anderen  Kampf- 
punkten, Programmen  etc.  erhalten.  LJu  siehst,  ich  habe  die  Be- 
deutung der  jung-tschechischen  Wahlsiege  im  Sommer  nicht 
übertrieben.  Der  „Ausgleich"  ist  die  direkte  Folge  davon.  Ich 
erwartete  ihn  nach  den  Wahlen  (Sommer  1891) ;  die  Kerle 
fürchten  aber  gerade  die  Wahlen  und  darum  schon  heute  die 
geänderte  Lage.  Vor  allem  hat  der  Kaiser  gedrückt,  der  fest  be- 
hauptet: Binnen  allerlängstcns  zwei  Jahren  haben  wir  Krieg 
mit  Kußland,  und  der  vorher  Ordnung  haben  will.  Er  glaubt 
so  eicher  an  den  Sieg,    daß    er  Verfassungsändenmgen  hinaus- 


*)  Die  „Gleichheit",  die  Vorläuferin  der  „Arbeiter-Zeitung",  wurde 
unmittelbar  vor  dem  Prozeß  gegen  Adler  und  Bretschneider  durch  die 
Polizei  verboten.  Die  letzte  Nummer  der  „Gleichheit"  erschien  am  14.  Juni 
1889,  die  erste  der  „Arbeiter-Zeitung"  am  12.  Juli  1889.  Als  Herausgeber 
zeichnete,  um  die  Kontinuität  nicht  allzu  provozierend  zu  dokumentieren, 
nicht  mehr  Adler,  sondern  Julius  Popp  und  Rudolf  Pokorny.  Über  das 
Zwischenstadium  zwischen  „Gleichheit"  und  ,, Arbeiter-Zeitung"  siehe 
„Sozialdemokratische  Monatsschrift",  I.  Jahrgang,  Nr.  5,  datiert  vom 
31.  Mai  1889,  erschienen  Ende  Juni,  Seite  11  bis   16  („Sprechsaal"). 


Briefe:  Jänner  1888  bis  April  1890. 


schieben  will,  bis  ein  gutes  Stück  Russisch-Poleu  niit„geregelt" 
werden  kann.  Für  uns  ist  es  nun  außerordentlich  günstig,  wenn 
die  Nationalitätenfrage  in  den  Hintergrund  tritt.  Wir  können 
ihr  gegenüber  nichts  tun  als  unsere  Internationalität  betonen, 
und  dae  ist  auf  die  Dauer  sehr  langweilig.  Die  Impotenz  der 
großen  Parteien  tritt  aber  dann  erst  recht  in  helles  Licht,  wenn 
sie  sich  an  die  anderen  Fragen  werden  machen  müssen.  Außer- 
dem dürften  wir  Reformen,  wenn  nicht  Wahlrecht,  doch  Press-, 

Versamralungs-  und  Vereinsrecht  ergattern :   obwohl  ich 

nicht  allzuviel  erwarte,  ist  jede  kleinste  Konzeseion  schon  ein 
Eiesengewinn.  —  Wenn  nur  der  ind'uatrielle  „Aufschwung'" 
einige  Zeit  hält;  das  ist  für  uns  das  wichtigste.  — 

Deinen  Rat.  den  Avenel  zu  bearbeiten,  nehme  ich  mit 
großem  Danke  an.  Was  mir  fehlt,  werde  ich  wohl  erst  im  Ver- 
lauf der  Arbeit  sehen  und  bitte  Dich  iiu  vorhineiu  um  weitere 
Beihilfe.  —  Die  Lectures  on  marriage  (Owen*j  werde  ich 
jedenfalls  übersetzen  und  mich  dabei  umsehen,  ob  ich  das  von 
Dietz  längst  gewünschte  Buch  nicht  doch  fertig  kriege.  Was 
mich  abhält,  ist.  daß  ich  eine  Arbeit  a  la  Bebel-Fonrier  nicht 
machen  will,  weil  ich  sie  für  wertlos  halte;  für  eine  Leistung 
a  la  Kaütsky-Morus  aber  mein  Wissen  kaum  ausreicht.  Viel- 
leicht komme  ich  aus  dem  Dilemma  heraus! 

Kautsky  habe  ich  gestern  gesehen;  bis  dahin  wußte  ich 
offiziell  nicht,  daß  er  da  sei.  Er  hat  Influenza  gehabt  (unter 
der  wir  übrigens  zu  Neujahr  alle  gelitten  haben)  und  sieht 
elend  aus.  Ich  freue  mich  herzlich  von  iiim  zu  hören,  daß  Du 
wf>hl  und  arbeitelustig  bist,  wie  je  zuvor.  Du  wirst  es  nicht  übel- 
nehmen, wenn  ich  Dir  einmal  ausdrücklich  sage,  wie  wir  in 
Österreich  alle  an  dir  hängen  und  wie  wir,  ich  vor  allen,  davon 
durchdrungen  sind,  was  wir  Dir  zu  danken  haben.  In  einem 
Sinne  Dir  mehr,  oder  sagen  wir:  anderes  als  Marx:  Politik  und 
Taktik,  Anwendung  der  Theorie  in  corpore  vivo. 

Hoffentlich  kriegen  wir  bald  den  IlT.  Band  und  wirst  Du 
auch  diese  Riesenarbeit  bewältigen,  um  den  Kopf  frei  zu  be- 
kommen für  andere  Arbeiten 


*j  Lectures  on  Ihe  marriage  of  tiie  Priesthood  of  Ihe  old  immoral 
World.  Delivcred  in  the  year  1835  before  the  Passing  of  the  new  marriage 
act  by  Robert  Owen.  Adler  hat  die  beabsichtigte  Übersetzung  nicht  aus- 
geführt. t-|)er  den  Inhalt  der  Arbeit  Owens  vergleiche  zum  Beispiel  Helene 
Simon;   Robert  Owen.   Verlag  Fischer,  Jena    1905,  Seite  272  bis  281. 


Friedrich  Engels  über  den  Antisemitismus. 


Von  Louise  kann  ich  melden,  daß  sie  in  Rekonvaleszenz 
ißt.  Die  schwere  Wunde  vernarbt  langsam,  aber  sie  vernarbt. 
Sie  ist  viel  bei  uns  und  ich  hoffe,  daß  sie  auch  bald  wieder  mehr 
zu  tun  kriegt,  was  ihr  in  jedem  Sinne  gut  täte. 

In  der  Anlage  findest  Du  zwei  Exemplare  von  der  Photo- 
graphie Marx',  die  ich  nach  dem  Bilde,  das  mir  Frau  Laura  an- 
vertraut, vervielfältigen  ließ.  Da  ich  glaube,  daß  Du  sie  nicht 
hast,  so  sende  ich  sie.  Gib  eines  Deiner  sorglichen  Hausfrau*), 
deren  ich  dankbar  gedenke  und  die  ich  herzlich  zu  grüßen  bitte. 
Ebenso  folgen  von  meiner  Frau  herzliche  Grüße  an  Dich  und 
sie.  Dein  Dr.  V.  Adler. 

5. 

..Arbeiter-Zeitung."  9.  Mai  1890. 

Friedrich  Engels  über  den  Antisemitismus. 

Aus  einem  Privatbrief  nach  Wien**). 
.  .  .  (3b  Sie  aber  n)!t  dem  Antisemitism,us  nicht  mehi-  Un- 
glück als  Gutes  anrichten  werden,  muß  ich  Ihnen  zu  bedenken 
geben.  Der  Antisemitismus  ist  das  Merkzeichen  einer  zurück- 
gebliebenen Kultur  und  findet  sich  deshalb  auch  mir  in  Preußen 
und  Österreich,  respektive  Rußland.  Wenn  man  hier  in  Eng- 
land oder  in  Amei-ika  Antisemitismus  treiben  wollte,  so  würde 
man  (ünfach  ausgelacht  und  Herr  J3rumont  erregt  in  Paris  mit 
seinen  Schriften  —  die  an  Geist  denen  der  deutschen  Anti- 
semiten unendlich  überlegen  sind  —  doch  n\ir  ein  bißchen  wir- 
kungslose Eintags-Seiisation.  Zudem  muß  er  ja  jetzt,  da  er  als 
Stadtratskandidat  auftritt,  selbst  sagen,  er  sei  gegen  das  christ- 
liche Kapital  ebensosehr,  wie  gegen  das  jüdische!  Und  Herrn 
Drumont  würde  man  lesen,  wenn  er  auch  die  gegenteilige 
Meinung  verträte. 


*)  Helene  Demulh,  die  treue  Genossin  und  Helferin  der  Familie  ]\hux, 
die  die  schlimmsten  Jahre  des  Exils  tapfer  miterlrug,  hat  seit  Marx'  Tod  den 
Jlaushalt  Friedrich  Engels"  geleitet.  Vergleiche  über  Helene  Demuth  den 
.\ufsatz  Paul  Lafargues:  „Karl  Marx,  Persönliche  Erinnerungen",  „Neue 
Zeit",  erster  Band  des  IX.  .lahrganges,  Seite  38 — 39  (1890)  sowie 
W.  Liebknecht:  ..Karl  Marx  zum  Gedächtnis",  Nürnberg,  Wörlein  &  Co., 
1896,  Seile  90  ff. 

**)  Am  9.  Mai  1890  veröftenllichtc  die  „Arbeiter-Zeitung"  den  oben 
gegebenen  Teil  aus  einem  Brief  von  Friedrich  Engels,  mit  folgender  An- 
merkung: ..Es  bedarf  wohl  kaum  der  Erwähnung,  daß  wir  diesen  Brief  mit 
beiderseitiger  Genehmigung,  der  des  Schreibers  und  der  des  Empfängers, 
zum  Abdruck  bringen.  Die  Redaktion."  Den  Namen  des  Empfängers  könnt»; 
der  Herausgeber  nicht  feststellen. 


Friedrich  Engels  über  den  Antisemitismus. 


Es  ist  in  Preußen  der  Kleinadel,  das  Junkertum,  das 
10.000  Mark  einnimmt  und  20.000  Mark  ausgibt  und  daher  den 
Wucherern  verfällt,  das  in  Antisemitismus  macht,  und  in 
Preußen  und  Österreich  i§t  es  der  dem  Untergang-  durch  die 
großkapitalistische  Konkurrenz  verfallene  Kleinbürger,  Zunft- 
handwerker und  Kleinkrämer,  der  den  Chor  dabei  bildet  und 
mitschreit.  Wenn  aber  das  Kapital  diese  Klassen  der  Gesell- 
schaft vernichtet,  die  durch  und  durch  reaktionär  sind,  so  tut 
es,  was  seines  Amtes  ist,  und  tut  ein  gutes  Werk,  einerlei,  ob 
es  nun  semitisch  oder  arisch,  bes<'hnitten  oder  getauft  ist;  e» 
hilft  den  zurückgebliebenen  Preußen  und  Österreichern  vor- 
wärts, daß  sie  endlich  auf  den  modernen  Standpunkt  kommen, 
wo  alle  alten  gesellschaftlichen  Unterschiede  aufgehen  in  den 
einen  großen  Gegensatz  von  Kapitalisten  und  Lohnarbeitern. 
Nur  da,  wo  dies  noch  nicht  der  Fall,  wo  noch  keine  starke  Kapi- 
talistenklasse existiert,  also  auch  noch  keine  starke  Lohn- 
arbeiterklasse, wo  das  Kapital  noch  zu  schwach  ist,  sich'  der 
gesamten  nationalen  Produktion  zu  bemächtigen  und  daher  die 
Effektenbörse  zum  Haupt  seh  au  platz  seiner  Tätigkeit  hat,  wo 
also  die  Produktion  noch  in  den  Händen  von  Bauern,  Guts- 
herren, Handwerkern  und  ähnlichen  aus  dem  Mittelalter  über- 
kommenen Klassen  sich  befindet  —  nur  da  ist  das  Kapital  vor- 
zugsweise jüdisch  und  nur  da  gibt's  Antisemitismus. 

In  ganz  Nordamerika,  wo  es  Millionäre  gibt,  deren  Reich- 
tum sich  in  unseren  lumpigen  Mark,  (Julden  oder  Franken 
kaum  ausdrücken  läßt,  ist  unter  diesen  Millionaren  nicht 
e  i  n  e  i  n  z  i  g  e  r  .T  u  d  e,  und  die  Rothschilds  sind  wahre  Bettler 
gegen  diese  Amerikaner.  Und  selbst  hier  in  England  ist  Roth- 
.schild  ein  Mann  von  bescheidenen  Mitteln  zum  Beispiel  gegen- 
über dem  Herzog  von  Westminster.  Selbst  bei  uns  am  Rhein, 
tie  wir  mit  Hilfe  der  Franzosen  den  Adel  vor  95  Jahren  zum 
Land  hinausgejagt,  und  nns  eine  moderne  Industrie  geschaffen 
haben,  wo  sind  da  die  Juden? 

Der  Antisemitismus  i.st  also  nichts  anderes  als  eine 
Reaktion  mittelalterlicher,  untergehender  Gesellschafts- 
t^chichten  gegen  die  moderne  Gesellschaft,  die  wesentlich  aus 
Kapitalisten  und  Lohnarbeitern  besteht,  und  dient  daher  nur 
reaktionären  Zwecken  unter  scheinbar  sozialistischem  Deck- 
mantel; er  ist  eine  A'bart  des  feudalen  Sozialis^mos,  und  damit 
können  wir  nichts  zu  schaffen   haben.   Ist   er   in   einem  Lande 


Der  4.  Mai  in  London. 


möglich,  so  ist  das  ein  Beweis,  daß  dort  noclr  nicht  genug 
Kapital  existiert.  Kapital  und  Lohnarbeit  sind  heute  untrenn- 
bar. Je  ^'^tiirker  das  Kapital,  desto  stärker  auch  die  Lohnarbeiter- 
klasse, desto  näher  also  das  Ende  der  Kapitalisteuherrschaft. 
Uns  Deutschen,  wozu  ich  auch  die  Wiener  rechne,  wünsche  ich 
also  recht  flotte  Entwicklung  der  kapitalistischen  Wirtschaft, 
keineswegs  deren  Versumpfen  im  Stillstand. 

Dazu  kommt,  daß  der  Antisemitismus  die  ganze  Sachlage 
verfälscht.  Er  kennt  nicht  einmal  die  Juden,  die  er  nieder- 
schreit. Sonst  würde  er  wissen,  daß  hier  in  England  und  in 
Amerika,  dank  den  osteuropäischen  Antisemiten,  und  in  der 
Türkei,  dank  der  spanischen  Liquisition,  es  Tausende  und  Aber- 
tausende jüdischer  Proletarier  gibt ;  und  zwar  sind 
diese  jüdischen  Arbeiter  die  am  schlimmsten  ausgebeuteten  und 
die  allerelendesten.  Wir  haben  hier  in  England  in  den  letzten 
zwölf  Monaten  drei  Streiks  jüdischer  Arbeiter  gehabt,  und 
da  sollen  wir  Antisemitisanus  treiben  als  Kampf  gegen  das 
Kapital  ? 

Außerdem  verdanken  wir  den  Juden  A^el  zu  viel.  Von 
Heine  und  Börne  zu  schweigen,  war  Marx  von  stockjüdisohem 
Blut;  Lassalle  war  Jude.  Viele  unserer  besten  Leute  sind 
fludeu.  Mein  Freund  Victor  Adler,  der  jetzt  seine  Hingebung 
für  die  Sache  des  Proletariats  im  (lefängnis  in  Wien  abbüßt, 
Eduard  Bernstein,  der  Redakteur  des  Londoner  ,, Sozial- 
demokrat", Paul  Singer,  einer  unserer  besten  Eeichstags- 
männer  —  Leute,  auf  deren  Freundschaft  ich  stolz  bin,  und 
alles  Juden!  Bin  ich  doch  sell>st  von  der  ,,(Tartenlaul)e'"  zum 
Juden  geuuiclit  worden,  und  a-llerding\Si,  wenn  ich  wählen 
müßte,  dann  lieber  Jude  als  ,,Herr   v  o  n"!  .  .  . 

London,  10.  April  1890.  F  r  i  e  d  rieh  E  n  g  e  1  s. 

6. 

„Aibeiler-Zoitung."  23.    Mai    JS90 

Der  4.  Mai  in  London. 

Von  Friedrii'h  Engels. 
Die  Maifeier  des  Proletariats  war  epochemachend  nicht 
nui'  durch  ihre  Allgemeinheit,  die  sie  zur  ersten  internationalen 
T  a  t  der  kämpfenden  Arbeiterklasse  machte.  Sie  hat  auch  dazu 
gedient,  höchst  erfreuliche  Fortschritte  in  den  einzelnen  Län- 
dern zu  konstatieren.  Feind    und  Freund  sind    einig    darüber, 


Der  i.  Mai  in  London. 


'laß  auf  de  in  ganzen  Festland  Österreich,  und 
in  Österreich  Wien,  den  Festtag  des  Proleta- 
riats am  glänzendsten  und  würdigsten  be- 
gangen und  die  öslerreichische,  voran  die  Wiener  Arbeiter- 
schaft, sich  damit  eine  ganz  andere  Stellung  in  der  Bewegung 
erobert  hat.  Vor  einigen  Jahren  noch  war  die  österreichische 
Bewegung  fast  auf  den  Nullpunkt  gesunken,  waren  die  Ar- 
beiter der  deutschen  und  slawischen  Kronländer  in  feindliche 
Parteien  gespalten,  ihre  Kräfte  aufreibend  in  innerem  Kampf; 
wer  noch  vor  nur  drei  Jahren  behauptet  hätte,  am  1.  ]\[ai  1890 
würde  Wien  und  ganz  Österreich  allen  anderen  ein  Vorbild 
geben,  w^ie  ein  proletarisches  Klassenfest  zu  feiern  ist,  den 
hätte  man  ausgelacht.  Diese  Tatsache  werden  wir  gut  tun,  nicht 
zu  vergessen,  wenn  wir  die  Zwistigkeiten  der  inneren  Kämpfe 
beurteilen,  in  denen  die  Arbeiter  anderer  Länder  ihre  Kräfte 
noch  heute  verzehren,  wie  zum  Beispiel  in  Frankreich.  Wer 
■'  will  behaupten,  daß  Paris  nicht  wird  tun  können,  was  Wien 
getan  hat? 

Wien  aber  ist  am  4.  Mai  in  den  Schatten  gestellt  worden 
von  London.  L"nd  das  halte  ich  für  den  wichtigsten  und  groß- 
artigsten Teil  der  ganzen  Maifeier,  daß  am  4.  'Mai  1890  das 
von  vierzigjährigem  Winterschlaf  erwachte  englische 
Proletariat  in  die  Bewegung  seiner  Klasse 
wieder  eingetreten  ist.  Um  dies  zu  verstehen,  ist 
die  Vorgeschichte  des  4.  Mai  unentbehrlich. 

Hegen  Anfang  vorigen  Jahres  geriet  das  größte  und 
elendeste  Arbeiterviertel  der  Welt,  das  Ortende  von  London, 
allmählich  in  Bewegung.  Am  1.  April  1889  wurde  der  Fach- 
verein der  (iasarbeiter  und  Handarbeiter  überhaupt  (Gas 
Workers  and  General  Labourers  Union)  gestiftet ;  er  zählt 
heute  an  100.000  Mitglieder.  W"e-sentlich  unter  Mitwirkung 
dieses  mitbeteiligten  Vereines  (viele  sind  Gasarbeiter  im 
Winter,  Dockarbeiter  im  Sommer)  kam  der  große  Dockstreik 
in  Ciang  nnd  rüttelte  eelbf^t  den  untersten  Bodensatz  der 
Ostlondoner  Arbeiterschaft  aus  der  Versumpfung  auf.  Jetzt 
bildeten  sich  unter  diesen,  meist  ungelernten  Arbeitern 
Kachvereine  übei-  Fachvereine,  während  die  <lort  schon 
bestehenden,  bisher  nur  mühsam  sich  haltenden,  nun  rasch 
aufblühten."  Der  Unterschied  dieser  neuen  Trades  Unions  von 
den     alten     war    aber   sehr   groß.    Die   alten,  die   „gelernten*' 


10  T^  ,       w 

AJer  4.  Mai  m  London 


Arbeiter  umfassend,    Bind   exklusiv;    sie    schließen    alle   nicht 
zunftmäßig  angelernten  Arbeiter  aus,  und  schaffen  sich  damit 
selbst  eine  nicht  zünftige  Konkurrenz;  sie  sind  reich,  aber  je 
reicher,  desto  mehr  arten  sie  aus  in  bloße  Kranken-  und  Sterbe- 
kassen;   sie   sind   konservativ   und   halten    sich  namentlich  den 
fft  Sozialismus  vom  Halse,  soviel   und  solange  es  geht    Die 
neuen    „ungelernten'^    dagegen    nehmen   jeden    Fachgenossen 
auf;    sie    sind    wesentlich,    und    die     Gasarbeiter    sogar  au- 
schließlich,    Streikvereine    und    Streikka^en;     und    wenn    sie 
auch  noch  nicht  Mann  für  Mann  Sozialisten  sind,  so  wollen  sie 
doch  platterdings  zu  ihren  Führern  nur  Sozialisten  und  keine 
anderen.    Die   sozialistische   Propaganda   war   aber   schon    seit 
Jahren  im  Ostende  tätig  gewesen,  und  hier  waren  es  besonder« 
I^rau    E.  Marx-Aveling    und    ihr  Mann,    Eduard    Aveling,    die 
seit   vier    Jahren    in  den   fast  nur    aus    Arbeitern    bestehenden 
„radikalen    Klubs"    das    beste    Propagandafeld    entdeckt    und 
ausdauernd    bearbeitet  hatten,    und    wie  sich   jetzt  gezeigt   hat 
mit  dem  besten  Erfolg.     Während    des   Dockstreiks    war   Frau 
Aveling  eine  der  drei  Frauen,  die  die  Unterstützungsverteilung 
besorgten    und   zum    Dank   dafür    von   Herrn   Hyndman,    dem 
Ausreißer  von  Trafalgar  Square,  verleumdet  wurden,  als  hätten 
sie    sich     dafür    aus    der    Streikkasse     drei     Pfund    ^Sterling 
wöchentlich  zaWen  lassen.  Den  Streik  in  Silvertown,  ebenfalls 
im   Ostende,   vorigen   Winter,   leitete   Frau   Aveling  fast  ganz 
aüein    und    sie  vertritt    eine  von    ihr    dort    ge8tiftete    Frauen- 
sektion im  Ausschuß  der  Gasarbeiter. 

-.Die    Gasarbeiter   hatten    sich    im    vorigen    Herst   hier    in 
London   den  achtstündigen   Arbeitstag  erkämpft,   ihn   aber   im 
südlichen  Stadtteil  in  einem  unglücklichen  Streik  wieder  ver- 
loren und    Beweise    genug    erhalten,   daß  diese  Errungenschaft 
auch     im     nördlichen     Teil     Londons     keineswegs    für     immer 
gesichert  ist.  Was  Wunder  also,  daß  sie  bereitwillig  eingingen 
auf  den  Vorschlag  von  Frau  Aveling,  die  vom  Pariser  Kongreß 
beschlossene  Maifeier  zugunsten  des  gesetzlichen  Achtstunden- 
tager.   f„r  London    einzuleiten?    In    Gemeinschaft    mit  einigen 
sozialistischen   (Iruppen,  den  radikalen  Klubs  und  den  anderen 
Trades  Unions  im  Ostende  setzten  sie  ein  Zentralkomitee  ein 
das  eine   große  Demonstration    zu  diesem    Zweck    im  Hydepark 
organisieren  sollte.     Da  «ich  herausstellte,  daß  jeder  Versuch 
diese  Demonstration  am  Donn^rsta^   den  ].  Mai  abzuhalten    ,n 


Der  4.  Mai  in  London.  ll 

diesem  Jahr  notwendig  scheitern  müsse,  so  beschloß  man,  sie 
auf  Sonntag   den  4.  zu  verlegen. 

Damit  womöglich  alle  Londoner  Arbeiter  sich  beteiligten, 
lud  das  Zentralkomitee  in  naiver  Unbefangenheit  auch  den 
Londoner  Trades  Council  ein.  Es  ist  dies  eine  aus  Delegierten 
von  Londoner  Trades  Unions,  und  zwar  meist  der  älteren 
,. gelernten''  Gewerkschaften  zusammengesetzte  Körperschaft, 
worin,  wie  zu  erwarten,  einstweilen  noch  dae  antisozialistische 
Element  die  Mehrheit  hat.  Der  Trades  Council  sah,  daß  die 
Bewegung  für  den  Achtstundentag  ihm  über  den  Kopf  zu 
wachsen  drohe.  Die  alten  Trades  Unions  sind  ebenfalls  für 
einen  achtstündigen  Arbeitstag,  aber  nicht  für  einen  gesetzlich 
festzusetzenden.  Unter  dem  Achtstundentag  verstehen  sie, 
daß  für  acht  Stunden  der  normale  Taglohn  —  so  viel  per  Stunde 
—  bezahlt  wird,  daß  es  aber  erlaubt  sein  soll,  jede  beliebige 
Zahl  täglicher  Überstunden  zu  arbeiten,  vorausgesetzt,  daß 
jede  Überstunde  höher  bezahlt  wird,  sage  so  viel  wie  anderthalb 
oder  zwei  gewöhnliche  Stunden.  Es  handelte  sich  aleo  darum, 
die  Demonstration  in  das  Fahrwasser  dieses  durch  , .freie'" 
Vereinbarung  zu  erkämpfenden,  aber  ja  nicht  durch  Parla- 
mentsakte obligatorisch  zu  machenden  Arbeitstages  zu  lenken. 
Zu  diesem  Zweck  vereinigten  eich  der  Trades  Council  mit  der 
Social  Democratic  Federation  des  obenerwähnten  Herrn 
Hyndman,  einer  Gesellschaft,  die  sich  als  die  alleinselig- 
machende Kirche  des  englischen  Sozialismus  geriert.  die  ganz 
konsequent  ein  Bündnis  auf  Leben  und  Tod  mit  den 
franzöeischen  Possibilisten  geschlossen  und  deren  Kongreß 
beschickt  hat  und  die  daher  von  vornherein  die  vom  Marxisten- 
kongreß beschlossene  Maifeier  als  eine  Sünde  wider  den 
Heiligen  Geist  ansah.  Auch  ihr  wuchs  die  Bewegung  über  den 
Kopf;  aber  dem  Zentralkomitee  sich  anschließen,  hieß  sich 
unter  die  Führung  der  ,, Marxisten"  stellen;  wenn  dagegen  der 
Tradee  Council  die  (Sache  in  die  Hand  nahm  und  wenn  die 
Feier  am  4.  stattfand  statt  am  1.  Mai,  so  war  das  gar  nicht  die 
böse  „marxistische"  Maifeier  mehr  und  man  konnte  mitmachen. 
Trotzdem  nun  die  sozialdemokratische  Föderation  den  gesetz- 
lichen Achtstundentag  in  ihrem  Programm  führt,  schlug  sie  in 
die  vom  Trades  Council  gebotene  Hand  mit  Freuden  ein. 

Die  neuen  Alliierten,  sonderbare  Bettgenossen  wie  eie 
waren,  begingen  nun  einen  Streich,  gegen  das  Zentralkomitee, 


12  Der  4.  Mai  in  London. 


(U.'V  in  der  politischen  Praxis  der  englischen  Böurgeoii>ie  zwar 
als  nicht  nur  erlaubt,  sondern  als  sehr  geschickt  gelten  ^i-irde, 
den  aber  die  europäischen  und  aniorikanischen  Arbeiter  wahr- 
scheinlich für  äußerst  kommun  erklären  werden.  Bei  Volks- 
versammlungen im  Hydepark  nämlich  müssen  die  Veranötalter 
ihre  Absicht  dem  Ministerium  für  öffentliche  Arbeiten  (Board 
cf  Works)  vorher  anzeigen  und  sich  mit  ihm  über  die  Einzel- 
heiten verständigen,  namentlich  die  Erlaubnis  einholen,  Wagen, 
die  als  Tribünen  dienen  sollen,  aufs  Gras  zu  fahren.  Vorschrift 
ist  dann,  daß,  nachdem  eine  Versajimilung  angezeigt,  keine 
zweite  am  selben  Tage  im  Park  gehalten  werden  darf.  Das 
Zentralkomitee  hatte  diese  Anzeige  noch  nicht  gemacht;  kaum 
aber  erfuhren  dies  die  gegen  dasselbe  verbündeten  Körper- 
schaften, als  sie  sofort  auf  den  4.  ^lai  eine  Verj^ammlung  im 
Park  anmeldeten  und  sich  sieben  Tribünen  bewilligen  ließen, 
nnd  zwar  hinter  dem  Rücken  des  Zentralkomitees. 

Damit  glaubten  der  Trades  Council  und  die  Föderation 
den  l'ark  für  den  4.  Mai  gepachtet  und  den  Sieg  in  der  Tasc-he 
zu  haben.  Der  erstere  berief  nun  eine  Versammlung  von  Dele- 
gierten der  Trades  Unions,  wozu  auch  zwei  Delegierte  des 
Zentralkomitees  eingeladen  wurden;  dieses  sandte  ihnen  drei, 
darunter  Frau  Aveling.  Der  Trades  Council  trat  ihnen  gegen- 
über auf  als  Herr  der  Situation.  Er  teilte  mit,  daß  n  u  r  Fach 
vereine,  also  keine  sozialistischen  Vereine  oder  politische  Klub? 
an  der  Demonstration  sich  beteiligen  und  Fahnen  mitbringen 
könnten;  wie  die  sozialdemokratische  Föderation  da  mitdemon- 
strieren sollte,  blieb  ein  Rätsel.  Er  hatte  die  der  Versammlung 
vorzulegende  Resolution  bereits  fertig  redigiert,  und  zwar  war 
darin  die  Forderung  des  gesetzlichen  Achtstundentage-^ 
gestrichen;  ein  Vorschlag,  ihn  wieder  hineinzusetzen, 
wurde  wieder  zur  Debatte  noch  zur  Abstinmiung  zugelassen. 
Und  endlich  weigerte  er  sich,  Frau  Aveling  als  Delegierte  zuzu- 
lassen, weil  sie  keine  Handarbeiterin  sei  (was  nicht  wahr  ist). 
und  trotzdem  sein  eigener  Präsident,  Herr  Shipton,  seit 
reichlich  15  Jahren  keinen  Streich  in  seinem  Handwerk 
gearbeitet  hat. 

Die  Arbeiter  des  ^Zentralkomitees  waren  entrüstet  über 
den  ihnen  gespielten  Sti-eich.  Die  Demonstration  schien  end- 
gültig in  die  Hände  zweier  Körperschaften  ges-pielt,  die  nur 
geringe  Minoritäten   der   Londoner   Arbeiter   vertraten.    Kein 


Der  4.  Mai  in  London.  lÜ 

Gegenmittel  schien  zu  bleiben  als  die  von  den  Gasarbeitein 
angedrohte  Erstürmung  der  Tribünen  des  Trades*  Council. 
Da  ging  Eduard  Aveling  aufs  Ministerium  und  erwirkte  trotz 
der  entgegenstehenden  Kegel  dem  Zentralkomitee  das  Recht, 
ebenfalls  sieben  Tribünen  im  Park  aufzufahren.  Der  Versuch, 
die  Demonstration  im  Interesse  der  Minorität  zu  eskamotieren, 
war  gescheitert;  der  Trades  Council  zog  seine  Hörner  ein  und 
war  froh,  mit  dem  Zentralkomitee  wegen  Anordnung  der 
r>emonstration  auf  gleichem  Fuß  verhandeln  zu  dürfen. 

Dieses  Vorgeschichtliche  muß  man.  kennen,  um  den 
Charakter  und  die  Bedeutung  der  Demonstration  zu  würdigen. 
Von  den  neu  in  die  Bewegung  eingetretenen  Arbeitern  des 
Ostends  angeregt,  fand  sie  solch  allseitigen  Anklang,  daß  zwei 
Elemente,  die  einander  nicht  minder  feindlich  gegenüber- 
standen als  beide  zux'^ammen  dem  (rniudgedanken  der  Demon- 
stration, genötigt  wurden,  sich  zu  verbünden,  um  die  Leitung 
an  sich  zu  reißen  und  die  Versammlung  in  ihrem  Sinne  auszu- 
beuten. Hier  der  konservative  Trades  Council,  der  die  Gleich- 
berechtigung von  Kapital  und  Arbeit  predigt,  dort  die  radikal- 
tuende sozialdemokratische  Föderation,  die  bei  allen  ungefähr- 
lichen Gelegenheiten  mit  der  sozialen  Revolution  um  sich 
wirft  —  und  beide  verbündet  zu  einem  geraeinen  Streich,  um 
Kapital  zu  schlagen  aus  einer  ihnen  beiden  grundverhaBten 
Demonstration.  Die  Versammlung  des  4.  Mai  wurde  durcli , 
diese  Vorgänge  in  zwei  Teile  gespalten :  auf  der  einen  Seite  die 
konservativen  Arbeiter,  deren  Gesichtskreis  nicht  über  das 
Lohnarbeitssystem  hinausgeht,  und  daneben  eine  engbrüstige, 
aber  herrschsüchtige  sozialistische  Sekte:  auf  der  anderen  die 
große  Masse  der  neu  in  die  Bewegung  eingetretenen  .\rboiter, 
die  von  dem  Manchestortum  der  alten  Trades  Unions  nichts 
mehr  hören  und  sich  ihre  volle  Emanzipation  selbst  erkämpfen 
wollen,  und  zwar  mit  selbstgewählten  Bundesgenossen,  nicht 
mit  den  von  einer  kleinen  sozialistischen  Kuterie  vorgeschrie- 
benen. Auf  der  einen  Seite  det  Stillstand,  vertreten  durch 
Trades  L'nions,  die  sich  selbst  vom  Zunftgeist  noch 
nicht  ganz  befreit,  und  durch  eine  engherzige  Sekte, 
die  sich  auf  die  schäbigsten  Bundesgenossen  stützt;  auf 
der  anderen  die  lebendige  freie  Bewegung  des  wieder 
erwachenden  englischen  Proletariats.  Vnd  der  Augen- 
schein   zeigte     auch     dem    Blindesten,     wo    in    dieser    Doppel- 


14  Der  4.  Mai  in  London 


versammln  Hg  das  irische  Leben  war  und  wo  die  Stagnation. 
TTm  die  sieben  Tribünen  des  Zentralkomitee^s^  dichte,  unabseh,- 
bare  Scharen,  heranziehend  mit  Musik  und  Fahnen,  über 
Hunderttausend  im  Zug,  verstärkt  durch  fast  eben,so  viele,  die 
einzeln  gekommen;  überall  Einstimmigkeit  und  Begeisterung- 
und  doch  Ordnung  und  Organisation,  An  den  Tribünen  der 
vereinigten  Reaktionäre  dagegen  schien  alles  inatt ;  ihr  Zug, 
weit  schwächer  als  der  andere,  schlecht  organis-iert,  unordentlich 
und  großenteihs  verspätet,  so  daß  man  dort  stellenweise  erst 
anfing,  als  das  Zentralkomitee  bereits  fertig  w'ar.  Während  die 
liberalen  Führer  einzelner  radikalen  Klubs  und  die  Beamten 
mancher  Trades  Ünions  sich  dem  Trades  Council  angeschlossen, 
marschierten  die  Mitglieder  der&elben  Vereine,  ja,  vier  ganze 
Zweiggesellschaften  der  sozialdemokratischen  Föderation,  mit 
dem  Zentralkomitee.  Trotz  alledem  hatte  der  Trades  Council 
immer  noch  einen  Achtungserfolg,  aber  der  durchschlagende 
Erfolg  war  beim  Zentralkomitee. 

Was  al>er  die  zahlreichen  zuschauenden  Bourgeois- 
politiker als  Totaleffekt  mit  nach  Hause  genonmien,  das 
ist  die  Gewißheit,  daJ3  das  englische  Proletariat,  das 
nunmehr  volle  vierzig  Jahre  den  Schwanz  und  das  Stimm- 
vieh der  großen  liberalen  Partei  abgegeben,  endlich  zu  neuem 
selbständigen  Leben  und  Handeln  erwacht  ist.  Und  daran  kann 
kein  Zweifel  sein:  Am  4.  Mai  1890  ist  die  englische  Arbeiter- 
klasse eingetreten  in  die  große  internationale  Armee.  Und  das 
ist  eine  epochemachende  Tatsache.  Das  englische  Proletariat 
fußt  auf  der  fortgeschrittensten  industriellen  Entwicklung  und 
besitzt  dazu  die  größte  politische  Bewegungsfreiheit.  Sein 
langer  Winterschlaf  —  Folge  einei^eits  des  Scheiterns  der 
Chartistenbewegung  von  18;5(j  bis  1850,  anderseits  des 
kolossalen  indu.striellen  Aufschwungs  von  1848  bis  1880  —  ist 
endlich  gebrochen.  Die  Enkel  der  alten  Chartisten  treten  in 
die  Schlachtlinie.  Seit  acht  Jahren  hat  es  sich  geregt  in  der 
breiten  I^lasse,  bald  hier,  bald  da.  Es. isind  sozialistische  Gruppen, 
aufgetaucht,  aber  keine  hat  es  über  den  Stand  einer  Sekte 
hmausgebracht;  Agitatoren  und  angebliche  Parteiführer, 
darunter  auch  bloße  Spekulanten  und  Streber,  sie  blieben  Offi- 
ziere ohne  Soldaten.  Es  war  fast  inm:ier  die  berühmte  Kolonne 
Robert  Blums  aus  dem  badischen  Feldzug  von  1849:  ein  Oberst, 
elf    Offiziere,   ein   Horni&t   und    ein  Mann.    Und   der  Krakeel 


Briefe:  November  1890  15 

dieser  verschiedeaen  Kolonnen  Robert  Blums  untereinander 
über  die  Führung  der  künftigen  proleta riechen  Armee  war 
keineswegs  erbaulich.  Das  wird  jetzt  bald  aufhören,  ganz  wie 
evS  aufgehört  hat  in  Deutsehland  und  in  Österreich.  Die  gewal- 
tige Bewegung  der  Massen  wird  allen  diesen  Sekten  und 
Häuflein  ein  Ende  machen,  indem  sie  die  Soldaten  absorbiert 
und  den  Offizieren  den  ihnen  gebührenden  Posten  anw-eist. 
.Wem's  nicht  gefällt,  der  kann  sich  drücken.  Ohne  Beibung 
wird's  nicht  abgehen,  aber  es  wird  gehen,  und  in  kürzerer  Zeit, 
als  mancher  erwartet,  wird  die  englische  proletarische  Armee 
so  einig,  so  gut  organisiert,  so  entschlossen  sein,  wie  irgendeine 
und  von  allen  ihren  Kameraden  des  Kontinents  und  Amerikas 
mit  Jubel  begrüßt*). 

Briefe:  November  1890. 

7. 

Engels  an  Adler. 

122  Regents  Park  Pwoad  N.  W. 

London,  15.  November  1890. 
Lieber  Adler- 
Herzlichen  Dank  für  Deinen  Brief.  Eben  kommen  Ave- 
lings**)  zu  mir  mit  einem  Telegramm  von  Luise***),  die  heute 

*;  Bczüsilich  dieses  Artikels  schreibt  Engels  am  9.  August  1890  an 
Sorge:  „Hier  herrscht  Sommerrulie,  nur  daß  Hyndman,  als  Antwort  auf 
meinen  Maiarlikel  in  der  „Wiener  Arbeiterzeitung"  mich  wieder  als  „Groß- 
lama von  Regents  Park  Road"  in  seiner  „.Justice"  mausetot  geschlagen  hat." 
(Briefe  an  Sorge,  Seite  Mi.) 

**)  Edward  .Vveling  war  der  Mann  von  Eloanor  Marx-Aveling,  der 
jüngsten  Tochter  von  Karl  Marx. 

***)  Am  4.  November  1890  war  Helene  Demuth  gestorben.  Engels  schrieb 
am  5.  November  1890  an  Sorge:  „Heute  habe  ich  Dir  eine  Tiauernachricht 
zu  melden.  Mein  gutes,  liebes,  treues  Lenchen  ist  gestern  nachmittags  nach 
kurzer  und  meist  schmerzhafter  Krankheil  sanft  eingeschlafen.  Wir  haben 
sieben  glückliche  Jahre  hier  im  Hause  zusammen  verlebt.  Wir  waren  die 
zwei  letzten  von  der  alten  Garde  von  vor  1848.  .letzt  steh  ich  wieder  allein 
da.  Wenn  während  langer  Jahre  Marx,  und  in  diesen  sieben  Jahren  ich, 
Ruhe  zum  .Arbeiten  fand,  so  war  das  wesentlicli  ihr  Werk. Wie  es  jetzt  mit 
mir  werden  wird,  weiß  ich  nicht.  Ihren  wunderbar  taktvollen  Rat  in  Partei- 
sachen werde  ich  auch  schmerzlich  entbehren."  '.Abgedruckt  in  Briefen  an 
Sorge  usw.,  Seitt'  'MS.  Am  26.  November  1890  schreiht  Engels  an  Sorge: 
„Seit  ich  Dir  den  Tod  meines  guten  Lenchens  mitteilte,  ist  Luise  Kautsky 
einstweilen  zu  mir  gekommen  und  damit  wieder  etwas  Sonnenschein  auf- 
gegangen." fBriofe  an  Sorge  usw.,  Seite  BiQ.)  ^Vm  3.  Jänner  1891  schreibt 
Engels  an  Sorge:  ,, Luise  Kautsky  bleibt  bei  mir.  .  .  .  Ich  kann  wieder  mit 
Ruhe  arbeiten  und  besser  als  je.  denn  sie  wird  zugleich  mein  Sekretär.  Für 
sie  habe  ich  Beschäftigung  genug;  für  einen  Mann,  der  von  draußen  zu  mir 
käme,  nicht."  (Briefe  an  .Sorge,  Seite  3.51.}  —  Louise  Kautsky  führte  Engels' 
Haushalt  und  wirkte  als  seine  Sekretärin,  auch  nach  ihrer  Vermählung  mit 
Dr.  Freybergcr,  bis  zu  Engels!  Tode.  Von  ihrer  Ankunft  in  England  an  war 
sie  auch  ständige  Knrrespondentin  der  Wiener  ,, .Arbeiter-Zeitung". 


16  Briefe;   November   1890. 


von  Wien  hieherreisen  TA'olltc :  send  ujout-y,  schickt  Oeld. 
Aveling  hat  ihr  sofort  einen  Scheck  für  zehn  Pfund  geschickt. 
l)n  ich  iiber  fürchte,  daß  der  nicht  ohne  Rückfrage  bezahlt 
wird,  was  Zeit  kostet,  so  halte  ich's  für  sicherer,  hier  eine  Post- 
anweisung für  zehn  Pfund  herauszunehmen  und  da  Luise  mög- 
licherweise bei  Ankunft  dieses  doch  schon  fort  ist,  auf 
Deinen  Namen,  und  liier  herausgenonuncn  auf  den  von 
PMward  Avoling.  Die  Anweisung  selbst  sollen  wir  nach  Post- 
instruktion hier  behalten,  da  das  Geld  Dir  in  Deiner  von  uns 
angegebenen  Wohnung  bezahlt  werden  wiid. 

Sollte  T>uise  schon  fort  sein,  so  behalte  das  (leid  bis  auf 
weitere  Nachricht  zu  unserer  Disposition. 

Dein  F.  Engels. 

Soeben  kommt  Aveling  zurück,  überall  zu  s'pät,  da  Sams- 
tag nach  4  Uhr  keine  Anweisungen  ausgegeben  werden! ! 
So  schicken   wir's  am  Montag. 

8. 

Engels  an  Adler. 

L(.ndon.  17.  November  1890. 

Lieber  Adler' 

Meinen  Brief  von  Samstag  wirst  Du  erhalten  haben. 
Inzwischen  ist  ein  Telegramm  \on  J>i»ise  an  Avelings  ange- 
kommen (gestern  Nacht  gegen  11  Thr),  Thusday  morning 
Victoria.  Das  kann  nun  Thursday  Donnerstag  heißen,  aber  auch 
Tuesday  Dienstag.  Das  wäre  aber  das  wenigste.  Wir  kennen 
hier  die  neuesten  durchgehenden  Sehnellzugsrouteu  von  Wien 
aus  <lurchaus  nicht,  und  wissen  nur,  daß  man  über  Calai-, 
Ostende  oder  Vlissingen  reisen  kann.  Die  Züge  ül)er  Calais 
oder  Ostende  kommen  aber  ge-gen  5  Uhr  morgens,  die  über 
Vlissingen  gegen  8  Uhr  ditto  an.  Ich  telegraphierte  also  (in 
der  Ungewißheit,  ob  Luise  nicht  schon  fort),  etwas  vor  4  Uhr 
an  Dich:  Kommt  Jvuise  über  Vlissingen,  Ostende  oder  Calais, 
Rückantwort  bezahlt  (12  Worte).  Dies  zur  Erklärung  des  Vor- 
gefallenen, das  Dir  sonst  rätselhaft  und  konfus  vorkommen 
dürfte. 

J)a  Luise  jetzt  die  Ankunft  hier  positiv  ankündigt,  ist 
kein  Crund  vorhanden,  die  zweiten  zehn  Pfund  per  Pofit- 
anwei.sung  zu   schicken,  es  unterbleibt  also. 

Dein   l'\  Engels. 


Friedrich  Engels    siebzigster  Geburtstag  17 


Friedrich  Engels'  siebzigster  Geburtstag. 

Die  „Arbeiter-Zeitung"  vom  2S.  November  1890  veröffentlichte  an 
der  Spitze  folgenden  Aufsatz: 

Friedrich  Engels  erlebt  am  28.  ^s'oveinber  seinen  siebzig- 
sten Geburtstag.  Die  Sozialisten  aller  Länder  und  aller  Welt- 
teile werden  an  diesem  Tage  ihre  (llückwünsche  vereinigen, 
um  den  Mann  zu  ehren,  dem  unter  allen  Lebenden  die  prole- 
tarische Bewegung  am  meisten  verdankt. 

]Jen  Arbeitern  Österreichs  brauchen  wir  nicht  erst  zu  er- 
zählen, wer  Friedrich  Engels  ist  und  was  er  uns  geleistet.  P^ine 
eingehende  Darlegung  seines  Lebenswerkes  geht  weit  über  den 
Rahmen  dieses  Blattes  hinaus,  Sie  müßte  zusammenfallen  mit 
der  Geschichte  der  sozialistischen  Bewegung  seit  den  vierziger 
Jahren.  Was  allein  wir  unternehmen  können,  ist.  einzelne 
Seiten  der  Arbeit  von  Engels  hervorzuheben. 

Allbekannt  ist,  daß  Engels  der  Mitarbeiter  von  Karl 
]\l  a  r  X  war  in  einem  ganz  einzigen  Sinne,  so  daß  es  ihnen  selbst 
fast  unmöglich  ist,  den  Anteil,  welchen  jeder  einzelne  von 
ihnen  an  der  Schaffung  ihrer  Werke  hatte,  abzugrenzen.- Für 
immer  sind  ihre  Namen  unauflöslich  miteinander  vereinigt; 
eine  Vereinigung,  die  der  Tod  nicht  zu  löseii  vermochte.  Denn 
der  siebzigjährige,  dabei  jugendfrische,  unermüdliche  Engels 
ist  rastlos  damit  beschäftigt,  die  Hinterlassenschaft  von  Marx 
zu  ordnen  und  herauszugeben,  mit  Marx  zu  arbeiten,  als  ol) 
er  noch  lebte. 

Das  erste  Werk,  welches  getragen  von  der  materialisti- 
schen Geschichtsauffassung  die  sozialen  Zustände  untersuchte, 
war  „Die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  England",  welche 
der  damals  fünfundzwauzigjährige  Engels  im  Jahre  1845  er- 
scheinen ließ.  Dieses  ]]ucli  stellt  zum  ersten  Male  die  ökono- 
mische und  j)olitische  Lage  einer  Gesellschaftsklasse  im  Zu- 
sammenhang mit  den  Bedingungen  der  Froduktion  und  ilir(M- 
geschichtlichen  Entwicklung  dar.  Was  sich  heute  als  „histo- 
rische Schule''  auf  den  nationalökonomischen  Kathedern 
deutscher  Universitäten  preisen  läßt,  ist,  soweit  es  Wert  hat, 
direkt  von  Engels  beeinflußt.  Leider  vergessen  die  Herren 
Professoren,  daß  zur  historischen  Methode  noch  etwa«  gehört, 
was  sich  freilich  nicht  lernen  läßt:  unbestechliche  Wahrheits- 
liebe, furchtlose  Rücksichtslosigkeit! 


18  Friedrich  Engels'  siebzigster  Geburtstag 


Aber  ,,Die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  Englands"  zeigte 
bereitd  eine  ganz  besondere  Seite  der  Begabung  von  Engels 
auf,  die  unseres  Erachtens  für  ihn  ganz  charakteristisch  ist: 
die  Fähigkeit,  politische  Verhältnisse  klar  zu  durchblicken 
und   danach  die  Parteitaktik   zu  bestimmen  und  einzurichten. 

Die  Vorliebe  des  vielseitigen  Engels  für  strategische 
Studien  hat  ihm  in  Freundeskreisen  den  Namen  „general" 
eingetragen.  Viel  mehr  verdient  er  unseres  Erachtens  diesen 
Titel  als  Ratgeber  in  allen  Fragen  der  Parteitaktik.  Was  das 
bedeutet,  wird  derjenige  zu  würdigen  wissen,  der  Gelegenheit 
hatte,  den  obersten  vom  ,, Manifest''  aufgestellten  Grundsatz 
unserer  Taktik  :  „D  i  e  Emanzipation  der  Arbeite  r 
m  u  ß  d  a  s  W  e  r  k  d  e  r  A  r  b  e  i  t  (>  r  k  1  a  s  s  e  s  e  1  b  s  t  sei  n", 
im  einzelnen  auf  die  wechselnden  Verhältnisse  der  politischen 
T^age  anwenden  zu  sollen.  Man  le^e  einmal  die  leider  schon  recht 
selten  gewordene  Broschüre  von  Engels  aus  dem  Jahre  1865: 
„Die  preußische  Militärfrage  und  die  deutsche  Arbeiterpartei", 
man  sehe,  mit  welcher  Meisterschaft  dort  höchst  komplizierte, 
politische  Verhältnisse  in  ihre  Elemente  zerlegt,  mit  w^elcher 
zwingenden  Logik  die  notwendige  Stellung  der  Arbeiterpartei 
entwickelt  und  wie  präzise  die  Taktik  dargelegt  wird,  welche 
die  Sozialisten  Deutschlands  auch  wirklich  eingeschlagen  haben, 
nicht  weil  Engels,  sondern  weil  die  Tatsachen  sie  ihnen  vor- 
geschrieben. 

Das  k  o  m  m  u  n  i  s  t  i  s  c  h  e  M  a  n  i  f  e  s  t  ist  von  Afarx 
und  Engels  verfaßt;  wir  haben  uns  nie  darüber  erkundigt,  sind 
aber  überzeugt,  daß  jener  Teil  desselben,  der  dort  so  klar  und 
unzweideutig  die  Taktik  der  Partei  behandelt,  von  Engels 
herrührt. 

Und  damit  kommen  wir  zu  einem  anderen  Punkte,  der 
uns  allen  Engels  so  wertvoll  macht:  seine  Eigenschaft,  alles, 
auch  das  scheinbar  Schwierigste  und  Verwickelteste  deutlich  zu 
machen.  Jeder  Gegenstand,  den  er  behandelt,  wird  kristallhell 
und  durchsichtig.  Sein  Stil  ist  von  einer  wahrhaft  klassischen 
Beinheit  und  Einfachheit, 

Jeder  von  uns,  die  wir  in  der  Bewegung  stehen,  wird  un- 
zähligemal  von  Freund  und  Feind  gefragt,  wo  er  kurz,  bündig 
und  verständlich  über  die  moderne  sozialistische  Theorie  Aus- 
kunft erhalten  könne.  Den  Schreiber  dieses  ersuchte  unlängst 
ein  hocbgelahrter  Herr,    Dr.  philasophiae  und  juris  utriusque, 


Friedrich  Engels'  siebzigster  Geburtstag  19 


geradezu  um  das  ,,Text-book"  unserer  Partei;  er  meinte,  so 
ein  Mittelding  zwischen  Handbuch  und  Katechismus!  Aber 
auch  unsere  Parteigenossen  verfügen  nicht  über  allzuviele 
Schriften,  die  zusammenfassend  und  zugleich  erschöpfend  die 
Theorie  des  modernen  Sozialismus  behandeln.  Das  Beste,  was 
wir  in  dieser  Beziehung  haben,  ist  ein  kleines  Büchlein  von 
vier  Druckbogen :  Friedrich  Engels,  Die  Entwick- 
lung des  Sozialismus  von  der  Utopie  zur 
Wissenschaft.  Mit  einer  geradezu  unübertroffenen 
Meisterschaft  hat  Engels  da  die  Riesenarbeit  geleistet,  das 
System  des  wis-sensohaftlichen  Sozialismus  und  seine  Grund- 
lagen abgeschlossen  darzustellen,  und  zwar  in  einer  Form,  die 
für  jeden,  der  denken  will  und  kann,  verständlich  ist.  Wer 
nicht  nur  selbst  lernt,  sondern  auch  bemüht  ist,  das  Gelernte 
mitzuteilen  und  zu  verbreiten,  wird  uns  verstehen,  wenn  w^ir 
gerade  für  dieses  kleine  Büchlein  unserem  Engels  Dank 
sagen.  Es  wird  so  wenig  veralten,  wie  das  „kommunistische 
Manifest'*  veraltet  ist,  trotzdem  es  43  Jahre  her  ist,  daß  es 
erschien. 

Nicht  mehr  als  flüchtige  Striche  konnten  wir  zu  dem 
Bilde  von  Engels  liefern,  das  unsere  Geno,ssen  alle  kennen,  das 
alle  lieben  gelernt  haben.  Wohl  möchten  wir  alle  in  London 
sein,  dem  jugendfrischen  Greise  ins  Auge  sehen,  ihm  Leben  und 
Gesundheit  wünschen,  daß  er  das  Werk  vollenden  könne, 
das  die  Welt  von  ihm  erwartet:  den  Abschluß  des  „K  a  p  i  t  a  1". 
Wohl  mag  er  zurück  denken  an  die  Zeit  der  vierziger  Jahre, 
wo  er  mit  Marx  verbannt  und  von  Land  zu  Land  gehetzt,  die 
theoretische  Grundlage  zum  modernen  Sozialismus  legte,  die 
ersten  Fäden  knüpfte  zu  dem  Bunde,  aus  dem  heute  die 
internationale  Sozialdemokratie  geworden  ist ; 
an  die  Tage,  da  sie  zuerst  das  Wort  in  die  Welt  hinausriefen : 
., Proletarier    aller    Länder,    vereinigt    euch!" 

Die  Gedanken,  die  Engels  bewegen  mö'gen,  den  Rück- 
blick, den  er  und  wir  mit  ihm  auf  .sein  Leben  werfen,  können 
wir  nichtr  besser  als  mit  seinen  eigenen  Worten  ims  verdeut- 
lichen. Am  1.  Mai  1890  schrieb  Engels  die  Vorrede  zur  neuesten 
Ausgabe  des  „kommunistischen  Manif&sts'',  welcher  wir 
folgende  Stellen  entnehmen : 

,,Das  Manifest  hat  einen  eigenen  Lebenslauf  gehabt.  Ln 
Augenblick  seines  ErscheinensS  .  .  .  (Folgt  der  Abdruck  der  Vor- 
rede bis  zum  Schluß.) 


20  Briefe :  Dezember  1890  bis  Juni  1891 


In  floiii  Bdiclil  der  „Arbeiter-Zeitung"  vom  5.  Dezember  1890  über 
die  konstituierende  Yersammhmg  des  Politischen  Vereines 
,.('<  1  e  i  c  h  h  e  i  t"  heißt  es: 

Als  dritter  Punkt  der  Tagesordnung  war  ein  Vortrag  von  Genossen 
Dr.  Adler  über  „Friedrich  E  n  g  e  l  s" ,  den  Altmeister  der  internationalen 
Sozialdemokratie,  anläßlich  seines  siebzigsten  Geburtstages,  angesetzt.  Leider 
konnte  wegen  plötzlicher  Erkrankung  des  Genossen  Dr.  Adler  dieser  mit 
vielem  Interesse  erwartete  Programmpunkt  nur  bescheiden  behandelt  werden. 
Genosse  P  o  k  o  r  n  y,  der  sich  zu  diesem  Gegenstande  zum  Worte  meldete, 
gedachte  in  einfachen,  warmen  Worten  der  Werke  des  greisen,  hochverdienten 
Vorkämpfers  für  die  Befreiung  des  arbeitenden  Proletariats  der  ganzen  Welt, 
Fr  ie  d r  ich  Engels.  „Weder  mit  prunkenden  Festen,  noch  mit  pomphaften 
Toasten  wollen  und  können  wir  ihn  feiern",  bemerkte  Redner,  „zum  Zeichen 
unserer  aller  Verehrung  für  den  alten  Vorkämpfer  und  ergrauten  Genossen 
erheben  wir  uns  von  den  Sitzen",  was  unter  brausenden  Hochrufen  auf 
Friedrich  Engels  und  unter  großer  Begeisterung  der  Versammelten 
geschieht.  Genosse  Walecka  führte  aus,  daß,  wenn  auch  die  Versammlung 
mit  großem  Bedauern  den  Ausfall  des  anberaumten  Vortrages  über  Engels 
zur  Kenntnis  nehme,  könne  doch  die  volle  Anerkennung  aller  Genossen  gegen- 
über dem  Veteranen  unserer  Partei  in  dem  zum  Ausdrucke  gebracht  werden, 
daß  ein  Glückwunschtelegramm  oder  ein  Schreiben  an  Fr  i  e  d  r  i  c  h  Engels 
sogleich  abgesendet  werde.    (Wird  mit  allseitiger  Zustimmung  angenommen.) 


Briefe:  Dezember  1890  bis  Juni  1891. 

10. 

Adler  an  Engels. 

Wien,  9,/1l>.  90. 
\'erchrt«M'  Freund  I 

JVlit  einem  majoren  TeleAraniin  konnte  ich  inic-li  nur  zu 
Deinem  Feste  einstellen:  eine  sehr  schmerzliche  Darm- 
entzündung- hielt  mich  ans  Bett.  Hoffentlich  weißt  Du  auch  so, 
daß  mich  mit  Dir  das  festeste  Band  verknü]>ft,  das  einen 
Schüler  an  seinen  Lehrer  fesseln  kann. 

Au.'^  einigen  Zeilen  Luisens  entnehmen  wii-.  daß  Du  wohl 
bist.  Hoffentlich  hat  die  Festanstreng-ung  Dicli  niclit  allzusehr 
hergenommen.  Daß  I.nisc  bei  Dir  ist,  empfinden  wir  als  große 
Beruhigung.  Sie  steht  so  hoch  in  unserer  Achtung  und  Liebe, 
daß  wir  glauben.  Du  kanntest  keine  bessere  Wahl  treffen.  Ich 
habe  von  Anfang  an  nur  ein  einziges  Bedenken  gehabt,  das  ich 
auch  ihi'  ruhig  mitteilte,  ich  weiß  nicht,  ob  sie  Dir  davon 
gesproclien.  Sie  ist  eine  hingebende,  treue  Seele  —  und  gerade, 
weil  sie  das  ist,  sprach  ich  die  Furcht  aus,  sie  würde  mehr 
oder  anderes  tun  als  sie  soll.  Sie  hat  einen  starken  Trieb  zur 
Selbständigkeit,    hat   aber    den   FanatLsmus,    zu   ,, leisten",   und 


Hrieie:  De/.ember  1890  bi^  Juui  1891  21 


wird  ganz  bestimmt  —  das  sehe  ich  förmlich  vor  Augen  —  in 
einer  Weise  I>ir  zur  Seite  sein,  wie  sie  es  in    ihrem   Interesse 
nicht   tun  sollte.   Sie   wird  Dein    Schatten    sein,     was  sie 
meine;.   Erachtens    nicht    soll,    was  Dir   nicht   niitzt     und    sie 
schädigt.  Sie  ist  ja  in  den  letzten  Jahren  gewohnt  gewesen,  sehr 
viel  allein  zu  sein  und  sich  selbsttätig  zu  beschäftigen;  die  Ehe 
hat  sie  eigentlich  auch  nie  an  Regelmäßigkeit  gebunden.  So_  bin 
ich  überzeugt,    wird   es   ihr    schwer    werden,    sich    in    Deine 
Lebensweise  im  Hause  zu  finden,  und  doch  wird  sie  weit  mehr 
sich  adaptieren    zu  müssen  glauben  als  es    nötig    wäre;      ihre 
grenzenlose  Liebe  und  Verehrung*  zu  Dir,  wird  sie  vielleicht  das 
im  Anfang  gar  nicht  merken  lassen;  darum  halte  ich  mich  für 
verpflichtet,   es   Dir   zu     sagen.     Ich    habe    sie   genau    kenneu 
gelernt  und   habe   andwseits   das  Zutrauen,    daß   Du   mir   da.-* 
Kecht  einräumst,  das  auszusprechen.  Ich  wünsche  nämlich  sehr, 
daß  Luise  in  London  bei  Dir  bleibt.   Ihre  materielle  Existenz 
in  Wien  ist  freilich  gesichert,  sie  wird  anfangs  schwer,  später 
immer  besser  durchkommen.  Aber  sie  steckt  durch  ihre  Familie 
in  dem  Elend  einer    philiströsen    kleinbürgerlichen    Existenz, 
das  sie  um  so  mehr  bedrückt,  als  sie  auch  da  viel  mehr  tut  aU 
s'.e  sollte.  Der  kranken  Mutter,  der  kranken  Schwester  kann 
sie  nicht  helfen,  aber  sie  trägt  mit  ihnen  ein  Leiden  und  wird 
selbst  weit  mehr  bedrückt  davon  als  die  beiden,  die  nie  in  freier 
Lu'ftgeatmet. Dir  zur  Seite  zu  sein  ist  also  nach  meiner  An- 
sicht eine  Stellung,  die  an  sich  beneidensM'ert,  für  sie  insbeson- 
dere die  Befreiung'  bedeutet.  Gerade  darum  al)er,  weil  ich  sehr 
wünsche,  daß  Du    und    Luise    zum    Entschluß    kommen,     ihren 
Aufenthalt  zu  einem  definitiven  zu  machen    —  gerade  darum 
habe  ich  mir  vorgenommen.  Dich  auf  die  Gefahr  aufmerksam 
zu    machen.    Ich    tat    es    nicht    früher,     weil    ich    nicht    durcli 
irgendein   dummes   Wort    den   ersten  Eindruck   stören   wollte. 
Dergleichen  schreibt  *ich  so  furchtbar    schwer;    es   sind    zarte 
Dinge,  die  feinsten  Assoziationen,  die  da  in  Betracht  kommen  — 
und  das  Niederschreiben  vergröbert  und  verroht  alles,  trotzdem 
hege  ich  die  Hoffnung,  daß  Du  ungefähr  weißt,  was  ich  meine, 
und  Luise   hindern   wirst,   für   sich    weniger    in   Anspruch    zu 
nehmen  als  sie  soll.  Ihr  das  zu  schreiben,  könnte  nichts  nützen, 
dafür   kenne  ich  sie.     Aber   Du    kannst    Einfluß    nehmen   und 
vielleicht  mache  ich  Dich  da  auf  etwas  aufmerksam,  was  Dir 
entgangen  war. 


22  Briete:  Dezember  1890  bis  Juui  1891 


Übrigens  entnehme  ich  ans  Luisens  Brief  an  Emma,  daß 
sie  noch  immer  schwankt,  ob  sie  bleiben  soll.  loh  wünschte  es, 
wie  gesagt,  werde  mich  aber  hüten,  sie  zu  beeinflnßen. 

Nun  eine  Geldgeschichte.  Der  mir  von  Aveling  in  Deinem 
luftrag  übersandte  Scheck  ist  nicht  honoriert  worden.  Ich 
sende  ihn  der  Einfachheit  halber  samt  allen  Belegen  an  Dich 
zurück.  Nebenbei  bemerke  ich,  <laß  die  ünionbank  ein  sehr 
großes  Institut  ist,  also  die  Schuld  kaum  hier  liegt.  Verzeihe 
also,  daß  ich  Dich  nochmals  mit  der  Sache  behelligen  muß  und 
lasse  sie  gelegentlich  ordnen. 

Dich,  Luise  und  Avelings  von  mir  und  Emma  herzlich 
grüßend 

Dein  getreuer 

Dr.  V.  Adler. 

Luise  soll  uns  doch  einmal     ausführlich     schreiben. 

11. 

Engels  an  Adler. 

London,  12.  Dez.  1890. 
Lieber  Adler 

Auf  dem  Punkt  Dir  für  Dein  und  Deiner  Frau  Telegramm 
zu  danken,  erhalte  ich  Deinen  Brief  vom  9.  mit  Avelings 
zurückgekommenen  Cheque.  Dagegen  übermache  ich  Dir  inl. 
Cheque  auf  meine  Lokalbranche  derselben  Bank  für 
Pfund  10'4  inklusive  der  Spesen,  und  wird  dieser  Oheque  nicht 
zurückkommen. 

Es  ist  die  Unordnung  der  literari-schen  boheme  bei 
Aveling,  die  zu  dergleichen  führt,  wenn  die  boheme  sich  darauf 
erpicht  ein  Bankkonto  zu  haben.  „So  jung  und  schon  a  Böhm'' 
kann  man  da  auch  sagen.  Übrigen?  melden  sich  beide  soeben 
zum  Essen  bei  uns  an,  und  da  kann  ich  ihm  den  Kopf  waschen 
wegen  dieser  Bummelei  und  ihr  wegen  der  schauerlichen  Lob- 
hudelei, die  sie  mir  in  der  Sozialdemokratischen  Monatssriirift 
über  den  Kopf  gegossen  hat*).  Es  ist  nur  eins  richtig,  daß  mein 

*)  Im  zweiten  Jahrgang  der  in  Wien  von  der  Partei  herausgegebenen 
..Sozialdemokratischen  Monatsschrift"  erschien  in  der  Doppelnummer  10/11 
am  30.  November  1890  ein  ~V2  Seiten  langer  Artikel  von  Eleanor  Marx- 
Aveling  über  ».Friedrich  Engels",  der  folgendermaßen  beginnt:  „Am 
28.  November  1890  wird  Friedrich  Engels  70  Jahre  alt.  Es  ist  ein 
Geburtstag,  den  die  Sozialisten  der  ganzen  Welt  feiern  werden.  Aus  diesem 
Anlaß  hat  mich  mein  Freund  Dr.  Victor  Adler  ersucht,  für  die  Leser  der 
„Sozialdemokratischen  Monatsschrift"  einen  kurzen  Aufsatz  über  das  an- 
erkannte Haupt  der  gegenwärtigen  Partei  zu  schreiben." 


Briefe:  Dezember  1890  bis  Juni  1891  23 

Bart   kurios    nach    einer   Seite    steht    —    aus   übrigens    sehr 
zureichenden  Gründen,  womit  ich  Dich  verschone. 

Besten  Dank  für  Deine  Andeutungen  weg'en  Luise.  Auch 
mein  Wunsch  ist,  daß  sie  bei  mir  bleibt,  und  sollte  dies  nicht 
gelingen  wird  es  mir  sehr  schwer  werden:  mich  von  ihr  zu 
trennen.  Aber  es  wäre  mir  ein  dauernd  drückendes  Gefühl, 
müßte  ich  glauben,  daß  sie  mir  zuliebe  andere  Pflichten  und 
andere  Aussichten  zum  Opfer  gebracht  hätte.  Xiin  in  8 — 14 
Tagen  wird  sich's  wohl  entscheiden.  Falls  sie  bleibt,  wird 
sie  jedenfalls  noch  einmal  diesen  Winter  nach  Wien  müssen 
um  alles  zu  ordnen. 

Was  nun  die  Gefahr  der  Überarbeitung  angeht,  so  war 
die  in  Wien,  scheint  mir,  in  der  Tat  ziemlich  stark  vorhanden. 
Dagegen  hier  kann  schwerlich  davon  die  Eede  sein.  Eigentliche 
Hausarbeit  soll  und  darf  sie  gar  nicht  tun  —  schon  der  Mägde 
wegen,  die  sie  dann  nicht  für  eine  volle  lady  ansehen  würden. 
'Sie  hat  nur  zu  dirigieren  und  zu  beaufsichtigen.  Daneben  über- 
nimmt  sie  das  Sekretariat  bei  mir,  ich  diktiere  ihr  oder  gebe 
ihr  Sachen  zum  Abschreiben,  so  daß  ich  meine  Augen  schonen 
kann,  und  dann  treibe  ich  allerlei  mit  ihr,  zunächst  Chemie, 
dann  Französisch,  sie  wünscht  auch  Latein,  und  dem  kann  ab- 
geholfen werden.  Nach  dem  Essen  schlafen  wir  und  abends 
von  11 — 12  spielen  wir  Karten,  damit  meine  Augen  vom 
Lesen  ausruhen  und  ich  mit  leerem  Hirnschädel  besser  ein- 
schlafe. Ich  kenne  übrigens  ihren  Drang,  sich  für  andere  zu 
opfern,  und  das  gerade  macht  mir  Bedenken,  ihr  zu  sehr 
zuzureden,  daß  sie  bei  mir  bleibt.  Wir  haben  den  Fall  vor- 
gestern abends  ausführlich  besprochen,  und  das  wesentlichste 
Hind-ernis  scheint  eben  —  ihre  Mutter,  der  sie  erst  gestern  die 
Absdcht  mitgeteilt,  hierzubleiben.  Natürlich  wird  die  Antwort 
hierauf  von  entscheidender  Wichtigkeit  sein.  Aber  was  wäre 
das  für  eine  Lage  für  mich,  wenn  ich  mir  sagen  müßte,  ich 
hätte  Luise  aus  einer  neuen,  ihr  zusagenden  und  hoffnungs- 
vollen Carriere  herausgerissen,  um  sie  in  eine  Stellung  zu 
bringen,  in  der  sie  das  Gefühl  nicht  los  wird,  sie  habe  gegen 
ihre  Mutter  ein  Unrecht  begangen? 

Also  weit  entfernt  Dir  Deine  Bemerkungen  über  den  Fall 
irgendwie  zu  verdenken,  bin  ich  Dir  im  Gegenteil  sehr  dankbar 
dafür.  Luise  wird  ja  gerade  nur  in  einem  Punkt  von  ihrer 
spontanen  Aufrichtigkeit  verlassen:  da   wo  es  gilt  ihre  Selbst- 


24  Briefe:  Dezember  1890  bis  Juni  1891 

aufopferiing    zu    verheimlichea.     Und    da    sind    wir    alle    ver- 
pflichtet, ihr  auf  die  Finger  zu  passen. 

Herzliche  Grüße  an  Frau  und  Kinder,  von  denen  Luise 
rnir  viel  Heiteres  erzählt,  und  an  Dich  selbst  von  Luise  und 

Deinem  F.  Engels. 

12. 

Emma  Adler  an  Engels. 

Wien,  15./V.  91. 
Verehrter  Herr  Engels! 

Sie  haben  mir  durch  die  Übersendung  Ihres  Bildes  und 
der  Widtnung  eine  große  Freude  bereitet.  Verzeihen  Sie,  daß  ich 
so  spät  dazu  komme,  Ihnen  ein  Wort  des  Dankes  zu  sagen.  Ich 
bm  erst  vorige  Woche  von  Italien  nach  Hause  gekommen,  und 
war  nun  diese  Tage  her,  durch  den  Besuch  zahlreicher  Ver- 
wandter, sehr  in  Anspruch  genommen.  Der  Artikel  unserer 
neuesten  Mitarbeiterin*)  erscheint  in  der  dieswöchentlichen 
Nummer.  Es  wäre  für  uns  alle  eine  große  Freude,  wenn  Sie  im' 
Sommer  zu  uns  aufs  Land  kämen  —  selbstverständlich  mit 
Louise!  WennLouise  ihr  englisches  Kochbuch  mitbringt  und  wir 
dort  die  nötigen  Roastbeefs  bekommen,  so  wird  alles  geschehen, 
um  Ihnen  den  Aufenthalt  angenehm  zu  machen. 

Indem  ich  Sie  und  Louise  herzlidh  grüße,  bin  ich  Ihre  Sie 
verehrende  Emma  Adle  r. 

NB.  Ein  Weiberbrief  ohne  Nachschrift  —  da?  wäre  zu 
schön!  Vergebens  warte  ich  darauf,  daß  Victor  einige  Zeilen 
beifügt.  —  Nehmen  Sie  den  Brief  trotzdem  freundlich  auf! 

Wien  11.  Juni  91. 

13. 

Adler  an  Engels. 

Wien,  32./6.  91. 
Verehrter  Freund! 

Ich  bin  eigentlich  —  als  „Secretaire  pour  l'exterieur''  — 
beauftragt,  Dir  einen  sehr  feierlichen  und  dringenden  Ein- 
ladungsbrief zu  schreiben.  Du  wirst  mir  nicht  übelnehmen,  wenn 
ich  Dich  und  mich  davon  enthebe  und  Dir  lieber  sage,  wie  gerne 
wir  alle  natürlich  Dich  bei  uns  sehen  würden;  wenn  ich  auch 
weiß,  daß   Du  kaum  kommen   wirst,  obwohl   es   Dir  gut  täte 

)  Louise  Kautskys  erste  L.-K. -Korrespondenz  erschien  in  der 
..Arbeiter-Zeitung"  vom  15.  Mai  1891. 


Bride:  Dezember  1890  bis  Juni  1891 


unsere  Bergluft  zu  atmen so  spreche  ich  einfach  meine 

sehr  egoistische  Freude  aus,  Dich  im  August  gelegentlich 
Brüssel  sehen  zu  können.  Mit  so  einer  Scherzzeile,  wie  Du  sie 
unlängst  Luisens  klassischem  Leader*)  beifügtest,  maeh^^t  Du 
uns  immer  eine  große  Freude,  weil  wir  sehen,  daß  Du  gesund 
und  heiter  bist.  Wenn  Du  Dich  dazu  verstehen  wolltest,  uns 
zum  Parteitag  einige  Zeilen  zu  echreiben,  so  wird  diese 
Kundgebung  nicht  nur,  wie  natürlich,  sehr  gut  wirken,  sondern 
persönlich  den  Genossen,  welche  Dich  wirklich  persönlich 
lieben,  große  Freude  machen. 

Im  ganzen  dürfen  wir  zufrieden  sein.  Wir  sind  von 
einer  »Sekte  oder  einer  Horde  Radaumacher  zu  einer  politischen 
Partei  avanciert,  die  Anerkennung  sich  erzwungen  hat,  und  mit 
der  man  rechnet.  In  letzter  Zeit  sucht  man  uns  von  allen 
Seiten  zu  schmeicheln;  die  Dummheit  mit  dem  Sozialisten- 
gesetz ist  dem  Taaffe  nur  so  ausgerutscht,  wie  wir  sagen"**). 
Er  hat  eich  im  iSchimmel  vergriffen.  Die  ernste  Schwierigkeit 
für  uns  wird  zunächst  die  sein,  uns  in  die  Diskussion  von 
Keformen  zu  wagen,  wae  wir  müssen,  ohne  in  den  Schein  des 
Opportunismus  oder  der  Solidarität  mit  anderen  Parteien,  die 
zusehends  radikaler  werden,  zu  geraten.  Zum  Glück  sind  die 
nationalen  Schwierigkeiten  bei  uns  völlig  überwunden,  was 
davon  bleibt,  wird  der  Parteita.g  zeigen:  furchtbare  Lang^veile 
beim  Anhören  ebenso  begeisterter  als  endloser  tschechischer 
Reden.  Ein  paa]-  Bürschchen  in  Prag,  die  am  was  zu  sein, 
..national-international"  geworden  sind,  bitten  flehentlich  von 
uns  zugelassen  zu  werden  und  w^erden  wahrscheinlich  auf  dem 
Parteitag  als  gesonderte  Gruppe  ihren  Geist  aufgeben  — 
soweit  die  vorhandenen  Kräfte  reichen 

Deinen  Totschlag  Bj-entanos  habe  ich  mit  Entzücken 
gelesen.  jSo  köstlich  und  graueam  die  Sache  ist,  bedauere  ich 
fast,  daß  Du  ,,Dich  mit  solchem  Gesindel  herumschlagen" 
mußt  und  Zeit  und  Kraft  iWv  Wichtigeres  verlierst***). 


*)  Leitartikel. 

**)  Graf  Taaffe  brachte  am  I.  Juni  189]  im  österreichischen  Ab- 
geordnetenhaus ein  Sozialistengesetz  ein,  das  aber  niemals  —  Pernerslorfer 
hatte   die  erste  Lesung  im  Plenum  gefordert  —  bis  in  den  Ausschuß  kam. 

**)  Es  handelt  sicli  um  Engels'  Broschüre  .,In  Sachen  Brentano  kontra 
Marx  wegen  angeblicher  Zitatsfälschung.  Geschichtserzählung  und  Doku- 
mente". (Hamburg,  Verlag  Meissner  1891.)  Das  Exemplar  in  Victor  Adlers 
Bibliothek  trägt  die  Widmung;   ,, Seinem  Victor  Adler  Fr.  Engels.  Ld.9.  4.  91." 


26  Engels  an  den  Parteitag  in  Wien  (1891) 


Was  mich  selbst  angeht,  bin  ich  wieder  einmal  in  einer 
Weise  überlastet,  daß  ich  wünsche,  Parteitag  und  Kongreß 
wären  endlich  vorbei  und  ich  könnte  ruhig  —  hoffentlich 
besucht  uns  Luise  bis  dahin  —  bei  den  Weibern  in  Bauern- 
kitteln sitzen  und  mich  pflegen.  Eben  sagt  mir  Emma,  ich 
solle  nicht  vergessen,  hinzuzufügen,  daß  sie  sich  auf  englische 
Küche  einstudiert  hat  und  daß  Du  die  beste  Gelegenheit 
hättest,  m  i  t  Luise  zu  uns  zu  kommen.  Leider  bin.  ich  kein 
solcher  Optimist,  an  den  schönen  Traum  zu  glauben,  wenn  er 
auch  sehr  vernünftig  ist. 

Jedenfalls  sei  Du  und  Luise  herzlich  gegrüßt  von  Deinem 

V.  Adler 
und  Emma! 

Engels  an  den  Parteitag  in  Wien  (1891)*). 

14. 

London,  26,  Juni  1891. 
Werte  Genossen! 

Nehmt  für  die  freundliche  Einladung  zu  dem  zweiten 
Parteitag  der  österreichischen  Sozialdemokratie  meinen  auf- 
richtigsten Dank,  zugleich  aber  auch  mein  Bedauern,  nicht 
persönlich  erscheinen  zu  können,  entgegen  und  empfanget 
meine  besten  Wünsche  für  den  erfolgreichen  Verlauf  der  Ver- 
handlungen. 

Seit  Hainfeld,  wo  die  österreichische  Arbeiterpartei  sich 
wieder  auf  eigene  Füße  gestellt,  habt  ihr  gewaltige  Fortschritte 
gemacht.  Das  ist  die  beste  Gewähr  dafür,  daß  Euer  neuer 
Parteitag  den  Ausgangspunkt  zu  neuen,  noch  bedeutenderen 
Triumphen  bilden  wird. 

.  Welch  unbesiegbare  innere  Kraft  unsere  Partei  besitzt, 
das  beweist  sie  nicht  nur  durch  ihre  einander  rasch  ablösenden 
Erfolge;  nicht  nur  dadurch,  daßsie,  wie  voriges  Jahr  inDeiutsch- 
land,  so  dies  Jahr  in  Österreich  den  Ausnahmezustand  überwun- 
den hat.  Sie  beweist  diese  ihre  Kraft  nach  weit  mehr  dadurch. 


*)  Abgedruckt  aus  den  „Verhandlungen  des  zweiten  Österreich isclien 
sozialdemokratischen  Parteitages".  Wien  1891,  Seite  175.  —  Im  sozial- 
demokratischen Parteiarchiv  in  Berlin  befindet  sich  ein  Konzept  "Engels  zu 
diesem  Briefe,  an  Adler  gerichtet,  dessen  erster  Absatz  lautet:  „Lieber  Adler! 
Ich  bitte  Dich,  den  Einberufern  des  zweiten  österreichischen  sozialdemo- 
kratischen Parteitages  für  die  mir  durch  Dich  freundlichst  eingesandte  Ein- 
ladung zu  diesem  Eurem  Parteitag  meinen  aufriclitigsten  Dank  aussprechen 
zu  wollen,  mein  Bedauern,  daß  ich  nicht  persönlich  erscheinen  kann  und 
meine  besten  Wünsche  für  erfolgreichen  Verla4.if  der  Verhandlungen." 


Itriefe:  -Juli  1891  bis  Mai  1892  27 

daß  sie  in  allen  Ländern  Hindernisse  besiegt  und  Dinge  voll- 
bringt, vor  denen  die  übrigen,  aus  den  besitzenden  Klassen  sich 
rekrutierenden  Parteien  ohnmächtig  Halt  machen.  Während 
die  besitzenden  Klassen  Frankreichs  und  die  besitzenden 
Klassen  Deutschlands  sich  mit  unversöhnlichem  Haß  befehden, 
arbeiten  französische  und  deutsche  Proletarier  Hand  in  Hand, 
und  während  bei  Euch  in  Österreich  die  besitzenden  Klassen 
der  verschiedenen  Kronländer  im  blinden  Xationalitätenhader 
des  letzten  Restes  von  Fähigkeit  zur  Herrschaft  verlustig 
gehen,  wird  ihnen  Euer  zweiter  Parteitag  ein  Bild  vorführen 
eines  Österreichs,  das  keinen  Xationalitätenhader  mehr  kennt, 
des  Österreichs  —  der  Arbeiter. 

Friedrich  Engels. 

Briefe:  Juli  1891  bis  Mai  1892. 

15. 

Engels  an  Adler.  • 

London,  22.  Juli  1891. 

Lieber  Adler 

Um  den  Österreichern  einen  mehr  als  akademischen 
Beweis  meiner  Sympathie  zu  geben,  habe  ich  Dietz  beauftragt, 
vom  Honorar  der  Neuauflage  des  ,, Ursprung  der  Familie"  etc.*) 
die  Hälfte  an  Dich  für  Eure  Parteikasse  —  um  mich  öster- 
reichisch auszudrücken  —  abzuführen.  Hoffentlich  bedarf  es 
keiner  drastischen  Diarrhetica,  um  dies  zustande  zu  bringen. 
Wann  und  wieviel  auf  einmal  (es  werden  vielleicht  Raten- 
zahlungen) Du  erhältst,  kann  ich  nicht  sagen,  er  zahlt  50  Mark 
für  je  1000  Ex[emplare]  die  er  druckt,  davon  erhaltet  Ihr 
25  Mark. 

Wenn  Ihr  den  Empfang  in  Euren  gedruckten  Quittungen 
aufführt  mit  meinen  Initialen :  F.  E.  in  London  soundsoviel, 
ohne  weitere  Bemerkungen,  wird's  mir  am  liebsten  sein. 

Nun  noch  ein  Wort :  Luise  hat  sich  verstanden,  falls  Du 
ihr  ein  Mandat  verschaffst,  was  ja  nicht  schwer  sein  kann,  mit 
auf  die  Brüsseler  Allerweltswachtparad-e**)   zu  gehen.     Dabei 


*)  Die  vierte  Auflage  von  Engels  „Der  Ursprung  der  Familie  des 
Privateigentliums  und  des  Staates"  trägt  das  Verlagsjahr  1892.  Im  Exemplar 
in  Victor  Adlers  Bibliothek  ist  die  Widmung:  „Seinem  Victor  Adler 
F.  Engels  London  7/11  91." 

**)  Der  Zweite  Internationale  Sozialistenkongreß,  der   in  Brüssel  vom 
16.  bis  23.  August  1891  stattfand.     - 


28  Briefe:  Juli  1891  bi.s  Mai  1892 

war  aber  eine  stillsclnveigende  Bedingung,  nämlich,  daß  sie 
Dich  und  Bebel  oder  wenigstens  Dich  mit  nach  London  brächte 
auf  ein  paar  Tage.  Und  ich  hoffe,  das  bringt  sie  fertig.  Ich  hin 
um  die  Zeit  wieder  hier  und  erwarte  Euch  mit  Sehnsucht. 
Wer  weiß,  wozu  Ihr  mich  dann  hier  noch  fürs  nächste  Jahr 
beredet.  Also  nicht  lange  überlegt  und  komm  mit  .'^amt  Deiner 
Frau ! 

Dein  alter  F.  Engels. 

16. 

Engels  an  Emma  Adler. 

London.  22.  Jiili  1891. 

Liebe  Frau  Adler 

Leider  wird  in  diesem  .Jahre  wohl  nichts  aus  der  Reiise 
nach  dem  Kontinent  werden,  die  ich  gern  machen  möehtev 
wär's  auch  nur  um  Sie  in  Lunz  zu  besuchen  und  Ihnen  die 
Überzeugung  beizubringen,  daß  ich  auch  österreichisch  essen 
kann  und  das  mit  großem  Appetit;  das  kann  Ihnen  Louise  be- 
zeugen, die  mir  den  Salat  nur  noch  wienerisch  macht.  Wenn 
ich  aber  nicht  zu  Ihnen  komme,  so  gibt  es  doch  noch  ein 
zweites.  Vielleicht  gehen  Sie  mit  Victor  nach  Brüssel  und  dann 
könnten  wir  ja  ebensogut  hier  in  London  Bekanntschaft 
machen  —  Brüssel  ist  von  London  nur  einen  Katzensprung- 
entfernt,  was  meinen  Sie?  Wenn  vSie  aber  nicht  nach  Brüssel 
gehen  sollten,  könnten  Sie  dann  nicht  Ihren  Mann  beauftragen 
auf  ein  paar  Tage  sich  hier  von  den  Strapazen  des  AUerwelts- 
kongresses  zu  erholen?  So  etwas  ist  arg  angreifend  und  ein 
paar   Tage     London    sind    sehr     gesundheitsniitzlich     danach. 

Eben  kommt  der  afrikanische  Oberridhter  Sam  Moore*) 
und  ich  muß  mich  unterbrechen  —  bitte  kommen  vSie,  Louise 
redet  Ihnen  gewiß  zu  —  aber  wenn  S  i  e  nicht  können,  schicken 
Sie  Ihren  Vertreter! 

Küssen  Sie  bitte  Ihre  lieben  Kinder  für  mich,  von  denen 
Louise  mir  so  viel  erzählt. 

Aufrichtigst  dei-  Ihrige 

F.  Engels. 


*)  Sam  .Moore,  der  tjjjersetzer  von  Marx'  ..Kapital"  in?  Englische, 
war  ursprünglich  Fabrikant  in  Manchester,  begann  nach  dem  Zusammen- 
bruch seines  Betriebes  juristische  Studien  imd  ging  im  .funi  1899  als 
Oberrichler  nach  .\saba  am  Niger  (Afrika\  Er  kehrte  im  .Mar/  1891  zu 
sechsmonatigem  Urlaub  nach  England  zurück.  (Vfrgleiche  Sorsebripfwechsel 
Seite  32.3  und  360.) 


Briefe:  Juli  1891  bis  Mai  1892  29 


17. 

Adler  an  Engels. 


Wien,  -Ip.  91. 
T^ieber  General! 

(-festern  früh  hier  angekommen,  bin  ich  wieder  i>anz  im 
l'rubel  drin.  Soweit  ich  hier  die  Presse  der  letzten  Wochen 
durchsehen  konnte,  hat  auch  in  Österreich  der  Kongreß*)  mehr 
Beachtung  gefunden  als  irgend  ein  früherer;  daß  die  Leut*' 
eben  nur  Blech  musik  zur  Verfügamg  haben,  um  ihrer 
Anerkennung  Ausdruck  zu  geben,  i'-^t  natürlich.  Ein  besonders 
geistreiches    Produkt    des    schwachsinnig     gewordenen     Kaler- 

Keinthal**)  sende  ich  Diir  zurErbauung^ Nach  dem Disi>atch, 

den  ich  eben  erhalte,  ist  also  der  Alte  der  Crawfoi*d***)  gegen- 
über  für   die  Qualitäten   seines   Herrn    und  Kaiseii*   manniiaft 

eingetreten,    üas  Ding  kann  noch  nett  werden. Übrigens 

fand  ich  in  Stuttgart  und  München  Urteile  über  seine  Redaktion, 
die  von  Deinem  gar  nicht  abAveichen.  ' 

Die  Reise  war  köstlich;  als  ich  mich  von  August  in 
Prankfurt  trennte,  wurde  es  mir  wieder  weich,  wie  in 
Victoria-Stationf).  Die  paar  Tage  mit  ihm  und  mit  PHr  gaben 

mir   wieder    Kraft   und   Schwung denn,   ich    fühle   mich 

ziemlich  einsam  hier,  trotz  des  Gewühls.  Habe  Dank  für  Deine 
Preundschaft,  für  Dein  Wohlwollen,  das  mich  manchmal  per- 
sönlich drückt,  wie  ein  unverdientes.  Pache  nicht!  Tc*!]  bin 
durchaus  nicht  sentimental!! 

In  Stuttgart  war  Dietz  so  großmütig,  mir  dii-  500  Mk. 
sofort  zu  übergeben,  was  meine  Rückkunft  mit  dem  Mammon 
zu  einem  FreudenfcxSt  gestaltete.  Nochmals  Dank  und  beste 
Empfehlung  für  zukünftige  P>ventualitäten  namens  der  österr. 
Partei. 

Lebe  wohl!  Hoffentlich  bekommt  Di)-  die  Seereis«-  gut.  — - 

Mit  herzlichem  Gruß  P)ein  dankbarer 

Dr.  V.  Adler. 

*^)_Der  Internationale  Kongreß  in  Brüssel  im  August  1891. 
**)  Emil  Kaler-Reinthal,  der  als  Student  Ende  der  siebziger  lalue  zur 
Arbeiterbewegung  kam,  verschiedene  Broschüren  schrieb  und  an  der 
..Neuen  Zeit"  mitarbeitete,  auch  verschiedene  Verurteilungen  erlitt,  zog  sich 
jn  den  neunziger  Jahren  vollständig  von  der  Bewegung  zurück  und  f-ndele 
1896  durch  Selbstmord. 

)  Vbev     die     Crawford    vergleiche     Engels'     Brief      an      Adlfr     von) 
28.   Jänner   1895. 

t)  l.ondoner  Bahnhof. 


30  Briefe :  Juli  1891  bis  Mai  1892 

18. 
Adler  an  Engels. 

Salo/Gardasee,  29./12.  91. 
Verehrter  Freund! 
Da  sitzeich  an  den  Benaci&chen Gestaden  im  bellen Sonnen- 
öchein!  Eigentlich  sollte  ich  mich  riesig  wohl  fühlen,  aber 
leider  geht  es  meiner  armen  Emma  noch  immer  lange  nicht 
iinch  WnnÄch.  An  einer  heftigen  Rezidive,  die  sie  hier  durch- 
machte, bin  einig>ermaßen  ich  schuld,  da  ich  die  Dummheit 
machte,  gleich  nach  unserer  Ankunft  eine  heftige  Influenza 
mit  hohem  Fieber  und  einer  sehr  respektabeln  Bronchitis  zu 
erwischen,  was  freilich  jetzt  vorüber  ist,  aber  meine  arme  Frau 
so  erregte,  daß  sie  wieder  nicht  schläft  und  von  den  schwersten 
Angstgefühlen  gepeinigt  ist.  So  komme  ich  gar  nicht  einmal 
dazu,  die  unfreiwillige  Muße  zu  ruhiger  Lektüre  zu  benützen, 

die  mir  so  abgeht In  der  Tat,  die  ewige  Agitations-  und 

Organisationsarbeit,  das  sich  abquälen  im  kleinen  und  kleinsten 
verdummt  und  macht  schließlich  ganz  borniert.  Ich  muß  inmier 
lachen,  wenn  die  Leute  bewundernd  von  den  sogenannten 
„großen  Opfern''  so  vieler  unserer  Genossen  reden,  von  Kerker 
etc.  Das  ist  alles  Pappenstiel!  Aber  der  tägliche,  stündliche 
Kampf  mit  der  Dummheit,  Kleinlichkeit,  Brutalität  im  eigenen 
Lager,  das  wird  nie  gewogen,  das  versteht  auch  keiner,  der  es 

nicht  durchgemacht Verzeih,  daß  ich  so  sentimental  bin  — 

aber  ich  werde  es  eigentlich  immer,  so  wie  ich  für  einige  Zeit 
außer  Berührung  mit  den  Arbeitern,  mit  der  Masse  komme. 
Zum  Eiesen  Antäus  fehlt  mir  so  ziemlich  alles,  aber  das  habe  ich 
mit  ihm  gemein,  daß  ich  mich  kräftig  und  mutig  fühle, 
so  wie  ich  den  Erdgeruch  von  Proletariern  um  mich  spüre, 
während  ich  zusammenschnappe  wie  ein  Taschenfeitel,  wenn  ich 
allein  bin. 

Vielleicht  hängt  meine  katzenjämmerliche  Stimmung  auch 
damit  zusammen,  daß  ich  einsehe,  daß  die  österr[eichische]  Be- 
wegung momentan  auf  einem  toten  Punkt  angelangt  ist,  den  zu 
überwinden  gar  nicht  leicht  sein  wird.  Wir  haben  viel  getan  in 
kurzer  Zeit,  wir  haben  ein  weites  Gebiet  abgesteckt,  aber  nun 
wird  es  sich  darum  handeln,  es  im  Detail  zu  bearbeiten  und 
unglücklicherweise  fällt  diese  Aufgabe  gerade  in  die  Zeit  einer 
schleichenden  Krise.  Unsere  ganze  Gewerkschaftsbewegung 
iet  in  großer  Gefahr  gerade  durch  diesen  Umstand.  Dazu  kommt, 


Briefe:  Juli  1891  bis  Mai  1892  31 

daß  die  .,Unabliängigen''  in  Deutschland  ihre  Affen  in  Öster- 
reich gefunden  haben ;  sind  sie  auch  dümmer  als  ihre  Vorbilder, 
so  haben  sie  bei  uns  doch  weit  besseren  Boden,  weil  uns  ja  jede 
Möglichkeit  politischer  Betätigung  fehlt.  Was  ich  und  meine 
Freunde  machen,  ißt  ja  nichts  als  beständig  ujns  den  Kopf 
zerbrechen,  wie  Gelegenheit  zu  politischer  Arbeit  herbei- 
geschafft werden  kann.  Dabei  haben  wir  bis  jetzt  Glück  gehabt, 
nunmehr  aber  fürchte  ich  eine  .Stockung.  Was  uns  not  täte, 
wäre  ein  tägliches  Blatt;  die  „Arbeiter-Zeitung"  ist  unzulänglich 
in  jeder  Beziehung.  Sie  leidet  an  Einförmigkeit,  weil  immer 
nur  einer  schreibt  und  hat  keinen  Eaum  für  andere  Mitarbeiter. 
Dazu  kommt,  daß  wir-  Geldmangel  haben  mehr  als  je.  Die 
Arbeitslosigkeit,  das  Sinken  der  Löhne  spüren  wir  sehr  in 
unseren  Fonden.  Wenn  Du  wieder  einmal  Geld  für  Partei- 
:< wecke  locker  machst,  vergiß  an  die  armen  Österreicher  nicht, 
wir  können  es  brauchen!! 

Die  jüngste  „Wendung''  in  der  österreichischen  Politik 
hat  gar  nichts  zu  bedeuten;  der  Liberalismus  hat  nie  aufgehört 
zu  herrschen,  und  daß  die  Deutschen  jetzt  einen  ganzen  „Lands- 
mannminister" kriegen,  ist  nur  die  Folge  der  Angst,  welche  dem 
Kaiser  die  radikalen  (nationalradikalen)  Phraeen  der  Tschechen- 
fiihrer  Gregr  etc.  eingejagt  haben.  Aber  irgendeine  Wendung 
bedeutet  der  ,, liberale''  Minister  keineswegs,  keinen  i)olitischen 
I'ortschritt :  den  will  der  Kaiser  nicht  und  die  Liberalen  eben- 
sowenig. Keinen  sozialpolitisciien  —  dafür  sind  sie  ja  eben 
„liberal".  Ich  habe  allerdings  die  Hoffnung,  daß  wir  in  wenig 
'  Jahren  die  Leute  zu  Dingen  zwingen  werden,  die  ihnen  heute 
noch  gruseln  macheu,  —  aber  noch  sind  die  Zeiten  nicht  voll- 
endet, das  heißt  wir  sind  zu  schwach! 

Wenn  ich  noch  einmal  zu  Geld  komme,  stifte  ich  ein 
^  Stipendium,  mit  welchem  jeder  tüchtige  Parteigenosse  alljähr- 
lich auf  eine  Woche  zu  Dir  nach  Regentpark  road  geschickt 
wird  —  als  klimatischen  Kurort  fürs  Hirn  und  die  Nerven  — 
Ich  habe  ein  unglaubliches  Heimweh  nach  den  schönen  Tagen 
mit  Dir  und  August, welcher  der  einzige  ganze  Kerl  ist! ! 

Daß  Du  munter  und  arbeitslustig  bist,  freut  alle  riesig,  die 
davon  hören,  und  wenn  gar  wirklich  der  III  Band  vor- 
rückte   es  wäre  zu  schön! 

Eic'htig,  einen  Gruß  soll  ich  Dir  ausrichten  von  Rudolf 
Meyer.  —  Ich  hörte,  er  sei  auf  ein  paar  Tage   in  Wien  und 


32  Briefe:  Juli  1891  bis  Mai  1892 


oii2g  —  knapp  vor  meiner  Abreise  —  zu  ihm.  Der  Mann  i.st 
offenbar  sehr  krank  und  war  auf  dem  Wege  nach  Pailermo. 
Se-hr  geistreich,  sehr  polyhistor,  wie  ich  mir  ihn  gedacht,  und 
noch  immer  große  Ziwe'ben  („Rosinen^'  sagt  nian  bei  Pluch)  im 
Kopf.  Den  österreichischen  Adel  scheint  er  gründlidi  durch- 
.-chaut  zu  haben  —  endlich!  Dafür  hat  er  eine  neue  Utopie  (in 
dem  I.  Aufsatz^)  in  der  „Neuen  Zeit''  ist  i^ie  angedeutet)  im 
Kopf  —  Kleinbetrieb  in  der  Landwirtschaft  und  Industrie  mit- 
einander verknüpft  und  möglich  durch  die  Kleinmotoren!  Er 
war  etwas  verblüfft,  ah  ich  ihm  sagte,  .sein  Ideal  sei  schon  ver- 
wirklicht beim  böhmischen  Hausweber,  der  auf  seint-m  Kar- 
toffelacker die  berühmte  ,, Naturalwirtschaft''  treibt.  Kv  hat 
einen    Sporn,    aber    seine    Artikel    müssen    die    Agraiitr    wie 

Peitschenhiebe  empfunden  haben. 

Man  wird  geschwätzig,  wenn  man  allein  ist.  —  —  Nimm 
herzlichste  Neujahrsgrüße  von  Emma    und   Deinem   üetreiien 

Victor  Adler. 


19. 

Engels  an  Adler. 


London,  19.  Kehr.  92. 


.Lieber  Victor 
Nenlich  als  ich  auf  Deinen  Brief  aus  Salo  endlich  ant- 
\^  orten  wollte,  kam  mir  ein  sch^verer  Strich  in  die  Quere. 
Avelings  Übersetzung  meiner  „Entwicklung"  des  Sozialismnis"', 
die  ich  im  Mfanuskript]  vorher  revidieren  sollte,  war  durch  Bos- 
heit oder  Dummheit  oder  beides  des  Verlegers  bereits  vorher 
ge.'^tzt  worden  und  kam  mir  in  fertiger,  umbrochener  und 
paginierter  Revision  zu.  Bei  der  hiesigen  (resetzgebung,  die 
den  Schriftsteller  dem  Verleger  an  Händen  und  Füßen 
gebunden  überliefert,  riskierte  ich,  daß  die  Sache  in  diestn* 
Form  lins  Publikum  käme  und  mich  unsterblich  blamierte,  denn 
das  M[anu9kriptJ  war  nur  ein  roher  Entwurf,  Da  mußte  alles 
liegen  bleiben,  bis  das  Ding  revidiert  und  der  Verleger  auf 
l'mwegen  gezwungen  war  sich  in  die  durch  ihn  selbst  ver- 
upxsachten  Kosten  zu  finden.  Nun  das  ist  jetzt  in  der  Hauptsache 
überstanden  und   der  erste,  der  Antwort  erhält    bist   Du. 


'*)  Es  handelt  sich  um  Dr.  Rudolf  Aleyeis  Aufsatz  ,,.\nL'anpolitik  und 

.Nahrungsmittel"  im  1.  Band  des  X.  Jahrganges  der  „Neuen  Zeil",  Seite  32.5 

Dezember   1891),   mit   dem    seine   Mitarbeit   an   der   „Neuen   Zeit"    begann, 

nachdem    sich    die    katholischen    „Historisch-politischen   Blätter"    geweigert 

hatten,  die   Fortsetzung   seiner   Artikelserie   zu    bruigen. 


Briefe :  Juli  1891  bis  Mai  1892  ;« 

Sehr  haben  wir  uns  gefreut  zu  erfahren,  daß  e^  Deiner 
Frau  besser  geht  und  die  Gene-aung  mit  Sicherheit  zu  erwarten 
i;t.  Du  hast  wahrhaftig  Plage  und  Arbeit  genug  und  die  öster- 
reichische Bewegung  braucht  Deine  volle  Kraft  viel  zu  sehr, 
als  daß  wir  nicht  freudig  aufgeatmet  hätten  bei  der  Nachricht, 
('laß  Dir  hier  wenigj*ten3  die  s-chlinmiste  Sorge  abgenommen. 
Aber  Du  wirst  uns  auch  erlauben  uns  zu  freuen,  nicht  nur  als 
Parteileute  sondern  auch  als  Deine  persönlichen  Freunde,  über 
die  Aussicht  daJB  Dir  Deine  Frau  in  kurzem  in  voller  Gesund- 
heit wiedergegeben  wird  und  daß  eine  so  prächtige  Frau  witt 
Deine  Emma  nicht  dem  schrecklichen  Geschick  verfällt,  das 
;hr  für  einen  Moment  zu  drohen  schien. 

Wenn  Du  aber  unter  solchen  Umständen  in  eine  Stim- 
mung verfielst  die  Du  selbst  als  katzenjämmerlich  schilderst, 
-0  ist  das  nur  zu  begreiflich.  Inzwischen  haben  die  Umstände 
euch  Österreichern  ja  über  den  toten  Puiikt  weggeholfen,  den 
Du  nicht  mit  Unrecht  fürchtetest.  Die  geplante  Umwurstelung 
von  Großwien  hat  euch  die  Handhabe  geboten,  die  Du  mit 
Deinem  gewohnten  Takt  sofort  ergriffen  und  nach  dem  von 
\'aillant  und  unseren  Leuten  dem  Pariser  Gemeinderat  zuerst 
vorgelegten  Muster  richtig  ausgebeutet  hast.  (Die  Poss-ibilisten 
haben  weiter  nichts  getan,  als  seine  Durchsetzung  im  Gemeinde- 
rat zu  beschleunigen,  indem  sie  als  Gegendienst  sich  in  anderen 
Dingen  an  die  Bourgeoisradikalen  verkauften,  also  aus 
Dummschlauheit  uns  einen  Dienst  taten  und  obendrein  sich 
ih]-en  eigenen  Ruin  präparierten.)  Wohin  ich  Dir  also  den 
,, Rippenstoß''  geben  soll,  von  dem  Du  an  Louise  schreibst  oder 
ihn  gar  von  mir  verlangst,  ist  mir  unklar.  Die  Franzosen  haben, 
ein  eigenes  Geschick,  solchen  Forderungen  die  richtige  poli- 
tische Form  zu  geben,  und  das  ist  in  dieser  Sache  geschehen. 
Auch  hier  sind  die  französischen  Forderungen  teilweise  Sichon 
vom  Londoner  County  Council  akzeptiert,  teils  figurieren  sie 
in  den  Wahlmanifesten  aller  Arbeiterkandidaten.  S[iehe]  die 
Workmans  Times  der  letzten  drei  W^ochen.  Da  die  Wahlen  zum 
County  Council  am  5.  März  hier  stattfinden,  spielen  diese 
Manifeste  augenblicklich  eine  große  Rolle,  und  die  Workmans 
Times,  die  L>u  hoffentlich  regelmäßig  erhältst,  bietet  Dir  da 
allerlei  Agitationsmaterial.  L^nd  die  Sache  verdient,  bis  aufs 
Blut  ausgebeutet  zu  werden,  erstens  der  Agitation  überhaupt 
und  der  immer  möglichen  Einz^lerfolge  wegen,  dann  aber  be- 


3i  Briefe:  Juli  1891  bis  Mai  1892 


sonders  auch  zur  Beseitigung  des  sonst  sicheren  Ha>sses  zwischen 
den  Wiener  Arbeitern  und  den  importierten  Hungerkiilis  und 
Lohndrückern.  Diesen  Punkt  hast  Dn  ganz  besonders  gut  her- 
vorgehoben. 

Euer  Tagblatt  werdet  ihr  mit  der  Zeit  bekommen,  müßt 
t^s  aber  in  der  Hauptsache  selbst  schaffen.  Bei  eurer 
Preßgesetzgebung  scheint  mir  der  Schritt  vom  Wochenblatt 
zum  Tagblatt  ein  sehr  großer  zu  sein,  der  lange  und  starke 
Beine  erfordert,  und  euch  ganz  anders  als«  bisher  in  die  Hände 
der  Regierung  liefert,  die  euch  durch  Geldstrafen  und  Unkosten 
finanziell  zu  ruinieren  sucht.  Darin  beweist  sich  wieder  die 
—  im  einzelnen  immer  größere  Schlauheit  eurer  Regie- 
rung; die  Preußen  sind  dazu  zu  dumm  und  verlassen  sich  auf 
die  brutale  Gewalt.  Eure  Staatsleute  sind  nur  dumm  weun 
sie  etwas  Großes  tun  sollen.  Es  fragt  sich  für  mich,  ob  ihr  ein 
Tagblatt  sechs  Monate  gegen  die  Strafkosten  halten  könntet, 
und  wenn's  eingehen  müßte,  wäre  die  Niederlage  schwer  zu 
vorwinden. 

Damit  ich  aber  jedenfalls  d-a»  Meinige  tue  für  die  öster- 
1  eicher,  habe  ich  mir  überlegt,  daß  meine  Honorare  von  den  im 
Vorwärts-Verlag  erscheinenden  Sachen  ohnehin  mit  einer 
nicht  zu  hindernden  Sicherheit  in  die  deutsche  Parteikasse 
fließen,  daß  euch  also  alles  Honorar  von  Sachen  gebührt,  die 
bei  Dietz  erscheinen,  und  habe  den  p.  p.  D  i  e  t  z  d  e  m- 
gemäßinstmiert. 

Rudolf  Meyer  tut  mir  leid,  nach  Deinen  Bericht  und 
der  seitdem  erhaltenen  Nachricht,  daß  er  in  Mähren  sitz  statt  in 
Palermo,  muß  ea  ikin  sehr  schlecht  gehen  mit  seinem  Diabetes. 
Bei  all  seinem  wunderbaren,  oft  komischen  Größenw^ahn  ist  er 
der  einzige  Konservative,  der  für  sedne  sozialdemagogischen 
Pläne  nnd  sozialistischen  Sympathien  etwas  riskiert  hat  und  ins 
Exil  gegan^'en  ist;  wo  er  dann  gefunden  hat,  daß  die  österreichi- 
schen und  französischen  Aristokraten  zwar  bedeutend  mehr 
gentlemen  im  gesellschaftlichen  Umgang  sind  als  die  preußi- 
schen Lau&ejunker,  aber  sonst  für  ihre  Bodenrenten  und  Strebe- 
reien usw.  mit  gleicher  Hartnäckigkeit  schwärmen.  Er  ißt  dahin 
gekommen,  daß  er,  al&  einzig  übriggebliebener  wirklicher  Kon- 
servativer, jetzt  vergebens  nach  Leuten  sucht  mit  denen  er  eine 
wirklich  konservative  Partei  gründen  kann. 


Briefe:  Juli  1891  bis  Mai  1892  'Aö 

Im  übrigen  nehTneii  die  Dinge  eine  kritische  Gestalt  an. 
Im  Deutsehen  Reichstag  kriselt  es  ganz  gehörig,  Wilhelmchen 
scheint  seine  regis  voluntas  mal  probieren  zu  wollen  und  treibt 
sogar  die  Jammerkerle  der  Nat[ional]  Lib[eralen]  Partei  in  die 
Opposition;  Konflikt  liegt  schon  etwas  in  der  Luft.  Dazu  in 
Frankreich  Ministerkrise,  die  für  uns  sehr  wichtig  —  weil 
Constans  die  Inkorporation  de^  Arbeiterha&ses  ist  und  sein  Fall 
im  Innern  manches  ändert,  und  weil  obendrein  die  erneuerte 
Wackelei  der  französischen  Ministerien  sehr  eklig  ist  für  die 
ru&sische  Allianz,  die  ohnehin  in  die  Brüche  geht. 

Inl[iegendes]  ist  in  Critica  Sociale  erschienen. 

Louise  schreibt  Inliegendes.  Sie  hat  den  ganzen  Tag  Sauer-» 

-toff  abgeschieden  —  auf  dem  Papier,  sie  studiert  Chemie  unter 

len     erschwerenden   Umständen,    englischer    Lehrbücher     und 

mangelnder  Experimente. 

Die  Unterschrift  fehlt.   Ob  ein   zweiter  Briefbogen  mit  einer  Fort- 
setzung des   Briefes  vorhanden  gewesen,  ist  nicht  entscheidbar. 

20. 

Engels  an  Adler. 

London,  19.  Mai  1892. 
Lieber  Victor 

Ich  bin  mit  Dietz  und  er  mit  Wigand  wegen  Xeuauflage 
der  „Lage  der  arb[eitenden]  Klasse  in  England"  ins  reine  ge- 
kommen und  es  fallen  da  zunächst  1000  Mark  an  Honorar  ab,  die 
l.'ietz  ^/o  im  Herbst,  %  ISTeujalir  1893  zu  zahlen  verspricht,  die 
August,  der  hier  ist,  aber  denkt  wenigstens  teilweise  auch 
früher  aus  ihm  herauszuschlagen.  Ferner  noch  einiges  Honorar 
A'on  wegen  „N.-Z. "-Artikel.  Ich  möchte  dies  Geld  nun  wieder 
euch  Österreichern  zuwenden,  aber  mir  dann  auch  wegen  der 
Verwendung  einige  Vorbehalte  zu  machen  erlauben,  die  ich 
mit  August  besprochen  habe  und  womit  er  einverstanden  ist. 

Ich  weiß  nämlich,  wenn  auch  nicht  im  einzelnen,  so  doch 
hinreichend  genau  für  die  Praxis,  daß  Deine  Tätigkeit  für  die 
Partei  fortwährend  gehemmt  wird  durch  die  Unfähigkeit  eben 
dieser  öster[reichischen]  Partei,  Dir  diejenige  materielle  Stellung 
zu  sichern,  die  Dir  erlaube  Deine  ganze  Zeit  und  Kraft  der 
Sache  zu  widmen.  Ich  weiß  auch  soviel,  daß  in  der  letzten  Zeit 
die  Unglücksfälle,  die  Dich  getroffen,  Ausgaben  nötig  machen, 
wozu  die  Partei  Dir  die  Mittel  nicht  bieten  kann.  Ich  sehe  es 
also'  al-s  eine  der  ersten  Bedingungen  zur   Weiterentwicklung. 


•46  Briefe  :  Juli  1891  bis  Mai  18i)J 

der  österreichischen  Bewegung  an,  d^aß  Dir  die  Möglichkeit  ge- 
geben -wird,  erstens  über  die  gegenwärtige  ausnahmsweise  Aus- 
gaben beanspruchende  Zeit  hinwegzukommen  und  zweiten.s 
auch  fernerhin  Dir  womöglich  die  notwendige,  aber  bei  euch 
jetzt  noch  nicht  aufzubringende  Ziilage  zu  sichern.  Ersteres 
ist  das  notwendio^ste,  das  Zweite  gehört  aber  mit  dazu.  Ich 
möchte  Dir  nun  den  Vorschlag  machen.  Dir  die  obigen  Hono 
rare  für  sei  es  den  ersten,  oder  den  zweiten  Zweck,  oder  Beide, 
zur  Verfügung  zu  stellen  —  die  Verwendung  hängt  ja  dann 
ganz  von  Umständen  ab.  über  die  nur  Du  kompetent  urteilen 
kannst.  Es  fiele  damit  selbstredend  jeder  Grund  weg,  etwa 
öffentlich  über  jene  Summen  zu  quittieren. 

Ich  hoffe,  Du  machst  mir  die  Freude  meinen  Vorschlag 
anzunehmen.  Ich  weiß  aus  eigener  Erfahrung,  wenn  es  auch 
schon  lange  her  ist,  wie  sehr  die  Arbeitsfähigkeit,  Arbeitslust 
und  Arbeitszeit  beschränkt  wird  durch  den  ökonomischen 
Kampf  ums  Dasein,  und  wir  hier  sind  alle  drei  der  Ansicht 
daß  Du  der  österreichischen  Partei  keinen  größeren  Dienst 
erweisen  könntest    al«  durch  Zustinrraung  zu  diesem  Planchen. 

Eure  Maifeier  hat  hier  einen  sehr  guten  Eindruck  ge- 
macht, um  so  mehr  als  Paris  infolge  der  dort  herrschenden 
Zänkereien  dies  Jahr  tatsächlich  ausfiel.  Dagegen  öchreibt 
Larfargue,  daJ5  wir  in  22  Orten  (Roubaix  und  Marseille  die 
größten,  wo  wir  alle  hineinbrachten)  die  Majorität  im  Stadt- 
rat haben,  im  ersten  Wahlgang  400  Sitze,  in  der  Stichwahl  nocia 
200  eroberten.  Die  Wirkung  siehst  Du  im  orleanistischen 
„Soleil'';  den  ich  dir  schicke. 

Also  viele  Grüße  von  Deinen» 

1".  Mngels. 

21. 

Adlf'i  an  Engels. 

Wasserheilanstalt  Sulz  bei  Wien,  26.  5.  1892. 
Verehrter  Freund! 
Aus  dem  Datum    ersiehst  Du,  daß    ich    nicht    in    Wien 
bin,  und  warum  Dein  Brief  mich  etwas  später  erreichte. 

Dein  Anerbieten  ist  so  freundschaftlich  in  der  Sache, 
so  überaus  zart  in  der  Form  und  so  ehrend  durch  die  Person, 
die  es  macht,  daß  ich  Dir  ganz  offen  gestehe,  e,s  ist  seit  ziem- 
lich   langer  Zeit    der    erste  LichtWi^jk,    das    erste,    was    mich 


Briefe :  Juli  1891  bis  Mai  1892  37 

im  Innern  erfreut  bat.  Dabei  sehe  icb  ganz  ab  von  der  an  und 
für  sich  wesentlichen  Tatsache,  daß  mir  damit  hie  et  nunc 
ein  großer  Dienst  geleistet  wird.  Freilich  wird  das  Greld  zu- 
nächst 'dazu  dienen,  daß  ich  mich  in  ]\[uße  durch  einige 
Wochen  der  Partei  entziehen  kann.  Ich  habe  Emma,  die  auf 
dem  Wege  entschiedener  Besserung  und  eigentlich  Eekon- 
valeszentin  ist,  hiehergebracht  und  muß  nun  bei  ihr  bleiben. 'Es 
ist  das  unerläßlich jzuni  endlichen  Gelingen  ihrer  Kur  und  ich 
muß  es  tun,  denn  mit  ihrer  Genesung  ist  meine  ganze  Existenz 
verknüpft.  Es  geht  um  ihren  Kopf  —  aber  nicht  minder  um  den 
meinen.  Ein  weniges  schreibe  ich  von  hier  aus  und  bin 
wöchentlich  einmal  jn  Wien;  auch  ist  für  Vertretung  ziemlich 
gesorgt.  Zum  Parteitag  werde  ich  natürlich  drin  sein. 

Was  Du  und  August  von  meiner  Wichtigkeit  für  die 
österreichische  Partei  sagten,  ist,  es  wird  euch  freuen  es.  zu 
hören  —  nicht  mehr  wahr.  W  ir  sind  heute  so  weit,  eine 
ganze  Reihe  von  tüchtigen  und  verläßlichen  Leuten  zu  haben, 
denen  nur  der  wissenschaftliche  Schliff  fehlt  und  vielleicht 
etwas  Initiative.  Trotzdem  sehne  ich  mich  natürlich  sehr  da- 
nach, den  Kopf  freier  zu  bekommen,  und  so  nehme  ich  denn 
auch  in  diesem  Betrachte  Dein  Anerbieten  init  Freude  an.  Daß 
ich  es  als  einen  Vorschuß  betrachte,  den  die  Partei  mir  macht, 
die  das  Geld  selber  sehr  gut  brauchen  könnte,  wirst  Du  mir  er- 
lauben, ob  die  Leute  in  der  Leitung  und  an  der  Kasse  davon 
heute  erfahren  oder  nicht.  Jedenfalls  ajber  danke  ich  Dir  aus 
vollem  ][erzen  für  Deine  Freundschaft  und  Fürsorge.  Daß  ich 
mich  nicht  einen  ]\I()ment  sträube,  kommt  daher,  daß  ich  es 
stets  für  mindestens  ebenso  menschlich  und  edel  'gehalten 
habe,  von  Freunden  zu  nehmen,  als  Freunden  zu  geben.  Dies 
an  der  skeptischen  Luise  Adresse,  die  ich  herzlich  grüße.  Der 
einzige  Skrupel,  den  ich  hatte,  war  das  Parteiinteresse.  Aber 
da  sage  ich  mir  in  der  Tat,  daß  gerade  jetzt  für  mich  ein 
•^ehr  wichtiger  Moment  ist;  die  Partei  hat  mehr  Lebenskraft 
als  ich. 

Zu  Pfingsten  versuchen  Avir  wieder  einen  Parteitag. 
Die  Opposition  kriecht  zu  Kreuze  und  wird  —  schimpfend 
natürlich  —  aber  gerne  die  goldene  Brücke  betreten,  die  wir 
ihr  bauen.  Das  Verbot  des  Linzer  Parteitages  hat  uns  sehr  ge- 
nützt, und  ich  vermute,  daß  die  Regierung  sich  hüten  wird,  uns 
nochmals  so  billige  Lorbeeren  einheimsen  zu  lassen.  Wenn  wir 


38  Engels  an  den  Parteitag  in  Wien  (1892) 

zum  Parteitag  auf  einige  Zeilen  von  Dir  rechnen  könnten, 
würde  es  der  Sache  nützen.  Wie  «sich  Sekretär  Eeumann  mit 
den  offiziellen  Einladungen  abfindet,  weiß  ich  freilich  nicht. 

Meine  Emma  grüßt  herzlich  Dich  und  Luise.  Dein  Brief 
hat  sie  zu  Tränen  gerührt. 

Dein  Dich  verehrender  Freund 

Victor  Adler. 


Engels  an  den  Parteitag  in  Wien  (1892)*). 

22. 

London,  den  31.  Mai  1892. 
An  den  österreichischen  Parteikongreß  zu  Wien. 
Werte  Genossen  und  Grenossinnen ! 

Ich  danke  Ihnen  für  Ihre  freundliche  Einladung  zum  zwei- 
mal verbotenen  und  hoffentlich  jetzt  zu  Stande  kommenden 
Parteikongreß.  Und  wenn  es  mir  auch  nicht  verstattet  ist,  Ihren 
Sitzungen  als  Gast  beizuwohnen,  so  benutze  ich  doch  mit  Freuden 
die  Gelegenheit,  den  versammelten  österreichischen  Genoesen 
meinen  Gruß  und  die  Bezeugung  meiner  lebhaften  Teilnahme 
zu  übersenden.  Wir,  die  wir  hier  eine  Bewegungsfreiheit  ge- 
nießen, wie  sie  auf  dem  ganzen  Kontinent  nicht  vorkommt,  wir 
wissen  es  sicherlich  zu  schätzen,  wenn  trotz  der  zahlreichen, 
ihren  Bewegungsraum  einengenden  Schranken,  die  öster- 
reichischen Arbeiter  sich  die  ruhmvolle  Stellung  erkämpft 
haben,  die  sie  heute  einnehmen.  Und  ich  kann  Ihnen  die  Ver- 
sicherung geben,  daß  auch  hier,  im  Mutterland  der  großen  In- 
dustrie, die  Arbeitersache  vorangeht;  wie  es  ja  das  bezeich- 
nendste und  erfreulichste  in  unseren  Tagen  ist,  daß,  wur  mögen 
blicken,  wohin  wir  wollen,  überall  die  Arbeiter  in  unaufhalt- 
samem Vormarsch  sind. 

Euer  alter 

Friedrich  Engels. 


*)  Dieses  Schreiben  ist  im  Parteilagsprololcoll  nicht  abgedruckt,  wir 
entnehmen  es  der  „Arbeiter-Zeitung"  vom  10.  Juni  1892.  Im  Partei- 
archiv der  Sozialdemokratie  Deutschlands  in  Berlin  befindet  sich  ein  von 
Engels  geschriebenes  Konzept  dieses  Briefes,  das  bis  auf  einige  stilistische, 
ganz    unwesentliche   Unterschiede   gleichlautend   mit   obigem   Text   ist. 


Briefe :  August  1892  bis  Oktober  1892  39 

Briefe:  August  1892  bis  Oktober  1892. 

23. 

Engels  an  Adler. 

The  Firs,  Bradiag  Road,  Ryde,  England. 

19..  Aug.  1892. 
Lieber  Victor 

Das  kommt  vom  Übermut.  Statt  mit  Dir  und  den  Deinen 
in  Lunz  oder  Wien  herumzubummeln,  muß  ich  hier  in  Ryde 
elendiglich  meinen,  wie  Heine  sagt,  ..nicht  mehr  ganz  gesunden'' 
Körper  pflegen,  darf  nicht  gehn,  nicht  trinken,  aber  wohl  mich 
langweilen.  Ich  hatte  mich  so  sehr  darauf  gefreut,  Wien  einmal 
7A1  sehen,  und  mit  Dir  zusammen  zu  sein,  und  all  die  Leute  und 
namentlich  Deine  Frau  und  Kinder  persönlich  kennenzulernen, 
und  da  kommt  diese  verdammte  Geschichte.  Ich  hatte  nebenbei 
noch  die  Absicht,  über  diesen  etwas  dunklen  Fall  einmal  einen 
Wiener  oder  —  respektive  und  —  einen  Berliner  Arzt  zu  Rate 
^u  ziehen  und  Dich  dabei  zu  fragen,  nachdem  ich  Dir  den  Kasus 
vorgelegt,  welchen  Spezialisten  Du  mir  empfählst.  liier  nämlich 
sind  so  viele  medizinische  Fakultäten  wie  Hoepitäler,  und  die 
Hausärzte  empfehlen  immer  nur  Leute  von  dem  Hospital, 
woran  sie  selbst  studiert;  das  hat  sein  Gutes,  weil  sie  die  Leuie 
am  besten  kennen,  verengert  aber  den  Kreis  der  möglichen  Rat- 
geber ganz  enorm  und  reduziert  das  ärztliche  London  auf  die 
Dimensionen  einer  kleinen,  deutschen  Universitätsstadt.  So  daß 
ich  durch  diese  plötzliche  Rekrudeszenz  also  auch  noch  positiven 
Schaden  erleide. 

Nun,  eins  tröstet  mich,  aufgeschoben  ist  nicht  aufgehoben, 
und  was  dies  Jahr  fehlgegangen,  gelingt  hoffentlich  im  nächsten 
Jahr.  J-edenfalls  hab'  ich  diesmal  eine  Lektion  erhalten,  die  ich 
mir  sobald  nicht  wieder  zuziehen  werde.  Um  meine  ganze 
Sommerreise  —  und  was  für  eine!  —  geprellt  zu  werden,  ist 
bitter  genug,  und  ich  werde  es  im  Winter  noch  genug  nach- 
spüren, denn  ich  weiß  nur  zu  gut,  daß  die  kleine  Luftver- 
änderung von  London  nach  Ryde  auf  meinen  alten  Kadaver 
lange  nicht  die  Wirkung  hat.  wie  eine  Reise  nach  dem  Kon- 
tinent, und  besonders  in  die  Alpen.  So  wohl  wie  ich  nach  der 
amerikanischen  dann  der  norwegischen  und  voriges  Jahr  nach 
der  schottisch-irischen  Reise  war,  werd'  ich  dieses  Jahr  nicht 
sein.  Aber  wir  werden's  hoffentlich  überstehen,  und  dann  wird 
die  Sache   im  nächsten  Jahr  doch  gemacht.   Denn  nach  Wien 


40  Briefe:  August  1892  bis  Oktober  1892 

muß  ich,  und  womöglich  auch  in  die  österreichischen  Alpen,  die 
Schweizer  Alpen  herbergen  viel  zu  viel  Schweizer  und  t^ind 
schon  viel  zu  sehr  in  eine  Ausstellung  verwandelt,  da  sind  mir 
dem  Anzengruber  seine  Bauern  doch  lieter.  Und  dann  treff 
ich  hoffentlich  auch  Dich  und  Deine  P^rau  in  vollkommener 
Gesundheit,  und  bin  selbst  wieder  imstand,  in  den  Bergen  her- 
umzuklettern.  Also  auf  nächstes  Jahr! 

Ich  treibe  hier  Urchristentum,  lese  Renan  und  die  Bibel, 
Renan  ii?t  schauerlich  flach,  hat  aber  als  Weltmann  einen 
weiteren  Blick  als  die  deutschen  Schultheologen.  Sonst  ist  sein 
Buch  ein  Roman,  und  es  gilt  von  ihm.  was  er  von  Philostratus 
sagt:  man  könne  ihn  benutzen  als  Geschichtequelle,  wie  man 
etwa  die  Romane  von  Alexander  Dumas  pere  über  die  Fronde- 
zeit 'benutzen  würde.  Im  einzelnen  hab'  ich  ihn  auf  schauer- 
lichen Schnitzern  ertappt.  Dabei  schreibt  er  die  Deutschen  au? 
mit  einer  grenzenlosen  Unverschämtheit. 

Louise  wird  Dir  mitgeteilt  haben,  was  icli  ihr  vorgestern 
über  die  Baumwollarbeiter  in  Lancashire  und  ihren  Umschwung 
zum  Achtstundentag  schrieb.  '  Das  geht  ^eden  Tag  so  fort. 
Gestern  sind  wieder  Delegiertenversammlungen  ganzer  Distrikte 
einstimmig  für  48  Stunden  die  Woche  gewesen,  und  Abstim- 
mungen in  anderen  Distrikten,  alle  mit  ]\[ajorität  dafür, 
meistens  zwei  Drittel.  Das  bricht  dem  letzten  Widerstand  i  n 
der    A  r  ib  e  i  t  e  r  k  1  a  s  s  e    das    Rückgrat. 

Die  Russen  haben  Pech.  Erst  die  Hungersnot,  die  sich  dies 
Jahr  wiederholen  wird,  wenn  auch  in  mehr  chronischer  Form, 
dann  die  Cholera.  Und  jetzt,  wo  ihr  Freund  Gladstone  hier  ans 
Ruder  kommt,  muß  er  Rosebery  zum  auswärtigen  Minister 
nehmen,  der  von  der  Gladstoneschen  Russophilie  nichts. wissen 
will. 

August  will,  ich  soll  womöglich  doch  noch  nach  Berlin 
kommen.  Ja,  das  tat'  ich  gern,  aber  wird's  gehen?  Seit  zehn 
Tagen  bin  ich  keine  zehn  Schritt  vors  Gartentor  gegangen  und 
weiß  noch  nicht,  ob  ich  wirklich  auf  der  Besserung  bin.  Denn  der 
Kasus  ist  so,  daß  wenn  ich  auch  nur  eine  Kleinigkeit  zu  früh 
oder  zu  viel  mich  bewege,  kann  ich  wieder  von  vorne  anfangen. 
Und  in  spätestens  zehn  bis  vierzehn  Tagen  muß  ich  mich  ent- 
scheiden —  nun    wir  werden  sehen. 

Also  grüß  alle  Freunde,  grüß  vor  allem  Deine  Frau  imd 
Kinder  und  sag'  ihnen    wie  leid  es  mir  tut    daß  ich  dies  Jahr 


Briefe :  August  1892  bis  Oktober  1892  41 

nicht  habe  kommen  können.  Nächstes  Jahr  denk'  ich"s  aber  gut 
zu  machen.  Und  laß  Dich  selbst  herzlich  grüßen  von  Deinem 
alten  lahmen 

F.  E. 
Ich  bleibe  hier  jedenfalls  bis  31.  ds. 

24. 

Adler  an  Engels. 

Lunz,  25./8.  1892. 

Verehrter  Freund  I 

\'on  einer  kleinen  l*artie  zurück,  finde  ich  Deinen 
Brief  vor.  Wie  sehr  es  uns  alle  schmerzt,  daß  Du  nicht  kommst, 
kannst  Du  Dir  denken;  und  dazu  kommt  noch  der  traurige  An- 
laß. Luise  hätte  Dich  nur  gleich  mitnehmen  sollen!  Und  wir 
hatten  uns  schon  so  sehr  gefreut  I  Xun,  wir  hoffen  auf  nächstes 
Jahr  I  Obwohl  ich  nicht  absehen  kann,  warum  Du  nicht  auch  noch 
"im  September  herüberkommen  könntest.  Wenn  auch  nicht  die 
Alpen  —  außer  im  Süden  —  so  müßte  doch  die  Konsultation  eines 
Arztes  Grund  ^nug  sein  —  von  uns  selber  zu  schweigen!  In 
Wien  sind  sowohl  liillroth  als  insbesondere  Albert  in  allen 
Darm-  und  Ilemiensachen  ganz  spezielle  Autoritäten,  und  ist  es 
geradezu  unverantwortlich  von  Dir,  Dich,  wie  Du  das  scJiilderst, 
irgendeinem  Günstling  Deines  Ilausarztos  zu  überlassen.  Ini 
Falle  Du  Dich  also  entschließt,  Luise  in  Berlin  abzuJioleu, 
bitte  ich  Dich  inständig,  das  in  Wie  n  zu  tun.  Die  Differenz 
der  Reise  ist  nicht  der  Rede  wert  und  es  gibt  in  Berlin  nie- 
manden, der  sich  mit  Albert  an  spezieller  Erfahrung  messen 
kann.  Daß  es  höchst  ungerecht  gegen  uns  wäre,  wenn  Du  Wien 
links  liegen  ließest,  wirst  Du  wohl  selbst  einsehe;n.  Anderseits 
möchte  ich  als  Arzt  —  ungosohauter.  wie  wir  sagen  — 
dringend  abraten,  zu  reisen,  bevor  Du  frei  bist  von  allen 
lokalen  Reizerscheinungen.  Aber,  es  besteht  ja  kein  Hinder- 
nis, daß  Du  Luise  etwa  am  15.  Sept[ember]  oder  noch  eine 
Woche  später  holst.  Das  ist  für  Wien  die  schönste  Zeit, 
während  es  jetzt  grauenhaft  heiß  ist. 

Ich  fahre  morgen  nach  Salzburg,  hole  dort  August  und 
besehe  mir  einen  bemerkenswerten  und  vielversprechenden 
Fang,  den  die  Partei  gemacht  zu  haben  scheint.  Ein  landwirt- 
schaftlicher Wanderlehrer,  offiziell  vom  Landesausschusse 
angestellt,  wird   seit   Monaten  wegen    seiner    sozialdemokrati- 


42  Briefe :  August  1892  bis  Oktober  1892 

scten  Vorträge,  wozu  er  seine  Amtsstellung'  'benützt,  gescliu- 
rigelt*).  .  Der  Mann  gibt  einen  guten  Teil  seinevS  Gehalts 
her,  um  ein  Parteiblatt**)  zu  halten,  und  schreibt  es  zum 
Teil  selbst.  Nun  ist  das  Interessante,  daß  der  Mann  via  Henry 
George  zu  uns  kommt;  er  hat  auch  noch:  die  Eierschalen  an  den 
Flügeln  kleben.  Nun  will  ich  sehen,  ob  er  gar  ist.  Für  uns 
wäre  er  unibezahlbar.  Bei  uns  und  in  Deutschland  reden  sie 
soviel  von  ,, Landagitation",  und  alle  miteinander  verstehen 
wir  gar  nichts  davon.  Da  wäre  ein  t-heoretisch  und  praktisch 
erfahrener  Landwirt,  der  überdies  reden  kann,  eine  glänzende 
Akquisition. 

Von  uns  kann  ich  Dir  das  Beste  berichten.  Die  neue 
Organisation  wird  sich  bewähren,  so  scheint  es,  und  die  „Un- 
abhängigen" blamieren  sich  bei  uns  weit  mehr  als  in  Deutsch- 
land. Wir  haben  ihnen  auch  kein  so  gutes  Material  geliefert 
wie  Liebknechts  Reden,  au'SJ  denen  jetzt  die  Jungen  und 
Vollmar  Kapital  schlagen.  Tragikomisch  ist  das  Schicksal 
Kautskys;  daß  gerade  er  sich  für  des  Alten  Gewäsche  ver- 
hauen lassen  muß,  ist  besonderes  Pech.  Dabei  konnte  er  ja 
nicht  ruhig  sagen:  „Daß  L[i€bknecht]  diesen  oder  noch  größeren 
Unsinn  gesagt  hat,  will  ich.  unbesehen  gerne  glauben!!"  Und 
doch  wäre  das  der  wahre  Ausdruck  seiner  Ansicht  gewesen.  Der 
Alte  fängt  an  direkt  eine  nuisance***)  —  und  zwar  eine  inter- 
nationale —  für  die  Partei,  zu  werden.  Sowohl  mit  Domelaf) 
als  mit  Vollmar  hat  er  höchst  ungeschickt  angebunden  und 
dann  den  Karren  im  Dreck  sitzen  lassen.  Persönlich  zu  rempeln 
ist  dort   am  dümmsten,  wo    die  Leute    persönlich    beliebt 


*)  Dieser  Wanderlehrer  Anton  Losert  wurde  zunächst  bespitzelt 
(vergleiche  „Arbeiter-Zeitung"  vom  19.  August  1892)  und  schließlich  ge- 
maßregelt (vergleiche  „Arbeiter-Zeitung"  vom  21,  Oktober  1892).  Er  ent- 
fernte sich  jedoch  sehr  bald  von  der  Partei.  Schon  auf  der  Landeskonferenz 
in  Salzburg  am  30.  Dezember  1893  entwickelte  er  die  kuriose  Theorie,  auf 
die  er  später  immer  wieder  zurückkam:  „Die  Ursache  des  Arbeiterelends  sei 
im  römischen  Rechte  zu  suchen,  aus  welchem  sich  die  privatkapitalistischen 
Eigentumsrechte  heraus  entwickelten  . . .  Durch  die  Abänderung  des  §  354- 
des  bürgerlichen  Gesetzbuches  werden  sich  die  Rechts-,  respektive  Besitz- 
verhältnisse ändern  und  die  Existenzfrage  der  Arbeiter  wird  eine  bessere". 
(Vgl.  „Arbeiter-Zeitung"  vom  9.  Jänner  1894.) 

**)  „Sozialdemokralische  Blätter  für  das  Landvolk." 
***)  Landplage. 

t)  F.  Domela  Nieuwenhuis  hat  1892  eine  Broschüre:  ,,Die  ver- 
schiedenen Strömungen  in  der  deutschen  Soziademokratie"  (Verlag  Harnisch, 
Berlin)  veröffentlicht,  in  der  er  zu  zeigen  sucht,  daß  trotz  der  Gegensätze 
in  der  großen  Debatte  über  Taktik  am  Erfurter  Parteitag  1891  Bebel  und 
Liebknecht  ebenso  opportunistisch  seien  wie  Vollmar. 


Briefe :  August  1892  bi?  Oktober  1892  43 

sind,  während  rein  sacbiiehe,  sehr  nüchterne  und  kühle  Er- 
örterung schließlich  auch  die  Personen  aus  dem  Sattel  hebt. 
Ich  denke  daran,  eine  Broschüre  über  Taktik  zu  schreiben 
„Domela — VoMmar'',  wobei  mich  nur  geniert,  daß  der  Alte 
schlecht  wegkäme.  Aber  auch  er  würde  anderseits  pro- 
fitieren; denn  es  läßt  sich  m.  E.  nachweisen,  daß  alle  die  ver- 
meintlichen Schwankungen  der  Taktik  historisch  sehr 
erklärbar  und  begründbar  sind.  Liebknechts  Broschüre 
,,Polit[ische]  Stellung  der  Soz[ialdemokratie]*'*),  die  von  den 
Unabhängigen  zitiert  wird,  ist  eben  auf  dem  Boden  Deiner  Bro- 
schüre üher'Militärorganisation  iriPreußen  (hahemomentanwohl 
den  Inhalt,  aber  nicht  den  Titel  im  Gredächtnis**),)  erwachsen 
und  haut  natürlich  über  die  Schnur,  was  L£iebkneoht]  stets  tut. 
*  Aber  die  Kritiker  der  Taktik  glauben  immer,  sie  sei,  oder 
könne  sein  eine  gerade  Linie,  während  sie  eine  Wellenlinie 
sein  muß,  gerade  wie  die  Weltgeschichte.  Im  übrigen  meine 
ich,  die  Opposition  von  links  müßte  erfunden  werden,  wenn 
man  sie  nichj.  hätte ;  nur  würde  man  sie  um  eine  Nuance 
gescheiter  und  anständiger  erfinden.  Denn  die  Kleinbürgerei 
ist  die  größte  Oefahr  für  uns,  und  wenn  August  nicht  wäre, 
stünde  es  böse  mit  uns,  auch  mit  uns  in  Österreich.  Die  Träg- 
heit des  Geistes  ist  die  ärgste  Gefahr  für  unsere  Leute.  Ich 
meine  immer,  der  Krach  wird  uns  über  den  Hals  kommen, 
wenn  wir  „Hofräteder  Eevolution''  am  wenigsten  daran  denken. 
Obwohl  ich  freilich  gerne  wüßte,  warum  Du  gerade  das  Jahr 
1898  genannt  hast!  !***)  loh  stecke  hier  insolchen Verhältnissen, 
daß  ich  vor  einer  vorzeitigen  ExjDlosion  am  Meisten  fürchte, 
sie  würde  uns  um  Jahrzehnte  zurückwerfen.  Bleiben  wir  un- 
gestört, dann  w^erden  wir  keine  üble  Rolle  spielen.  Unser  Volk 

—  Deutsche  und  Tschechen,  mit  den  anderen  ist  nicht  viel  lo« 

—  ist   geradezu   glänzend    veranlagt  und   nur   die  verdammte 


*)  Wilhelm  Liebknecht:  „über  die  politische  Stellung  der 
Sozialdemokratie,  insbesondere  mit  Bezug  auf  den  Reichstag."  Ein  Vortrag 
gehalten  in  Berlin  am  31.  März  1869.  (Später  wiederholt  neu  aufgelegt.) 

**)  Friedrich  Engels:  „Die  preußische  Militärfrage  und  die  deutsche 
Arbeiterpartei."  Hamburg,  Verlag  Otto  Meißner,  1865. 

***)  Am  Erfurter  Parteitag  im  Oktober  1891  sagte  Bebel:  „Ich  mache 
kein  Hehl  daraus,  ich  habe  mich  riesig  gefreut,  als  kürzlich  mein  Freund 
Friedrich  Engels  in  seinem  bekannten  Briefe  im  „S  o  c  i  a  li  s  t  e",  den 
auch  unsere  Piesse  veröffentlichte,  einen  Umschwung  der  Dinge  von  Grund 
aus  gegen  das  Jahr  1898  in  Aussicht  stellte.  Vollmar  glaubte  darüber  spötteln 
zu  können,  ich  dagegen  schrieb  Engels:  Alter,  Du  und  ich,  wir  sind  die  ein- 
zigen „Jungen"  in  unserer  Partei!" 


44  Briefe :  August  1892  bis  Oktober  1892 


Jesuiterei  'durcli  Jahrhunderte  macht,  daß  wir  als  Anhängsel 
und  Nachtrab  der  europäischen  Bewegung  figurieren.  Die 
ökonomische  Eiickständigkeit  des  Landes  schwindet,  man  kann 
sagen,  stündlich  mehr  und  wir  haben  den  Vorzug,  daß  unser 
Proletariat  durch  die  Nachbarschaft  Deutschlands  der  öko- 
nomischen Entwicklung  geistig  voraus  ist.  Wichtig  ist  auch, 
daß  unser  Hinterland  Ungarn  sehr  vorschreitet ;  die  Industrie 
wird  dort  staatlich  gezüchtet  und  der  Nährboden  für  unsere 
Bewegung  offiziell  verbreitert  und  unter  nationaler  Fieber- 
hitze gehalten.  Das  "ist  um  so  wiclitiger,  als  uns  aus  Ungarn 
die  Slowaken  kommen  und  den  Standard  of  life  immer  wieder 
heraibdrücken :    nun    werden    sie    dort    verbraucht  werden  und 

bald  ganz  andere  Leute  sein. 

Die  „Lage"*)  habe  ich  noch  nicht  zu  Gesicht  bekommen, 
gratuliere  Dir  aber  zum  Erscheinen.  Wenn  Du  nur  alle  Deine 
zerstreuten  Aufsätze  .sammeln  wolltest  und  die  von  Marx,  das 

gäbe  ja  wenig  Arbeit  und  wäre  riei«ig  wichtig. Von  der 

„Lage"  habe  ich  persönlich  den  Profit  schon  eipgesteckt.  Du 
weißt  vielleicht  gar  nicht,  daß  August,  der  hörte,  daß  ich  in 
Nöten  sei,  Dietz  veranlaßte,  mir.  auch  die  zweite  Eate  auszu- 
bezahlen, so  daß  ich  Dir  für  1000  Mk.  zu  danken  habe.  Ich 
kann  Dir  nur  sagen,  daJ3  mich  dieses  Geld  geradezu  erhoben  hat 
—  abgesehen  von  der  wirksamen  Beihilfe  —  ich  betrachte  es 
als  ein  Ehrenzeugnis  und  hoffe  Deiner  Freundschaft  und  An- 
erkennung auch  weiterhin  würdig  zu  bleiben. 

[-.-1 
Von   Emmia     und    Storfcrs     herzliche     Grüße     sowie     von 

Deinem  getreuen  V.  Adler. 

Eben  lese  ich,  daß  in  Hamburg  starke  Cholera  ist;  also 

morgen   in  Berlin  und  nächste   Woche  in   Wien!   Du  kommst 

also  vernünftigerweise  jetzt    ndc'ht!! 

25. 

Engels  an  Adler. 

Eyde,  30.  Aug.  92. 
Lieber  Victor 
Gestern  konnte  ich  nicht  alle  Punkte  Deines  Briefes  be- 
antworten,    teils  weil  das  Papier  voll  war,     teils  weil  die  Zeit 


*)  Die  zweite  Auflage  von  Engels  „Die  Lage  der  arbeilenden  Klasse 
in  England".  Das  Exemplar  in  Viktor  Adlers  Bibliolheiv  trägt  die  Widmung: 
„Seinem  Viktor  Adler,  London  10.  9.  92.,  F.  Engels."  Die  zweite  Auflage 
der  englischen  Ausgabe  ,,The  conditions  of  Ihe  working  Class  in  England 
in   1844",  die   auch   1892   erschien,  enthielt  eine   Widmung   vom  7.   10.   92. 


Briefe :  August  18^2  bis  Oktober  1892  45 

erfüllt  war  —  die  des  Mittagessens,  2  Uhr,  und  um  3  Uhr  die 
Post  hier  abgeht.  Da  aber  die  liebe  Ungeduld  von  Ober- 
<löbling  *)  mich  mit  einer  Postkarte  um  einen  Brief  angeht, 
kann  ich  Dir  heute  den  Rest  schreiben. 

Was  Du  wegen  der  Taktik  sagst,  ist  nur  zu  wahr.  Aber 
«s  gibt  nur  zu  viele,  die  aus  Bequemlichkeit  und  um  ihren 
Schädel  nicht  plagen  zu  müssen,  die  für  den  Augenblick 
l)assende  Taktik  für  die  Ewigkeit  anwenden  wollen.  Die  Taktik 
machen  wir  nicht  au?  nichts,  sondern  aus  den  wechselnden  Um- 
ständen; in  unserer  jetzigen  Lage  müssen  wir  sie  uns  nur  zu 
oft  vom  Gegner  diktieren  lassen. 

Ebenso  hast  Du  recht  von  wegen  der  Unabhängigen.  Tch 
habe  noch  die  Jahre  im  Gedächtnis  wo  ich  —  damals  noch  mit 
L[iejbk[necht]in  offizieller  Korrespondenz  stehend  —  in  einem 
fort  gegen  die  überail  hineinsickernde  urdeutsche  Spieß- 
'lürgerei  anzukämpfen  hatte.  Im  ganzen  und  großen  haben  wir 
las  in  Reichsdeutschland  glücklich  hinter  uns,  aber  was  sitzen 
in  der  Fraktion  für  Spießer,  und  kommen  immer  wieder  hinein! 
Eine  Arbeiterpartei  hat  da  nur  die  Wahl  zwischen  Arbeitern, 
<lie  sofort  gemaßregelt  werden  und  dann  leicht  als  Partei- 
]>ensionäre  verlumpen,  oder  Spießbürgern,  die  sich  selbst  er- 
nähren, aber  die  Partei  blamieren.  Und  diesen  gegenüber  sind 
die  Unabhängigen  unbezahlbar. 

Was  Du  über  den  ras'chen  industriellen  Fortschritt 
\nn  Osterreich  und  Ungarn  sagst,  hat  mich  ungeheuer  gefreut. 
Das  ist  die  einzige  .'^olide  Ijasis  für  den  Fortschritt  unserer 
Bewegung.  Und  das  ist  auch  die  einzige  gute  Seite  am  Schutz- 
zollsystem —  wenigstens  für  die  meisten  kontinentalen  Länder 
lind  Amerika.  Große  Industrie,  große  Kapitalisten  und  große 
Proletariermassen  werden  künstlich  gezüchtet,  die  Zentrali- 
sation de.s  Kapitals  beschleunigt,  die  Mittelschichten  zerstört. 
in  Deutschland  waren  die  Schutzzölle  eigentlich  ü'berflüssig, 
da  sie  eingeführt  wurden  gerade  im  Moment  wo  Deutschland 
-ich  auf  dem  Weltmai-kt  festsetzte,  und  diesen  Prozeß  haben 
-ie  gestört:  aber  dafür  haben  sie  eine  Menge  Lücken  in  der 
'<leutschen  Industrie  ausgefüllt,  die  sonst  noch  lange  Lücken 
geblieben  wären,  und  wenn  Deutschland  gezwungen  wird  die 
Schutzzölle  seiner  Weltmarktstellung  zu  opfern,  wird  es  ganz 
anders  konkurrenzfähig  s-ein    als  vorher.   In    Deutschland    wie 


)  Louise  Kaulsky. 


46  Briete :  August  1892  bis  Oktober  1892 

Amerika  sind  die  Schutzzölle  jetzt  ein  reines  Hindernis,  weil 
sie  diese  Länder  hindern  die  gebührende  Weltmarktstellung 
einzunehmen.  In  Amerika  müssen  sie  daher  bald  fallen  und 
Deutschland  muß  dem  folgen. 

Aber  indem  ihr  Eure  Industrie  hebt,  macht  ihr  Euch  um 
England  verdient;  je  rascher  dessen  Weltmarktherrschaft  total 
vernichtet  wird,  desto  eher  kommen  hier  die  Arbeiter  zur 
Herrschaft.  Die  kontinentale  und  amerik[anische]  Konkurrenz: 
(dito  die  indische)  hat  endlich  in  Lancashire  eine  Krisis  zuwege- 
gebracht, und  die  erste  Folge  war  die  plötzliche  Bekehrung  der 
Arbeiter  zum  Achtstundentag. 

Das  Zusammenwirken  mit  den  Cechen  ist  auch  poli- 
tisch eine  Notwendigkeit*).  Die  Leute  sitzen  mitten  in 
Deutschland,  wir  sind  an  sie  gebunden  wie  sie  an  uns,  und  wir 
nahen  alles  Interesse  daran,  da  nicht  ein  jungcechisch- 
russisch-panslawistisfthes  Nest  draus  werden  zu  lassen.  Es  gibt 
zwar  auch  Mittel,  selbst  damit  auf  die  Dauer  fertig  zu  werden., 
aber  besser  ist  besser.  Und  da  die  Lente  ja  quoad  nationale 
Autonomie  auf  cechischem  Gebiet  alles  von  uns 
bekommen  können    was  sie  wollen   und  brauchen,  hat's   aiieh 


'*)  über  das  Zusammenwirken  der  deutschen  und  tschechischen  Ar- 
beiter äußerte  sich  Engels  auch  in  einem  Beitrag  für  die  in  Prag  heraus- 
gegebene tschechische  Maifestschrift.  Auf  dem  Brief  Josef  Krapkas,  der 
Engels  um  einen  Beitrag  bat,  ist  das  Konzept  Engels'  aufgezeichnet.  Das 
Schriftstück,  das  keinerlei  Datum  trägt,  befindet  sich  im  Parteiarchiv  dei; 
Sozialdemokratie  Deutschlands  in  Berlin.  Es  lautet: 

Den  cechischen  Genossen  zu  ihrer  Maifeier  zur  Erinnerung  aus  dem 

Jalire  18iS. 

Karl  Marx  traf  damals  in  Wien  mit  dem  Prager  Buchhändler 
Borrosch  zusammen,  dem  Führer  der  deutschböhmischen  Fraktion  in  der 
österreichischen  Nationalversammlung.  Borrosch  klagte  sehr  über  den 
Nationalitätenhader  in  Böhmen  und  die  angeblichen  fanatischen  An- 
feindungen der  Deutschböhmen  durch  die  Tschechen.  Marx  frug  ihn,  wie  er 
da  mit  den  böhmischen  Arbeitern  stände.  ,,Ja,"  antwortete  Borrosch,  „das  ist 
ganz  eine  eigene  Sache;  sowie  die  Arbeiter  in  die  Bewegung  eintreten,  da 
hört  der  auf;  da  ist  keine  Bede  mehr  von  Tschechen  oder  Deutschen,  die- 
halten  alle  zusammen." 

Was  die  böhmischen  Arbeiter  beider  Nationalitäten  nur  fühlten,  das- 
wissen  sie  heute:  daß  der  ganze  Nationalitätenhader  nur  möglich  ist 
unter  der  Herrschaft  der  großen  grundbesitzenden  Feudalherren  und  der 
Kapitalisten;  daß  er  nur  dazu  dient,  diese  Herrschaft  zu  verewigen;  daß 
tschechische  und  deutsche  Arbeiter  dieselben  gemeinsamen  Interessen  habeii 
und  daß,  sobald  die  Arbeiterklasse  zur  politischen  Herrschaft  kommt,  aller 
Voi-wand  zu  nationalem  Zwist  beseitigt  ist.  Denn  die  Arbeiterklasse  ist 
international  ihrer  innersten  Natur  nach,  und  das  wird  sie  aufs  neue  be- 
weisen an  diesem  ersten  Mai. 

London.  F.  E. 


Briefe :  August  1892  bis  Oktober  1892  47 

keine  Gefahr.  (Du  siehst,  ich  operiere  in  dieser  Beziehung 
immer  ohne  Rücksicht  auf  die  momentane  politische  Trennung 
von  Deuts-chland.) 

Nächste  Woche  gehe  ich  wieder  nach  London ;  obwohl 
ich  heute  besser,  wird  doch  wohl  aus  der  Berliner  Tour  nichts 
werden. 

Viele  Grüße  an  die  ganze  Eedaktion  Dein  F.  E. 


26. 

Adler  an  Engels. 

Wien,  22.19.  1892. 
Verehrter  Freund! 

Diesmal  komme  ich  zunächst  Dich  um  einen  Gefallen  zu 
bitten.  Du  erinnerst  Dich,  daß  ich  Stepniaks  „Russiaji 
Peasantry"  *)  übersetzt  habe.  Als  ich  die  Arbeit  übernahm, 
schrieb  mir  St.,  er  sei  im  Besitze  des  Rechtes  der  Übersetzung. 
Nun  die  Sache  zum  Kla^Dpen  kommt,  Dietz  das  Ding  über- 
nommen hat,  stellte  sich  heraus,  daß  Stepniak  nicht  im  Besitze 
eines  formellen  Papiers  und  daß  Sonnenschein**)  sehr  erheb- 
liche Geldforderungen,  20  bis  25  Pfund,  für  sich  seilest  stellte. 
Mir  blieb  nun  nichts  anders  übrig,  als  Stei)n[iak]  vor  ein  Ulti- 
matum zu  stellen:  mehr  als  500  Mark  will  und  kann  ich  nicht 
geben;  wie  Sonnenschein  und  Stepniak  sich  in  die  Summe 
teilen,  ist  mir  egal;  300  Mark  werden  gezahlt,  sobald  die 
formelle  und  rechtsg-ültige  Überlassung  des  Übersetzungs- 
rechtes an  Dietz  oder  mich  in  meinen  Händen  ist,  der  Rest 
nach  Erscheinen  des  Buches. 

Nun  komme  ich  dazu  Deine  Güte  in  Anspruch  zu  nehmen. 
Ich  habe  Stepniak  geschrieben,  er  könne  das  Papier  D  i  r  über- 
geben und  das  Geld  bei  Dir  beheben.  Damit  spornte  ich  durch 
Aussicht  auf  baldige  cash***)  seinen  Eifer  und  habe  den  Vorteil, 
daß  Du  mit  Deiner  Sachkunde  und  Erfahrung  das  Papier 
Sonnenscheins  prüfst,  besser,  als  ich  das  vermöchte.  Ich  bitte 
Dich  also  das  zu  tun,  wenn  )St[epniak]  kommt  (wann  das  sein 
wird    weiß  ich  nicht),  den  Überlassungsbrief  daraufhin  anzu- 


*)  Erschien  in  Viktor  Adlers  Übersetzung  1893   bei  Dietz  unter  dem 
Titel   „Der  russische  Bauer"   (212  Seiten). 

**)  Der  englische  Verleger  Stepniaks. 

***)  Einkassierung.     . 


48  Briefe :  August  1892  bis  Oktober  1802 

<ehen.  ob  er  rechtsgültig  ist  und  ob  er  s^ich  auf  beide  Bände 
bezieht,  und  wenn  ja,  ihm  15  I'fuTid  auszufolgen,  das  Dokument 
aber  an  mich  zu  senden.  Die  15  Pfund  sende  ich,  sobald  mir 
ytepniak  mitteilt,  daß  er  mit  Sonnenschein  einig  ist.  Daß  die 
Geschichte  so  sein  muß,  daß  mit  den  500  ]Mark  beide  end- 
gültig befriedigt  sind,  versteht  sich  von  selbst.  Richtig,  an  den 
Rest  von  10  Pfund  knüpfte  ich  die  Bedingung,  daß  8tepn[iakj 
mir  die  Ergänzungen  zum  Tl.  Band  (Sektenwesen),  die  er  ver- 
.^prochen  hat,  vor  Auszahlung  liefert.  Wenn  vStepn[iak]  vselbst 
etwas  zu  unterschreiben  hat,  so  müßte  diese  Klausel  enthalten 
sein.  Verzeihe,  daß  ich  Dich  mit  diesen  zuwidern  Geschüfts- 
dingen  belästige  und  daß  ich  nicht  Deine  Erlaubnis  einholte, 
bevor  ich  Stepniak  schleich  und  übei"  Deine  Beihilfe  verfügte. 
Aber  die  Sache  zieht  sich  schon  so  ekelhaft  lang  hin  —  und 
dann  ha'St  Du  mich  durch  Deine  Güte  mir  gegenüber  wirklich 
verwöhnt.  Nun  habeich  außerdem  versäumt.  Dir  gleich  zu 
schreiben,  aber  die  (^leschichte  wird  wohl  erst  in  einigen  Tagen 
—  wenn  überhaupt  —  so  weit  sein,  daß  Ste])n[iak]  zu  Dir 
kommen  kann.  Vnd  ich  bin  so  gehetzt  in  diesem  ]\[omente!  Seit 
Monaten  von  Wien  abwesend  und  aus  allen  Organisiation-- 
geschäften  heraus,  muß  ich  mich  nun  wieder  einarbeiten. 

Über  Deinen  Gesundheitszustand  berichtet  mir  nicht  ein- 
mal die  allzeit  getreue  Luise,  von  deren  2\nkunft  in  London  ich 
nicht  wüßte,  Aväre  nicht  die  Ilandi^chrift  auf  den  Adressen  der  > 
Bücher-  und  Zeitnngssendungen,  für  die  ich  Dir  lierzlich  danke. 
Wie  steht  es  denn  eigentlich  mit  ilyndman?  Sein  Dementi 
sieht  sehr  energisch  aus. 

Was  habt  ihr  denn  Avieder  dem  Andreas  Scheu  *)  getan  ' 
ich  merke  inuncr,  daß  er  verletzt  ist  au  der  Verstimmung  seine- 
hiesigen  Bruders**),  der  ein  sehr  anständiger,  aber  selir  emp 
findlicher  und  nervöser  Mensch  ist.     Mir  scheint,  daß  Onkel 


*)   Andreas  Scheu,  der   bis  zu    seiner  Auswanderung  aus  öslerreicli 
an     her\'6rragendsfer     Stelle      in      der     österreichischen     Arbeilerhewegung 
gestanden,    im    Hochvenatspiozeß    zu    fünf    Jahren    schweren    Kerkers    ver- 
urteilt wurde   und   später    in    London     eine   Reihe    der   wuchtigsten     sozi:i 
listischen   Gedichte   verfaßte,  lel)t  gegenwärtig  mit  seinem   IBnider    Heinrii  i 
in   der  Schweiz.  Vergleiche   ,,l)er   Wiener  llochverratsprozeß".   Bericht  üb« 
die    Schwurgerichtsverhandlung     gegen     Andreas     Scheu,     Heinrich     Ober- 
winder,     Johann    Most     und    (ienossen,     neu     herausgegeben    von    Heinrich 
Scheu    (Wiener    Volksbuchhandlung    1911)    und    ebenso    im   gleichen    Banii 
die  „Erinnerurigen"  von  Heinrich  Scheu. 

**)   Josef   .Scheu,    der   Komponist    des    „Lied   der  Arbeil"    und    vieler 
anderer  Freiheitslieder. 


Briefe :  August  1892  bis  Oktober  1892  49 

Juliu?  *)  den  A.  Scli.,  statt  zu  beruhigen,  noch  hetzt!  Doch 
bitte  ich  insbesondere  vor  Julius  nichts  zu  erwähnen,  das  ist 
ein  altes  Weib  und  rührt  mir  einen  Klatsch  an,  was  mir  höchst 
zuwider  wäre.  [ — . — ] 

Brentanos  Artikel  im  Sozpol.  Zentrbt.  über  Glaso-ow  werde 
ich  mir  ausborgen**) ;  ich  muß  es  erst  recht,  weäl  ich  ^Mitarbeiter 
dieses  Blattes  geworden  bin***).  Überhaupt  —  habe  auch  Karl 
in  dem  Sinne  geschrieben  —  müssen  wir  der  Brentano-Scliule 
mehr  Aufmerksamkeit  zuwenden,  wie  bisher.  Sie  ist  gefähr- 
licher, weil  gescheiter,  als  Schäffle  samt  Schmoller. 

Über  Parteisachen  nächstens. 

Dir  und  Luise  herzliche  Grüße  von  Emma  und  Dein 

V.  Adler. 

Ich  lege  die  Briefe  St[epniak<5]  zum  leichteren  Verständnis 
bei  und  bitte  nochmals    die  Behelligung  zu  verzeihen. 

27. 

Adlor  an  Engels. 

Wien,  22./9.  1892. 

Lieber  Freund  I 

Heute  früh  habe  ich  Dir  geschrieben  und  nachmittags 
erhalte  ich  eine  Karte  von  SteiDniak,  die  mir  anzeigt,  daß  er  die 
formelle  Zustimmung  habe  und  zu  Dir  gehen  wolle,  um  das 
Dokument  gegen  Geld  umzuwechseln.  Da  die  Sache  so  schnell 


*)  Julius  Motteler,  der  ,.rote  Postmeister",  der  die  Verbreitung  des 
„Sozialdemokrat"  von  1879  an  in  Zürich  und  nach  der  Ausweisung 
aus  der  Schweiz  bis  zum  Fall  des  Sozialistengesetzes  in  London  organisiert 
hatte.  Er  kehrte  im  Sommer  1901  aus  dem  Exil  nacli  Deutschland  zurück 
und  starb  am  29.  September  1907.  Vergleiche  die  Nachrufe  in  der  „Neuen 
Zeit",  XXVI/1  (Seite  1),  und  „Arbeiter-Zeitung"  vom  l.  Oktober  1907 
(Seite  8)  sowie  J.. Belli  „Die  rote  Feldpost"   (Stuttgart.  Dietz  1912). 

**)   „Sich  jemand  ausborgen"  =  Gelegenheit  nehmen,  mit  jemand  ab- 
zurechnen. 

***)  In  Nummer  38  des  I.  Bandes  des  von  Heinrich  Braun  heraus- 
gegebenen „Sozialpolitischen  Zentralblattes"  (Berlin,  19.  September  1892) 
erschien  der  erste  Beitrag  Viktor  Adlers  „Cholera  und  Sozialpolitik"  (Seite 
464  bis  466).  In  der  gleichen  Nummer  berichtete  Professor  Lujo  Bretano 
(München)  über  den  25.  Kongreß  der  englischen  Gewerkschaften,  der  am 
5.  bis  11.  September  1892  in  Glasgow  stattgefunden  hatte,  in  einem  Artikel 
„Der  englische  Gewerkvereinskongreß  1892".  Die  Polemik  Adlers  gegen 
Brentanos  Artikel  ist  in  einem  Artikel  der  ,, Arbeiter-Zeitung"  vom  30.  Sep- 
tember 1892  „Es  geht  vorwärts"   enthalten. 


50  Briefe :  August  1892  bis  Oktober  1892 

gekommen  ist,  erfährst  Du,  was  mir  sehr  unaugenehm  ist,  von 
ihm  zuerst,  was  ich  von  Dir  erbitten  wollte.  Aus  meinem 
ersten  Brief  weißt  Du  um  was  es  sich  handelt  und  ich  werde 
morgen  15  Pfund  Sterling,  wenn  es  geht  telegraphisch,  sonst 
brieflich,  an  Dich  absenden,  welche  ich  Dich  bitte  an  St[epniak] 
auszufolgen,  wenn  die  Sache  in  Ordnung  ist.  Im  vorhinein 
danke  ich  Dir  herzlich  für  Deine  Intervention  und  bitte  Dich 
nochmals  um  Entschuldigung,  daß  ich  Dich  in  die  Lage  ver- 
setzt, daß  Stepniak  zu  Dir  von  einer  »Sache  spricht,  die  Du 
nicht  kennst.  Bei  dieeer  Gelegenheit  eine  Bitte  (Du  siehst, 
man  wird  unverschämt!):  Mir  fehlen  zwei  Broschüren  von 
Dir,  die  gänzlich  vergriffen  sind,  die  ich  aber  brauche,  näm- 
lich „Die  Bakunisten  an  der  Arbeit"*)  und  „Soziales  aus  Ruß- 
land**) —  erstere  habe  ich  besessen,  aber,  wie  ich  leider 
immer  tue,  „agitatorisch"  weggeliehen  und  natürlich  nicht 
zurückerhalten;  die  zweite  Broschüre  habe  ich  nie  zu  Gesicht 
bekommen.  Solltest  Du  Exemplare  davon  überschüssig  haben, 
so  bitte  ich  Deinen  Geheirasekretär***)  um  Zusendung  so  bald 
als  möglich.  Immer  und  immer  wieder  empfinde  ich  wie  so 
viele  anderen  das  Bedürfnis,  daß  Deine  kleinen  Schriften 
endlich  in  einem  Sammelbande  erscheinenf).  Gerade  dio 
„Bakunisten"  und  die  „Preußi'sohe  Militärreform"tt)  würden 
dadurch  erst  bekannt  werden  und  das  wäre  meines  Erachtens 
gerade   jetzt  von  größtem  Wert. 

Auch  jetzt  kann  ich,  soll  der  Brief  abgehen.  Dir  von 
Parteisachen  nichts  schreiben.  Sage  nur  Luise,  daß  der  Brief 
an  den  deutschen  Parteivorstand  bereits  abgegangen  ist  und 
wir  so  gespannt  sind  wie  sie. 

Herzliche  Grüße  an  Dich  und  Luise. 

Dein   V.   Adler. 


*)  „Die  Bakunislen  an  der  Arbeil."  Denkschrift  über  den  letzten 
Aufstand  in  Spanien  von  F.  Engels.  Separatabdruck  aus  dem  „Volksstaat", 
Verlag  Genossenschaftsbuchdruckerei  Leipzig. 

**)  „Soziales  aus  Rußland"  von  Friedrich  Engels.  Verlag  der  Genossen- 
schaftsbuchdruckerei  Leipzig.   1875. 

***)   Louise  Kautsky. 

t)  Diesem  Wunsch  hat  Engels  Rechnung  getragen.  „Die  Bakunisten" 
und  „Soziales  aus  Rußland"  erschienen  neben  zwei  anderen  Abhandlungen 
in  der  Sammlung:  „Internationales  aus  dem  Volksstaat,  (1871  bis  1875)",  von 
Friedrich  Engels.  Verlag  „Vorwärts",  Berlin,  1894. 

tt)   Friedrich  Engels:    „Die  preußische  Militärfrage  und   die  deutsche 
Arbeiterpartei".  Hamburg,  Otto  Meißner,  1865. 


Briefe :  August  1892  bis  Oktober  1892  51 

28. 
Engels  an  Adler. 

London,  25.  September  1892. 

Lieber  Victor 

Dein  Gesohäft  mit  Stepniak  ist  erledigt,  und  zwar  ehe 
Dein  Telegramm  und  die  zwei  Briefe  ankamen.  St.  näm- 
licht)  schickte  mir  Deinen  Brief  vom  15.  edn  mit  der 
Bemerkung,  er  habe  jetzt  die  förmliche  Einwilligung  Sonnen- 
scheins und  werde  morgen  (id  est  vorigen  Donnerstag  22.) 
kommen,  sich  die  auf  mich  angewiesenen  15  Pfund  Sterling 
dagegen  eintauschen.  Obwohl  ich  keinen  Avis  von  Dir  hatte, 
bin  ich  doch  ein  viel  zu  gTiter  Kaufmann,  um  nicht  die  LTnter- 
schrift  der  renommierten  Firma  V.  A.  zu  honorieren,  selbst 
wenn  der  formelle  Avis  an  mich  direkt  hoch  nicht  eingetroffen. 
Du  hattest  eben  nicht  nur  St..  sondern  auch  mir  gewissen- 
maßen die  Pistole  auf  die  iBrust  gesetzt,  ßonst  hätte  ich,  wäre 
mir  irgendein  Ausweg  offen  geblieben,  in  Deinem  Interesse 
mich  an  der  Zahlung  einstweilen  vorbeizudrücken  gesucht.  Und 
^war  einzig  aus  dem  Grunde,  weil  Du  nun  St.  alles  gezahlt 
liast,  was  er  zu  bekommen  hat;  dadurch  aber  ist  er  beim  Er- 
.■scheinen  Deiner  Übersetzung  nur  noch  schriftstellerisch,  aber 
nicht  mehr  pekuniär  interessiert,  und  wie  ich  meine  Russen 
kenne  scheint  mir  das  nicht  die  richtige  Methode  von  ihm 
die  Arbeit  für  den  zweiten  Band  herauszuschlagen.  Genug,  da 
war  nichts  mehr  zu  machen.  Ich  hätte  mir  ein  schriftliches  Ver- 
sprechen, die  Sache  innerhalb  bestimmter  Frist  zu  liefern,  gehen 
lassen  können;  das  wäre  aber  absolut  nutzlos  gewesen.  Du  hast 
jedenfalls  schon  Schriftliches  genug  von  ihm  und  ein  neuer 
Wisch  hätte  ihn  nicht  veranlaßt,  rascher  zu  arbeiten. 

So  begnügte  ich  mich  mit  seinem,  in  Luisens  Gegenwart 
gegebenen  Versprechen  Dir  das  Bewußte  in  längstens  14  Tagen 
yA\  liefern  (va-t-en  voir  s'ils  viennent,  Jean!)*)  und  ihm  dann 
gegen  inl.  Schein  und  die  Sonnenscheins  che  vollständig  ge- 
nügende Erklärung,  die  ihm  von  Dir  als  bei  mir  zu  erheben 
j?ugesaigten  15  Pfund  Sterling  zu  zahlen.  Du  schriebst  ihm: 
you  can  also  band  the  formal  paper  to  Mr.  Engels,  and  you 
will   receive   immediately    from   liim   the   sum   of 


t)  nachdem  Luise  ihn  in  Deinem  Auftrag  um  Erledigung 
•der  Sache  gebeten. 


^)  Man  wird  ja  sehen,  ob  sie  kommen,  Jean! 


52  Briefe :  August  1892  bis  Oktober  1892 

15  poiinds*).  Du  siehst,  gegen  diesen  kategorischen  Wortlaut 
war  nicht  aufzukommenf). 

Ich  habe  dem  St.  dabei  auseinandergesetzt,  "vvie  er  durch 
seine  Bummelei  sich  selbst  geprellt  hat;  wie  bei  rationellem 
Verfahren  S.  S.  &  Co.  mit  höchstens  5  Pfund  Sterling  ab- 
zuspeisen gewesen  und  er,  St.,  um  so  mehr  hätte  einstecken 
können  (Aveling  behauptet,  S.  S.  &  Co.  hätten  die  Erlaubnis 
auch  gratis  gegeben,  weil  die  Übersetzung  ohnehin  Reklame 
fürs  Buch  macht).  Das  war  ihm  ganz  neu  und  wird  er  sich's 
wohl  merken.  Du  aber  hast  den  größten  Schaden  davon. 

Summa  Summarum :  in  ähnlichen  künftigen  Fällen  tust 
Du  am  besten,  mir  von  vornherein  Mitteilung  zu  machen,  wo 
ich  Dir  dann  entweder  meinen  unmaßgeblichen  Rat  mitteilen^ 
oder  aber,  sei  es  selbst,'  sei  es  durch  Luivse  oder  Avelings  die 
Unterhandlungen  sofort  hier  für  Dich  führen  kann.  Auch  in 
literarischen  Geschäften  ist  „Platzkenntnis"  erstes  Erfordernis 
wenn  man  nicht  geprellt  isein  will. 

Wir  freuen  uns,  daß  es  Deiner  Frau  soviel  besser  geht. 
und  hoffen,  es  geht  so  weiter.  Unsere  ibesten  Wünsche  begleiten 
Euch ! 

Von  Andreas  Scheu  haben  wir  seit  Jahren  nichts  ge- 
sehen, seit  Monaten  nichts  gehört,  und  seit  undenklicher  Zeit 
hier  nicht  gesprochen.  W^ir  wissen  absolut  nichts  von  ihm. 
Wegen  Onkel  J.  nebst  Tante  kannst  Du  ruhig  sein  —  ^vlr 
sehen  sie  fast  nie,  da  sie  sich  systematisch  gegen  uns  ab- 
schließen, und  erzählen  ihnen  noch  viel  weniger. 

Der  Bericht  über  IIyndman**)hätte  nicht  gedrucktwerden 
sollen.    Er   war   unverbürgte   Privatniitteilung  nnd   mag  f  o  r- 


t)  Wenn  Du  mir  schreibst,  Du  habest  auch  seine  Ar- 
beit von  ihm  „vor  Auszahlung"  verlangt,  so  ist  das  ein  Irrtum- 
Ich  wollte,  der  Wortlaut  hätte  mir  diese  Forderung  erlaubt. 
Aber  Du  knüpfst  die  Auszahlung  und  zwar  ,,immediately"  nur 
an  das  formal  paper  von  Sonnenschein. 


*)  Sie  können  die  formelle  Einwilligung  Hcrm  Engels  übergeben  und' 
Sie  werden  von  ihm  sofort  die  Summe  von  J  5  Pfund  Sterling, 
erhalten. 

**)  Per  Berliner  ..Vorwärts"  vom  15.  September  1892  brachte  eine 
längere  Notiz  mit  der  tlborsclirift:  ,,  A  u  s  England  schreibt  man  uns", 
in  der  unter  anderem  behauptet  wird,  daß  ,,Mr.  Hyndman  auf  der  letzten 
Konferenz  der  Sozialdemokratischen  Föderation  ein  Mißtrauens\'ottim  er- 
hielt, wie  es  ärger  kaum  gedacht  werden  kann"  und  sogar  ,,dic  Ausschließung 
Hyndmans  wegen  seines  zweideutigen  Verhaltens  in  der  Agitation"  bean- 
tragt worden  sei.  Der  Berliner  ,, Vorwärts"  am  20.  September  1892  bringt  eine 
Zuschrift  Hyndmans  vom   16.   September,  in  der  er  alle  wesentlichen  Tal- 

<;a/'.hpn  hp<i-trpifpf 


Briefe :  August  1892  bis  Oktober  1892  53 

m  e  1 1  unrichtiges  enthalten.  Der  Sache  nach  ist  er  richtig : 
H.  ist  abgesetizt,  wenn  auch  in  möglichst  schonender  Form. 
Die  Drohung  eines  derartigen  Antrags,  unterstützt  von  der 
Mehrzahl  der  Delegierten,  mag  hingereicht  haben.  Da- 
Schlimmste  ist :  man  kann  auf  das  Dementi  nicht  antworten, 
ohne  ihm  hier  eine  günstigere  Position  zu  verschaffen.  Er  selbst 
hat  auch  in  Justice  etwas,  worin  er  die  Erwartung  ausspricht, 
der  „Vorwärts"  werde  seinen  Brief  nicht  abdrucken.  Damit 
ist  e  r  nun  blamiert. 

Soziales  aus  Rußland  erhältst  Du  in  zwei  Exem- 
plaren. Von  den  ,,Bak.  an  der  Arbeit''  habe  ich  bis  jetzt  nur 
noch  ein  (mit  anderen  zusammengebundenes)  Exemplar, 
näm.lich  mein  Handexemplar,  finden  können.  Das  agitatorische 
Wegleihen  habe  ich  mir  notgedrungen  abgewöhnen  müssen 
und  rate  Dir  auch  dasselbe.  Mein  Handwerkzeug  gebe  ich  ein 
für  allemal  nicht  mehr  aus  dem  Hause. 

Meine  Gresundheit  geht  ,, immer  langsam  voran".  L[ouise] 
sa^t  mir,  Du  habest  nach  der  Dauer  der  Geschichte  gefragt  —  vor 
etwa  zehn  Jahren,  durch  Exzeß,  zur  Erscheinung  gebracht, 
Grund  gelegt  vor  etwa  25  Jahren  durch  einen  Sturz  mit  dem 
Pferd  bei  der  Hetzjagd.  Ferner  zur  ISTachricht,  daß  ich  schon 
nach  wenig  Jahren,  nachdem  die  Sache  deklariert  war,  wegen 
unangenehmer  Empfindungen  in  der  Gegend  <^  Leistenkanals 
eine  Bandage  mit  Bruchkissen  zu  tragen  genötigt  wurde,  auch 
scheint  in  der  Gegend  links  eine  kleine  Varice*)  zu  sein.  Seit 
ein  paar  Tagen  glaube  ich  entschiedene  Wendung  zum  Bessern 
zu  spüren,  doch  ist  noch  immer  Druckemjjfindlichkeit  vor- 
handen, besonders  nach  etwas  Steheji  oder  Gehen;  ich  muß 
jedenfalls  noch  etwas  Geduld  haben  und  der  Ruhe  j^flegen. 
L[ouise]  sagt  mir,  Du  wolltest  die  Freundlichkeit  haben.  Dich 
nach  einem  hiesigen  Spezialisten  zu  erkundigen,  das  wäre  mir 
sehr  lieb,  namentlich  da  jede  .  .  . 

(Das   zweite  Blatt  dieses  Briefes   ist  unauffindbar  gewesen.) 

29. 

Engels  an  Adler. 

L.,  27.  Septbr.  92. 
Lieber  Victor 

Kaum  war  mein  (eingeschriebener)  Brief  an  Dich  gestern 
abgegangen    so  kam  auch  der  Bote  vom  Credit  Lyonnais    der 


*)  Varicen  (Krampfadern). 


54  Briefe :  August  1892  bis  Oktober  1892 


niir  die  bewußten  15  Pfund  zur  Ausgleichunjg  meines  Vor- 
schusses einbändigte,  worüber  hiemit  dankend  Empfangs- 
anzeige. 

Der  Marseiller  Gewerkscbafts-  (Syndikats-)  Kongreß,  der 
vor  dem  der  Arbeiterpartei  stattfand,  hat  beschlossen,  dien  von 
den  Trades  Unions  zu  Glasgow  berufenen  Achtstunden- 
kongreß  nicht  zu  beschicken,  dagegen  die  Tr.-TJnions  aufzu- 
fordern, nach  Zürich  zu  kommen.  Der  Parteikongreß  werde, 
schreibt  Laf.  *),  einen  ähnlichen  Beschluß  fassen.  Wenn  eure 
Gewerkschaften  sich  in  demselben  Sinne  aussprächen,  würde 
das  hier  Eindruck  machen,  die  Beschlüsse  politischer  Ar- 
beiterkongresse gelten  bei  den  aufgeblasenen  Herren  von  den 
alten    Tr. -Unions  nicht  für  voll ! 

Gruß  von  Luise  an  deine  Frau  und  Kinder  und  Dich 
selbst,  ditto  von  Deinem  F.  E. 


30. 

Adler  an  Engels. 

Wien,  lO./lO.  92. 

Verehrter  Freund! 

Deine  Anjegiung,  die  Trades-ITnions  einzuzwicken,  ist 
auch  bei  uns  auf  sehr  fruchtbarem  Boden  gefallen.  Ich  war 
einen  Moment  zweifelhaft,  ob  man  ihnen  nicht  eine  goldene 
Brücke  bauen  O'der  vorschlagen  sollte,  unmittelbar  vor  even- 
tuell nacth  unserem  Kongreß  in  Zürich  ihren  Gewerkschafts- 
schmus abzuhalten.  Nebenbei  verlockte  mich  -die  Aussicht,  daß 
wir  einen  Teil  des  rhetorischen  Ballastes  los  werden  könnten. 
Außerdem  scheint  es  mir  auch  heute  noch  nicht  ganz  sicher, 
daß  wir  die  Kerle  gänzlich  isolieren  können.  Ich  fürchte, 
daß  eine  Fraktion  der  Franzosen,  aber  auch  Belgier,  -Dänen 
etc.,  vielleicht  auch  Amerika  zum  Teil  sich  zu  ihnen  schlägt, 
natürlich  „im  Interesse  des  internationalen  Friedens".  Aber 
nachdem  in  Marseille  losgeschlagen  wurde  und  Augnst  eo  iws 
Zeug  geht,  gibt  es  keine  Wahl.  Wir  werden  noch  in  die&er 
Woche  unsere  Gewerkschaftsvertretung  beisammen  haben  und 
es  wird  unzweifelhaft  ein  gegen  Glasgow  absolut  ab- 
lehnender Beschluß  gefaßt  werden.  Ich  drucke,  um  in  die  Pro- 

*)  Lafargue. 


Briefe :  August  1892  bis  Oktober  1892  55 

-vinz  zu  wirken,  Augusts  Artikel  ab*).  Die  Schwierigkeit  ist 
bei  uns  nur  die  Form,  da  bekanntlich  unsere  Gewerkschaften 
sämtlich  „nichtpolitische"  Vereine  sind.  Aber  es  wird  die  Form 
gefunden  werden,  respektive  die  Resolution  habe  ich  schon 
fertig. 

Ich  werde  auch  dafür  sorgen,  daß  das  Parliamentary 
Committee  den  Beschluß  offiziell  unter  die  Nase  kriegt 
und     bitte     u  m  ♦  d  i  e    Adresse. 

Dein  Aufsatz**)  in  der  „N.  Z."  ist  wieder  einmal  eine 
Erquickung.  Was  mich  bei  Deinen  Sachen  immer  am  meisten 
frappiert  hat,  ist,  daß  Du  so  „kompreß''  zu  schreiben  weißt,  wie 
kaum  ein  anderer.  Man  hat  das  Gefühl,  daß  man  beim  Lesen 
geradezu  „überhax)s"  gescheit  wird. 

Daß  Du  wieder  auf  dem  Damm  bist,  freut  uns  alle  herz- 
lich ;  aber  —  ich  bitte  Dich  inständig  —  sei  nicht  leichtsinnig. 
Gerade  das  Schleppende  dieser  peritonalen  Reizungen  macht 
-e  tückisch.  Wenn  Du  keinen  tüchtigen,  das  heißt  S  p  e  z  i  a  1- 
firzt  hast,  so  nehme  einen  an  und  zwar  empfehle  ich  Dir  den 
Prof.  Dr.  Mac  E  w  e  n,  einen  ausgezeichneten  Chirurgen, 
der  sich  mit  Hernien  ganz  besonders  beschäftigt.  Er  wird  mir 
Iner  von  mehreren  Professoren  als  erste  Londoner  Autorität 
auf  dem  Gebiet  genannt.  Bitte,  tue  es  jedenfalls,  auch 
wenn  Du  momentan,  wie  ich  herzlich  hoffe,  ganz  frei  von  Be- 
schwerden bist.  Für  Deine  Gesundheit,  lieber  General,  bist  Du 
nicht  nur  Dir  selbst  verantwortlich! 

Für  Deine  Intervention  bei  der  Sache  Stepniak  besten 
Dank.  Natürlich  meinte  ich,  er  würde  die  erste  Rate  dem 
Sonnenschein  geben  müssen  und  dann  durch  die  zweite 
veranlaßt  sein,  rasch  zu  arbeiten.  Nun,  geht's  ja  auch  so! 
Sicher  ist,  daß  er  mir  natürlich  noch  keine  Zeile  geschickt  hat! ! 
Bitte,  ist  Bax  in  Siebt?  ?  Der  Mann  hat  meine  Manuskripte  im 
Sack  und  iöh  brauche  sein  c  a  s  h!***) 


*)  In  der  „Neuen,  Zeit",  1.  Band  des  XI.  Jahrganges,  Seite  38,  ver- 
öffentlichte Bebel  einen  Artikel;  „Ein  internationaler  Kongreß  für  den  Acht- 
stundentag", der  in  der  „Arbeiter-Zeitung"  vom  14.  Oktober  1902  nach- 
gedruckt ist. 

**)   Gemeint  ist  offenbar  Engels  Aufsatz  „Über  historischen  Materia- 
lismus" in  der  „Neuen  Zeit",  Xl/l,  Seite  15  und  42,  1892. 

***)  Viktor  Adler  hatte  während  seiner  viermonatigen  Haft  1890  neben 
dem  Buche  Stepniaks  auch  Aufsätze  E.  Belfort-Bax'  ins  Deutsche  über- 
setzt, von  denen  zwei  in  der  „Neuen  Zeit",  Band  XI/2  (1893),  erschienen 
sind:  „Der  Fluch  der  Zivilisation",  Seite  549,  „Menschentum  und  Klassen- 
instinkt", Seite  626. 


56  Briefe :  August  1892  bis  Oktober  1892 

Emma,  die  Dioh  herzlich  grüßt,  geht  es  täglich  um  eine* 
kleine  Kleinigkeit  besser  —  aber  es  geht!! 

Mit  herzlichsten    Grüßen  an   Dich,   Luise    und   Avelings 
Dein  getreuer  V.  Adler. 


31. 

Engels  an  Adler. 

London,   "23.   Okt.   92. 

Lieber  Victor 

Wegen  des  Tr.-Ünions  Internat.  Kongresses  brauchst  Du 
Dir  keine  Sorge  zu  machen.  Erstens  war  die  ganze  Geschichte 
wahrscheinlich  nur  ein  Mittel  den  Beschluß  gegen  die  Züricher 
durchzukriegen,  und  wird  vom  Parliamentary  Committee  viel- 
leicht igar  nicht  angeregt.  Zweitens  ist's  mit  dem  Hingehen  ein- 
zelner Kontinentaler  nicht  so  arg,  da  selbst  die  —  noch  von 
Possibilisten  wenn  auch  nicht  mehr  unbestritten  —  beherrschte 
Pariser  bourse  du  travail  beschloß,  die  Tr.  Unions  zum  Aufgeben 
ihres  Planes  aufzufordern.  Was  also  sollte  da  noch  koimuen  ^ 
Vielleicht  Herr  Gilles,  als  Vertreter  der  deutschen  ümab- 
hängigen  ? ! 

Einseuduug  des  Beschlusses  der  Österr.  Gewerkschaften 
ans  Pari.  Comm.  wird  'S  ehr  uützlich  sein.  Wegen  der  Adresse 
werde  ich  Aveling  fragen,  ich  kauu  sie  nicht  finden. 

Gestern  bin  ich  zum  erstenmal  wieder  über  Primrose  Hill 
gegangen,,  und  denke  mit  gehöriger  Vorsicht  Ende  der  Woche  ein 
Stückchen  weiter  zu  sein.  Den  Mac  Ewen  werde  ich  mir  merken. 
Er  ist  jedenfalls  Consulting  surgeon  ,  das  heißt,  daß  er  nur 
anderen  Ärzten,  nicht  dem  Publikum  direkt,  Rat  gibt. 
Das  werde  ich  schon  erfahren.  Du  hast  gar  keine  Idee  davon, 
wie  hier  alles,  auch  die  Medizin,  von  Etikette  beherrscht  wird, 
und  ein  Verstoß  gegen  diese  Etikette  viel  schwerer  wiegt  als 
zehn  gegen  das  Sittengesetz.  Ich  kenne  einen  Ausspruch  der 
Manchester  Medici-Ethical  Gesellschaft  als  Schiedsgericht  über 
meinen  Freund  Gumpert  in  Manchester.  Er  hatte  beim  Beileids- 
besuch in  einer  Familie  wo  er  nicht  Arzt  war  (es  war  etwa 
1866 — .67)  sein  gelindes  Bedenken  geäußert,  daß  der  Haus- 
arzt erlaube,  andre  Kinder  zu  den  Leichen  zweier  am  Scharlach 
gestorbener  Kinder  zuzulassen,  und  der  andere  Arzt  beklagte 
sich  darüber.  Urteil :  that  Dr.  Gumpert  had  committed  a  breach 


Briefe  :  August  1892  bis  Oktober  1892  57 

of  medical  etiquette,  though  he  was  morally  vight!*)  Also  noch- 
mals besten  Dank,  Dein  Eat  wird  befolgt. 

Dem  Stepniak  echreibe  ich  morgen  wegen  der  Arbeit. 
Hast  Du  dann  in  14  Tagen,  sage  bis  T. — 8.  Novbr.  noch  nichts^ 
dann  bitte,  schreib'  nochmals,  er  wird  dann  wieder  getreten. 
Sonst  kriegst  Du  nichts  aus  einem  Eussen  heraus. 

Ich  bin  jetzt  am  III.  Band  Kapital.  Hätte  ich  in  den 
letzten  vier  Jahren  nur  einmal  drei  ruhige  Monate  vor  mir  sehen 
können,  ee  wäre  längst  fertig.  Aber  so  gut  wurde  mir  nie.  Dies- 
mal nehme  ich  mir  die  freie  Zeit  mit  Gewalt  und  größter  Ver- 
nachlässigung aller  Korrespondenz  und  sonstiger  Dinge.  Ich 
finde,  daß  ich  an  der  schwierigsten  Stelle  schon  eehr  gut  vor- 
gearbeitet habe,  als  ich  das  letztemal  dran  war,  und'  so  geht's  bis 
jetzt  ziemlich  flott —  allerdings  bin  ich  jetzt  aber  auch  grade 
vor  der  Hauptschwierigkeit,  die  mir  seit  Jahren  den  Weg  ver- 
sperrte, aber  ich  arbeite  mit  Lust  und  soweit  auch  mit  un- 
geschwächter Kraft  und   so  wird's  wohl   diesmal    was   werden. 

Hiebei  ein  Aktenstück  zur  Charakteristik  der  Anarchisten 
cechischer  Nationalität.  Die  Herren  fangen  an  das  Prinzip,  daß 
Wahlen  ein  revolutionärer  Akt  ist,  gegeneinander  anzuwenden. 
Die  Schweinereien  drin  will  ich  noch  dadurch  entschuldigen ^ 
daß  die  Knoten  als  Nichtdeutsohe  sich  des  vollen  Eindrucks 
ihrer  Stilblüten  auf  Deutsche  nicht  ganz  bewußt  waren. 

Die  guten  Nachrichten  wegen  Deiner  Frau  haben  uns 
alle  ungemein  gefreut.  Wir  hoffen  es  bleibt  in  der  Eichtung 
und  Du  kannst  uns  bald  wieder  Erfreuliches  berichten. 

Herzliche  Grüße  von  Louise  an  Dich,  Deine  Frau  und 
Kinder,  denselbigen  [(]  gleichen  auch  von  Deinem 

F.  Engels. 

Adr.  dos  Pari.  Comites 

C.  Fenwick,  Fsq.  M.  \\ 
12  Buckingham  st.  Strand 

W.  0.  London. 


*}    Dr.    (nimpeil    hat    einen    Bruch    der   ärztlichen    EtikeUe    begangen, 
obgleich  er  moralisch   im  Becht  war. 


58  Die  Wiener  Marx-Feier  1893 

32. 

Adler  an  Engels. 

(Redaktionstag!)  Wien,  26./10.  [1892]. 

V'erehrter  Freund! 

Danke  herzlich  für  Deinen  Brief  und  zeige  an,  daß 
Stepniak  vor  ein  paar  Tagen  Manuskript  gesendet  hat. 

Wie  ich  sehe,  suchst  Du  Dich  um  die  Konsiultation.  herum- 
zudrücken. Ich  hoffe,  daß  Du  es  darfst.  Aber,  die  Gefahr  etwa« 
Überflüssiges  zu  tun,  scheint  mir  nicht  so  groß  als  die  etwas 
Notwendiges  zu  unterlassen.  Darum  würde  ich  Dir  doch  sehr 
raten,  alle  Etikette  beiseite  zu  lasisen  und  zu  Mac  Ewen  zu 
gehen.  —  Herzliche  Grüße  an  Luise  und  Dich  von  Emma 

und  Viktor. 
In  Eile! 


33. 

Die  Wiener  Marx-Feier  1893. 

Die  „Arbeiter-Zeitung"  vom  17.  März  189B  berichtet  über  die  Karl- 
Marx-Totenfeier,  die  die  Arbeiterschaft  am  14.  März  1893  beging; 

Das  war  ein  unoergeßlicher  Abend.  Zum  erstenmal  seit  22  Jahren 
wieder  öffneten  sidi  die  Sophiensäle,  das  größte  Lokal  Wiens,  einer  Arbeiter- 
versammlung. Schon  um  sieben  Uhr  strömten  die  Scharen  zusammen,  um  acht 
Uhr  war  auch  das  letzte  Plätzchen  des  weiten  Raumes  gefüllt.  In  Feierkleidern 
rückten  sie  an,  Männer  und  Frauen;  aber  Hunderte  von  Arbeitern  sahen  wir, 
wie  sie  aus  der  Werkstatt  kamen,  wie  sie  vom  Gerüst  gestiegen,  mit  dem 
Schurzfell,  die  das  Werkzeug  soeben  aus  der  Hand  gelegt.  Den  Hintergrund 
des  Saales  nahm  die  Tribüne  ein,  in  einen  grünen  Hain  verwandelt,  in  dessen 
Mitte  eine  prächtig  gelungene,  eigens  zum  Fest  geschaffene  Kolossalbüste  von 
Karl  Marx  stand;  rote  Schleifen,  auf  denen  zu  lesen  war:  „Proletarier 
aller  Länder,  vereinigt  Euch  !  —  Die  sozialdemokratische  Partei  Österreichs" . 
umschlangen  den  Sockel.  An  die  Fünftausend  waren  da,  und  hätte  der  Saal 
die  doppelte  Zahl  gefaßt,  noch  hätten  nicht  alle  Platz  gefunden,  die  kommen 
wollten.  Die  Stimmung  der  Masse  war  eine  unbeschreibliche.  Auf  aller  Antlitz 
lag  jene  heitere  und  doch  so  ernste  Begeisterung,  welche  die  Proletarierfeste 
vor  allen  anderen  auszeichnet.  Sie  waren  sich  bewußt,  gekommen  zu  sein, 
nicht  nur  den  Lehrer  zu  feiern  und  den  Kämpfer,  sondern  das  Proletariat 
selbst,  seinen  eigenen  Kampf  und  seine  höchsten  Ziele.  Und  mit  hinein 
mischte  sich  der  berechtigte  Stolz  über  die  Tatsache,  die  sich  auch  an  diesem 
Fest  aussprach:  den  Riesenfortsdiritt,  welchen  die  Organisation  der  zielbe- 
wußten Arbeiterschaft  und  speziell  Wiens  gemacht  hat.  Es  war  ein  wohlver- 
dientes, frohes  Fest,  das  sauren  Wochen  folgte.  Man  sah  Jedem  die  Freude  an. 


Die  Wiener  Marx-Feier  1893  59 

von  der  ermüdenden  Kleinarbeit  im  Dienste  der  Bewegung  den    Blick    einmal 
erheben  zu  können  zum  Ganzen,  zur  Idee  der  Bewegung. 

Auch  sonst  war  das  Fest  in  jeder  Weise  gelungen.  Als  Beethovens 
unsterbliches  Tonwerk,  dirigiert  von  unserem  wackeren  Mörth,  in  über- 
raschend guter  Aufführung  verklungen  war,  zeigte  der  rauschende  Beifall,  daß 
Beethoven  nicht  nur  für  das  Publikum  der  Philharmoniker  gelebt  hat. 
Der  Brüder  Scheu  „Festgesang",  vom  ,, Arbeiter-Sängerbund"  und  der  ,,Typo- 
graphia"  vorgetragen,  erwedcte  Begeisterung  und  in    aller  Herzen  klang  es  nach  : 

O  Wissensmacht,  füll'  unsern  Bund 
Mit  deiner  ganzen  Stärke, 
Und  gib  dich  unbesiegbar  kund 
In  uns  rem  großen  Werke: 
Sei  uns're  Rüstung,  unser  Sdiild 
Und  uns'rer  Waffen  Schärfe, 
Daß  unser   Arm  das  Götzenbild 
Der  Zeit  in  Trümmer  werfe. 

Nun  eröffnete  Genosse  Schra  mmel  die  „Versammlung"  mit  einer 
Begrüßung  der  Anwesenden  im  Namen  der  Parteivertretung.  Mit  ihm  bestieg 
der  unvermeidliche  Polizeikommissär  die  Tribüne.  Genosse  Leuthner  erhielt 
nun  das  Wort  zur  eigentlichen  Festrede.  Wir  bringen  dieselbe  wortgetreu  zum 
Abdruck  und  haben  es  nicht  notwendig,  zu  ihrem  Lobe  ein  Wort  zu  sprechen. 
Aber  gesagt  sei,  daß  diese  Rede  verstanden  wurde  und  daß  jeder  ihrer  Wen- 
dungen verständnisvoller  Beifall  folgte.  Nach  einer  Pause  ließen  unsere  Sänger 
den  „Morgenzuruf"  von  Herwegh  folgen,  worauf  Genosse  Adler  das  Wort 
ergriff  zu  einer  Rede,  die  im  Auszug  folgt.  Als  er  mit  dem  dreimaligen  Hoch 
auf  die  internationale  und  revolutionäre  Sozialdemokratie  schloß,  erhoben  sich 
Tausende  von  ihren  Sitzen  und  stimmten  in  jubelnder  Begeisterung  ein.  Bevor 
nun  Genosse  Seh  ramme l  die  „Versammlung"  schloß,  erinnerte  er  an  den 
noch  lebenden  Mitarbeiter  und  Kampfgenossen  von  Karl  Marx,  unseren 
Friedrich  Engels,  und  schlug  vor,  folgendes  Telegramm  aus  der  Mitte  der 
Versammlung  an  ihn  zu  richten  : 

„Tausende  von  Männern  und  Frauen,  versammelt  zur 
Gedenkfeier  an  Karl  Marx,  senden  sozialdemokratischen  Crruß 
seinem  Mitarbeiter,  dem  treuen  Freunde  und  Berater  der  revo- 
lutionären Arbeiterschaft  aller  Länder. 

Die  österreichische  Parteivertretung: 
Popp,     S  c  h  r  a  m  m  e  1,     Adle  r." 

Stürmischer  Beifall  und  „Hoch  Engels"  folgten  der  einstimmigen  An- 
nahme des  Antrages.  Als  hierauf  der  Schlußchor  verklungen  war,  wollten  sie 
nicht  gehen.  Das  Orchester  wurde  genötigt,  das  „Lied  der  Arbeit"  und  hierauf 
die  „Marseillaise"  zu  spielen  und  beide  Lieder  wurden  von  dem  Chor  der 
Massen  stehend  mitgesungen.  Es  war  Mitternacht,  als  sich  die  Säle  leerten,  und 
keiner  und  keine  hat  das  Haus  verlassen,  ohne  den  Schwur  erneuert  zu  haben, 
unerschütterlich  treu  und  rastlos  den  Weg  zu  gehen,  den  uns  Marx  gezeigt. 


60  Die  Wiener  Marx- Feier  1893 


In    dem   Bericht    der    „Arbeiter-Zeitung"    folgt    nun    nacli    der   wört- 
lichen Wiedergabe  der  Rede  Karl  Leuthners    folgender  Auszug: 

Aus  der  Rede  des  Genossen  Dr.  Adler: 

Geehrte  Festversammlnng  I  Werte  (lenossen  und  Ge- 
nossinnen! Wir  haben  Sie  hieher  geladen,  zehn  Jahre,  nachdem 
sich  'die  A'ugen  von  Karl  Marx  für  immer  geschlossen.  Wir 
haben  Sie  geladen,  eine  Trauerfeier  zu  begehen  heute  am 
14.  März,  nachdem  Sie  vorgestern  in  viel  größeren  Massen  eine 
andere  Trauerfeier  begangen  haben.  Wer  Karl  Marx  war,  was 
er  für  uns  geleistet,  was  seine  geschichtliche  Tat  war,  das  hat 
mein  Vorredner  Ihnen  unübertrefflich  geschildert;  ich  will  Sie 
nur  erinnern  an  das,  was  handgreiflich,  faßbar,  sichtbar  für 
jeden  von  Ihnen  steht.  Erinnern  Sie  sich  an  vorgestern,  wo  Sie 
am  Obelisk  standen,  zwanzigtausend,  dreißigtausend,  Sie,  die 
entschlossen  sind  zu  kämpfen  für  die  Freiheit,  Sie  Proletarier, 
vergleichen  Sie  sich  mit  den  Proletariern,  die  dort  ruhen,  die 
gefallen  sind  im  Jahre  1848  für  die  Freiheit.  Vergleichen  Sie, 
was  das  Proletariat  war  im  Jahre  1848  mit  dem,  was  es  heute 
ist.  Im  Jahre  1848  —  und  das  war  die  erste  Revolution,  die 
KarlMarx  mit  sehenden  Augen  erlebte,  die  er  mitgekämpft, 
die  er  uns  gedeutet,  erklärt  hat  und  aus  der  wir  lernen  werden 
und  gelernt  haben  —  im  Jahre  1848  war  das  Proletariat  nicht 
nur  hier  in  Österreich,  auch  drüben  'm  Frankreich,  wo  die 
Hauptschlacht  geschlagen  wurde,  eine  untentwickelte  Klasse, 
eine  Klasse,  die  sich  selbst  noch  nicht  kannte,  die  mit  dem 
Bürgertum,  mit  den  Ideologen  und  Idealisten  aller  Klassen 
zusanomen  auf  die  Barrikaden  stieg  un'd  für  Freiheit,  Gleichheit 
und  Brüderlichkeit,  wie  bei  uns  für  das  bißchen  Preßfreiheit  — 
das  wir  heute  noch  nicht  haben  —  geblutet  hat,  m  i  t  der  Bour- 
geoisie, und  wie  es  sich  zeigte,  f  ü  r  die  Bourgeoisie.  Karl 
Marx  hat  die  Junischlacht  gedeutet,  gezeigt,  wäe  die  Bour- 
geoisie mit  dem  Rufe  Freiheit,  Gleichheit,  Brüderlichkeit  das 
Proletariat  auf  die  Barrikaden  schickt  gegen  den  Feudalismus, 
und  daß  dieselbe  Bourgeoisie,  wenn  sie  die  Macht  dazu  hat,  das 
Proletariat  am  Fuße  der  Barrikade  erwartet  mit  dem  anderen 
Dreiwort:  „Infanterie,  Kavallerie,  Artillerie."  (Stürmischer, 
lang  anhaltender  Beifall.)  Freilich,  sie  hören  es  nicht  gerne! 
Denken  Sie  nur,  wie  schön  waren  die  guten,  alten  Zeiten,  wo 
noch  unter  dem  blauen  Himmel  einer  allgemeinen  Menschen- 
liebe alle  Menschen  selig  werden  konnten  und  brüderlich  einer 


Die  Wiener  Marx-Feier  1893  61 


jiiemals  kommenden  Zukunft  entgegengingen;  wie  schön  waren 
die  Zeiten,  wo  die  „Menschenfreundlichkeit"  allen  genügte, 
und  wo  der  größte  Ausbeuter  im  Comptoir  sich  beim  Fest  als 
Arbeiterfreund,  als  Freund  des  freien  Gedankens  aufspielte! 
Wie  schön  waren  die  Zeiten,  wo  der  Staat  selbst  sich  drapieo'en 
konnte  als  Schützer  der  Schwachen,  als  Anwalt  der  Unter- 
drückten. (Sehr  richtig!  Beifall.) 

Marx  hat  den  Begriff  der  ..Menschheit"  in  Klassen 
zerrissen  und  die  „allgemeine  Menschenliebe"  als  den  Konflikt 
von  Klasseninteressen  aufgezeigt.  Der  Arbeiterfreundlichkeit 
der  Bourgeoisie,  der  ausgleichenden  Gerechtigkeit  des  Staates 
hat  er  die  Maske  heruntergerissen,  und  wir  wissen  heute  und 
das  Proletariat  weiß  heute  den  Klassenstaat  sehr  gut  unter  der 
\olksfreundJichsten  Maske  zu  erkennen  als  Organ  der 
Ausbeuterklasse.  (Beifall.) 

Diese  Klarheit  gefällt  nun  nicht.  Und  die  Zunftgelehr- 
^amkeit.  die  25  Jalire  sich  sträubte,  den  Gelehrten  Marx  anzu- 
erkennen, und  sich  endlich  dazu  bequemen  muß,  hat  ein  neues 
Schlagwort  erfunden,  von  der  ..neuen  Orthodoxie",  die  sich 
gebildet  habe  und  sich  dabei  noch  in  das  Gewand  der  freien 
Forschung  kleide.  Sie  nennen  uns  „Marxisten",  Als  der  Name 
^[arxisten  zuerst  aufkam  —  es  war  in  Frankreich  Ende  der 
siebziger  und  Anfang  der  achtziger  Jähre,  da  wurde  einmal 
Marx  selbst  gefragt,  was  er  dazu  meine.  Da  sagte  er:  „Ich  weiß 
nicht,  v.-as  Marxismus  ist;  ich  weiß  nur  das  eine,  daß  ich  nicht 
Marxist  bin."  Die  Lehre,  die  Theorie  von  Karl  Marx,  hat  er  wie 
seine  Schüler  und  Jünger  stets  preisgegeben  der  freiesten 
Kritik.  Denn  Kritik  ist  ja  ihr  eigenstes  Leben.  Aber  wenn  die 
Gegner  von  marxistischer  „Orthodoxie"  reden,  da  meinen  sie 
nicht  die  Theorie,  dameinen  sie  die  Politik,  ^'icht  die 
..Orthodoxie"  in  der  Wissenschaft  hassen  sie  im  Marxismus, 
sondern  die  Orthodoxie  in  der  Politik,  die  unerbittliche  Mathe- 
matik seiner  Beweisführung  nicht  so,  wie  die  unerbittliche 
Analyse  der  Parteien. 

Daß  unsere  Bewegung  scharf  und  unerbittlich  geschlossen 
vorrückt  als  Klassenbewegung  dee  Proletariats,  das  ist  es,  was 
man  als  „orthodox"  und  „dogmatisch"  brandmarken  möchte.  Ein 
Dorn  im  Auge  ist  ihnen  das  „Dogma",  daß  das  klassenbewußte 
Proletariat  allein  der  Träger  sein  kann  seiner  Geschichte,  der 
Träger  sein  muß  seiner  Zukunft  und  bestimmt  ist  sie  zu  bauen, 
-ie  wissend  zu  bauen. 


02  Die  Wiener  Marx-Feier  1893 

Dieser  Lehre  aber  haben  wir  zu  danken,  daß  heute  das 
Proletariat  bewußt,  international  organisiert,  ganz  anders  da- 
steht als  in  den  achtundvierziger  Jahren.  Wir  haben  ihr  zu 
danken,  da?  alle  Versuchungen  von  kleinbürgerlichen  Ideologen, 
von  Wohlmeinenden  —  im  besten  Falle  —  heute  der  prole- 
tarischen Bewegung  nichts  mehr  anhaben  können.  Und  rasch 
gehen  die  Dinge.  In  diesem  Saale  hier  war  im  Jahre  1871  die 
letzte  Arbeiterversammlung  bis  heute  —  das  ist  über  zwanzig 
Jahre  —  und  zwar  fand  sie  statt  gelegentlich  der  Freilassung 
der  nach  dem  Hochverratsprozeß  amnestierten  (!)  Oberwinder, 
Scheu  usw.  Wenn  im  Jahre  1871  das  Ministerium  Schäffle  die 
sozialdemokratischen  Hochverräter  begnadigte,  so  konnte  es  sich 
noch  schmeicheln  mit  der  Hoffnung,  die  freilich  nicht  in  Er- 
füllung ging,  die  Arbeiterschaft  in  die  Gefolgschaft  des 
Feudalismus  zu  bekommen,  so  wie  das  liberale  Bürgertum,  ver- 
blendet wie  es  ist,  unwissend  wie  es  ist,  noch  heute  die  Hoffnung 
nicht  aufgegeben  hat,  die  Arbeiterschaft  für  seine  Zwecke  aus- 
zunützen. Wenn  wir  heute  aber  einen  Hochverratsprozeß  haben 
sollten,  auf  Amnestie  brauchten  wir  aus  diesen  Gründen  nicht 
zu  warten.  (Heiterkeit.)  Keine  Regierung,  mag  sie  gefärbt  sein 
wie  immer,  kann  hoffen,  uns  ins  :Schlepptau  zu  bekommen.  Die 
scharfen  Augen,  die  uns  nächst  der  geschichtlichen  Entwicklung 
Karl  j\[arx  gegeben,  haben  uns  belehrt,  wie  er  einmal  sagt: 
„Wie  man  im  Privatleben  unterscheidet  zwischen  dem,  was  ein 
i\rensch  von  sich  meint  und  sagt,  und*)  dem,  was  er  wirklicih  ist 
und  tut,  .^o  muß  man  noch  mehr  in  geschichtlichen  Kämpfen 
die  Phrasen  und  Einbildungen  der  Parteien  von  ihrem  wirklichen 
Organismus  und  ihren  wirklichen  Interessen,  ihre  Vorstellung 
von  ihrer  Banalität  unterscheiden."  Nicht  nach  den  Programmen, 
die  sie  aufstellen,  nicht  nach  den  Phrasen,  die  sie  machen,  haben 
wir  gelernt  die  Parteien  zu  beurteilen,  sondern  nach  dem  Inter- 
esse, das  in  ihnen  steckt.  Hinter  ihren  Idealen  lernen  wir  ihr 
Klasseninteresse  entdecken.  Und  diese  erste  Regel  aller  Taktik, 
diese  erste  Regel  aller  Politik  der  Arbeiterklasse  hat  uns  Marx 
gegeben  ... 

Und  noch  einen  Unterschied  lassen  Sie  mich  anführen 
zwischen  einst  und  jetzt.  Die  Märzgefallenen  vom  Jahre  1848, 
zum   allergrößten  Teil  Proletarier,  sie   sind   gefallen   in  Reih' 

•)  In  der  ..Arbeitor-Zeiliing"  heißl  es  oFf<^nl)ar  infolge  eine?  Druck- 
J'elilcrs  ,,i  n". 


Die  \\iener  Marx-Feier  1893  68 

und  Glied  mit  Kleinbürgern,  mit  Legionären,  für  eine  Freiheit, 
von  der  sie  glaubten,  sie  sei  für  alle  Menschen  erkäm.pft,  während 
eine  Freiheit  daraus  wurde  für  die  Bourgeoisie,  die  Freiheit  des 
Handels.  Sie  erkämpften  dem  Bürgertum  einen  halben  Sieg 
den  es  bald  wieder  aus  der  Hand  gab  und  weit  später  erst  als 
Geschenk  erhielt,  infolge  von  auswärtigen  Verwicklungen  und 
Niederlagen,  was  es  an  politischer  Macht  hat.  Als  da.-; 
Biirgertum  aber  nun  politische  Macht  hatte,  da  wagte  es  sie 
nicht  mehr  zu  gebrauchen.  Genau  so,  lesen  Sie  nach,  wie 
Karl  Marx  die  Geschichte  von  1848  bie  1850  in  Frankreich 
-schildert,  genau  so  wie  in  Frankreich  die  Bourgeoisie  schließlich 
nur  ein  Bedürfnis  hatte :  Ruhe,  Ruhe  um  jeden  Preis,  Ruhe  für 
das  Geschäft,  und  wie  sie  Napoleon  III.,  dem  Gaukler,  den 
:>raat  überließ,  genau  so  übergibt  sie  ihn  aller  Orten,  läßt  sie 
die  Zügel  aus  der  Hand  fahren.  Die  Bourgeoieie,  die  ihre  Ruhe 
haben  will,  erklärte  „die  politische  Herrschaft  der  Bourgeoisie 
"averträglich  mit  der  Sicherheit  und  dem  Bestand  der 
l)()Urgeoisie"  und  erklärt  unzweideutig,  daß  sie  ihre  eigene 
politische  Herrschaft  loszuwerden  schmachte,  um  die  Mühen  und 
■■(iefahren  der  Herrschaft  loszuwerden.  Es  ist  der  Bourgeoisie 
ü leichgültig,  wem  die  Kanonen  gehören,  die  sie  beschützen,  sie 
verzichtet  auf  das  Kommando.  Da  meinen  nun  die  Herren,  „das 
Ideal  sei  aus  der  Welt  geschwunden".  Gewiß,  die  Ideale,  die 
nn  Klasseninteressen  angeschminkt  wurden,  sind  zerronnen. 
Nüchtern  sieht  die  Arbeiterschaft  der  nüchternen  Wirklichkeit 
n\<  Gesicht.  Um  das  prosaischeste  Ding  von  der  Welt  kämpft 
-10  —  um  Brot.  Schlagen  Sie  nach  im  ,, Kapital",  wie  Marx  von 
den  englischen  Arbeitern  sagt:  „An  die  Stelle  des  prunkvollen 
Katalogs  der  „unveräußerlichen  Menschenrechte'*  tritt  die  be- 
scheidene ^lagna  Charta  eines  gesetzlich  beschränkten  Arbeits- 
■;iges'*,  und  „zum  Schutze''  gegen  die  Schljange  ihrer  Qualen 
müssen  die  Arbeiter  ihre  Köpfe  zusammenrotten  und  als  Klasse 
ein  Staatsgesetz  erzwingen,  ein  übermächtiges,  gesellschaftliches 
Hindernis,  das  sie  selbet  verhindert,  durch  freiwilligen  Kontrakt 
mit  dem  Kapital  sich  und  ihr  Geschlecht  in  Tod  und  ^^klaverei 
zu  verkaufen!"  ... 

Also  lauter  nüchterne  Dinge.  Und  doch,  welcher  Schwung 
des  alten  Idealismus  kann  sich  messen  mit  dem  Bild,  das  am 
■'>.  Mai  1890  sich  im  Hydepark  zu  London  entrollte,  als  Hundert- 
tausende von  Proletariern  sich  einfanden  für  die  Erkämpf ung 


64  Die  Wiener  Marx-Feier  1893 

des  Achtstimdentages  einzustehen,  und  in  allen  Sprachen 
Europas  die  internationale  Solidarität  des  Proletariats  pro- 
klamiert wurde.  Da  glauben  wir  gerne,  daß  unser  alter  Freund 
Friedrich  Engels  tief  bewegt  war,  als  er  angesichts  dieses 
Schauspiels  sagte:  „Wenn  das  Karl  Marx  noch  erlebt  hätte!''  — 
Alö  zum  ersten  Male  die  Idee  derinternationalität  ausgesprochen 
wurde  von  den  bürgerlichen  Ideologen  des  Konventes  zur  Zeit  der 
Französischen  Revolution,  da  wurde  sie  erstickt  in  demRlute  der 
Schlachten.  Als  sie  wieder  auftrat,  war  sie  die  Internationalität 
des  Proletariats  geworden :  „P  roletarier  aller  Länder, 
vereinigt  euch!"  Der  Bund  der  ,, Internationale",  dessen 
Seele  Marx  gewesen,  das  war  zwar  ein  großer  Gedanke,  das 
war  aber  noch  nicht  eine  treibende  Macht.  Eine  Macht  wurde 
die  Internationale  erst,  als  sie  überflüseig  geworden  war,  als 
nicht  mehr  ein  Bund  mit  Statuten  zusammentreten  brauchte; 
als  in  der  Arbeiterschaft  aller  Länder  in  jedem  klassenbewußten, 
seiner  Ziele  bewußten  Proletarier  das  Bewußtsein  lebte,  daß  das 
Ziel  ein  gemeinsames  ist,  daß  der  Kampf  ein  gemeinsamer  ist, 
und  daß  der  Sieg  ein  gemeinsamer  sein  kann.  Das  ist  die  Be- 
deutung der  Maifeier  in  allererster  Linie.  (Beifall.)  .  .  .  Wir 
haben  hinter  uns  eine  Reihe  von  Kämpfen,  und  wir  können, 
glaube  ich,  sagen:  wir  in  Österreich  haben  einen  der  schlech- 
testen Posten,  einen  der  furchtbarsten,  der  gefährlichsten  —  voll 
Gefahren  jeder  Art.  Aber  ich  hoffe,  Sie  alle  fühlen  es  mit  mir, 
daß  wir  ihn  halten  und  halten  werden.  Und  wenn  sich  die 
Mächte  zusammenrotten,  wie  sie  wollen,  wenn  sie  macheu,  unter- 
nehmen, ins  Werk  setzen,  was  sie  wollen:  nicht  ei  nen  Fuß- 
breit werden  sie  uns  zurückdrängen.  Sie  haben  uns  zu  kaufen 
versucht  im  großen  und  im  kleinen,  sie  haben  uns  zu  kaufen 
versucht  mit  angeblichen  „Freiheiten":  wir  haben  die  falsche 
Münze  ihnen  alsbald  auf  den  Tisch  geworfen.  Sie  haben  uns  zu 
kaufen  versucht  von  der  anderen  Seite  mit  „sozialen  Reformen". 
Wir  haben  gesagt:  Gut,  wir  können  sie  brauchen;  wir  halten 
euch  beim  Wort.  Und  wir  haben  als  gute  iSchüler  von  Karl  Mar.x. 
die  von  ihm  gelernt  haben,  auch  die  geschichtliche  Rolle  von 
Parteien  zu  beurteilen,  gesagt:  Her  mit  den  Reformen,  und  nur 
immer  mehr.  Ihr  bietet  uns  „Arbeiterschutz"?  Arbeiterschutz 
wird  die  Frage  des  Proletariat«  nicht  lösen,  Arbeiterschutz  kann 
die  Kette  der  Lohnsklaven  nicht  brechen.  Was  ihr  uns  vor- 
spiegeln wollt,  das  glauben  wir  nicht;  wir  brauchen  al)er  den 


Die  Wiener  Marx-Feier  1893  65 


Arbeiterschutz,  und  nur  immer  mehr  davon.  Warum?  Weil  wir 
ihn  brauchen,  damit  derjenige  Faktor,  der  allein  imstande  ist, 
die  Lohnsklaverei  zu  brechen,  auch  die  Macht  bekomme,  es  zu 
tun;  damit  das  Proletariat  fähig  wird,  seine  Aufgabe  zu  er- 
füllen .  .  .  Sie  haben  uns  nicht  zu  täußchen  vermocht.  Nun 
haben  sie  es  mit  Gewalt  versucht,  man  hat  es,  wie  in  allen 
Ländern,  einmal  mit  Brutalität  versucht,  aber  kleinlich,  wie 
alles,  was  hier  geschieht.  Nicht  mit  jener  grandiosen  Brutalität, 
die,  wenn  sie  uns  den  Abscheu  erpreßt,  doch  einen  Funken  von 
Respekt  erzeugt.  Zehntaut>ende  Proletarier  hat  die  französische 
Bourgeoisie  im  Jahre  1848  auf  den  Barrikaden  geschlachtet, 
zwanzigtausend  Proletarier  im  Jahre  1871  —  während  und  nach 
der  Kommune  —  gemordet  —  grausam,  brutal,  abscheulich, 
aber  immerhin  —  groß  .  .  .  Bei  uns  jedoch  ist  man  grausam, 
brutal,  abscheulich,  ganz  wie  die  andern  —  aber  klein. 
(Tosender  Beifall.) 

Und  gestehen  wir  uns  offen,  alle,  die  wir  hier  sind  —  icli 
6ehe  lauter  Gesichter,  die  im  Kampfe  stehen  —  gestehen  wir 
uns  doch,  wäre  uns  nicht  lieber,  jedem  von  uns,  e  i  n  Moment, 
eine  Entscheidung,  eine  Anstrengung,  breche,  was  brechen 
mag,  und  jetzt  vorwärts?  (Anhaltender  Beifall.)  Wir  wissen 
aber,  die  Geschichte  verlangt  mehr  — ■  die  Geschichte 
verlangt  von  uns  den  täglichen,  stündlichen  Kampf  — 
nicht  nur  mit  der  Misere  des  eigenen,  individuellen 
Lebens,  von  der  jeder  von  uns  sein  vollgerütteltes  Maß 
hat,  nicht  nur  das  Sichnichtbiegenlassen,  Nichtherunter- 
ziehenlassen  in  den  Schlamm  des  Philistertums,  in  den  Schlamm 
dos  Indifferentismus  durch*)  die  Nadelstiche  der  Alltäglichkeit, 
die  mächtig  genug  und  am  allermeisten  den  Arbeiter  anpackt, 
sie  verlangt  von  uns,  daß  wir  uns  auch  nicht  ermüden  lassen 
durch  den  kleinlichen  Kampf,  mit  täglichen  kleinlichen  Hinder- 
nissen, mit  den  Lächerlichkeiten  der  Gegner,  die  uns  oft  den 
Euf  abpressen:  „Mit  solchem  Gesindel  müssen  wir  uns  herum- 
schlagen I''  (So  ist  es!) ...  Auch  darin  ist  der  Lebensgang  von  Karl 
Marx  ein  Beispiel.  Seifie  Biographie  ist  keine  Geschichte  von 
ronianti.'ichen  Heroentaten,  sie  ist  die  Geschichte  eines  Mannes, 
der  mit  einem  unerhörten  Fleiß,  mit  übermenschlicher  Ausdauer 
die  Wahrheit  sucht.  Sie  ist  andererseits  die  Geschichte  eines 
Mannes,  der  verfolgt,  von  einem  Staate  ausgewiesen,  in  den  an- 


';  Im  Original  der  Druckfehler  „doch". 


66  .  Briefe ;  Mäi-z  1893 

deren  flüchtet,  jahrzehntelang  als  Flüchtling  organisieren  muß, 
welcher  die  kleinen  Miseren  des  Parteilebene  zu  ertragen  hat, 
die  elendigen,  die  wir  alle  kennen  und  von  denen  wir  alle 
wissen,  daß  sie  mehr  Opfer  von  uns  fordern,  als  Ansprüche  an 
unseren  Mut  gestellt  werden.  Er  hat  auch  diesen  Becher  geleert 
bis  an  die  Hefe.  Er  hat  sich  dadurch  nicht  abschrecken  lassen, 
er  war  kein  „Enttäuschter",  weil  er  nie  ein  Getäuschter  war, 
weil  er  nie  einer  jener  „Idealisten"  war  mit  langen  Locken  und 
mit  himmelblauen  Vorstellungen,  die  immer  die  „Menschheit 
im  allgemeinen"  im  Auge  haben. 

Er  wußte,  daß  es  ein  Kampf  sei,  er  machte  den  Kampf 
bewußt  durch,  und  wir  sind  entschloesen,  ihm  nachzukämpfen, 
mag  ee  Kugeln  regnen,  oder  mag  nur  Dreck  zu  durchwaten  sein. 
(Lang  anhaltender  Beifall.) 

Genossen  und  Genossinnen !  Indem  wir  den  toten  Karl 
Marx  feiern,  feiern  wir  die  Toten  alle  der  proletarischen 
Revolution.  Wir  feiern  die  Opfer  der  Junischlacht  von  Paris, 
wir  feiern  die  Toten  des  13.  März  in  Wien,  die  Toten  des 
18.  März  in  Berlin,  wir  feiern  die  Toten  dee  März  und  Mai  der 
Pariser  Kommune  1871.  Wir  wissen,  sie  sind  die  letzten  nicht, 
die  den  Graben  zu  füllen  haben,  über  den  allein  der  Weg  zürn 
Siege  des  Proletariats  führt ;  wir  sind  bereit  dazu  und  zu  jedem 
Opfer,  zum  täglichen  kleinen,  wie  zum  einmaligen  großen,  mit 
dem  Rufe :Es  lebe  die  internationale,  die  revo- 
lutionäre (Sozialdemokratie!  (Die  Anwesenden  er- 
heben sich  und  stimmen  ein  in  das  dreimalige  Hoch.) 


Briefe:  März  1893. 

34. 

Augnst  Radimsky  aji  Engels. 

Wien,  18./3.  1893. 

Sehr  geehrter  Genosse  Engels! 
Die  Herausgeber  des  hiesigen  tschechischen  Parteiblattes 
,,Delmcke  Listy"  beabsichtigen  das  „KommuniötLSohe  Mani- 
fest" in  tscheohischer  Sprache  herauszugeben.  Um  sich  zu  ver- 
gewissern, ob  das  Werk  in  Brosohürenform  nicJit  konfisziert 
wird,  lassen  sie  es  vorerst  in  Fortsetzungen  im  obgenannten 
Blatte  erseheinen.  Die  große  Hälfte  hat  bis  jetzt  unbeanstandet 


Briefe  :  März  1893  (i7 

die  Zensur  passiert  und  iöt  die  Hoffnung  vorhanden,  daß  das 
ganze  Werk  vor  den  Augen  der  Pressebehörde  Gnade  findet*). 
Die  tschechischen  Gencssen  wenden  sich  nun  an  Sie, 
geehrter  Genosse,  mit  der  Anfrage,  ob  Sie  gegen  diese  neue 
Übersetzung  des  „Manifestes"  nichts  einzuwenden  haben,  ob 
Sie  die  Übersetzung  und  Herausgabe  in  Brosichürenform  über- 
haupt gestatten.  Wir  wissen  freilich  nicht,  ob  diese  Erlauhnis 
allein  von  Ihnen  abhängt  und  ob  sie  nicht  mit  materiellen 
Kosten  verbunden  ist,  die  wir  nur  schwer  tragen  könnten.  Wir 
wenden  uns  vertrauensvoll  an  Sie  und'  bitten  um  gefälligen 
Bescheid.  Genosse  Adler  machte  uns  darauf  aufmerksam,  daß 
Sie  werter  Genosse  auch  die  tschechische  Sprache  beherrschen 
lind  daß  es  Ihnen  wahrscheinlich  nicht  unlieb  wäre,  die 
tschechische  Übersetzung  zur  Durohsicht  zu  bekommen.  Zu 
diesem  Zwecke  senden  Ihnen  gleichzeitig  mit  diesem  Briefe 
alle  jene  Nummern  der  „Delnicke  Listy'',  welche  den  bis  jetzt 
erschienenen  Teil  des  „Manifestes"  enthalten.  Es  wäre  uns 
sehr  lieb,  Ihre  Ansicht  über  die  Qualität  der  Übersetzung  zu 
hören.  Selbstverständlich  würden  wir  zur  Broschürenausgabe 
auch  die  ausgezeichneten  Vorreden  übersetzen,  sowie  wir  über- 
haupt bestrebt  sind,  das  Werk  genau  nach  dem  deutschen 
Original  zu  übersetzen.  Übersetzer  da?  Werkes  ist  der  Schreiber 


*)  Diese  Hoffnung  war  allzu  großer  Optimismus,  wie  aus  Radimskys 
Darstellung  in  der  „Arbeiter-Zeitung"  vom  8.  September  1893  hervorgeht. 
..Das  Kommunistische  Manifest  erschien  in  wortgetreuer  tschechischer 
(Übersetzung  der  Berliner  fünften  „Vorwärts"-Ausgabe  in  Nr.  64  bis  70 
der  „Dälnicke  Listy",  ohne  daß  der  Staatsanwalt  sich  ver- 
anlaßt gesehen  hätte,  ein  einziges  Wort  zu  kon- 
fiszieren. Zu  bemerken  wäre  noch,  daß  das  Blatt  einer  doppelten 
Zensur  unterliegt:  es  wird  nämlich  in  Brunn  gedruckt  und  in  Wien  heraus- 
gegeben, respektive  in  Wien  konfisziert  und  in  Brunn  ,, objektiviert".  Nach- 
dem das  Manifest  anstandslos  die  Scylla  und  Charibdis  der  öster- 
reichischen Preßgesetzgebung  passiert  hatte,  veranstalteten  die  Heraus- 
geber der  „Delnick6  Listy"  eine  Separatausgabe  in  der  angenehmen 
Hoffnung,  alle  „Preß"gefahr  hinter  sich  zu  haben.  Die  Leichtgläubigen,  die 
Naiven,  sie  sollten  bitter  enttäuscht  werden !  Das  österreichische 
Preßgesetz  läßt  sich  jeden  Tag  anders  deuten.  Was  irai' 
April  als  unbedenklich  befunden  wurde,  kann  im  September  inkriminiert 
werden  und  so  wurden  auch  in  der  Separatausgabe  nicht  weniger  als  neun 
Stellen  als  Preßvergehen  un9  Verbrechen  stigmatisiert.  Daß  Herr  Hlavath 
nachträglich  den  „gewaltsamen"  Umsturz  konfiszierte,  könnten  wir 
ihm  noch  verzeihen,  daß  er  aber  auch  Maßregeln,  auf  welche  laut  Vorrede 
Nr.  1  „kein  besonderes  Gewicht  gelegt  wird",  wie  zum  Beispiel  „Starke 
Progressivsteuer",  „Zentralisation  des  Transportwesens  in  den  Händen  des 
Staates",  „öffentliche  und  unentgeltliche  Erziehung  aller  Kinder  und  Be- 
seitigung der  Fabrikarbeit  der  Kinder  in  ihrer  heutigen  Form"  konfiszierte,, 
das  können  wir  ihm  nicht  verzeihen  und  werden  uns  dagegen  in  einer 
Einspruchsverhandlung  energisch  verwahren." 


68  Briefe:  März  1893 


dieser  Zeilen  selbst,  derzeit  Administration&beamter  und  Mit- 
arbeiter der  „Arbeiter-Zeitung".  In  ungefähr  zwei  Monaten 
li offen  wir  mit  der  Übersetzung  fertig  zu  werden  und  würden 
dann  sogleich  zur  Separatauisgabe  schreiten,  wenn  unser 
Brief  eine  günötige  Erledigung  findet. 

Sollen  wir  Ihnen  die  weiteren  Fortsetzungen  der  Über- 
setzung zu^^enden?  Für  Ihre  Mühewaltung  im  vorhinein  den 
besten  Dank  sagend',  grüße  ich  Sie  im  Auftrag  der  Wiener 
bschechisohen  Genossen  aufs  herzlichste  und  verbleibe  Ihr 
ergebenster  A.  Radimsky. 

Antwort  erbeten  unter  der  Adresse  der  „Arbeiter- 
Zeitung". 


35. 

Engels  an  August  Radimsky*). 

London,  21.  März  1893. 

Werter  Genosse  Radimsky! 

In  Beantwortung  Ihrer  werten  Zeilen  vom  18.  d.  M. 
kann  ich  Ihnen  nur  meine  Freude  darüber  aussprechen,  daß 
das  Komm.  Manifest  aucli  in  tschechischer  Übersetzung 
erscheinen  wird;  selbstverständHich  steht  dem,  soweit  ich  betei- 
ligt bin,  absolut  nichts  entgegen,  im  Gegenteil  wird  es  nicht 
nur  mir,  sondern  auch  den  Töchtern  von  Marx  zur  höchsten 
Befriedigung  gereichen. 

Wenn  Ihnen  aber  x\dler  erzählt  hat,  ich  „beherrsche"  die 
tschechieche  Sprache,  so  hat  er  doch  auf  meine  Rechnung  etwas 
stark  geflunkert,  ich  bin  froh,  wenn  ich  mit  Ach  und  Krach 
und:  mit  Hilfe  des  Wörterbuches  eine  Zeitungaspalte  verstehen 
kann.  Nichtsdestoweniger  sehe  ich  den  mir  gütigst  zugesagten 
Nummern  der  „Delnicke  Liety"  gern  entgegen,  da  komme  ich 
doch  wieder  etwas  besser  in  die  Übung. 

Mit  freundlichem  Gruß  an  die  tschechischen  Genossen  und 
Sie  selbst 

der  Ihrige  F.  Engels. 


*)  Dieser  Brief  von  Engels  ist  in  tschechischer  Übersetzung  in  der  in. 
Broschürenform  1898  in  Prag  im  Verlag  „Zäf"  herausgegebenen  Ausgabe 
des  Kommunistischen    Manifests  abgedruckt. 


Aus  der  österreichischen  Maifestschrift  1893  69 

Aus  der  österreichischen  Maifestschrift  1893. 

36. 

Ein  Brief  von  Friedrich  Engels. 

London.  Ich  bin  aufgefordert  worden*),  an  die  öster- 
reichischen Genossen  ein  paar  Worte  in  ihrer  Maifestzeitung 
zu  richten.  Was  kann  ich  ihnen  sagend  Wie  man  einen  ersten 
Mai  feiern  muß,  das  wissen  sie  beeser  als  ich.  Das  haben  sie 
von  Anfang  an  bewiesen.  Von  1890  an  haben  die  öster- 
reichischen Arbeiter  ihren  Brüdern  in  allen  anderen  Ländern, 
•Tahr  für  Jahr,  gezeigt,  was  eine  richtige  Maifeier  im  Sinne  des 
Proletariats  ist.  Nirgendwo  hat  man  es  ihnen  gleichmachen 
oder  nur  nachmachen  können. 

In  der  Tat  hat  die  Feier  des  ei-eten  Mai  in  Österreich  eine 
weit  größere  Bedeutung  als  anderswo.  In  Deutschland  konnte 
man  1890  auf  die  eben  vollzogenen  Reichsratswahlen  verweisen, 
die  eine  so  großartige  Eevue  der  deutschen  streitbaren 
Arbeiterklasse  waren,  daß  jede  Maifeier  daneben  blaß  erschien. 
In  Frankreich  fielen  auf  den  ersten  Mai  1892  die  nach  allge- 
meinem Stimmrecht  erfolgenden  Gemeindewahlen,  die  den  Ar- 
beitern ebenfalls  gewaltige  Siege  einbrachten;  da  galt  es,  am 
ersten  Mai  für  die  :Sache  des  Proletariats  zu  arbeiten,  nicht  zu 
feiern.  Aber  in  Österreich  haben  die  Arbeiter  noch  kein 
Stimmrecht,  und  wie  es  mit  ihrer  Preßfreiheit  und  ihrem 
Vereins-  und  Versammlungsrecht  steht,  darüber  erteilt  Aus- 
kunft auf  Befragen  im  Reichsrat  Herr  MinicJterialrat  Freiherr 
\.  Czapka.  Und  darum  haben  die  österreichischen  Arbeiter  recht 
und  immer  recht,  wenn  sie  unter  allen  Umständen  auf  ihrer 
-treng  durchgeführten  Maifeier  bestehen.  Für  die  Arbeiter  an- 
'erer  Länder  ist  diese  Feier  eine  vorwiegend  internationale  An- 
i:clegenheit;  es  kann  daher  vorkomLmen,  daß  sie  wegen  eigen- 
tümlicher inländischer  Umstände  in  die  zweite  Linie  zurück- 
treten muß.  Für  die  Österreicher  ißt  sie  nicht  nur  eine  inter- 
nationale, sondern  auch,  und  vielleicht  vorwiegend,  eine  in- 
ländische Angelegenheit,  und  darum  steht  sie  bei  ihnen  unbe- 
dingt und  immer  in  erster  Linie. 

Möge  sie  auch  dieses  Jahr  so  brillant  verlaufen  wie  bisher. 

')  Michael  Schacherl,  der  mit  der  Redaktion  der  Maifestschrift  für 
1893  betraut  war,  schrieb  am  14.  Jänner  1893  an  Engels:  „Sehr  geehrter 
Genosse!  Mit  Freuden  komme  ich  dem  Auftrage  der  Parteileitung  der  Sozial- 
demokratie Österreichs  nach,  an  Sie  die  Bitte  zu  richten,  durch  einen 
Jvurzen   Beitrag  unsere  diesjährige  Maifestschrift  verschönern  zu  wollen  . . ." 


"'70  Friedrich  Engels  in  Wien 

37. 

Friedrich  Engels  in  Wien. 

Am  15.  September  1893  brachte  die  ,, Arbeiter-Zeitung"  an  der  Spitze 
folgende  Notiz: 

Friedrich  Engels  und  August  Bebet  weilen  seit  einigen  Tagen  in 
Wien.  Daß  es  unseren  Genossen  freudigste  Genugtuung  war,  den  jugendfrischen 
Greis,  den  Kämpfer,  der  seit  fünfzig  Jahren  auf  seinem  Posten  steht,  den  Mit- 
arbeiter von  Karl  Marx,  in  ihrer  Mitte  begrüßen  zu  können,  dafür  legte  das 
kleine  fest  in  den  Drei-Engel-Sälen  Zeugnis  ab,  welches  Montag*)  abends  statt- 
fand. Leider  konnten  nicht  mehr  als  etwa  600  Genossen  Platz  finden.  Aber 
die  da  waren,  durften  im  Namen  von  Zehntausenden  sprechen  und  unser 
Engels,  der  treue  Berater  aller  revolutionären  sozialistischen  Parteien,  wird 
die  Überzeugung  von  Wien  mit  fortnehmen,  daß  die  österreichisdie  Sozial- 
demokratie kampfesmutig  und  enischlos.ten  ist,  den  Weg  zu  gehen,  den  Marx 
und  er  dem  Proletariat  gewiesen. 

Die  Einladungskarte,  die  Engels  ebenso  wie  alle  anderen  Teilnehmer 
zu  dieser  der  Polizei  nicht  angezeigten  Veranstaltung  erhielt,  ist  in  seinem 
Nachlaß  aufbewahrt.  Sie  lautet: 

Nach  §  2  V.  G.  No.  609 

Einladung 

für    Herrn  Friedrich  Engels 

zu  dem 

Montag  den  11.  September  1893,  8  Uhr  abends, 

stattfindenden 

G  o  m  m  e  r  s 

zu  Ehren  eines  der  treuesten  Kämpfer  für  unsere  Prinzipien 

im 

Saale   zu   den   3   Engeln 

IV,  Große  Neugasse. 

Zutritt  nur  gegen  Vorweisung  der  Einladung. 

Einige  Tage  später,  am  Donnerstag  den  li.  September,  fand  eine 
Volksversammlung  im  großen  Drehersaal  in  Wien  III  statt,  in  der  Victor 
-Adler  und  August  Bebel  über  den  Internationalen  Sozialistenkongreß,  der  in 
Zürich  im  August  1893  stattfand,  berichteten.  In  dieser  Versammlung,  in  der 
auch  Karl  Leuthner  und  Louise  Kautsky  sprachen,  hielt  Friedrich  Engels  am 
Schluß  eine  Ansprache.  Die  „Arbeiter-Zeitung"  vom  22.  September  1893 
brachte  einen  zweieinhalb  Seiten  langen  Bericht,  aus  dem  wir  folgende 
Stellen  entnehmen: 

Die  Versammlung  beim  Dreher, 

Schon  um  sechs  Uhr  war  das  Lokal,  in  welches  die  Versammlung  für 
halb  acht  Uhr  einberufen  war,  gefüllt,  und  die  Hunderte,  die  erst  zur  fest- 
gesetzten Zeit  kamen,  mußten  eng  gedrängt  im  Hofe  stehen  bleiben.  Durch  ein 


*)  11.  September. 


Friedrich  Engels  in  Wien  71 


plötzliches  Unwohlsein  verhindert,  betrat  Friedrich  Engels,  begleitet  von 
Genossen  Bebel,  Genossin  K autsky  und  Genossen  Dr.  Adler,  erst  um 
halb  neun  Uhr  den  Saal,  in  welchem  eine  wahre  Bratofentemperatur  herrschte. 
Ein  nicht  endenwollender  Jubelsturm  empfing  den  Jugendfrisdien  Greis.  Ge- 
nosse Schrammel  eröffnete  die  Versammlung  mit  folgenden  Worten: 

„Wir  begrüßen  heute  Genossen,  die  für  die  sozialistische  Bewegung 
seit  Jahrzehnten  mit  aller  Energie  eingetreten  sind-  Wir  ehren  in  ihnen 
Männer,  die  für  Freiheit,  Gleichheit  und  Brüderiichkeit,  für  die  Interessen 
des  Proletariats  gekämpft  haben.  Es  ist  dies  Genosse  Engels,  den 
ich  hier  die  Ehre  habe  vorzustellen  (brausendes  minutenlang  andauerndes 
HocJirufen),  Genosse  Bebel  und  Genossin  K  au  t  s  k  y.  {Großer  Beifall 
und  Hochrufe.)  Sie  wissen,  daß  wir  keinen  Personenkultus  treiben,  trotz- 
dem aber  wissen  wir,  daß  Menschen,  die  für  das  Proletariat  so  ein-- 
getreten  sind  wie  diese  Menschen,  die  Ehre  gebührt,  die  wir  ihnen 
erweisen.  Ich  sdilage  Ihnen  Genossen  Engels  als  Ehrenpräsidenten 
der  heutigen  Versammlung  vor.  (Der  Regierungsvertreter  erklärt,  daß 
dies  nicht  gestattet  sei,  da  Engels  ein  Ausländer  sei-)  Als  Vorsitzenden 
der  Versammlung  sdilage  ich  Genossen  Reumann  vor,  als  Stell- 
vertreter Genossen  Jäger.  Ich  habe  ihnen  eine  Zuschrift  zu  verlesen, 
die  Sie  gewiß  mit  Freude  erfüllen  wird."  Er  verliest  ein  Begrüßungs- 
schreiben von  dreitausend  Reservisten. 

Als  Schriftführer  werden  Genosse  Hub  er  und  Menz  gewählt.  Genosse 
Reumann  teilt  mit,  daß  wir  Engels,  da  ei  nidit  Ehrenpräsident  sein 
darf  (Große  Unruhe  und  Lachen),  den  Ehrenplatz  einräumen.  (Lebhafte  Zu- 
stimmung.) 

Genosse  Dr.  Adler  referiert,  wie  folgt,  über  den  Züricher  Kongreß: 


Die  Rede  Viktor  Adlers. 

Als  F  r  i  e  d  r  i  c  li  Engels  den  Kongreß  mit  einer  Rede 
echloß,  als  das  Bild  von  M  a  r  x  und  der  lebende  Engels,  der 
fünfzig  Jahre  den  Kampf  der  Internationale  führt,  vor  uns. 
stand,  da  sagten  wir  uns  alle,  diese  fünfzig  Jahre  Arbeit  waren 
nicht  umsonst.  Die  Internationale  'ist  gegründet,  sie  ist  unüber- 
windlich. Der  Züricher  Kongreß  hat  besiegelt  und  weiter  aus- 
gebaut, was  in  Paris  und  Brüssel  beschlossen  wurde.  In  Zürich 
war  zum  erstenmal  das  organisierte  englische  Proletariat  in 
imponierender  Weise  vertreten.  Die  englischen  Gewerkschaften 
waren  bi's  vor  ganz  kurzer  Zeit  als  die  Hoffnung  derjenigen 
angesehen  worden,  welche  meinen,  es  lasse  sich  zwischen  Bour- 
geoisie und  Proletariat  Frieden  machen,  man  könne  dem  Prole- 
tariat den  Mund  .stopfen  un'd  die  Ausbeutung  weiter  bestehen 
lassen.  Die  englischen  (jewerkvereine  spüren  heute,  daß  sich 
die  heutigen  Zustände  nicht  auf  dem  Wege  der  Koalition  fristen 
und  erhalten  lassen,  sondern  daß  man  sie  beseitigen,  sich  auf 
sozialistischem  Boden  stellen  muß.  Die  Folgen  des  Züricher- 
Kongresses  zeigten  sich   in   Belfast,     wo     die  Gewerkvereine 


72  Friedrich  Engels  in  Wien 


diesen  fortgeschrittenen  Standpunkt  annahmen.  So  wichtig  e? 
war,  daß  die  Engl'änder  glänzend  vertreten  waren,  so  wichtig 
war  es,  daß  Frankreich  schlecht  vertreten  war.  Die  be- 
deutendsten Fraktionen  waren  nicht  da,  sie  hatten  in  Frank- 
loich  zu  tun,  bei  den  Parlamentswahlen,  sie  hatten  der  ver- 
faulten Panamarepublik  gegenüber  ein  neues  sozialistisches 
Frankreich  aufzuführen.  Seien  wir  froh,  daß  die  Franzosen 
fehlen  mußten,  daß  sie  etwas  zu  tun  hatten  und  daß  sie  etwas 
getan  haben. 

Zwei  Punkte  sind  es,  die  ich  für  wichtig  halte.  Es  drehte 
sich  die  Diskussion  darum:  Sollen  sich  die  sozialistischen  Par- 
teien die  politische  Macht  erobern  oder  sollen  sie  auf  den 
politischen  Kampf  verzichten  und  mit  Beschwörungsformeln 
und  utopischen  Wünschen  arbeiten,  mit  sehr  viel  Geschrei 
abwarten,  was  da  kommen  wird?  Sollen  wit  für  Ausbau  des 
Arbeiterschutzes  eintreten  oder  sollen  wir  beschließen,  d,aß, 
wenn  ein  Krieg  ausbricht,  die  Soldaten  nicht  marschieren 
sollen?  Genossen,  wir  durften  keine  Beschlüsse  fassen,  die  nur 
dazu  dienen,  die  Freunde  irrezufübren  und  von  den  Gegnern 
uns  auslachen  zu  lassen.  Wer  je  Soldat  wa<r,  weiß,  daß  eine 
Niederlegung  der  Waffen  im  Moment  des  Krieges  einfacli  un- 
möglich ist.  Wenn  wir  die  Waffen  haben  und  über  sie  verfügen 
können,  dann  werden  wir  nicht  streiken,  sondern  sie  ge- 
brauchen. (Lebhafte  Zustimmung  und  Heiterkeit.)  Es  ist  sehr 
gefährlich,  mit  einem  ungeladenen  Revolver  zu  drohen,  von 
<lem  der  Bedrohte  weiß,  daß  er  nicht  geladen  ist.  Mit  einer  an 
l'vinstimmigkeit  grenzenden  Majorität  bescliloß  auch  der  Kon- 
greß, daß  auf  dem  bisherigen  Wege  weiter  gearbeitet 
werden   soll. 

Was  die  sogenannten  Unabhängigen  betrifft,  wäre  es  uns 
lieber  gewesen,  sie  wären  ruhig  hinausgegangen.  Diiskussionen 
in  Versammlungen,  wenn  sie  nicht  allzu  langweilig  sind,  sind 
uns  erwünscht,  aber  was  würden  Sie  sagen,  wenn  in  eine  ge- 
schlossene Parteisitzung,  die  nicht  Prinzipien  feststellen,  son- 
dern ausführen  soll,  Leute  kämen  unid  erst  über  die  Prinzipien, 
Jiber  die  Grundlage  der  Partei  reden  wollten?  Wenn  alle  au 
dem  Kongreß  teilnehmen  müßten,  die  sich  Sozialisten  und 
Kapitalsfeindc  nennen,  was  wäre  das?  Wagt  sich  denn  heute 
jemand  mehr  auf  die  Straße,  der  nicht  anstandshalber  erklärt, 
or  sei  auch  Sozialist?  ETDensogut  wie  die  Anarchisten  und  Fn- 


Friedrich  Engels  in  Wien  73 

abhängigen  hätten  wir  auch  die  Hertzkaianer  mit  ihrem  Frei- 
land, die  Flürscheime  und  vor  allem  die  Christlichsozialen  zu- 
lassen müssen  und  mit  mehr  Recht,  denn  die  repräsentieren 
■wenigstens  jemand. 

Von  größter  Wichtigkeit  war  der  Kongreßbeschluß  be- 
treffs der  Maifeier.  In  Österreich  hat  die  Maifeier  den  Anstoß 
gegeben,  daß  Schichten  von  Proletariern  aus  der  Lethargie 
aufgeweckt  wurden,  die  uns  sonst  gar  nicht  zugänglich  gewesen 
wären.  Die  Maifeier  hat  Wunder  gewirkt.  In  anderen  Ländern 
aber  wurde  die  Maifeier  nicht  mit  dem  Ernste  und  in  dem  Sinne 
behandelt  wie  in  Österreich.  Die  Maifeier  am  Sonntag  hat  nicht 
die  revolutionäre  Bedeutung,  die  sie  haben  soll.  In  Deutschland 
hat  man  im  Jahre  1890  den  Fehler  begangen,  daß  man  von  der 
Maifeier  am  1.  Mai  abgesehen  hat.  Das  wurde  korrigiert,  aber 
die  Maifeier  wui-^de  ohne  Arbeitsruhe,  am  Abend  abgehalten. 
Wir  in  Österreich  hatten  unter  dieser  Haltung-  schwer  zu 
leiden.  Deshalb  wollten  wir  in  Zürich  die  Genossen  dazu  be- 
wegen, sich  Mühe  zu  ge'ben,  damit  die  Maifeier  das  werde,  was 
liie  sein  soll,  der  wirkliche  Feiertag  des  Proletariats,  wo  es  in 
allen  Ländern  protestiert  gegen  Klassenherrschaft,  gegen  alles, 
was  uns  drückt  und  büttelt.  An  diesem  Tage  soll  dem  Prole- 
tarier gezeigt  werden,  daß  er  etwas  hat,  daß  er  in  seiner  Faust, 
in  seinem  arbeitenden  Arm  ein  Büttel  hat,  die  Welt  zu  erobern, 
wenn  er  auch  wehrlos  und  gebunden  am  Boden  liegt,  wenn  er 
X)olitisch  geknechtet  und  ausgebeutet  ist.  Diesen  Sinn  der  Mai- 
feier, der  Arbeitsruhe,  fürchten  unsere  Gegner,  das  empfinden 
sie  als  revolutionär.  Und  auf  dem  Kongreß  haben  wir  auch 
einen  Beschluß  erreicht,  nach  welchem  die  sozialistischen  Par- 
teien in  allen  Ländern  trachten  sollen,  die  Maifeier  durch 
Arbeitsruhe  durchzusetzen,  daß  man  nicht  sage,  was  heute 
unmöglich  war,  muß  auch  unmöglich  bleiben.  Selbst  Deutsche 
eiklärten,  sie  hätten  nicht  die  Meinung,  es  sei  unmöglicii, 
'sondern  man  müsse  sich  bemühen  und  es  werde  gehen.  Der 
KongTeßI)eschluß  bedeutet,  daß  von  nun  an  betreffs  der  Mai- 
feier die  Parteivertretungen  nicht  abzuwiegeln,  sondern  auf- 
zuwiegeln hätten.  Wir  haben  auf  die  Deutschen  um  den  Mai 
herum  geschimpft,  aber  es  hat  sich  kein  Groll  gegen  säe  fest- 
gesetzt, weil  wir  wußten,  daß  sie  wirklich  glaubten,  sie  könnten 
es  nicht  anders  machen.  Wir  glaubten  nur,  daß  sie  zu  schwarz 
sahen.     Wichtig  erscheint  noch  der  Beschluß,  der  auf  unseren 


74  F"rjt'drich  Engels  in  Wien 

Antrag'  gelaßt  wurde,  daß  die  sozialistischen  Parteien  in  jenen 
Ländern,  die  noch  kein  allgemeinem  Wahlrecht  haben,  für  die 
Erlangung'  desselben  eintreten  sollen.  Wir  wissen,  daß  das 
allgemeine  Wahlrecht  niclits  Sozialistisches  ist,  aber  wir  wissen 
auch,  daß  wir  es  brauchen,  um  politisch  leben  zu  können.  Was 
(ien  Antrag  auf  internationale  gewerkschaftliche  Organisation 
betrifft,  haben  wir  als  Ursache  unserer  Ablehnung  in  den  ver- 
schiedenen Ländern  die  verscliiedenen  Verhältnisse  im  Auge 
gehabt.  Bei  uns  löst  man  unsere  Vereine  auf,  wenn  man  keine 
Handhabe  hat;  was  sollte  die  Polizei  veranlassen,  die  Vereine 
nicht  aufzulösen,  wenn  sie  in  dem  Vereinsgesetz  eine  Hand- 
habe hat.  Übrigens  besteht  jede  Organisation  nicht  in  dem, 
was  gedruckt  ist,  was  in  den  Statuten  steht;  man  kann  isehr 
feine  Statuten  haben  und  d%  Organisation  ist  elend  und 
schlecht.  L"nd  man  braucht  gar  keine  Statuten  zu  haben,  und 
man  hat  eine  glänzende  Organisation.  Wir  verlassen  uns  auf 
unseren  Geist,  auf  unsere  Opferfähigkeit. 

Der  Züricher  Kongreß  war  ein  wichtiger  Abschnitt  in 
dei-  Entwicklung  der  Bewegung.  Zum  nächsten  Kongreß,  der 
in  drei  Jahren  sein  wird,  haben  uns  die  Engländer  sehr  freund- 
lich nach  London  geladen.  Wir  werden  erst  in  drei  Jahren 
wieder  zusammenkommen,  weil  sich  'die  sozialistischen  Parteien 
in  allen  Ländern  so  rasch  entwickeln  werden,  daß  sie  nicht  Zeit 
haben  werden,  viele  Kongresse  zu  besuchen.  Ich  wünsche,  daß 
der  Züricher  Kongreß  in  jedem  Lande  Früchte  trage,  und  wenn 
wir  in  London  zusammenkommen,  möge  die  internationale  revo- 
lutionäre Bewegung  um  ein  gutes  Stück  weitergekommen  sein. 
(Anhaltender  Beifall.) 

Die  Rede  Friedrich  Engels': 

Werte  Genossen  und  Genossinnen!  Ich  kann  diesen  Saal 
nicht  verlassen,  ohne  meinen  herzlichen,  tiefgefühlten  Dank 
auszusprechen  über  den  unverdienten  Empfang,  den  der  heutige 
Abend  mir  gebracht.  Ich  kann  nur  sagen:  es  ist  leider  mein 
Schicksal,  den  Ruhm  meines  verstorbenen  Freundes  ein- 
zuernten. In  diesem  Sinne  nehme  ich  Ihre  Ovationen  auf.  Wenn 
ich  irgend  etwas  für  die  Bewegung  habe  tun  können  in  den 
fünfzig  Jahren,  die  ich  in  derselben  gestanden  habe,  so  verlange 
ich  keinen  Lohn  dafür.  Der  schönste  Lohn  sind  Sie!  Wir 
haben    unsere  Leute    in    den  Gefängnissen    von  Sibirien,    wir 


Friedrich  Engels  in  Wien  75 

haben  sie  in  den  Goldminen  von  Kalifornien,  überall  bis  nach 
Australien  hin.  Es  gibt  kein  Land,  keinen  großen  Staat,  wo 
üicht  die  Sozialdemokratie  eine  Macht  ist,  mit  der  alle  rechnen 
müssen.  Alles,  was  geschieht  in  der  ganzen  Welt,  geschieht 
mit  Rücksicht  auf  uns.  Wir  sind  eine  Großmacht,  die  zu 
fürchten  ist,  von  der  mehr  abhängt,  als  von  den  anderen  Groß- 
mächten. Das  ist  mein  Stolz!  Wir  haben  nicht  umsonst  gelebt, 
und  können  auf  unsere  Arbeiten  mit  Stolz  und  Zufriedenheit 
zurückblicken.  Man  hat  in  Deutschland  die  Bewegung 
gewaltsam  ersticken  wollen,  und  jedesmal  hat  die  Sozial- 
demokratie geantwortet,  wie  ee  die  Bourgeoisie  nicht  erwartet 
hat.  Die  wiederholten  Wahlen,  dieses  sichere  unwiderstehliche 
Anschwellen  der  sozialdemokratischen  Stimmen,  macht  die 
Bourgeoisie  bange,  macht  Caprivi  bange,  macht  sämtliche 
Mächte  bange.  (Stürmischer  Beifall.)  Der  Vorredner  hat 
bemerkt,  es  wurde  im  Ausland  immer  die  sozialdemokratische 
Bewegung  unterschätzt.  Meine  werten  Genossen,  ich  bin  durch 
-die  Straßen  Wiens  gewandert  und  habe  mir  die  wunderschönen 
Gebäude,  welche  die  Bourgeoisie  für  das  Proletariat  der 
Zukunft  zu  bauen  so  gütig  war  (stürmische  Heiterkeit), 
angesehen,  und  habe  mir  auch  den  prachtvollen  Arkadenbau 
des  Eathauses,  von  welchem  Sie  so  würdig  Besitz  ergriffen, 
zeigen  laseen.  Seit  jener  Besitzergreifung  unterschätzt  Sie 
keiner  mehr.  (Lebhafter  Beifall.)  Der  Tag  hat  Epoche  gemacht. 
Ich  habe  —  ich  war  damals  in  London  —  den  Schrecken  der 
englischen  Zeitungskorrespondenten  gesehen,  als  sie  berichteten, 
daß  am  9.  Juli  das  Proletariat  Wien  beherrscht  hat*),  besser 
beherrscht,  als  es  je  beherrscht  worden  ist.  (Tosender,  lang- 
anhaltender Beifall  und  Händeklatschen.  Hochrufe  auf  Engels, 

die  sich  fortwährend  erneuern.) 

*  * 

* 

über   seinen   Aufenlhall    in    Wien    berichlcL  Engels  auch    in    einem 

Brief  an  Sorge,  der  in  den  Briefen  an  F.  A.   Sorge  bereits  veröffentlicht 

ist.   'Stuttgart,  Dietz   1906.)  Dort  heißt  es  (Nr.  207,  Seite  398): 

Lieber  Sorge! 

Freitag  den  29.  September  sind  wir  wieder  hier  angekommen  und 
-erhielten  bald  darauf  Deinen  Brief  vom  22.  Ich  war  zwei  Monate  fort, 
fuhr  mit  Louise  K.  nach  Köln,  wo  wir  Bebel  und  Frau  trafen,  gingen  zu- 
zusammen  über  Mainz  und  Straßburg  nach  Zürich,  von  wo  ich  mich  für 
acht  Tage  nach  Graubünden  drückte,  wo  ich  einen  Bruder  von  mir  traf. 
Aber  ich  hatte  versprechen  müssen,  zum  Kongreßschluß  wieder  da  zu  sein. 


*)  Am  9.  Juli  1893  fand  im  Arkadenhof  des  Wiener  Rathauses  eine 
große  Massenkundgebimg  statt,  mit  der  die  Wahlrechtsdemonstrationen 
ihren  Anfang  nahmen. 


76  Friedrich  Engels  in  Wien 


und  da  machten  sie  dann  malgie  moi  mit  mir  die  Schlußgeschichte,  von 
der  Du  gelesen  hast.  Damit  war  aber  auch  die  Tonart  für  die  ganze  Reise 
gegeben  und  meine  Absicht,  als  purer  Privatmann  zu  reisen,  total  ver- 
salzen. Ich  blieb  noch  14  Tage  in  der  Schweiz  und  reiste  dann  mit  Bebel 
ül^er  München  und  Salzburg  nach  Wien.  Hier  fing  die  Paradegeschichte 
wieder  an.  Erst  mußte  ich  zu  einem  Kommers,  aber  da  war  nur  Raum 
für  etwa  600,  und  die  anderen  wollten  mich  auch  sehen,  also  am  letzten 
Abend  noch  eine  Volksversammlung,  wo  ich  auch  ein  paar  Worte  sprechen 
mußte.  Von  da  über  Prag  nach  Berlin,  und  da  kam  ich,  nach  heftigem 
Protestieren  gegen  eine  geplante  Volksversammlung,  mit  einem  Kommers 
davon,  der  3000  bis  4000  Leute  zusammenbrachte.  Das  war  ja  alles  sehr 
nett  von  den  Leuten,  ist  aber  nichts  für  mich,  ich  bin  froh,  daß  es  vorüber 
ist,  und  werde  das  nächslemal  ein  written  agreement*)  verlangen,  daß  ich 
nicht  vor  dem  Publikum  zu  paradieren  brauche,  sondern  als  Privatmann 
in  Privatangelegenheiten  reise.  Ich  war  und  liin  ja  erstaunt  über  die  Groß- 
artigkeit des  Empfanges,  den  man  mir  überall  liereitete,  aber  das  überlasse 
ich  doch  lieber  den  Parlamentariern  und  Volksrednern,  bei  denen  gehört  so 
etwas  zu  i  h  r  e  r  Rolle,  bei  meiner  Arbeit  aber  doch  kaum. 


In  den  Aichiven  der  Wiener  Polizei  ist  folgende)'  Rapport  über 
den  Aufenthalt  von  Engels  in  Wien  aufbewahrt: 

Friedridi  Engels  und  August  Bebel  1893  in  Wien. 

Am  11.  September  18^3  wurde  zu  Ehren  der  in  Wien  anwesenden 
Herren  Bebel  und  Engels  in  den  „Drei  Engel-Sälen"  ein  Festkommers  ver- 
anstaltet. Die  Veranstaltung  —  ausschließlich  künstlerische  Darbietungen  — 
war  auf  Giund  des  §  2  des  Vei Sammlungsgesetzes  von  L.  A.  Bretschneider  und 
Julius  Popp  arrangiert  worden.  Es  wurden  hiezu  an  die  einzelnen  Organi- 
sationen Einladungen  persönlich  durch  die  Bezirksvertrauensmänner  übermittelt, 
etwa  20  für  jeden  Wiener  Bezirk,  so  daß  sich  zum  Kommers  gegen  400  Teil- 
nehmer eingefunden  hatten.  Die  Herren  erschienen  in  dunkler  Kleidung,  die 
Damen  in  lichten  Toiletten.  Den  gesanglichen  Teil  des  Festabends  besorgte  die 
„Freie  Typographia" . 

Gegen  Bretschneider,  Popp  und  gegen  den  Saalinhaber  wurde  wegen 
Unterlassung  der  Anmeldung  der  Veranstaltung  die  polizeilidie  Anzeige  erstattet. 
Popp  und  der  Wirt  wurden  polizeilich  mit  einer  Geldstrafe  von  20  Gulden, 
eventuell  zu  vier  Tagen  Arrest,  verurteilt.  Der  Rekurs  an  die  Statthalterei 
wurde  zurückgewiesen. 

Am  14.  September  1893  fand  in  den  Dreher-Sälen  eine  von  etwa 
2000  Personen  besuchte  Volksversammlung  statt  (Einberufer  Anton  Schrammel). 
Es  spradien  Dr.  Viktor  Adler  über  den  Züricher  Internationalen  Kongreß, 
Bebel,  Engels,  Luise  Kaufsky  und  Karl  Leuthner.  Die  Versammlung  verlief 
ohne  Zwischenfall. 

Eigene  Agitationszettel  wurden  nicht  verteilt. 

Engels  und  Bebel  hatten  im  Hotel  Kummer  Wohnung  genommen.  Außer 
Dr.  Viktor  Adler  empfingen  sie  keinerlei  Besuche. 


*)   Einen    schriftlichen   Vertrag. 


Briefe :  Oktober  1893  bis  Mai  1894 


38. 

Briefe:  Oktober  1893  bis  Mai  1894. 

Adler  an  Engels. 

Mittwoch  11. /lO.  93. 

Lieber  General! 

Ich  bin  mit  schwerer  Halsentzündung  behaftet,  fiebere^ 
habe  das  Blatt  zu  machen,  wozu  ich  gar  keine  Ruhe  habe  — 
aber  ich  muß  Dir  schreiben.  Du  weißt  es  schon;  Taaffe  hat 
uns  gestern  mit  dem  allgemeinen  Wahlrecht  überrascht  — 
unwesentliche  Einschränkungen  (Bildungszensus  etc.),  die  für 
uns  in  den  (industriellen)  w^  estlichen  und  nördlichen 
Provinzen  von  keinem  Einfluß  sind  —  dazu  Aufrechterhaltung 
der  Kurien  —  sehr  schlau  —  Zerreibung  der  Liberalen  mit 
Rückversicherung  der  Feudalen  —  der  reine  Bismarck  in  der 
Westentasche  —  dabei  alls  ob  er  von  uns  bestochen  wäre:  für 
uns  alle  Vorteile  für  Agitation  und  Organisation  und  mit  den 
iilten  Kurien  der  Großgrundbesitzer  der  Pfahl  im  Fleische  der 
Verfassung  —  wir  setzen  uns  zu  Tisch  und'  —  sciiimpfen  — 

Von  der  beispiellosen  Vterblüffung  der  Leute  geben  Dir 
ein  paar  Blätter  Zeugnis,  die  ich  sende  — ■  die  Liberalen  sind 
toll  vor  Wut  —  Wi  r  sind  die  Helden  des  Tages!  Jedem  ein- 
zelnen wird  gratuliert  und  zu  mir  konmien  sie,  als  hätte  ich 
])ersönlich  die  Schlacht  gewonnen.  Nun  ist  ja  etwas  daran,  daß- 
Taaffe  vor  uns  Respekt  hat;  offenbar  mehr  als  wir  verdienen. 
Aber  die  Hauptsache,  sein  eigentliches  Motiv  ist  der  Haß  des 
Krautjunkers  gegen  die  Rotüriers,  ein  Haß,  der  von  dem  Justiz- 
minister  Steinbach,  dem  gegenwärtigen  regens  Mori,  in  cäsari- 
st Ische  Bahnen  gelenkt  wird.  — 

Ich  sage  Dir,  es  ist  ein  Hauptspaß  —  dazu  ist  es  für  uns 
'In  wahres  Glück.  Durch  die  überhitzte  Agitation  und  die 
Phrasenmäuligkeit  gewisser  Genosisen  waren  wir  eben  in  einer 
Sackgasse  angelangt.  Den  Generalstreik  konnte  ich  eben  noch 
in  der  Reichskonferenz  auf  eine  recht  lange  Bank  schieben  — 
wo  sie  nun  liegen  bleibt. 

Soviel  in  größter  Eile!  Grüße  mir  Luise  —  lasse  hören 
wie  es  Dir  geht  und  wie  Dir  der  Kontinent  anschlug. 

Lebe  wohl,  es  grüßt 

D^oh  Dein  V.  Adler. 


78  Briefe :  Oktober  1893  bis  Mai  1894 

39. 

Engels  an  Adler. 

London,  11.  Okt.  1893. 
Lieber  Victor 

Am  29.  September  sind  wir  wieder  hier  angekommen  und 
haben  uns  mit  steigender  Todesverachtung  in  den  Haufen 
Arbeit  gestürzt,  den  wir  vorfanden. 

Die  „einen  Eingstraßen  hinter  den  anderen"  in  Berlin  des 
Genossen  Höger  habe  ich  zwar  nicht  entdecken  können,  doch 
ist  Berlin  von  außen  wirklich  schön,  selbst  in  den  Arbeiter- 
vierteln lauter  Palastfronten.  Was  aber  dahinter  ist,  davon 
schweigt  man  am  besten.  Das  Elend  der  Arbeiterviertel  ist 
allerdings  überall,  aber  was  mich  überwältigt,  ist  das  „Berliner 
Zimnaer",  diese  in  der  ganzen  übrigen  Welt  unmögliche  Her- 
berge der  Finsternis,  der  stickigen  Luft,  und  —  desi  isich  darin 
behaglich  fühlenden  Berliner  Philisteriums.  Dank'  schönstens! 
Augusts  Wohnung  hat  keins,  sie  ist  die  einzige,  die  mir  gefällt, 
in  jeder  anderen  ging  ich  kaput. 

Dieser  Schrei  aus  gepreßter  Brust  ist  aber  nicht  der 
Zweck  des  heutigen  Briefes.  Sondern  vie^lmehr.  Dir  und  den 
Wienern  zu  gratulieren. 

Zuerst  zu  Deiner  Schwenderrede*),  die  wieder  ein  Beweis 
ist,  wie  sehr  Du  die  vertuckten  und  verzwackten  österreichi- 
schen Verhältnisse  stets  richtig  zu  fassen  und  in  dem  Gewirr 
stets  den  leitenden  Faden  festzuhalten  verstellst.  Und  das  ist 
gerade  im  jetzigen  Moment  von  der  höchsten  Wichtigkeit. 

Nämlich  zweitens  gratuliere  ich  Dir  und  den  Öster- 
reichern überhaupt  zu  dem  eklatanten  Erfolg  den  Eure  Wahl- 
rechtsagitation gehabt  hat:  dem  Wahlreformcntwurf  Taaffes. 
Hier  muß  ich  etwas  weiter  ausholen. 

Seit  ich  mir  Euer  Land  und  Volk  und  Eure  Regierung 
angesehen,  ist  mir  immer  klarer  geworden  daß  da  für  uns 
ganz  besondere  Erfolge  zu  holen  sind.  Eine  in  starker  Ent- 
wicklung begriffene,  aber  infolge  langjährigen  hohen  Zoll- 
schutzes meist  noch  mit  zurückgebliebenen  Produktionskräften 
arbeitende  Industrie  (die  böhmischen  Fabrikanlagen,  die  ich 
sah,  beweisen  mir  das) ;  die  Industriellen  selbst  der  Mehrzahl 


*)  Am  2.  Oktober  1893  fand  in  Schwenders  Kolosseum  in  Wien  eine 
große  Volksversammlung  mil  der  Tagesordnung:  „Die  politischen  Rechte 
■des  Volkes  und  der  Ausnahmszustand"  statt.  Die  Hauptrede  hielt  Viktor 
Adler.  (Vergleiche  ..Arbeiter-Zeitung"  vom  6.  Oktober  1893.) 


Briefe :  Oktober  1893  bis  Mai  1894  79 

nach  —  die  größeren  meine  ich  —  ebensosehr  mit  der  Börse 
verwachsen  wie  mit  der  Industrie  selbst:  ein  politisch  ziemlich 
indifferentes,  in  Phäakentum  aufgehendes  Philisterium  in  den 
Städten,  das  vor  allem  seine  Ruh'  und  seine  Genüsse  haben  will; 
auf  dem  Land  rapide  Verschuldung,  recpektive  Aufsaugung 
des  Kileingrundbesitzes;  als  wirklich  herrschende  Klassen  den 
Großgrundbesitz,  der  aber  mit  seiner  politischen  Stellung  die 
ihm  eine  mehr  indirekte  Herrschaft  sichert,  ganz  zufrieden  ist, 
und  eine  Großbourgeoisie,  wenig  zahlreiche  haute  finance  und 
damit  eng  verknüpfte  Großindustrie,  deren  politische  Macht 
noch  viel  indirekter  zur  Geltung  kommt,  die  aber 
ebenfalls  damit  ganz  zufrieden  ist;  unt-er  den  besitzenden 
Klassen,  also  bei  den  Großen,  kein  Wunsch,  die  indirekte 
Herrschaft  in  eine  direkte,  konstitutionelle  zu  verwandeln,  und 
bei  den  Kleinen  kein  ernsthaftes  Strel>en  nach  wirklicher  Betei- 
ligung an  der  politischen  Macht;  Resultat:  Indifferenz  und 
Stagnation,  die  nur  gestört  wird  durch  die  Xationalitätskämpfe 
der  verschiedenen  Adeligen  und  Bourgeois  untereinander,  und 
durch  die  Entwicklung  des  Verbands  mit  Ungarn. 

Darüber  schwebend  eine  Regierung,  die  formell  nur 
wenig  und  meist  nur  scheinbar  in  ihren  absolutistischen  Ge- 
lüsten gehemmt,  auch  sachlich  wenig  Hindernisse  findet.  Denn 
sie  ist  ihrer  Xatur  nacli  konservativ,  und  das  ist  der  Adel,  der 
Bourgeois  und  der  Philister  bonvivant  auch.  Der  Bauer  aber 
kommt  bei  seiner  ländlichen  Zersplittertheit  nicht  zur  organi- 
sierten Opposition.  Was  von  der  Regierung  verlangt  wird,  ist 
leben  und  leben  lassen,  und  das  hat  die  öster- 
reichische von  jeher  verstanden.  Daher  die,  auch  au?  anderen 
Gründen  erklärliche,  aber  hierdurch  auf  die  Spitze  getriebene 
und  zum  Prinzip  erhobene  Fabrikation  von  nur  papierenen  Ge- 
setzen und  Vorschriften,  und  die  wundervolle  administrative 
Schlamperei,  die  in  der  Tat  alles  übertrifft  was  ich  mir  davon 
vorgestellt  hatte. 

Nun  gut.  In  einem  solchen  stagnierenden  Staatszustand, 
wo  die  Regierung  trotz  ihrer  überaus  günstigen  Stellung*  gegen- 
über den  einzelnen  Klassen  dennoch  in  ewigen  Schwierig- 
lieiten  ist:  1.  weil  diese  Klassen  in  x  Nationalitäten  geteilt  sind 
und  daher,  gegen  die  strategische  Regel,  vereint  marschieren 
(gegen  die  Arbeiter),  aber  getrennt  schlagen  (nämlich  auf- 
einander). 2.  wegen  der  ewigen  Finanznot.    3.    wegen  Ungarn, 


80  Briefe :  Oktober  1893  bis  Mai  1894 


4.    wegen     auswärtiger    Verwicklungen     —    kurz     in     dieser  * 
Situation,  sagte  ich  mir,  muß  eine  Arbeiterpartei,  die  ein  Pro-  i 
gramm  und  eine  Taktik  hat,  die  weiß,  was  sie  will  und  wie  sie  es  | 
will,  die  die  hinreichende  Willenskraft  hat  und  dazu  das  lustige, 
erregbare,    der   glücklichen    kelto-germano-slawischen    Rassen- 
mischung mit  Vorwiegen    des  deutschen  Elements   geschuldete 
Temperament  —  die  muß  da  nur  die  hinreichende  Fähigkeit 
entwickeln,   um  ganz   besondere  Erfolge   zu   erlangen.    Unter 
lauter  Parteien    die  nicht  ^^'^ssen   was  sie  wollen   und  einer  Re-  ; 
gierung    die   ebenfalls  nicht  weiß    was  sie  will,   und  von  der  i 
Hand  in  den  Mund  lebt,  muß  eine  Partei,  die  weiß  was  sie  ^vül  ; 
und  dies  mit  Zähigkeit  und  Ausdauer  will,  schließlich  immer  ! 
siegen.  Und  dies  um  so  mehr,  als  alles,  was  die  österreichische 
Arbeiterpartei  will  und  wollen     kann,     nur   das  ist,    was  die 
fortschreitende  ökonomische  Entwicklung  des  Landes  ebenfalls 
verlangt. 

Hier  ist  also  die  Lage  eine  so  günstige  für  rasche  Erfolge 
wie  nirgendwo,  selbst  nicht  in  Deutschland,  wo  die  Entwicklung 
zwar  rascher,  und  die  Partei  stärker,  aber  auch  der  Wider- 
stand, weit  fester.  Dazu  kommt  noch  eins:  der  herabgekommene 
Großstaat  Österreich  schämt  sich  noch  vor  Europa,  ein  Gefühl 
das  dem  heraufgekommenen  Kleinstaat  Preußen  stets  fremd 
geblieben  ist.  Und  seit  man  1866  in  die  Reihe  der  „modernen"  \ 
Staaten  eingetreten,  schämt  man  sich  in  Österreich  auch  von 
wegen  innerer  Blößen,  was  beim  offen  reaktionären  Öster- 
reich von  früher  nicht  nötig  war.  Ja,  je  weniger  man  Lust  hüt, 
wirklich  ein  moderner  Staat  zu  sein,  desto  mehr  möchte  man 
einer  scheinen,  und  je  strammer  sich  die  —  dort  weit  mehr  als 
in  Österreich  gebändigte  —  Reaktion  in  Preußen  auf  die 
Hinterbeine  bäumt,  desto  liberaler  stellt  man  sich  aus  Schaden- 
freude in  Österreich. 

Nun  nähert  sich  die  europäische  Lage  —  ich  meine  die 
innere  der  einzelnen  Staaten  —  immer  mehr  der  von  1845. 
Das  Proletariat  nimmt  mehr  und  mehr  die  Stellung  ein  wie  \ 
dazumal  die  Bourgeoisie.  Damals  fingen  die  Schweiz  und 
Italien  an;  die  Schweiz  mit  dem  innern  Krakeel  der  demokrati- 
schen und  katholisclien  Kantone,  der  im  Sonderbundskrieg  zum 
Austrag  kam;  Italien  mit  Pio  Nonos  liberalen  Versuchen,  den 
liberal-nationalen  Wandlungen  in  Toskana,  den  kleinen 
Herzogtümern,  Piemont,  Neapel,    Sizilien ;    der    Sonderbunds- 


Briefe :  Oktober  1893  bis  iJai  1894  81 

krieg-  und  das  Bombardement  von  Palermo  wurden  bekanntlich 
die  unmittelbaren  Vorspiele  der  Pariser  Februarrevolution  1848. 
—  Heute,  wo  die  Krisis  auch  schon  in  fürf  bis  sechs  Jahren 
reif  werden  kann,  scheint  Belgien  die  Eolle  der  Schweiz,  Öster- 
reich die  von  Italien,  und  Deutschland  die  von  Frankreich  über- 
nehmen zu  sollen.  Der  Wahlreohtskampf  fängt  in  Belgien  an. 
und  wird  in  großartigem  Maßstab  aufgenommen  von  Österreich. 
Daß  die  Sache  mit  einer  beliebigen  halben  Wahlreform  abge- 
macht werden  könne,  davon  kann  keine  Bede  sein;  ist  der  Stein 
einmal  im  Rollen,  so  wirkt  der  Anstoß  nach  allen  Seiten  fort, 
und  ein  Land  wirkt  dann  zurück  aufs  andere.  Xeben  der 
Möglichkeit  großer  Erfolge  ist  also  auch  die  Gelegenheit,  also 
auch  die  Wahrscheinlichkeit  gegeben. 

Das  ist  so  ungefähr  der  Inhalt  dessen,  was  ich  gestern 
nachmittags  der  Luise  als  meine  Ansicht  vom  nächsten  Beruf 
Österreichs  auseinandersetzte.  Und  abends  8  Uhr  brachte  der 
Evening  Standard  die  —  noch  ganz  unbestimmt  gehaltene  — 
Ts  achricht  von  Taaffes  Kapitulation,  und  heute  kennen  wir  den 
Vorschlag  wenigstens  in  seinen  allgemeinsten  L'mrissen.  Nun, 
jetzt  ist  der  Stein  im  Bollen  und  Ihr  werdet  schon  dafür 
sorgen,  daß  kein  Moos  darauf  wächst.  Ich  will  über  den  Ent- 
wurf nichts  sagen,  ehe  ich  mehr  davon  weiß,  nur  das  scheint 
mir  sicher,  daß  Taaffe  ä  la  Bismarck  die  städtische  Bepräsen- 
tation  aus  einer  liberalen  in  eine  geteilte  verwandeln,  die  Ar- 
beiter gegen  die  Bourgeois  ausspielen  will.  Das  kann  uns  soweit 
recht  sein;  die  Liberalen  und  andere  Bourgeoisparteien  werden 
versuchen  die  Zulassung  zum  Wahlrecht  noch  mehr  zu  be- 
schneiden, so  daß  Ihr  in  die  angenehme  Lage  kommen  könnt, 
den  biederen  Taaffe  gegen  sein  Parlament  zu  unterstützen. 
Jedenfalls  ist  die  Abschlagszahlung  schon  anzunehmen,  und 
so  wirst  L^u  wohl,  ehe  ich  wiederkomme,  wohlbestallter  Reichs- 
ratsabgeordneter sein.  Der  Daily  Chronicle  spricht  schon  von 
20  sicheren  Arbeitervertretern.  Mit  20  und  selbst  mit 
weniger  ist  der  Reicbsrat  eine  ganz  andere  Körperschaft  als 
bisher.  Die  Herren  werden  sich  wundem  über  das  Lel>en  was 
dann  in  die  wackelige  Bude  kommt.  Und,  wenn  es  gelingt,  neben 
den  deutschen  ein  paar  tschechische  Leute  hineinzubringen, 
dann  wird  der  Nationalitätenhader  einen  Damm  vorgesetzt  be- 
kommen und  Jungtschechen  und  Alttschechen  und  Deutsch- 
nationale  werden  einander  mit  ganz   anderen   Augen   ansehen. 


82  Briefe :  Oktober  1893  bis  Mai  1894 

Hier  kann  man  sagen:  vom  Eintritt  der  ersten  Sozialdemokraten 
in  den  Eeichsrat  datiert  eine  neue  Epoche  für  Österreich. 

Und  das  habt  Ihr  fertiggebracht,  und  weil  jetzt  die^e 
neue  Epoche  anbricht  deshalb  sind  wir  alle  froh  daß  wir  einen 
so  klaren  Kopf  in  den  Eeichsrat  bekommen  wie  Dich. 

Herzliche  Grüße  von  Luise  und  Deinem  F.  Engels. 

Gruß   von  Luise    an  Dich    und    auch    von    mir    an  Popp 
Reumann,  Adelheid*),  Ulbing  **)  und  tutti  (luanti. 

40. 

Engels  an  Adler. 

London,  10.  Nov.  93. 

Lieber  Victor  —  Ich  schicke  Dir  hiemät  ein  Stück  von 
einem  Brief  von  August.  Ich  teile  seine  Befürchtungen  nicht, 
diese  Möglichkeiten  scheinen  mir  zu  fern  zu  liegen  und  teil- 
weise schon  jetzt  ausgeschlossen.  Sieh  daß  der  Brief  wie  er 
wünscht   vernichtet  wird. 

Mein  Brief  vom  10.  Okt.  kreuzte  sich  mit  Deinem  vom 
selben  Tage.  Du  wirst  gesehen  haben,  daß  wir  in  der  allge- 
meinen Auffassung  der  Lage  in  Österreich  vollkommen 
einstimmen.  Diese  Lage  scheint  mir  eher  noch  g-ünstiger  als 
damals.  Die  Wahlreform  mit  Taaffes  Vorschlag  als  Minimum 
verschwindet  in  Wien  nicht  mehr  aue  dem  Vordergrund.  Der 
Kaiser  Kat  sie  genehmigt  und  der  Kaiser  kann  nicht  zurück; 
er  aber  repräsentiert  Österreich  weit  mehr  als  der  Eeichisrat. 


*)  Adelheid  Dworzak,  die  1894  Julius  Popp  heiratete.  Engels  halle  sie 
schon  beim  Züricher  Inlernalionalen  Kongreß  1893  kennen  gelernt  und  er- 
wähnt sie  bereits  in  einem  Brief  aus  Zürich  an  seinen  Bruder  Hermann, 
datiert  16.  August  1893,  den  Gustav  Mayer  in  der  „Deutschen  Revue'V 
August  1921,  Seite  156,  in  einer  Serie:  , .Briefe  von  Friedrich  Engels  an 
Muller  und  Geschwister"  milteill.  In  diesem  Brief  heißt  es:  „Auf  dem 
Kongreß  waren  drei  bis  vier  Russinnen  mit  wunderschönen  Augen  ungefähr 
wie  Deine  Schwägerin  Berta  sie  hatte,  als  ich  sie  in  Allenahr  vor  Jahren 
sah.  Aber  mein  eigentliches  Schatzerl  war  doch  ein  allerliebstes  Wiener 
Fabrikmädel,  reizend  von  Angesicht  und  liebenswürdig  von  Manieren,  wie 
man's  selten  findet.  Ich  werde  es  dem  Bismarck  nie  verzeihen,  daß  er 
Österreich  aus  Deutschland  ausgeschlossen  hat,  schon  der  Wienerinnen 
wegen." 

**)  Dr.  Richard  Ulbing  war  zu  Anfang  der  neunziger  Jahre  in  einigen 
Prozessen  der  Verteidiger  von  Sozialdemokraten,  auch  Adlers.  Er  war  damals 
auch  in  der  Partei  aktiv  tätig,  schrieb  in  der  ,, Arbeiter-Zeitung"  vor  allem, 
über  juristische  Fragen.  Der  Leitartikel  in  der  Maifestschrift  1891  und  Bei- 
träge im  Arbeitjerkalender  1892  und  1893  sind  von  ihm. 


Briefe :  Oktober  1893  bis  Mai  1894  83 

Wie  es  scheint,  scheitert  das  Koalitionsministerium  schon  in  der 
Geburt,  aber  selbst  wenn  das  nicht  der  Fall,  geht's  bei  der 
ersten  positiven  Aktion  in  die  Brüche.  Selbst  wenn  es,  wie 
Aug[ust]  vermutet,  die  Bärnreitherei*)  ins  Feld  führen  sollte,  so 
wäre  das  nur  ein  sehr  momentaner  Xotbehelf  und  würde  den 
Auseinanderfall  bei  jeder  anderen  aufstoßenden  Aktionsfrage^ 
nicht  hindern.  Soviel  ist  sicher,  Österreich  steht  jetzt  voran  in 
der  politischen  Bewegung  Europas  und  wir  anderen  hinken 
nach  —  selbst  die  Länder  die  schon  allgemeines  Stinmirecht 
haben,  werden  dem  Anstoß  von  Österreich  nicht  entgehen 
können.  Bei  Ronacher  **)  hat  man  Krawall  haben  w  o  1 1  e  n^ 
gelingt  es  euch,  die  Leute  im  Zaum  zu  halten,  so  kann  es  euch 
nicht  fehlen,  das  einzige  was  Windischgrätz,  Plener,  Jaworski 
einigen  könnte  wäre  ein  ^Yiener  Krawall  und  Sieg  mit 
Schießerei. 

Hier  geht's  sehr  nett.  L)ie  liberale  Eegierung  bricht  bei 
der  ernstlichen  Reform  jammervoll  zusammen,  sogar  die  Fabian 
Society  kündigt  ihnen  den  Gehorsam  und  verleugnet  ihre  ganze 
Politik  der  permeation.  Sieh  den  x\rtikel  von  Antolycus 
(Burgess)  auf  der  ersten  Seite  der  Workm.  Times  über 
das  Fabiansohe  Manifest,  der  in  der  Fortnightly  Review  er- 
schienen. Bessern  die  Liberalen  sich  nicht,  so  gibt's  bei  den 
nächsten  Wahlen  Arbeiterkandidaten  in  Massen,  und  30 — 40' 
werden  wohl  hineinkonmien.  In  den  Munizipalwahlen  am 
1.  Nov.  haben  die  Arbeiter  im  Norden  angefangen  sich  zu 
zählen  und  manche  Erfolge  gehabt. 

Gruß  von  Luise  und  Deinem  F.  E. 


*)  Der  Liberale  Dr.  Baernreither  hatte  einen  Wahlreformentwurf  ein- 
gebracht, nach  dem  eine  Kurie  für  die  „in  die  Krankenversicherung  ein- 
bezogenen Arbeiter"  geschaffen  werde  sollte,  der  für  ganz  Österreich  zwanzig 
Mandate  zugewiesen  werden  sollten.  (Vergleiche  „Arbeiter-Zeitung"  vom 
20.  Oktober  1893,  Seite  3.) 

**)  Für  den  3.  November  1893  hatte  der  bürgerlich-liberale  „Verein 
der  Fortschrittsfreunde"  eine  Versammlung  in  Ronachers  Saal  einberufen, 
um  gegen  die  Wahlreform  Stellung  zu  nehmen,  auch  soll  eine  Mißtrauens- 
kundgebung gegen  Dr.  Kronawetter  wegen  seines  Eintretens  für  das  allge- 
meine Wahlrecht  geplant  gewesen  sein.  Vor  dem  Versammlungslokal,  das 
durch  ein  großes  Wacheaufgebot  geschützt  war,  sammelten  sich  etwa  500 
Sozialdemokraten  an.  Die  Versammlung  wurde  aufgelöst,  auf  der  Straße 
kam  es  zu  blutigen  Konflikten  zwischen  Polizei  und  Arbeitern.  (Ver- 
gleiche „Arbeiter-Zeitung"  vom  7.  November  1893.) 


84  Briefe:  Oktober  1893  bis  Mai  1894 

41. 

Adler  an  Engels. 

Wien,  2e./ll.  1893. 
Lieber  Engels! 
Vor  allem  begrüße  ich  Dich  im  Xamen  von  uns  allen  und 
ganz  speziell  für  niich  selber  zu  Deinem  Geburtstage.  Was  Du 
<ler  Partei,  was  Du  mir  persönlich  biet,  weißt  Du.  Bleibe  uns 
lange  Jahre  noch  unser  Rater  und  Lehrer,  bleibe  mir  mein 
Verehrtester,  liebster  Freund.  Nebenbei,  hast  Du  keine  Ahnung, 
-wie  Du  allen  hier  ins  Herz  gewachsen  bist,  seit  sie  Dich  per- 
sönlich kennen  und  mit  dem  Begriffe  Engels  eine  konkrete 
Vorstellung  von  dem  lieben  General  verbinden.  Aleo,  tausend 
Grüße  und  —  bekneipe  Dich  nicht  zu  Ehren  des  Geburtstages  — 

das  können  wir  Dir  ja  abnehmen,  so  ziemlich  das  Einzige, 

worin  wir  Dich  zu   vertreten  vermögen. 

Deine  Briefe  habe  ich  alle  erhalten;  daß  ich  darauf  nicht 
reagierte,  kam  daher,  daß  ich  zwischen  Wien  und  Reichenberg 
pendelte  und  dazwischen  hart  zu  arbeiten  hatte.  Die  Reichen- 
berg[er]  Af faire*)  war  sehr  lustig;  es  gab  nur  einen,  der  sehr 
geängstigt  und  blamiert  aussah,  und  der  war  der  Staatsanwalt. 
Die  Anklage  war  kläglich  dumm  aber  enthielt  Punkte  die  den 
Spießern  stark  auf  die  Hühneraugen  treten;  sie  haben  ja  auch 
in  zwei  Fragen  sieben  Stimmen  für  das  Einlochen  abgegeben 
—  aber  der  eiserne  Bestand  von  fünf  Deutschnationalen,  die 
unter  den  gegenwärtigen  politischen  Verhältnissen  fühlen,  daß 
sie  zur  Opposition  verpflichtet  wären,  und  zugleich  Verfolgung 
fürchten,  rettete  mich  —  nebst  der  Langeweile  des  Staats- 
anwalts, der  sich  benahm,  als  hätte  ich  ihn  bestochen.  Er  kam 
vor  lauter  Hochachtung  vor  mir  gar  nicht  zu  Atem  nnd  als  ich 
erklärte,  „ich  könne  ihm  eeine  Komplimente  leider  nicht  zurück- 
geben", hatte  ich  die  Lacher,  darunter  die  Geschworenen  auf 
meiner  Seite.  Sicher  ist,  daß  Verurteilungen  von  Genossen  jetzt 
der  Regierung  ebenso  erwünscht  als  von  Geschworenen  schwer 
zu  erreichen  sind.  Aber  ebenso  sicher  ist,  daß,  wenn  statt  meiner 
ein    Arbeiter   dagestanden   wäre,    er    wahrscheinlich    hineinflog 


*)  Gemeint  ist  der  Prozeß,  dessen  Stenogramm  in  der  Broschüre: 
,,Sc]iwurgerichtsverhandlung  gegen  Dr.  Viktor  Adler  über  die  Anklage  des 
Verbrechens  der  Störung  der  öffentlichen  Ruhe,  der  Religionsstörung,  des 
Vergehens  der  Aufwiegelung  etc.  etc.,  begangen  durch  Reden  im  Gablonzer 
Bezirk,  durchgeführt  vor  dem  Retchenberger  Schwurgericht  vom  17.  bis 
•20.  November  1893"  erschienen  ist.  (Wien  und  Reichenberg.  1893.  Eine  neue 
-Vuflage  ist  1920  im  Verlag  der  Wiener  Volksbuchhandlung  erschienen.) 


Briefe :  Oktober  1893  bis  Mai  1694  85 


und  /^rÜTidlich.  Ks  i«t  eigentümlich,  daß  die  Bourgeois  mich  von 
allen  Genossen  am  meisten  hassen,  aber  sich  gewissermaßen 
noch  immer  vor  mir  genieren  und  mir  beweisen  möchten,  wie 
ich  ihnen  Unrecht  tue.  —  Nun  ist  das  Gefährlichste  vorbei;  in 
Wien  habe  ich  zwei  Anklagen  und  zwei  Anschuldigjmgen  (noch 
im  8tadiuni  der  Voruntersuchung)  auf  dem  Halse.  Die  An- 
klagen (woA-on  die  eine  auch  „Verbrechen"  un<l  (geschworene) 
fürchte  ich  wenig;  wenn  aber  aus  den  neuen  Sachen  was  wird, 
kostet  es  einige  Monate.  Aber  das  hat  gute  'Weile. 

Was  Du  zur  j)oIitischen  Lage  in  Österreich  meinet,  halte 
eh  für  ganz  richtig.  Das  Ministerium  Windischgr[ätz]  wird 
wahrscheinlich  sehr  bald  fertig  sein  un<l  einem  Nfinisterium 
Plener  —  oder  Taaffe  Platz  machen.  Aber  die  Wahlreform 
wird  es  —  wenn  es  den  böhmischen  Landtag,  seine  gefährlichste 
Klippe,  überlebt,  doch  machen  und  zwar  nicht  so  schlecht  wie 
Aug[astl  meint,  aber  schlechter  als  die  Taaffet?.  Schlechter,  das 
beißt  solider  wird  sie  sein,  haltbarer;  etatt  die  bestehenden 
Kurien  du  ich  Einschiebung  der  Rechtlosen  zu  sprengen,  wird 
eine  oder  zwei  neue  Kurien  angeflickt  werden  und  zwar  so, 
daß  ebensoviel  Klerikale  dazukoimnen  als  Sozialdemokraten  und 
Antisemiten.  Für  uns  entsteht  der  Übelstand,  daß  wir  auf  den 
Kampf  mit  Kleinbürgern  und  Kleinbauern  statt  mit  der  großen 
Bourgeoisie  angewiesen  sein  werden.  Aber  wie  immer,  es  wird 
ein  riesiger  Fortschritt  sein  und  wer  es  den  heuite  am  un- 
zufriedensten sich  (leberdendeu  vor  sechs  Monaten,  ja  noch  am 
9./10.  gesagt  hätte,  <Iaß  wir  heute  so  weit  sein  werden,  wäre 
gründlich  ausgelacht  woiden. 

Wir  selbet  stehen  zwischen  zwei  Gefahren.  Die  Wahl- 
reform wird  sicher  ein  bis  zwei  Jahre  brauchen,  bis  ßie  fertig  ist 
aber  mindestens  bis  zum  nächsten  Herbst.  Während  dieser 
ganzen  Zeit  müscien  wir  uns  rühren,  sonst  schläft  alles  ein.  Was 
wir  erzielt  haben,  erreichten  wir  nur  (hidiirch,  daß  wir  nicht 
Österreicher  sind,  oder  vielmehr  uns  als  NichtÖsterreicher  mar- 
kierten, daß  wir  n  i  c  h  t  schlampert,  nicht  flackernd,  nicht 
sprunghaft  und  schnell  ermüdet  waren.  Nun  denke  Dir  die 
Hitze  der  Agitation  durch  viele,  viele  Monate  auf  der  Höhe,  ohne 

—  denn  das  ist  die  zweite  Gefahr,  das  Einschlafen  ist  die  erste 

—  sich  zu  überpurzeln,  ohne  zu  Flxzessen  es  kommen  zu  lassen. 
Und  das  in  Österreich,  ohne  die  Möglichkeit  Scherze  zu  machen, 
wie    Probewahl     oder    Volkercichstag    oder   dergleichen.     Wir 

7 


86  Briefe :  Oktober  1893  bis  Mai  1894 


müssen  IS'eueo  bieten,  denn  wir  sind  Österreicher  und 
können  nichts  Neues  bieten,  denn  wir  leben  in  Österreich 
Der  Generalstreik"  ist  natürlich  tot,  respektive  zum  nützlichen 
Hasenschrecken  für  die  Gegner  geworden;  nicht  einmal  der 
Ellenbogen  glaubt  mehr  daran.  Der  „Vorwärte"  hätte  ihn  bald 
wieder  galvanisiert  und  darum  war  ich  so  wütend.  Kam  ich  da- 
mals nicht  —  aus  blolk-m  Pflichteifer  —  auf  drei  Tage  von 
Reichenberg  nach  Haus,  so  schreibt  Ellenb[ogen]  die  Antwort, 
sie  war  schon  fertig,  und  renommiert  mit  dem  Generalstreik 
wieder.  So  konnte  ich  den  armen  August  abkanzelnd  und  da- 
Maul  recht  voll  nehmend  abwiegeln.  —  —  Apropos  K.  K.*) 
fragt  auch  mich,  ob  er  Ede  über  den  Generalstreik  schreiben 
lassen  soll ;  in  diesem  Moment,  bevor  sich  die  Regierung  er- 
klärt hat,  bin  ich  nicht  dafür,  aber  in  vier  Wochen  kann  e- 
kaum  schaden,  sondern  vielleicht  sogar  nützen.  Daß  Du  vor 
vier  Wochen  den  Artikel  verhindertest,  dafür  bifi  ich  Dir  un- 
geheuer dankbar;  er  hätte  damals  meiner  Stellungnahme  noch 
mehr  geschadet  wde  die  Dummheit  im  „Vorwärts".  Ich  habe 
mich,  aufrichtig  gesagt,  gewundert,  daß  August  so  wenig  die 
Psychologie  der  Massen  kennt  und  ich  vermute  jetzt,  daß  die 
Fehler,  die  die  deutsch^  Parteileitung  ab  und  zu  macht,  zum 
großen  TeiT  aus  solcher  Unkenntnis  stammen;  daß  sie  zu  naiv,  . 
fast  hätte  ich  gesagt,  zu  ehrlich  sind. 

Aus  dem  oben  geschilderten  Dilemma  werden  wir  nur 
schwer  herauskommen.  Hoffentlich  hilft  uns  die  Regierung.  Sie 
tut  es  schon  jetzt  dadurch,  daß  sie  uns  einen  ganzen  Haufen 
von  Prozessen  macht;  sie  weiß  nicht,  wie  w^ohl  uns  das  tut,  es 
beechäftigt  uns  und  hilft  uns  warten. 

Die  JBärnreitherei**)  iet  tot  und  August  irrt  sich,  wenn 
er  sich  noch  fürchtet.  Sie  ist  für  jede  Regierung  ebenso  unan 
nehmbar  wie  für  uns;  denn  sie  schüfe  20  verläßliche  Oppo- 
sitionsmandate  ohne  je<le  Kompensation.  Auch  hat  die  Regierung  ^ 
in  ihrem  Programm  ausdrücklich  von  einem  Wahlrecht,  das  an 
Auedehnung  nicht  viel  geringer  als  das  Taaffeschc  sein  kann, 
gesprochen. 

Die  Hoffnungen,  die  Du  auf  die  österreichische  Bewegung 
setzt,  möchte  ich  teilen  können.  Alles  hängt  davon  ab,  daß  wir 
den   Kami)f  ums    Wahlrecht   bald    in    den   Hintergrund  stellen 


*)  Karl  Kautsky. 
^*)  Vergleiche    Note  ?.u   Nr.    10 


Briefe :  Oktober  1893  bis  Mai  1894  87 


können;  ich  habe  sehr  empfindliche  Tentakel*)  und  glaube 
zu  spüren,  daß  die  einseitig  politische  Geschichte  uns  verflacht. 
Nach  der  ersten  Wahl  werden  wir  ei-et  klar  sehen  und  —  wenn 
wir  halbwegs  so  gescheit  sind  als  wir  Courage  haben  —  soU'e 
recht  lustig  werden  in  Österreich.  Hoffentlich  macht  uns  Plener 
ein  nettes  Pantscherl,  so  einen  kleinen  „volkswirtschaftlichen 
Aufschwung'"  —  es  sieht  ganz  darnach  aus,  dann  gibt's  Krach 
dort  und  —  da. 

Lebe  wohl!   Verbringe  Deinen  Festtag  heiter  und  behalte 

uns  lieb.    Grüße  mir  herzlich  Luise  und  Tussy. 

Dein  V.  A. 
Aug[ust]'s  Brief  ist  vernichtet. 


42. 

Adler  an  EngeLs. 


Wien,  l./L  1894**). 


Verehrter  Freund  I 

Tm  Namen  der  ganzen  Parteivertretung  und  Redaktion 
bin  ich  beauftragt  Dir  unsere  herzlichsten  Neujahrswünsche 
zu  übermitteln.  Möge.<t  Du  lange  Jahre  so  frisch  sein  und  uns 
80  lieben,  wie  wir  Dich  zuletzt  hier  hatten. 

Deinem  guten  Hausgeist,  der  lieben  Luise,  senden  alle 
nicht  minder  ihre  Grüße.  Ich  danke  sehr  für  die  letzten  Nach- 
richten, die  so  außerordentlich  erfreulich  waren.  Luise  hat  mir 
n-imlich  sehr  viel  Gutes  von  Dir  geschrieben.  Ich  glaube  immer 
Du  beschämst  uns  Junge  alle  miteinander. 

Bei  uns  gibt's  jetzt  sehr  viel  zu  tun.  Die  Bewegung  muß 
wieder  einmal  in  ein  anderes  Geleise  gebracht  werden.  Aber  es 
geht  gut.  Die  Gefahren,  die  von  den  Narreteien  drohten,  sind 
beseitigt ;  einige  Dummheiten  wirst  Du  wohl  ab  und  zu  zu 
hören  kriegen,  —  aber  im  wesentlichen  ist  alles  in  Ordnung. 

Das  zweimalige  Erscheinen  macht  mir  furchtbare  Ar- 
beit***) [ — . — ]  Aber  ich  will  nicht  4as  Jahr  mit  Flennen  be- 
ginnen; habe  auch  nicht  Grund  dazu.  Denn  eigentlich,  fühle 
ich  mich  innerlich  ganz  auf  dem  Damm  und  halte  einen 
l*uffer  aus. 


*)    Orientieiungsorgane   verschiedener    niedriger   Tierarten    (zum    Bei- 
spiel die  Fühlhörner  der  •Schnecken). 

**)  Infolge  eines  Schreibfehlers  steht  im  Originalbrief  anstatt  1891-  die 
Jahreszahl  1893. 

***)  Nach    der     Einbringung     der    Taaffeschen    Wahlreform     ging    die 
..Arbeiter-Zeitung"  am  31.  Oktober  1893  zum  zweimaligen  Erscheinen  über. 


88  Briefe:  Oktober  1893  bis  Mai  1894 


^       {Sei  mir  vom  Herzen     gegi'üßt,     Du,     Luise,     Dr.    Frei- 
berger*)  und  nicht  zu  vergessen.  Edes  und  TiissysI 

Dein  V.  Adler. 

Es  ist  niunlich  4  Uhr  früh  —  soeben  ist  ein  Bandwurm 
abgegangen**). 

43. 

Engels  an  Adler. 

London.  11.  .länner  04. 

Lieber  Victor 

Vor  allem  meinen  Dank  und  herzlich.ste  Erwiderung  aller 
Eurer  Glückwünsche,  besonders  der  von  Dir,  Deiner  Frau  und 
Kinder,  und  Dank  für  die  Bunde.^nadel.  die  ich  tragen  werde, 
sobald  ich  wieder  im  Besitz  einer  dazu  passenden  Halsbinde 
bin  —  sie  soll  extra  dafür  angeschafft  werden. 

Daß  es  bei  Euch  viel  zu  tun  gibt  glaub"  ich  Dir  gern,  und 
was  uns  alle  wundert  ist  nui-.  wie  Du  das  alles  fertigbringr^t, 
und  das  >inter  den  schwierigsten  Verhältnissen.  Wir  liewundern 
Deine  Fähigkeit  und  beneiden  Dich  darum.  (Janz  be<*onders 
freut  mich  aber  Deine  Zusicheruiitg,  daß  es  mit  den  Torheiten, 
die  dort  zu  befürchten  standen,  am  Ende  ist.  Seitdem  habe  ich 
die  Berichte  über  die  beiden  Kongresse***)  und  daraus  das  ein- 
zelne w-enigstens  zum  Teil  gesehen.  In  Beziehung  auf  diese 
Hauptfrage  ist  in  der  Tat  alles  vortrefflich  verlaufen. 

Für  die  gesunde  Entwicklung  der  Bewegung  war  es  ein 
walires  (ilück,  daß  der  gescheite  Högerf)  erklärte,  das  Wahl- 
recht sei  bürgerlichei-  Schwindel  und  dafür  könne  man  nicht 
streiken,  und  daß  die  Bergleute  sich  in  ihrer  Weise  gegen  jeden 
Streik  erklärten     der  nicht  auch   für   den    Achtstundentag  sei. 


)  Dr.  Ludwig  Freybergcr,  ein  Wiener  .\rzl,  kam  ]S1)8  nacli  London, 
wo  er  mit  Empfehlungen  Engelbert  Pernerstorfers  bei  Engels  eingeführt 
wurde.  Er  wurde  der  Hausarzt  von  Engels  und  heiratete  .Anfang  1894  Louise 
Kautsky. 

**)  Langer  Artikel   ferliggeslelll. 
***)  Vom  2i.  bis  27.   Dezember  tS93  (agte   in   Wien  der  Erste  Kongreß 
der    Gewerkschaften   Österreichs   und    in    den    Weihnachtstagen    in    Budweis 
der  Parteitag  der  tschecho-slawischen    Sozialdemokratie. 

t)  Karl  Ilöger  hatte  am  Gewerkschaftskongreß  gesagt;  „Das  all- 
gemeine Wahlrecht  könnte  der  revolutionären  Arbeiterbewegung  insofern 
Nachteil  bringen,  als  dadurch  ihrer  treibenden  Kraft,  der  Erliitterung  der 
Proletarier  eine  Art  Abzugskanal  geschaffen  würde;  das  allgemeine 
Wahlrecht  sei  nur  ein  Vorteil  für  die  Bourgeoisie."  („Arbeiter-Zeitung"  vom 
r).  .länner  1894.1 


Briefe :  Oktober  1893  bis  Mai  1894  89 

lad  die  Tschechen  in  Budweis  haben  uns  auch  jreholfen,  indem 
sie  die  Zulassung  von  Anerkcnnim^  des  Pro<rramms  und  dier 
Taktik  abhängig  machten  (a  la  Zürich)  und  den  Generalstreik, 
der  dort  am  meisten  zu  spuken  scheint,  auf  die  lange  Bank  des 
Parteitages  schoben,  wo  dieser  ihn  schon  weiter  schieben  wird. 
Der  Artikel*)  von  K.  K.,  den  Du  abdrucktest,  wird  Euch 
sehr  nützlich  sein.  Aber  iK'zeichnend'  ist  er  (hitiir,  wie  sehr  der 
V^erfasser  die  Fühlung  mit  der  lebendigen  l'aiteilveweguivg  ver- 
loren hat.  Vor  ein  paar  ^lonaten  die  unbegreifliche  Taktlosig- 
keit, inmitten  einer  Bewegung,  die  auf  Leben  und  Tod  gegen 
die  Phrase  vom  allgemeinen  Streik  ankJim])fte,  eine  rein 
akademische  Uuter.suchung  über  den  Generalstreik  in  abstracto 
und  die  allgemeinen  Pros  und  Kontras  der  Sache  schleudern 
zu  wollen.  Und  jetzt  dieser  Artikel,  der  wenigstens  in  diesen 
Stellen  ganz  vortrefflich  das  Richtige  trifft! 

Jedenfalls  geht  bei  Euch  im  nächsten  ^ionat  mit  der  Walil- 
reformvorlage  die  Agitation  wieder  lustig:  los.  Es  ist  ganz  gut 
daß  das  erste  akute  Fieber  etwas  Gelegenheit  hatte  seinen 
Verlauf  durchzuiiuichen.  jetzt  werden  die  Leute  die  Dinge  etwas 
kühler  ansehu.  Wie  et?  auch  gehu  mag.  die  Kegierung  und  der 
F^eichsrat  müssen  E^uch  neue  Waffen  in  die  Hand  geben,  und 
im  nächsten  Jahr  sitzen  Eurer  ein  halbes  oder  ganzes  Schock 
im  Parlament.  Und  Pro'letarier  in  dieser  altfränkischen, 
ständisch  abgestuften  Versammlung:!  Die  werden  den  Fran- 
zosen beweisen  daB  das  Proletariat  nicht,  wie  sie  in  falscher 
Analogie  so  gern  sagen,  le  quatrieme  etat  ist,  sondern  eine  ganz 
moderne  jugendliche  Klasse,  die  mit  dein  ganzen  alten  Stände- 
kram unverträglich  ist  und  ihn  sprengen  mul:?,  ehe  sie  soweit 
kommt,  ihre  eigene  Aufgabe  in  die  Hand  nehmen  zu  können, 
die  Sprengung  der  Bourgeoisie.  Ich  freue  inich  schon  auf  das 
erste  Erscheinen  unserer  Leute  im  Reichsrat. 

Ich  bin  übrigens  noch  immer  der  Ansicht  daß  das  Koa- 
litionsministerium auseinanderfallen  muß  sobald  es  ernstlich 
'/,u  handeln  anfangen  will.  Zur  einen  reaktionären  Masse  scheint 
mir  in  Österreich  die  Zeit  noch  nicht  gekommen  —  wenigstens 
nicht  zur  dauernden  Bildung  dieser  Masse.  Und  .selbst  wenn 
die  im  Kabinett  sitzenden  Chefs  sich  einigten,  die  I^nterleute 


*J  Karl  Kautsky:  „Ein  sozialdemokratischer  Katechismus".  „Neuo 
Zeit",  XlI/1.  Seite  402.  Die  „Arbeiter-Zeitung"  vom  .5.  .länner  189i  druckte 
aus  dem  Abschnitt  „Revolution  und  Anarchismusi"  dieses  Artikels  einen 
Teil  ab. 


90  Brieie;  Oktober  lS9;i  bis  Mai  18W 

na  Parlament  brächten  es  nicht  fertig ;  und  wenn  hinter  all 
dem  ein  Franz  Josef  steht,  der  sich  nach  seinem  Taaffe  zurück- 
sehnt, so  will  mich  bedünken  als  wären  die  Tage  des  Windisch- 
grätz  gezählt.  Und  Taaffe,  das  heißt  jetzt  praktisch  all- 
gemeines Stimmrecht. 

loh  bin  begierig,  wie  sich  die  angeblichen  60  Sozialisten 
im  frajnzösisohen  Parlament  machen  werden.  Es  ist  eine  ge- 
mischte Bande,  selbst  die  socialistes  de  la  veille  *)  sind  teil- 
weise sehr  unbestimmter  Natur  und  dabei  trotz  aller  Fusions- 
liust  doch  von  allerlei  alten,  häßlichen  Erinneiningen  erfüllt, 
dazu  aber  sind)  diese  alle  zusammen  nur  die  Minorität  gegen- 
über der  aus  socialistes  du  lendemain**)  bestehenden  Millerand- 
tlauressohen  Majorität  Auch  schweigen  sich  die  Franzosen  auf 
alle  Anfragen  über  den  Charakter  ihrer  Fraktion  hartnäckig 
aus,  Sonntag  kommt  Bonnier  von  Paris  zurück  hier  durcii, 
da  werde  ich  ihn  ausfragen  und  wohl  etwas  erfahren. 

Der  3.  Band  ist  endlich  im  Druck.  Die  ersten  20  Kapitel 
(664  S.  aus  ca.  1870  S.  Manuskript)  sind' bereits  fort,  am  zweiten 
J)rittel  bin  ich,  es  bedarf  nur  noch  der  Schlußredaktion,  und 
das  dritte  Drittel,  das  wohl  noch  etwas  mehr  Arbeit  erfordern 
wird,  kommt  dann  auch  bald  dran,  im  September  erscheinen 
wir  denke  ich. 

Jetzt  muß  ich  aber  wieder  an  mein  geliebtes  23.  Kapitel^ 
ich  habe  in  den  Feiertagen  leider  arg  viel  Zeit  vei'lieren  müssen. 

Herzliche  Grüße  an  Deine  Frau  und  Kinder,  Popp^ 
Illbing,  Pernerstorfer,  Eeumann,  Schrammel,  Adelheid,  die 
kleine  Kyba  *'"*)  und  tutti  quanti  und  besonders  auch  Dich 
selbst  von  Deinem  F.  Engels. 

44. 

Adler  an  Engels. 

Wien,  am  19. '3.  1894t) 
Lieber  General! 

Ich  bin  als  „Sekretär  des  ÄiLßern"  beauftragt,  Dich 
sohwungvol'l   zu   unserem    Parteitag  einzaüaden.   Ich   denke.    Du 


***s 


*)   Die  Sozuilislen  von  gostein. 

*)  Die  Sozialisten  von  morgen. 

)  Amalia  Ryba  (später  verehelichte  Seidel)  \vin-de  am  i.  Jänner  1904 
von  dem  ITolzingersenat  „wegen  Aufforderung  zur  Revolution"  zu  drei 
Wochen  Arrest  verurteilt.  (Vergleiche  „Arbeiter-Zeitung"  vom  9.  Jänner  1894.) 

t)  Der  Originalbrief  trägt  infolge  eines  sonderbaren  Schreibfehlers 
das  Datum  19.  4.  1894.  Doch  ist  der  Brief,  wie  aus  den  behandelten 
Fragen  und  der  Antwort  Engels'  vom  23.  März  hervorgeht,  unzweifelhaft  im 
März   geschrieben.  •  <> 


Briefe:  Oktober  1893  bis  Mai  1894  91 


schenkst  mir  den  Schwung-  und  erlaubst,  daß  ich  Dir  lieber  ein 
paar  Worte  über  unsere  Lag©  sage.  Ich  ganzen  bin  ich  weit 
zufriedener  als  ich  noch  vor  wenigen  Wochen  hoffen  durfte. 
Daß  Plener  mit  einer  Wahlreform,  herausrückte,  hat  uns  über 
den  toten  Bunkt  weggeholfen  —  bei  uns  immer  die  große  Ge- 
fahr. Die  .Wahlreform  ist  elend,  so  elend,  daß  wir  sicher  den 
Erfolg  von  erheblichen  Verbesserungen  daran  erzielen  werden, 
wenn  auch  die  Aufhebung  der  Kurien  natürlich  zunächst  nicht 
erreicht  wird.  Der  Parteitag  wird  uns  sicher  da«  Mittdl  des 
Generalstreiks  im  Auge  zu  behalten  beauftragen,  ohne  uns  aber 
zur  Durchführung  zu  drängen.  Das  gefährlichste  Element,  die 
Bergarbeiter,  hoffe  ich  durch  Separatabmachungen  zu  ge- 
winnen, so  daß  sie  uns  nicht  zum  Generalstreik  durch  Ver- 
quickung ihrer  Achtstundenschichtforderung  drängen,  wohl 
aber  sich  der  politischen  Bewegung-  anvschließen.  im  ganzen 
glaube  ich  also,  daß  der  Parteitag  gut  verlaufen  wird,  wenn 
er  auch  manche  schmutzige  Wäsche  waschen  und  manchen  Un- 
sinn „in  Wort  und  Schrift'*  produzieren  wird. 

Edes  Artikel  *)  war  gut,  erschien  zur  richtigen  Zeit  und 
hat  uns  genützt.  Zwei  Monate  früher  hätte  er  geschadet;  heute 
.iber  ist  der  erste  Bausch  der  Phrasen  vorbei;  man  kann  mit 
den  Leuten  vernünftig  reden.  Fast  ist  mehr  zu  fürchten,  daß 
der  Parteitag  zu  nüchtern  ausfällt,  was  den  Gegnern 
gegenüber  ein  politischer  Fehler  wäre. 

So  haben  wir  eine  heiße  aber  lustige  Sommerkampagne 
vor  uns,  die  ich  persönlich  im  Kühlen  sitzend  genießen  werde  — 
i!V{>  ^lonate  Sitz-  und  Hitzferien  habe  ich  schon  beisammen  und 
noch  einige  Kleinigkeiten  in  Aussicht**).  Aber  ich  sitze  durch- 
aus in  Löchern,  wo  ich  mündlich  und  schriftlich  werde  ver- 
kehren können,  also  nicht  völlig  lahmgelegt  bin  —  daß  ich  aber 


*)    Eduard   Bernstoin:    „Der   Streik   als    polnisches   Kampfmittel." 
..Neue  Zeit",  XH/l,  Seite  689  (Februar  1894). 

**)  Diese  2%  Monate  Arrest  setzten  sich  folgendermaßen  zusammen: 
Adler  wurde  am  28.  Dezember  189B  von  dem  Kreisj^ericht  in  Böhmisch-Leipa 
wegen  Beleidigung  des  Bezirkskommissärs  zu  14  Tagen  Arrest  verurteilt 
vergleiche  „Arbeiter-Zeitung"  vom  2.  Jänner  1894).  Sotlann  erhielt  er  am 
IS.  Jänner  1894_  vom  Bezirksgericht  Rudolfsheim  wegen  einer  am  HO.  Oktober 
1893  in  einer  Volksversammlung  beim  Schwender  gehaltenen  Rede  einen 
Monat  Arrest  (vergleiche  ..Arbeiter-Zeitung"  vom  23.  Jänner  und  2.  März 
1894).  Am  17.  März  1894  wurden  vor  demselben  Gericht  Adler  und  Schuh- 
meier wegen  Reden  in  einer  Volksversammlung  beim  Schwender  am 
28.  Jänner  1894  zu  je  einem  Monat  Arrest  verurteilt  (vergleiche  „Arbeiter- 
Zeitung"  vom  20.  März  1894).  Eine  weitere  Strafe  von  einem  Monat  Arrest 
prfolgte  erst  im  Dezember  1894. 


92  Briefe :  Oktober  1893  bis  Mai  1894 

werde  täglich  acht  Stunden  schlafen  müssen  und  wieder  ein 
mal  was  lernen  kann,  wird  mir  wohl  tun. 

Von  Dir  hoffe  ich,  daß  Dir  der  Aufenthalt  an  der  See 
die  gewünschte  Erfrischung  gebracht.  8eit  Louise  Madame  Frey- 
berger  ist,  scheint  sie  stolz  geworden  zu  sein.  Meinen  letzten 
langen  Brief  (acht  Seiten  —  für  iriich  eine  Riesen leistung)  be- 
antwortete vsie  nicht  und  läßt  mich  olme'  Artikel  und  olme  Nach- 
richten. Na,  vielleicht  begeistert  sie  die  Einladungskarte  'zu 
ein  paar  Zeilen. 

Von  Dir  hoffe  ich  einen  Brief  an  den  Parteitag,  so  kurz 
er  sein  mag.  Ich  kann  Dir  nicht  oft  genug  schildfern,  wie  die 
Wiener  Genossen  an  Dir  hängen. 

DaJ3  die  Deutschen  drei  schicken,  insT^esondere  den 
August,  ist  mir  äußerst  wertvol'l  und  wnrd  intra  et  extra  großen 
Eindruck  machen. 

Es  grüßt  Diel)  herzlich.  Dein  V.  Adler. 

Trotz   all(^deni   herzlich(>  (Irüße  an    Luise   und   Dr.   Fr.*). 

45. 

Engels  an  Adler. 

London,  20.  März  94. 

I>ieber  Victor 

Vor  einiger  Zeit  frugst  Du  mich  an  wegen  (Tbersetzfung 
de&  Artikels  in  der  ,,Critica  Sociale"  über  die  Lage  etc.  Italiens. 
Louise  antwortete  gleich  auf  einer  Postkarte  in  meinem  Namen 
that  you  were  wclcouu'  to  it**),  und  ich  l)estätigte  dies  wenige 
Tage  darauf  in  einem  Brief  an  Dich.  Bald  darauf  kam  eine- An- 
frage von  K.  K.,  ob  ich  ihm  das  Ding  für  die  ,,N.  Zeit"  über- 
lassen wolle.  Darauf  antwortete  icli  ihm,  Du  habest  es  ihm 
weggeschnappt. 

Seitdem  aber  ist  <k'r  Art|ikel|  n  icht  in  der  ,,Arb.-Ztg." 
erschienen  und  ich  komme  dadurch  in  Verlegenheit  gegenüber 
K.  K.  "Ich  möchte  Dich  also  bitten,  mir  zu  sagen,  wie  es  damit 
steht.  Ich  kojume  mir  allerdings  dabei  vor  wie  die  englische 
Zimmervermieterin,  die  im  Besitz  einerseits  einer  heirats- 
lüsternen Tochter  und  anderseits  eines  rühnungsfähigen  deut- 
schen „Chani'bregarnistcn"  ist,  und  die  bei  der  ersten  Sj^nr 
einer  flirtation  diesen  letzteren  fragt:  what  are  your  intentions 


*)  Dr.  Kreyberger. 

*)  Daß   er    Dir   zu    Dicnslen   stt-lit. 


Briefe :  Oktober  1893  bis  Mai  1894  9.^ 


witli  regard  to  my  daug-hter?*)  aber  die  Dir  von  K.  K.  er- 
öffnete Konkurrenz  muß  mich  entscluuldigen. 

Hier  geht's  auf  die  Neuwahl  lo>s,  alles,  was  geschieht,  ge- 
schieht nur  in  Vorbereitung  darauf.  Die  Liberalen  sind  wie 
gewöhnlich  feig.  Sie  müssen  wissen,  daß  sie  sich  nur  halten 
können  durch  Stärkung  der  politischen  Macht  der  Arbeiter, 
und  doch  zaudern,  zippeln  und  zappeln  sie  ängstlich.  Weder 
ent'^chiedene  Ausdehnung  des  Stimmrechtes,  noch  Beseitigung 
des  Wählbarkeit-^zensus,  der  in  der  Belastung  der  Kandidaten 
mit  allen  Wahlkosten  und  in  der  Diätenlosigkeit  liegt,  noch 
Ermöglichung  der  Aufstellung  dritter  Kandidaten  (außer- 
halb denen  der  beiden  offiziellen  Parteien)  durch  Stichwahl. 
Dabei  soll  dann  das  Haus  der  Lords  abgeschafft  werden,  aber 
kein  Schritt  geschieht  um  ein  Unterhaus  zu  schaffen,  da«  dazu 
Mut  und  Fähigkeit  besitzt.  Anderseits  machen  die  Tories 
Dummheiten  über  Dummheiten,  sie  haben  zwei  Jahre  lang  das 
ganze  Parlament  in  eine  l'arce  verwandelt,  unter  dein  Vorwand 
die  Homei'ule  kaput  zu  machen,  haben  mit  den  Liberalen,  die 
sich  dies  gefallen  ließen,  das  i-einste  Schind'luder  g(^trieben,  und 
setzen  dies,  wie  gestern  abends  Randy  Churchill  bewies,  aiudi 
jetzt  noch  fort,  obwohl  das  bei  dem  Herannahen  der  Wahlen 
gefährlich  wird  und  den  britischen  friedliehen  |^1  l'hilister  arg 
in  .seinem  konservativen  Vertrauen  erschüttern  könnte.  Auch 
hat  Salisbury  bei  der  Parish  Councils  Bill  versucht  seinen 
uuionist.  liberalen  Alliierten  Devons!hire  und  (^hajuberlain 
einen  argen  Streich  zu  spielen  und  sie  zu  puren  Torymaßregeln 
auszubeuten,  so  daß  diese  Allianz  auch  nicht  mehr  so  fest  wie 
einst.  Kurz  die  Sache  wird  arg  konfus  und  bis  jetzt  ist  schwer 
zu  i-ateu   wies  verlaufen  wird. 

Zu  der  Art  wie  Du  den  Ceneralstiike  in  Sclilummer 
gewiegt  hast  gratuliere  ich  Dir,  aber  auch  nicht  minder  zu 
Deinen  Artikeln  über  die  Koalitionswahlreform**)  -und  die 
ganze  Lage  in  Österreich.  Namentlich  der  in  der  Nummer  vom 
6.  d.  M.  war  Itriilant*** ).  Ich  zweifle  keinen  Augenblick  am 
glänzenden  Verlauf  Eures  Parteitages,  grüße  alle  Freunde,  auch 
August  und  Paul  S.f)    und    Cerisch   wenn  sie  dort  hinkommen. 

Viele  (Irüße  von  Luise  und  Deinem  F.  E. 

*j  Was   für  Absichten   lial)en   Sic  iiiii  meiner  Tochter. 
"'*)   „Arbeiter-Zeitung"   vom   6.,  9.,  IH.   und    IH.   März    1891 
***)  Der  Artikel   trägt   den   Titel:   „Die  VVcihlreform   Stadnicki" 

t)  Paul   Singer.  ,^  ', 


94  Briefe :  Oktober  1893  bis  Mai  1894 

46. 

Engels  an  Adler. 

London,  22.  März  1894. 

Lieber  Victor 

Vorgestern  schrieb  ich  Dir.  Gestern  schrieb  Dir  Louise 
.^eingeschrieben''  nach  Kopernikusgasse. 

L)eine  Nachrichten  über  den  Stand  der  Dinge  bei  Euch 
haben  uns  sehr  erfreut.  Weniger  die  Aussicht  auf  Deine 
Sommerfrische  in  ., geschlossenen  Räumen",  von  denen  uns 
einiges  schon  an-tj  der  ,,z\rbeiter-Zeitung"  'i  (in  Untei-echied 
von  der  „Arbeiter-Zeitung'*'  9  )  bekannt  war.  Über  hiesige 
Angelegenheiten  schrieb  ich  vorgestern. 

Mit  dem  Verschwinden  der  Briefe  an  Dich  wird  es  aber 
nachgerade  doch  zu  arg.  Nachdem  Louise  Dir  gestern 
geschrieben,  haben  wir  ihre  Briefe  nach  dort  so  gut  es  ging 
aus  dem  Gedächtnis  wieder  hergestellt.     Und  zwar    wie  folgt: 

1.  Sie  schickte  Mitte  Dezember  einen  Artikel  über 
weibliche  Fabrikinspektoren  an  Adelheid  D.,  dabei  verschied;ene 
Notizen  für  die  „Arbeiter-Zeitung"  '^  —  Adelheid  schreibt, 
sie  habe  den  Brief  nicht  erhalten. 

2.  Kurz  vor  Weihnachten  schrieb  L[ouise]  an  Dich,  um 
einige  Auskunft  bittend  wegen  des  von  Dir  an  Tiissy 
empfohlenen  Doktors, 

3.  Im  Jänner  an  Dich,  u.  A.  Dich  bittend,  mich  bei 
Deiner  Frau  zu  entschuldigen,  ich  sei  nicht  wohl. 

4.  Gegen  Ende  Jänner,  als  Lafargue  hier  war  und  liurns 
mit  ihm  bei  uns  zusammentraf,  über  dessen  Besuch  und  die 
f^nglischen  Verhältnisse  überhaupt  —  der  Brief  war  von  L[ouii&e] 
an  D  i  c  h. 

.5.  Im  Februar  schrieb  sie  an  Dich,  Du  solltest  nieinen 
Artikel  in  der  Oritica  Sociale  nur  benützen. 

6.  und  7.  Zwei  Briefe  von  ihr  an  Dich  von  Eastbourne, 
zwischen  9.  Februar  und  ].  März. 

8.  Schrieb  sie  an  Schacher  I,  Adresse  „Arbeiter- 
Zeitung",  da.ß  sie  den  Artikel  nicht  sofort  schicken  könne. 
Nicht  angekommen. 

9.  Am  4.  März  schrieb  sie  Dir  mit  Bitte,  die  Arbeiterin- 
nenzeitung an  Dr.  Bonnier,  19  Regent  st.  Oxford   zu  schicken, 


Engels  an  den  Parteitag  in  Wien  (1894j  95 

c.nd  machte  Mitteilungea  über  Jaures  und  die  30z[ialistische] 
Fraktion  der  franz[ösischen]  Kammer. 

Die  Briefe  an  Dich  gingen  zum  Teil  an  die  Redaktion  der 
„Arbeiter-Zeitung''  zum  Teil  an  Deine  Privatwohnung,  beide 
scheinen  mit  gleicher  Regelmäßigkeit  verschwunden  zu  sein. 
Dagegen  Louisens  sonstige  Wiener  Korrespondenz  auch  mit  den 
Gasarbeitern  —  ebenso  regelmäßig  angekommen  und  die 
Antwort  auch. 

Dein  acht  Seiten  langer  Brief  an  Louise  ist  ebenfalls 
nicht  angekommen. 

Wir  versuchen  es  jetzt  aJso  für  einige  Zeit  mit 
registrierten  Briefen.  Vielleicht  wäre  eine  Deckadresse 
in  Wien  nützlich. 

Hierbei  dats  Gewünschte  für  den  Parteitag.  Ich  bitte  alle 
Freunde  und  anch  die  Berliner  bestens  zu  grüßen.  Luise  und 
Freyberger  grüßen  herzlich,  ditto 

Dein  F.  E. 

Engels  an  den  Parteitag  in  Wien  (1894)*). 

47. 

London,  22.  März  1894. 
Dem  österreichiechen  Parteitag 
danke  ich  herzlich  für  die  mir  freundlichst  zugesendete  Ein- 
ladungskarte, die  persönlich  zu  benützen  ich  leider  verhindert 
bin.  Ich  übersende  aber  nichtsdestoweniger  den  versammelten 
Delegierten  der  Partei  meine  aufrichtigsten  und  wärmsten 
Wünsche  für  einen  erfolgreichen  Verlaiuf  ihrer  Arbeiten. 

Der  diesjährige  Parteitag  hat  besonders  wichtige  Auf- 
gaben zu  erfüllen.  Es  handelt  sich  in  Österreich  um  die  Er- 
kämpfung des  allgemeinen  Wahlrechtes,  jener  Waffe,  die  in  der 
Hand  einer  klassenbewußten  Arbeiterschaft  weiter  trägt  und 
-icherer  trifft  als  das  kleinkalibrige  Magazing'cwehr  in  der 
Hand  des  gedrillten  Soldaten.  Die  herrschenden  Klassen  — 
Feudaladel  wie  Bourgeoisie  —  sträiuben  sich  aus  allen  Kräften 
dagegen,  den  Arbeitern  diese  Waffe  zu  überliefern.  Der  Kampf 


*)     Abgedruckt    aus     „Verhandlungen    des    vierten    öslerreichischen 
sozialdemokratischen  Parteitages".  Wien  1894.  Seite  189. 


96  Briefe :  April  1894  bis  Juli  1895 


wird  langwierig-  und  heftig  sein.  Aber  wenn  die  Arbeiter  die 
politische  Einsicht,  die  Geduld  und  Ausdauer,  die  Einmütigkeit 
und  Disziplin  beweisen,  denen  sie  mm  schon  so  A-ifle  echöno 
Erfolge  verdanken,  so  kann  der  endliche  Sieg  ihnen  nicht  ent- 
gehen. Auf  ihrer  Seite  kämpft  die  ganze  geschidht'liche,  die 
ökonomische  wie  die  politische  Notwendigkeit.  Und  mag  auch 
das  volle,  gleiche  Wahlrecht  nicht  auf  den  ep.^ten  Schlag  er- 
kämpft werden,  schon  jetzt  dürfen  wir  ein  Hoch  ausbringen 
den  künftigen  Vertretern  des  Proletariats  im  österreichischen 
Reicbsrat.  F.  Engels. 

48. 

Briefe:  April  1894  bis  Juli  1895. 

Adler  an  Engels. 

Wien,  4./4.  1894. 

Lieber  Genera'l! 

Wenn  ich  Dir  bisher  nicht  schrieb,  verzeih'.  Von  der 
Plage  der  letzten  Woche  kann  ich  Euch  gar  keinen  Begriff 
geben.  Mit  dem  Ausfall  des  Parteitages  bin  idh  zufrieden,  weit 
mehr  als  ich  hoffte.  Der  Generalstreik  ist  als  ,,1  e  t  z  t  e  s 
Mittel"  anerkannt  worden,  was  alle  von  einer  großen  Laer 
befreite,  nicht  nur  mich.  Trotz  der  großen  Worte  waren  sie 
froh,  als  ich  iJhuen  die  goildene  Bnicke  baute,  auf  der  sie  mit 
Ehren  vernünftig  sein  konnten.  Wichtiger  noch  ist  die  An- 
näherung an  die  Tschechen  und  die  Oewinnung  der  Berg- 
arbeiter. 

Der  Generalstreik  kriegt  soeben  einen  furchtbaren  Schlag 
durch  das  Mißglücken  des»  Gasarbeiterstreiks*).  Es  ist  ein 
schweres,  auch  politisches  Unglück  —  aber  lieilsam  nach 
mancher  Richtung.  Vorläufig  sind  wir  freilich  bis  über  die 
Ohren  drin  im  Decken  des  Pückzuges,  der  iunausweichlich  ist, 
trotzdem  die   Gasarbeiter  selbst  noch  immer  sanguinisch  sind. 

Deinen  Hrief  an  Turati  brachte  icli  nicht,  obwohl  er  schon 
übersetzt  war,  wei'l  als  Luiisens  zustinwnende  Karte  eintraf  die 
A  k  t  u  a  1  i  t  ä  t    vorbei  war  und  sein  Inhalt  oder  vielmehr  sein 


*)  Die  Albeiter  der  „Imperial  Koniinenlal  Gasassoziaüon"  in  Wien 
traten  am  29.  März  1891  in  den  Streik.  Er  endete  nach  neunlägiger  Dauer 
mit  der  Niederlage  der  Arbeiter.  000  Arbeiter  wurden  ausgesperrt.  (Vert;leichn 
„Arbeiter-Zeitung"    vom   3..  bis  20.    April    IHIH.) 


Briefe :  April  1894  bis  Juli  1895  97 

Gegenstand  niit  dem  Zusammenbruch  der  A'ufstände  in  Sizilien 
und  Obcritalien  doch  gar  zu  sdlir  kontrastiert.  Ist  der  frische 
KLndnick  dieser  Katastrophe  vorbei,  dann  kann  meines  Er- 
achtens  Dein  Briet'  gebracht  werden  und  wird  aus  sehr  vielen 
(iründen  höchst  nützlich  sein.  So  sehr  ich  ihn  für  die  ,, Arbeiter- 
Zeitung"'  wünsche^  .«jo  wenig  bist  Du  gehunden,  wenn  Karl  mir 
wie  in  so  vielem,  den  Kang  abläuft.  Nebenbei  gesagt  verstehe 
icti  den  ganzen  Turati  mit  seiner  deklamierenden  Untätigkeit 
nicht.  Wir  können  doch  nicht  davon  allein  leben  uns  die  Hände 
in  Unschuld  zu  waschen. 

Der  Kossuthrummel*)  hat  mich  in  große  Verlegenheit 
gesetzt,  dagegen  aufzutreten,  hieße  unseren  Sch'warzgelben 
Vergnügen  machen,  geht  also  nicht;  für  den  unglaublichen 
Schwindel  auch  nur  ein  Wort  zu  sagen,  schäme  ich  mich,  .der 
einzige,  der  die  Wahrheit  über  Koss[uth]  sagen  könnte,  wärest 
D  u;  kaum  wage  ich  es.  Dich  darum  ziu  bitten 

Briefe  sind  gestohlen  worden:  ich  habe  nicht  erhalten 
(von  den  von  Dir  aufgezählten  Briefen)  :  Nr.  2  Tussy  und  den 
Wiener  Doktor  betreffend,  Nr.  (J  oder  7 — ^  ich  habe  nur  einen 
Brief  aus  Eastbourne;  Nr.  9  der  Brief  Di-.  Bonnier  und  Jaures 
betreffend,  vielleicht  noch  andere  Briefe,  aber  diese  sind 
sicher  nicht  eingelangt,  insbesondere  der  Janresi  betreffende 
Brief  wäre  mir  sehr  interessant  gewesen.  Ich  meine  Deck- 
adressen sind  zu  umständlich ;  am  besten  ist  künftig  alles  zu 
rekommandieren.  Bitte  d'ie  nächste  Zeit  für  mich  an  Popp  zu 
adressieren,  da  idh  Sonntag  in&  Loch  gehe.  Er  oder  sie  besorgt 
die  Post  regelmäßig.  Verzeih'  die  Form  des  Briefes:  ich  habe 
'ien  ganzen  Tag  wie  ein  Vieh  gerackert  und  muß  sofort  in  die 
(rasarbeiterversammlung**).  Ich  freue  mäch    unmenschlich 

aufs  Sitzen. 

Herzlichen  Gruß  an    Dich,   Luise   und  Freiberger 

von  Deinem  V.  A. 

Seit  ihr  von  Eastbjourne]  zurück  seid,  sind  ^fbänder  ge- 
kommen, und  zwar  eines  mit  Au^ssclhnitten  und  einmal 
Vv'orkmen  Times. 


)  Ludwig  Kossuth  starb  am  20.  .März   189i  in  Turin.  Die  „Arbeiter- 
Zeitung"  brachte  kurze  Glossen  am  23.    März  und  13.  April  1894. 

**)  Am    i.   April    1894  abends   fanden    in    Wien    fünf   Versammlungen 
mit  der  Tagesordnung   „Der  Gasarbeiterstreik"  statt. 


98  Briefe  :  April  1894  bis  Juli  1895 

49. 

Adler  an  Engels. 

Wien,  Bezirksarrest  Neoibau,  17./6.  94. 

Lieber  Engels! 

Der  Überbring-er  dieser  Zeilen  ist  Dr.  Benno  Karpe'les, 
der  die  Dir  gewiß  zugekommene  Arbeit  über  die  Lage  der 
Ostrauer  Kohlenarbeiter  gemacht  hat.  Dr.  K.  kommt  nun 
nach  England  um  zu  lernen  und  ich  bitte  Dich  ihn  in  jeder 
Beziehung  darin  zu  unterstützen.  Bis  jetzt  schon  hat  er  uns 
manchen  wertvollen  Dienst  geleistet  und  es  bangt  mir  von 
seiner  nächsten  Entwicklung  ab,  wie  wertvoll  seine  Arbeit 
werden  kann.  Sein  besonderes  Fach  ist  Sozial  Statistik,  wie  mir 
scheint  in  einer  etwas  allzu  engen  Umgrenzung;  alles  Weitere 
kann  Dir  Wittelshöfer*)  sagen,  der  ja  wohl  zu  Euch  kommt, 
und  Dr.  K.  selbst.  Lasse  ihn  Dir  bestens  empfohlen  sein. 

An  Luise,  der  ich  morgen  meinen  längst  versprochenen 
Brief  schreiben  und  hinaussohVärzen  will,  sowie  an  Ludwig 
meine  herzlichen  Grüße. 

Dein  getreuer  Dr.  V.  A. 

50. 

Adler  an  Engels. 

Wien,  Bezirk-sgericht  Rudo^Ifsheim,  13./7.  94. 

Lieber  Engels! 
Zu  meiner  größten  Überraschung  erhielt  ich  gestern  von 
Dietz  in  Deinem  Namen  Mk.  937'50  —  Du  wendest  mir  also 

wieder  Dein  Arbeitsprodukt  zu Wie  sehr  ich  es  bedaure 

nicht  sofort  den  ganzen  Betrag  in  die  Parteikasse  abführen  zu 
können,  brauche  ich  Dir  nicht  zu  sagen.  Aber  Du  wirst  meinen 
dreifachen  Dank  zu  würdigen  wissen,  wenn  idh  Dir  erzähle, 
daß  mich  dieses  Geld  aus  einer  Klemme  befreit,  die  mir  in  den 
Wochen  der  LIaft  so  manche  bittere  Stunde  gemacht  hat. 
Die  allmählige  Genesung  Emmas  nähert  mich  ja  hoffentlich 
normalen  Verhältnissen  und  einem  geordneten  Budget.  Bisher 
aber  habe  ich  sowohl'  unter  den  Folgen  der  außerordentlichen 
Bedürfnisse  als  auch  noch  unter  Anforderungen  zu  leiden,  die 
die  absolut  notwendigen  Maßregeln,  welche  ihre  Rekonvaleszenz 
nötig  machten.  Gerade  jetzt  stand  ich  vor  der  Frage,  woher 
das  Geld    nehmen,    um    sie  —  und  wenn    ich  Zeit  finde    auch 


*)   Otto  Wittelshöfer  aus  Wien. 


Briefe  :  April  1894  bis  Juli  1895  99 

mich  —  für  einige  Wochen  aufs  Land  zu  .schicken,  Deine  Sen- 
dung- war  ein  wahrer  Dens  ex  machina  —  und  ain  Tage,  oder 
vielmehr  in  der  Nacht,  nachdem  Dietz  mir  das  Geld  avipiertp, 
habe  ich  weit  besser  geschlafen  als  seit  lange. 

Nun  weiß  ich,  daß  diese  Zuwendungen  nicht  nur  mir  per- 
sönlich gelten  —  soweit  sie  ein  Beweis  Deiner  Freundschaft 
sind,  gelten  sie  mir  als  höchste  Genugtuung  —  sondern^  daß 
Du  auch  der  österreichischen.  Partei  damit  nützen  willst,  daß 
Du  hilfst,  mich  sorgenfrei  zu  machen.  Und  in  dieser  Beziehung 
beschleichen  mich  immer  häufiger  ernste  Zweifel.  Es  ist  nicht 
Kleinmut  und  Hypochondrie,  zu  der  ich  —  in  physischer  Be- 
ziehung zum  wenigsten  —  gar  kein  Talent  habe,  aber  ich  fühle 
mich  gealtert  und  weit  weniger  kampfestüchtig  als  ich  es 
war.  [ — . — ]  Dazu  konmie  ich  mir  wie  ausgeschöpft  vor.  Das 
ewige  Ausgeben,  die  Unmöglichkeit  einmal  geordnet  und  ruhig 
zu  studieren  —  auch  im  Gefängnis  nicht  —  wieder  einmal  zu 
einer  Kritik  oder  gar  zum  Lernen  zu  kommen,  alles  das  quält 
mich  oft  sehr,  macht  mi'eh  unsicher  und  nimmt  mir  die  Zuver- 
sicht, die  ich  brauche. 

Karl  schrieb  mir.  Du  seist  mit  dem  Artikel  in  der 
,, Neuen  Zeit'"  zufrieden  gewesen*);  aber  ich  selbst  war  es  nicht. 
Ich  wollte  alle  Hauptfäden  klarlegen  und  eine  rücksichtslose 
Kritik  unserer  Parteitaktik  geben,  die  ja  zum  Teil  eine  Auto- 
kritik sein  mußtp.  unrl  finde  sie  jetzt  unvollständig  und 
schwächlich. 

Das  Arge  aber  ist,  daß  von  der  Partei  und  auch  von  mir 
persönlich  gerade  in  nächster  Zeit  eine  starke  Anstrengung 
verlangt  wird.  Wir  müssen  den  Wahlrechtssturm  noch  einmal 
machen,  dem  Nachteil,  der  in  der  Wiederholung  an  sich  schon 
liegt,  durch  doppelte  Energie  wettmachen  und  kegeln  uns  das 
Hirn  aus,  neue  Mittel  der  Agitation  zu  finden.  Dabei  leiden 
wir  natürlich  unter  der  doppelten  Depression,  die  einerseits 
das  Nachlassen  der  Nerven  nach  dem  Sturm  und  andei-seits  die 
Erschöpfung  durch  die  wahnsinnigen  Streiks  zur  Folge  gehabt. 
Das  zeigt  sich  auch  in  dem  Geldmangel,  den  wir  momentan 
haben.  Allerdings  fehlt  es  auch  nicht  aai  günstigen  Symptomen. 
Es  scheint,    daß   wir  einer   augenblicklichen  Periode   des  Auf- 


*)  Es  handelt  sich  um  den  Artikel  „Die  Lage  in  Österreich  und  der 
sozialdemokratische  Parteitag".  „Neue  Zeit",  Band  2  des  Jahrganges  XII. 
Seite  197   und  3.32  (Mai  d8M). 


100  Briefe :  April  1894  bis  Juli  1895 


echwungs  entgegengehen;  und  wenn  das  noch  so  kurz  dauert, 
wäre  es  genügend,  U7n  unseren  Gewerkschaften  Zeit  zur  Kon- 
solidierung zu  geben.  Weit  günstiger  ist  aber  noch,  daß  wir  in 
Österreich  die  einzige  ernste  Oppositionspartei  sind.  Die 
Koalition  zeigt  Sprünge,  das  ist  wahr;  aber  noch  ärgere  die 
jungtschechische  und  antisemitische  üppoisition. 

Und  das  dritte  (Dünstige  ist,  daß  wir  leider  gezwungen 
sind  an  ein  tägliches  Blatt  zugehen.  Ich  .sage  leider, 
denn  es  wird  furchtbare  Arbeit  in  jeder  Beziehung  machen  und 
wenn  wir  nicht  m  ü  ß  t  e  n,  hätten  wir  nicht  die  Courage  dazu. 
Es  wird  aber  einen  großen  Anstoß  geben  und  vielleicht  nicht 
nur  auf  die  Länge  sondern  ganz  akut  ein  Faktor  von  politischer 
Bedeutung.  Wir  müssen  aber,  weil  die  Preßreform,  über 
die  wir  so  unbändig  schimpfen  geradezu  nur  die  Bedeutung 
hat  uns  ein  Tagbiatt  zu  ermöglichein,  indem  sie  den  Verschleiß 
freigibt.  ]\[achen  wir  das  Tagblatt  nicht  so  gibt  irgendeine 
große  Druckerei  es  sofort  heraus;    das    Geschäft   liegt   auf   der 

Straße ist  für  andere  natürlich  weit  besser  als  für  uns,  die 

wir  nicht  stehlen  dürfen. 

Wir  warten  also  nur  die  Sanktion  des  (lesetzes  ab  um 
einen  Aufruf  für  einen  Gründungsfonds  zu  erlassen  und  im 
'Spätherbst  oder  doch  Jänner  1895  wird  dae  Tagblatt  da  sein. 
F3ie  Ungexlukl  unserer  Leute,  die  Begeisterung  dafür  ist  groß 
und  so  hoffe  ich  das  Geld  —  30.000  fl.  Gründungsfonds  —  in 
wenigen  Monaten  aufzubringen.  Weit  mehr  Sorgen  als  das  Geld 
macht  mir  die  Organisation  des  Blattes.  Wir  haben  nicht  einen 
einzigen  Menschen,  der  gelernter  Journalist  ist;  ich  selbst  bin 
blutiger  Dilettant  in  der  ganzen  Technik  eines  Tagblattes.  Es 
wird  w^eit  aktueller  sein  müssen  aJs  der  „Vorwärts";  in  Wien  ist 
man  verwöhnt.  Zudem  wird  man  gerade  an  unser  Blatt  große 
Erwartungen  knüpfen,  die  nicht  zu  enttäuschen  schwer  sein 
wird.  Daß  Ärgste  aber  ist  nicht  der  Mangel  an  Kräften,  sondern 
der  Überfluß  an  Leuten  die  nicht  zu  brauchen  sind.  Alle 
wollen  hinein  [  — . — ],  ich  werde  mich  stark  auf  die  Hinter- 
pfoten stellen  müssen,  um  nicht  eine  (larde  von  Partei- 
schmöekcn  zusammenzukriegen. 

Um  die  Verbreitung  ist  mir  nicht  bange;  bei  etwas 
-Glück  and  wenn  wir  nicht  gar  zu  ungeschickt  sind,  haben  wir 
am  Ende  des  ersten  Jahres  15.000  Abnehmer  und  sind  aktiv, 
wenn  der  Fonds  glücklich  perdu  ist.  Du  k^nn^t  Dir  denken,  diaß 


Briefe :  AprU  1894  bis  Juli  1895  .  101 

ich  mich   ja   eigentlich   darauf   freue;    aber   die  Arbeit  und  all 
das  Gezanke,  das  vor  mir  ist,  macht  mir  Graus.  —  — 

Hoffentlich  kann  ich  zum  Herbst  wenigstens  einen 
erheblichen  Teil  dee  Geldes,  das  Du  mir  gegeben,  der  Partei 
wieder  zurückstellen.  Ich  tröste  mich  damit,  daß  wir  es  später 
genau  so  brauchen  werden,  als  wir  es  heute  brauchten. 

Die  Neuauflage  des  Anti-Dühring  hat  mich  ganz  über- 
rascht*). Ich  habe  ihn  noch  nicht  in  Händen  und  sehe  nur  aus 
•dem  Vorw[ärts],  daß  ein  neues  Kapitel  darin  ist,  daß  Du  also 
neue  Arbeit  aufgewendet.  Wie  ist's  mit  dem  dritten  Band? 
Louise  ist  böse  und  schweigt  hartnäckig,  so  daß  ich  gar  nichts 
weiß.  (Und  trotzdem  kann  sie  sich  rühmen  den  längsten  Brief 
meines  Lebens  zu  besitzen.)  So  weiß  ich  auch  gar  nichts'  von 
Deinen  und  ihren  Sommerplänen.  Ich  selbst  sitze  hier 
(zusammen  mit  Schuhmeier)  bis  29.  Juli;  dann  will  ich  Emma 
womöglich  in  eine  Wasserkur  oder  mindestens  nach  Parschall**) 
führen.  Die  Kinder  sind  schon  dort  bei  Pernerstorfer.  Emma 
war  nicht  zu  bewegen  abzureisen,  solange  ich  sitze.  Täusche  ich 
mich  nicht,  so  geht  es  ihr  wirklich  weit  besser. 

Meine  Haft  ist  sehr  erträglich;  sogar  eine  Art  Kneippkur 
habe  ich  für  uns  beide  eingerichtet.  Aber  mit  der  Arbeit  ist 
nicht  viel  los;  zuviel  Verkehr  mit  außen  uHd  zuviel  Zwang 
Artikel  zu  'Schreiben,  die  hier  länger  und  langweiliger  werden 
wie  draußen. 

Dadurch,  daß  ich  seit  mehr  als  drei  Monaten  immer  nur 
auf  kurze  Zeit  frei  war,  habe  ich  mir  den  Sommer  für  mich 
eelbst  gründlich  verpatzt;  und  doch  habe  ich  große  Sehnsucht 
nach  Luft. 

Lasse  mich  hören,  wie  es  Dir  und  den  Freunden  geht, 
was  Du  vorhast  und  sei  nochmals  bedankt  von 

Deinem  getreuen  V.  Adler. 


1 


50. 

Engels  an  Adler. 

London,  17.  Juli  1894. 
Lieber  Victor 

Es  freut  mich   daß  die  paar  Mark  Dir  so  gelegen  kommen, 
ich  hoffe.  Du  benützest  sie    um  Dir  die  so  absolut  nötige  Ruhe 

*)    Das    Vorwort    der    dritten   Auflage    von   Engels'    „Herrn     Eugen 
Dührings   Umwälzung   der    Wissenschaft"    trägt   das   Datum   23.    Mai    1894. 
)  Am  Attersee. 


102  Briefe:  April  1894  bis  Juli  1895 

und  Erholung  auf  dem  Lande  zu  verschaffen.  Du  mußt 
absolut  fort,  die  Nachkur  nach  den  Gefäng>nisstrapazen  ist  Dir 
nötiger  als  irgend  etwas.  Du  sagst  selbst  Du  fühlst  Dich  ab- 
gespannt, und  das  ist  wahrhaftig  kein  Wunder,  also  sobald  Du 
herauskommst,  fort  aufs  Land'!  Für  die  vollständige  Wied»er- 
herstellung  Deiner  Frau  ist  das  aucli  das  beste. 

Das  zusiätzliche  Kapitel  (es  ist  mur  eine  Erweiterung  eines 
schon  bestehenden)  im  Anti-Dührin"g  ist  von  Marx,  hat  mir  also 
bloß  Kopier-  und  Redigierarbeit  gemacht. 

Vom  dritten  Band  sind  zirka  36  Bogen  gesetzt,  e.s  werden 
wohl  über  50  werden.  Da  Meißner  *)  alles  Interesse  daran  hat 
im  September  damit  herauszurücken,  ward's  wohl  bis  dahin 
fertig. 

Zu  Eurem  Tagblatt  gratuliere  ich,  und  freue  mich  schon 
darauf.  Es  ist  wirklich  nötig,  daß  dem  unerträglichen A^orwärt- 
ein  Beispiel  gegeben  werde,  „wie  man's  macht".  Die  Leute 
werden  dann  schon  folgen  müssen.  Allerdings  merkt  man, 
wenn  Du  sitzest,  der  Arb[eiter]-Z[ei]t[un]g  auch  von  Zeit  zu  Zeit 
an,  daß  Ihr  ebenfalls  unbrauchbare  Leute  habt,  die  sich  dahin 
vordrängen,  wohin  sie  nicht  gehören.  Aber  wenn  das  TagMatt 
da  ist,  wirst  Du  Deine  rednerische  Tätigkeit  schon  von  selbst 
auf  wenige  entscheidend  wichtige  Momente  beschränken  müssen 
und  daher  weniger  sitzen,  und  beim  Blwtt  selbst  ist  ja  der  Sitz- 
redakteur ohnehin  unumgänglich,  das  Lamm  das  der  Redaktion 
Sünden  trägt. 

Und  dann  habt  Ihr  in  Wien  augenblicklich  einen  besseren 
Boden  für  ein  Tagblatt  als  Berlin  ihn  bietet.  Ihr  steht  in  einer 
aufsteigenden  politisichen  Bewegung;  Wahlrcform  ist  Euch 
sicher,  und  schon  der  Kampf  um  ein  solches  Ziel,  um  einen 
unmittel'baren  politischen  Fortschritt,  ist  ein  enormer  Vorteil 
für  Euer  Blatt;  die  Wahlreform  aber  ist  nur  der  Anstoß,  der 
den  Stein  ins  Rollen  bringt  und  andere  Konzessionen  wegen 
Presse,  Vereinen,  Versainimlungen,  Gerichtspraxis  etc.  zur 
Folge  haben  muß.  Kurz,  Ihr  seid  in  der  Offensive,  und  zwar  in 
einer,  die  zunächst  noch  des  Sieges  gewiß  ist.  Dagegen  in 
Frankreich,  Deutschland,  Italien  stehen  unsere  Leute  in  einer 
nicht  einmal  immer  hoffnungsvollen  Defensive,  haben  den  An- 
sturm einer  sich  immer  stärker  aus  den  verschiedensten 
Parteien  zusammenballenden  Reaktion  auszuhälten.  Es  i-t  ds'=' 


")  Der  Verleger  von  Marx'  „Kapital". 


Briefe :  April  1894  bis  Juli  1895  103 

Beweis  —  wenigstens  in  Deutschland  —  daß  die  unseren  eine 
wirkliche  Großmacht  im  Lande  geworden,  und  in  Frankreich 
iat's  Beweis,  daß  man  auf  diesem  revolutionär  unterwühlten 
Boden  die  Unseren  wenigstens  für  eine  Großmacht  hält. 
Aber  bei  alledem  ist  Eure  Lage  für  den  Kampf  momentan  gün- 
stiger — ■  Ihr  greift  an,  erobert  Schritt  vor  Schritt  Terrain, 
jeder  errungene  und  besetzte  neue  Bodenabschnitt  stärkt  nicht 
nur  Eure  Stellung  sondern  führt  Euch  Massen  neuer  Ver- 
stärkungen zu ;  bei  Eurem  primitiven  Konstitutionalismus 
könnea  die  Arbeiter  wenigstens  noch  einige  der  Positionen 
erobern,  und  das  auf  gesetzlichem  Weg,  also  'auf  dem  Weg, 
der  sie  selbst  politisch  schult  —  der  Positionen,  die  die  Bour- 
geoisie hätte  erobern  sollen.  Ancli  bei  uns  gibt's  noch 
solche  Positionen  zu  nehmen,  aber  die  kriegen  wir  erst,  wenn 
ein  Anstoß  von  außen  kommt,  von  einem  Land,  wo  die  Ver- 
quickung der  alten  feudalen,  bürokratisc'hen,  polizeilichen 
Formen  mit  annähernd  modernen  bürgerlichen  Institutionen 
den  ersteren  ein  so  starkes  Übergewicht  gelassen,  daß  die 
Situation  zu  unmöglichen  Verwicklungen  führt.  Und  in  dieser 
glücklichen  Lage  seid  Ihr,  und  in  der  noch  glücklicheren,  daß 
Eure  Arbeiterbewegung  groß  und  stark  genug  ist^  hier  die  Ent- 
scheidung zu  geben,  und  damit,  wie  ich  hoffe,  für  Deutschland, 
Frankreich  und  Italien  den  Anstoß,  der  dort  nötig  ist  um  die 
viel  zu  früh,  sich  bildende  ,,eine  reaktionäre  Masse"  momentan 
wiederum  zu  sprengen,  und  statt  des  chronischen  reaktionären 
Drucks  einige  bürgerliche  Reformen  im  Sinne  der  Bewegungs- 
freiheit der  Massen  ins  Leben  zu  rufen.  Erst  von  dem  Tage  an, 
wo  Ihr  die  —  einerlei-  welche  —  Wahlreform  .erkämpft,  erst 
von  da  an  .hat  eine  Agitation  gegen  die  Dreiklassenwahl  in 
Prenßen  einen  Sinn.  Und  schon  jetzt  hat  die  Tatsache  daß  es 
m  Österreich  eine  W^ahlreform  irgendeiner  Art  geben  wird, 
da.'^  bedrohte  allgemeine  Stimmrecht  in  Deutschland  sicher- 
gestellt. Ihr  'habt  also  in  diesem  Moment  eine  sehr  bedeutende 
historische  Mission.  Ihr  sollt  die  Aiv^antgarde  des  europäischen 
Proletariats    bilden,    die    allgemeine    Offensive    einleiten,    die 

ffentlich  nicht  wieder  ins  Stocken  kommt  bis  wir  den  Sieg 
auf  -der  ganzen  Linie  errungen  —  und  Du  sollst  diese  Avant- 
garde führen  —  wenn  Du  da  nicht  baldigst  aufs  Land  gehst 
und   Dich   ausgiebiig  mit  neuen   Kräften  versorgst,   dann  ver- 

imst  Du  Deine  erste  Pflicht. 


104  Briefe:  April  1894  bis  Juli  181)5 


Und  diese  Pflicht  wird  um  so  emsthaftiger,  je  mehr  Du 
an  die  einzigen  Rivalen  denkst  die  Ihr  als  Avantgarde  haben 
könntet  —  die  Franzosen.  Du  schriebst  an  Louise  ich  möchte 
Dir  darüber  berichten.  Ich  habe  es  bis  heute  anfgeschoben^ 
M'eil  1.  T'uesy  vorige  Woche  von  Paris  vom  Glasarbeiterkongreß 
zurückkam  und  2.  vorgestern  Bonnier  bei  uns  war,  und  ich  erst 
hören  w^ollte,  was  d  i  e  erzählten.  Well,  soweit  ich  sehen  tann, 
liegen  die  Sachen  wie- folgt. 

Die  letzten  Wahlen  brachten  etwa  25  „Sozialisten'"  — 
Marxisten,  Broussisten,  Allemanisten,  Blanquisten,  Unab- 
hängige —  in  die  Kammer.  Gleichzeitig  vernichteten  sie  die 
bisherige  „radikale  Fraktion",  die  sich  auch  republicains 
socialistes  nennende  Gruppe,  namentlich  durch  Ausschluß  aller 
früheren  Führer.  Da  taten  sich  etwa  30  der  zu  dieser  Gruppe 
gehörigen  und  wieder  gewählten  zusammen  unter  Millerand 
und  Jaures  und  boten  den  „Sozialisten"  die  Fusion  an.  Es  war 
dies  ein  sehr  sicheres  Manöver  ihrerseits ;  denn  nicht  nur  waren 
sie  zahlreicher  als  die  Altsozialiston,  sondern  auch  einig, 
während  diese  in  x  Gruppen  gespalten,  Sie  wurden  also  wieder 
eine  respektable  Gruppe  von  50  bis  60  Mann  in  der  Kanmier, 
ohne  daß  sie  den  Altsozialisten  mehr  zu  bieten  brauchten  als 
ein  sehr  platonisches  soz[ialistisches]  Programm,  dessen  politisch 
radikale  Artikel  wie  die  allgemeine  Arbeiterfreundlichkeit  sie 
schon  früher  im  Programm  gehabt,  während  die  socialisation 
des  moyens  de  production  einstweilen  noch  unschuldige 
Zukunftsmusik  war  die  vielleicht  für  die  dritte  oder  vierte 
Generation  praktische  Bedeutung  bekommen  könnte,  früher 
sicher  nicht. 

Unsere  25  Altsozialisten  griffen  mit  beiden  Händen  zu. 
Sie  waren  nicht  imstande  Bedingungen  zu  stellen,  dazu  waren 
sie  viel  zu  uneinig.  Zwar  wollte  man,  wie  schon  bei  den  Wahlen, 
in  der  Kammer  zusammengehen,  aber  im  übrigen  sollten  die 
besonderen  OrganiBationen  alle  nebeneinander  bestehen 
bleiben;  welche  Gruppe  da  hätte  den  Neusozialisten  spezifische 
Bedingungen  stellen  wollen,  die  wäre  mit  den  anderen  in  Kon- 
flikt gekommen.  Und  zudem  hätten  es  keine  Franzosen  sein 
müssen,  um  bei  der  plötzlichen  Aussicht,  von  25  auf  55  oder 
t'tO  Mann  in  der  Kammer  anzuwachsen,  nicht  in  Begeisterung 
zu  geraten  und  über  dem  augenblicklichen  Schein  oder  wirk- 
lichen Erfolg  die  Gefahren  der  Zukunft  außer  Augen  zu  lassen. 


Briefe :  April  1894  bis  Juli  1895  105 


Was  Kuckuck,  die  Deutschen  renommieren  so  mit  ihren  44,  amd 
wir  haben  über  Nacht  55  wo  nicht  00!  La  France  reprend  ^a 
place  ä  la  tete  d'u  mouvement!*) 

Die  30  oder  35  Neusozialisten  sind  mit  dem  Sozialismus 
eine  Verstandesehe  eingegangen.  Sie  liätten's  ebenso  gern  auch 
nicht  getan,  aber  es  war  für  sie  das  Gescheiteste  den  Sprung  zu 
machen.  Sie  merken,  d'afi  sie  nun  einmal  ohne  die  Arbeiter  sich 
nicht  halten  können,  und  wohl  oder  übel  sich  an  diese 
anschließen  müssen.  Aber  ganz  freiwillig  ist  der  Anschluß  bei 
allen  anfangs  nidht  gewesen,  und  bei  manchen  gewiß 
auch  jetzt  noch  nicht. 

Von  den  Hauptrertretern  ist  Millerand  einer  der  geschei- 
testen und  ich  glaube  auch  aufrichtigsten,  aber  ich  fürchte  bei 
itm  sitzt  noch  manches  bürgerlieh-juristische  Vorurteil  fester 
als  er  selbst  weiß.  Politisch  ist  er  der  tüchtigste  Mann  der 
ganzen  Gruppe.  Jaures  ist  ein  Professor,  Doktrinär,  der  sich 
gern  reden  hört  und  den  die  Kammer  lieber  reden  hört,  als 
Guesde  oder  Vaillant,  weil  er  den  Herren  der  Majorität  doch 
verwandter  ist.  Ich  glaube  er  hat  die  ehrliche  Absicht  sidh  zu 
einem  ordentlichen  Sozialisten  zu  entwickeln,  aber  Du  weißt 
der  Tatendrang  'dieser  Neophyten  steht  im  direkten  Verhältnis 
zu  ihrer  Sachunkenntnis,  und  letztere  ist  bei  J.  sehr  groß. 
So  konnte  es  kommen,  daß  J.  in  Paris  denselben  Vorschlag  als 
sozialistisch  einbrachte,  den  Graf  Kanitz  in  Berlin  im  Interesse 
der  Junker  deponierte:  Verstaatlichung  der  Getreideeinfuhr 
zum  Zweck  der  Hochstellung  der  Kornpreise.  Und  da  bei  den 
Altsozialisten  der  Kammer  die  Sachunkenntnis  in  oeconomicis 
—  seit  Lafargues  Durchfall  in  Lille  ist  keiner  drin,  der  etwas 
davon  weiß,  —  ebenfalls  ziemlidli  hochgradig  ist,  so  konnte 
Guesde  sich  nicht  versagen,  wenigstens  einen  Teil  dieses  An- 
trages als  „sozialistisch'*  und  gegOiii  die  ,, Spekulation"  gerichtet 
zu  verteidigen.  Die  „Spekulation"  dadurch  zu  stürzen,  daß  man 
den  Getreidehandel  einer  aus  Panamaschwindlern  bestehenden 
Regierung  und  Regierungspartei  überträgt,  ist  allerdings  eine 
famos  sozialistische  Idee.  Ich  habe  den  Herren  audh  durch 
Bonnier  und  Lafargue  meine  Meinung  über  diesen  Riesenbock 
iinverhohlen  gesagt. 


*j   Frankreich  stellt   sich   wieder  an   seinen   Platz   an   der  Spitze  der 
Bewegung. 


106  Briefe :  April  1894  bis  Juli  1895 


Ich  habe  ihnen  ferner  gesagt:  die  Fusion,  statt  der  bloßen 
Allianz,  mit  den  Neusozi allsten  war  ein  vielleicht  unvermeid- 
liches Schicksal.  Aber  dann  haltet  die  Möglichkeit  im  AAige, 
daß  hier  bürgerliche  Elemente  vorliegen,  mit  denen  ihr  in 
prinzipiellen  Koaiflikt  kommen  könnt;  daß  also  eine  Trennung^ 
unvermeidlich  werden  kann.  Bereitet  euch  darauf  A'or,  dann 
kann  gegebenenfalls  die  Überführung  in  eine  einfache  Allianz 
leicht  erfolgen,  Uind  ihr  braucht  in  der  Überraschung  keine 
Dummheit  zu  machen.  Vor  allem,  wenn  die  Leute  in  der 
gemeinsamen  Fraktion  Dinge  vorbringen,  die  ihr  nicht  billigen 
könnt,  und  ihr  werdet  überstimmt,  so  behaltet  euch  vor,  diese 
Maßregeln  in  der  Kammer  nicht  d'urch  Reden  verteidigen  zu 
müssen,  sondern  im  Gegenteil  in  eurer  Presse  eure  abweisende 
Meinung  zu  be-gründen,  selbst  wenn  ihr  der  Einigkeit  zulieb 
für  diese  Dinge  stimmen  müßt.  — -  Nun,  wir  wollen  sehen. 
ob's  was  hilft. 

Also:  einerseits  sind  es  die  Neusozialisten,  die  den  ver- 
schiedenen Gruppen  der  Altsozialisten  eine  gewisse  Einigkeit 
aufnötigen.  Anderseits  wollen  die  Leute  im  Ausland'  es  ©ich 
nicht  einleuchten  lassen,  daß  nun  plötzlich  eine  Gruppe  von 
60  Mann  „aus  nichts"  entstanden  ist  und  daß  die  Hauptredner 
Millerand  und  Jaures  bisher  nicht  als  Sozialisten  bekannt 
waren;  daher  der  ganz  natürliche  Zweifel  an  der  Waschechtheit 
dieser  60,  namentlich  nach  dem  brillanten  Eindruck,  den  die 
französischen  Delegierten  in  Zürich  hinterlassen. 

Unter  der  Hand  gehen  die  Klüngeleien  und  Befehdungen 
der  verschiedenen  Sekten  ruhig  voran.  Namen tlic^h  klagen  die 
Marxisten  über  Vaillant,  der  viel  Propagandareisen  in  der 
Provinz  macht  und  dort  über  die  Marxisten  allerhand  falsche 
Verlästerungen  ausstreuen  soll.  Vaillant  ging  früher  mit  den 
Marxisten  fast  immer  zusammen,  aber  1.  ist  er  ein  strikter 
blanquistischer  Parteimann,  der  Parteibeschlüsse  unter  allen 
Umständen  durchführt,  und  seit  zwei  Jahren  existiert  Krakeel 
zwischen  Bl[anquisten]  und  Marxisten;  und  2.  gibt's  in  seinem 
Wahlkreis  viel  Possibilisten,  er  braucht  sie  und  daher  zum  Teil 
seine  Schwenkung  zu  diesen. 

Sehr  möglich  ist  es,  daß  die  neuen  Reaktionsmaßregeln  in 
Frankreich  die  Neusozialisten  weiter  treiben  und  allmählich 
eine  wirklich  soz[iail istische]  Fraktion  aus  den  60  wird.  Aber  das 
ist  eben  noch  nicht  wirklich  und  es  kann  auch  anders  kommen. 


Briefe :  April  1894  bis  Juli  1895  107 

Hier  geJit"s  den  alten  engliscLen  Schlendrian.  Die  ökono- 
mische wie  politische  Entwicklung-  treibt  die  Massen  der  engli- 
schen Arbeiter  mehr  und  mehr  in  unsrer  Richtung  voran,  aber 
bis  diese  aller  theoretischen  Anschauung-sweise  entwöhnten,  nie 
über  ihre  Nasenlänge  hinaussehenden  „Praktiker"  sich  über 
ihre  eigenen  Gefühle  und  Bedürfnisse  eiti  Bewußtsein  bilden, 
können  Jabre  vergehen,  es  sei  denn,  sie  werden  direkt  mit  der 
-Vase  darauf  gestoßen.  In  der  Zwischenzeit  blüht  unter  den 
„Filhrern"  die  politische  Mogelei  nach  bürgerlicih-parlamentari- 
scher  Art  lustig  fort  und  man  erlebt  da  täglich  neue  Wunder. 

Ludwng  ist  heute  im  Examen  zum  ^lember  (nicht  mehr 
bloß  licenciate)  of  the  Eoyal  College  of  Physicians.  Das  Ding 
dauert  14  Tage.  Nachiher  werden  wir  hoffentlich  bald  an  die 
See  gehen  können  —  wegen  Hausangelegenheiten  kann  ich  dies 
Jahr  nicht  von  England  weg. 

Luise  grüßt  herzlich,  sagt  von  Bösesein  sei  keine  Eede, 
nächstens  würdest  Du  die  Ursache  erfahren  warum  Du  nooli 
keine  Antwort  hast. 

Herzliche  Orüße  an  l>eine  P>au,  Adelheid,  Popp  und  alle 
Freunde  Dein  F.  E. 


52. 

Engels  an  Adler. 


London.  4.  August  94. 


Lieber  Victor 

Inliegender]  Brief  und  ein  Paket  wurden  hier  abgegeben, 
nebst  umstehendem  Anonymen*)  für  mich.  Wahi-scheinlich,  von 
dem  anarchist.  Philologen  Nettlau  \ — .— i  Wa^  mit  dem  Paket 
geschehen  soll   bestimmst  Du  wohl  gelegentlich. 

Ich  habe  Cerny**)  gebeten  Euch  die  wieklerholte  Bitte  des 
spanischen    Nationalrates    zu    überbringen,    ihnen  zu  ihrem  am 

*)  Das  auf  dei  Rückseile  des  Briefblattes  Ijefindliche  SchreiL>en 
lautet:  Sehr  geehrter  Herr!  Beiliegendes  Paket  und  der  dabei  befindliche 
Brief  gehört  Herrn  Dr.  Viktor  Adler  in  W^ien.  der  mich  vor  längerer  Zeit 
ersuchte,  dieselben  bei  Ihnen  abzugeben.  Das  Paket  enthält  Zeitungen, 
die  nicht  nach  Österreich  geschickt  werden  können;  den  Brief,  der  auch 
zirka  2  Pfund  Sterling  in  Geld  enthält,  ersuche  ich  Sie,  demselben  sicher 
zukommen  zu  lassen;  er  wird  dadurch  über  den  Inhalt  des  Pakets  in  ent- 
sprechender Weise  unterrichtet;  ich  weiß  seine  jetzige  Adresse  nicht  und 
lege  eine  2K'-Penny-Marke  bei.  Ihr  (Unterschrift  unleserlich). 

**)  Der  tschechische  Sozialdemokrat  Cerny  war  gelegentlich  des  Inter- 
nationalen Textilarbeiterkongresses  durch  London  gekommen. 


108  Briefe :  April  1894  bis  Juli  1B% 

29.  August  stattfindenden  Kongreß  ein  spanisch  oder 
französisch  abgefaßtes  kurzes  Glückwunschschreiben  zu 
schicken.  Ich  wiederhole  dies  vorsichtshalber.  Adresse: 

Pablo  Iglesias  Hernan  Cortes  8,  pral.    Madrid. 

Herzliche  Grüße  an  Deine  Frau  und  Dich 

Dein  F.  E. 

Louise  .und  Ludwig  grüßen  Dich  ditto  herzlichst. 

53. 

Engels  an  Adler. 

41  Kegents  Park  Road  N.  W.*) 

London,  14.  Dezember  1894. 
Lieber  Victor 

Deine  Briefe  vom  12.  und  26.  habe  ich  richtig  erhalten. 
Die  Geschichte  mit  K.  K.  ist  also  erledigt.  Für  Deine  Glück- 
wünsche zu  meinem  Geburtstag  herzlichen  Dank,  und  die  Ver- 
sicherung, daß  es  mir  in  meinem  Fünfundsiebzigsten  zum 
Bewußtsein  gebracht  und  zu  Gemüt  geführt  worden  ist,  wieeo 
ich  mir  die  von  Dir  gerügten  Unvorsichtigkeiten  nicht  mehr 
erlauben  darf.  Im  Gegenteil!  Ich  treibe  Diät  nacJi  Noten, 
behandle  meinen  Verdauungskanal  wie  einen  mürrischen 
bürokratischen  Vorge-'^etzten.  dem  man  immer  nach  der 
Pfeife  tanzen  muß,  und  lasse  mich  gegen  Husten.  Bronchial- 
katarrh und  dergleichen  einwickeln,  einheizen  und  überhaupt 
in  allen  Richtungen  mißhandeln,  ganz  wie  es  einem  krank- 
brüchigen alten  Mann  geziemt.  Genug  davon. 

Daß  ich  über  Bebeis  entschiedenes  Auftreten  nach  dem 
schlaffen  Parteitag  erfreut  w^ar,  brauch'  ich  Dir  wohl  nicht  erst 
zu  sagen.  Ebenso  darüber,  daß  Vollmar  niicli  indirekt  zwang, 
auch  ein  Wörtlein  in  der  Sache  mitzusprechen.  Wir  haben 
tatsächlich  auf  der  ganzen  Linie  gesiegt.  Erst  das  Abbrechen 
des  Kampfs  durch  Vollmar  nach  Bebeis  vier  Artikeln,  das 
schon  entschiedener  Rückzug  war;  dann  Abfuhr  durch  den 
Vorstand;  dann  Zurückweisung  der  Zumutung  an  die 
Fraktion,  sie  solle,  statt  des  Parteitage  entscheiden.  Also  die 
Niederlagen    hintereinander    in    dieser    dritten     unglücklichen 


*)  Engels'  Adresse  nach   dem  Umzug,  über  den  er  im  Brief  an  .Sorge 
vom   10.   November  1894  berichtet. 


Briefe :  April  1894  bis  Juli  1895  109 


Kampagne  Vollmars.  Das  sollte  doch  selbst  einen  Ex-Zuaven 
des  Papstes  genügen.  Dem  Liebknecht  habe  ich  in  der  Sache 
zwei  Briefe  geschrieben,  an  denen  er  keine  Freude  erlebt  hat. 
Der  Mann  wird  immer  hinderlicher.  Er  sagt  er  habe  noch  die 
besten  Nerven  in  der  Partei,  sie  sind  aber  auch  danach,  auch 
-eine  vorgestrige  Eede  im  Eeichstag  ist  schlecht.  Man  scheint 
das  auch  in  der  Regierung  zu  merken  und  will  ihm  offenbar 
durch  die  Majestät^beleidigung  die  er  a  posteriori  begangen 
haben  soll,  wieder  etwas  auf  die  Beine  helfen. 

Diese  Geschichte  übrigens  beweist,  daß  Wilhelm  und 
V.  Koller  entweder  total  verrückt  sind,  oder  aber  planmäßig  auf 
den  Staatsstreich  hinarbeiten.  Hohenlohe  beweist  sich  durch 
seine  Eede  als  ein  vollständig  versimpelter  schwachsinniger 
willenloser,  alter  Herr,  reiner  Strohmann  des  Herrn  v.  Koller. 
Dieser  ist  ganz  der  eingebildete  schneidige  bornierte  Junker, 
der  imstande  ist  sich  Wilhelmchen  vorzustellen  als  der  Mann, 
der  dem  "Umsturz"  ein  Ende  maoht  und  die  Intentionen  S[einer] 
Majestät  wegen  Wiederherstellung  der  könglichen  Machtvoll- 
kommenheit bis  aufs  Tüpfelchen  über  dem  i  durchführt.  Und 
Wilhelm  ist  imstande  zu  antworten:  Sie  sind  mein  Mann!  Wenn 
sich  das  so  verhält  —  und  jeden  Tag  gibt's  neue  Andeutungen 
in  dieser  Eichtung — dann  vogue  la  galere!*)  dann  wird's  lustig. 

Nun  aber  die  Haupteache.  Du  wunderst  Dich  nichts  von 
Louise  zu  hören.  Aber  dann  sei  doch  vor  allem  so  gut  und  ant- 
worte auf  die  allerdringendsten  Briefe  die  sie  Dir  geschrieben 
hat,  nicht  nur  wegen  der  Einrichtung  ihrer  Korrespondenz  von 
hier  aus,  ob  da  auch  noch  andere  korrespondieren  sollen  und 
wer?  —  sondern  speziell  wegen  des  offerierten  Geldes. 

Schon  vor  Monaten,  im  September  oder  Anfang  Oktober 
schrieb  sie  Dir:  &^  habe  sich  ein  Konsortium  gebildet  von  Leuten, 
die  außerhalb  der  Partei  stehn,  die  aber  Vertrauen  in  Dich  haben 
und  speziell  glauben  daß  Du  der  Mann  seist,  der  täglichen 
Arb[eiter]-Z[ei]t[un]g  auf  die  Wege  auch  des  finanziellen  Erfolgs 
zu  helfen,  vorausgesetzt  daß  Du  die  leitende  Stellung 
erhältst.  Sie  sind  also  bereit  für  die  tägliche  „Arbeiter- 
Zeitung"  eine  ansehnliche  Summe,  wie  es  heißt,  bis  etwa 
5000  fl.  Dir  zu  überweisen,  vorausgesetzt,  daß 

1.  Du  die  leitende  Stellung  bei  dem  Blatt  einnimmst, 


')  Auf  gut  Glück! 


110  Briefe :  April  1894  bis  Juli  1895 

2.  die  Sache  als  rein  geschäftlicher  Einschuß  behandelt  und 
regelmäßige  Zineen  bezahlt  werden, 

3.  alle  Verhandlungen,  Zahlungen  etc.  durch  Dich  in  Wien 
and  Louise  hier  vermittelt  werden. 

Dies  sind,  so  weit  ich  mich  erinnere,  die  Bedingungen  der 
Offerte.  Nun  ist  hierauf  ebensowenig  wie  auf  alle  späteren 
Briefe  Louisens  irgendwelche  Antwort  von  Dir  eingetroffen. 
Vorige  Woche  schrieb  sie  nochmals  und  bat  um  um- 
gehende Nachricht,  die  spätestens  Dienstag  11.  ds.  bier  sein 
mußte.  Vergebens.  Nun  sind  nur  zwei  Dinge  möglich:  Entweder 
bist  Du  in  Deiner  Korrespondenz  so  von  postalischen  und  an- 
deren Intrigen  umgarnt,  daß  es  faet  unmöglich  ist.  Dir  einen 
Brief  zuzustellen;  (xler  Deine  Abneigung  gegen  Brief beant- 
wortung  geht  so  weit,  daß  Du  lieber  dies  Geld  verlieret,  das  Dir 
geboten  wird,  als  daß  Du  an  Louise  schreibst. 

fFedenfalls  müssen  wir  wissen  woran  wir  sind.  Die  Leute 
drängen  auf  Bescheid,  denn  wenn  Du  auf  das  Geld 
verzichtest  legen  sie  es  wo  anders  an.  Wir  sind  also  genötigt 
diesen  Brief  an  Frau  Anna  P.*)  zu  schicken  mit  der  Bitte  ihn 
Dir  und  nur  Dir  persönlich  zu  behändigen,  und  bitten  jetzt, 
aber  auch  zum  allerletzten  mal  um  gefälligen  Be- 
scheid, ob  Du  wegen  des  Geldes  mit  uns,  respektive  Louise 
in  Verhandlung  treten  willst  oder  nicht.  W^nn  ja,  dann  sage  ihr 
wie  die  Briefe  an  Dich  zu  befördern  sind,  wir  antworten  dann 
„eingeschrieben". 

Louise  und  das  Kleine  sind  sehr  wohl,  das  Kleine  wachet, 
gedeiht  und  schreit,  sie  stillt  es  selbst  und  hat  mehr  als  genug. 
Sie  und  Ludwig  grüßen,  dilto  Dein 

F.  E. 

54. 

Adler  an  Engels. 

Wien,  17./12.  1894. 
Lieber  General! 
Dein  Brief,  den  mir  Pernerst[orfer]  vor  zwei  Stunden 
übergab,  hat  mich  in  eine  unbeschreiblidhe  Aufregung  versetzt. 
Ich  habe  nämlich  nicht  einen  einzigen  der  Briefe, 
die  von  dem  Gelde  handeln,  erhalten.  Das  ist  mi'r  nun  nicht 
etwa  wegen  des  Inhalts  allein,  der  mir  übrigens  wichtig  genug 

*)  Anna  Pem^rstorfer. 


Briefe:  April  1894  bis  Juli  1895  111 


ist,  unangenehm,  sondern  goiadezu  niederschmetternd  bezügliclir 

der  Unsicherheit  in  der  ich  offenbar  lebe Nun  ist  aber  die 

Frage,  w  o  h  i  n  w  a  r  e  n  d  i  e  B  r  i  e  f  e  a  d  r  e  s  s  i  e  r  t  ?  ?  [ — . — ] 

Zunächst  bitte  ich  Dich  mir  an  demselben  Tage,  mit  der 
nämlichen  Post  drei  Briefe  gleichgültigen  Inhalts  mit 
Adresse  vonLuise  geschrieben  an  meine  Wohnung, 
an  Popps  und  an  Pernerstorfer  zugehen  zu  lasssen  —  letztere 
unbedingt  verläßliche  Adresse  ist  wichtig,  damit  ich 
avisiert  bin,  daß  ein  Brief  zii  Hause  und  bei  Popp  sein  muß,, 
und  mit  welcher  Post  er  gekommen,  dann  kann  ich  viel- 
leicht recherchieren. 

Und  nun  das  Offert  selbst.  Wir  gehen  wie  ich  Louise  vor 
einigen  Tagen  schrieb  mit  ganz  ungenügendem  Fonds  an  das- 
Tagblatt,  für  das  sonst  die  größten  Chancen  da  sind.  Ein  1^- 
trag  von  5000  Fl.  ändert  die  Sache  wesentlich  zum  Günstigen; 
insbesondere,  wenn  er  nicht  öffentlich  ausgewiesen  wird,  den 
Fortgang  der  Sammlungen  also  nicht  hindert.  Unsere  Leute 
sind  trotz  aller  Belehrung  so  wenig  gewohnt  mit  Greld  umzu- 
gehen, daß  sie  meinen  die  7000  FL  die  sie  gesammelt  haben,, 
nehmen  nie  ein  Ende.  Wir  werden  dazu  am  l./I.  etwa  noch 
2000  Fl.  haben,  die  ich  von  verschiedenen  Leuten,  die  Aus- 
weisung nicht  brauchen,  erhalte,  und  w-eitere  2000  Fl.  durch 
Sammlung  haben.  Alles  das  ca.  11.000  bis  1*2.000  Fl.  ist  absolut 
als  f  o  n  d  p  e  r  d  u  gegeben.  Ich  habe  mich  trotz  aller  An- 
erbieten auf  Anteilscheine  etc.  nicht  eingela-s-sen  —  vestijgia 
terrent  *)  (An  Kredit  erhalten  wir  vom  Dinicker  30.000  Fl. 
für  fünf  Jahre  unkündbar.)  Einrichtung,  Reklame,, 
Probenummer  etc.  verschlingen  (Zeitungsstempel)  sehr  viel 
Geld  und  wir  werden  zu  schwimmen  haben,  wollen  wir  in  drei 
Monaten  lo.OOO  Ex[emplare]  erreichen  und  damit  aktiv  sein. 
Du  siehst  ich  verberge  Dir  nichts.  Aber  ebenso  kann  ich  sagen,, 
daß  ich  meine,  daß  im  Jahre  1896  die  Arb.-Z.  bereits  einen 
erheblichen  Reingewinn  abwerfen  wird:  die  jetzige  zweimal 
wöchentliche  Ausgabe  trug  1894  mehr  als  4000  Fl.  trotzaehr 
schlechter  Zeiten.  Ich  kann  das  angebotene  Darlehen 
also  mit  gutem  Gewissen  annehmen.  Was  die  Bedingungen 
betrifft,  so  bin  ich  Chefredakteur,  trage  der  Partei 
gegenüber  die  volle  Verantwortung  und  habe  die  uneinge- 
schränkte Leitung   des  Blattes.     Die  Formen,  in  welclien  das 


Die  Spuren  schrecken. 


112  Briefe:  April  1894  bis  Juli  1895 


Darlehen  gegeben,  verzinst  und  riickerstattet  werden  sollen, 
bitte  ich  mir  bekanntzugeben.  Daß  es  rein  geschäftlich 
behandelt  wird,  ist  natürlici  und  ich  bitte  nur  zu  erwnrken, 
daß  es  möglichst  lange  —  mindestens  zwei  Jahre  — 
unkündbar  bleibt  und  dann,  wenn  möglic,h  —  das  steht 
aber  in  zweiter  Linie  —  in  Eaten  rückzahlbar  ist. 

Ich  habe  mir  nicht  Zeit  genommen  mit  Popp  zu  sprechen, 
der  unser  Finajizmann  ist,  aber  ich  kann  ohne  weiteres  sicher 
sein,  d'aß  er  mit  dem,  was  ich  gesagt,  einverstanden  ist.  Daß 
Du  an  uns  gedacht,  denn  ganz  außerhalb  Deiner  Initiative  ist 
es  ja  doch  wohl  nicht  geworden.  Es  ist  uns  ein  ganz  ungeheurer 
Dienst. 

Ich  schließe  um  die  Post  nicht  zu  versäumen.  Über  die 
Korrespondenz  erhalte  ich  wohl  von  Luise,  die  ich  mit  den  Ihren 
grüße,  Antwort  auf  meinen  Brief. 

Bitte  vorläufig  alle  Briefe  durch  Pernerstorfer  gehen  zu 
lassen,  der  sie  sofort  besorgen  wird. 

Dich  herzlich  grüßend 

Dein  getreuer  Viktor. 

P.  S.  Habe  doch  noch  mit  Popp  gesprochen,  der  mit 
Obigem  ganz  einverstanden  ist.  Es  handelt  sich  also  nur  darum, 
daß  'die  Darlehensgeber  ihre  Bedingungen  fixieren.         V.  A. 

55. 

Engels  an  Adler. 

41  Regents  Park  Road  N.  W. 

London,  22.  Dez.  94. 
Lieber  Victor 

Also  endlich  sind  wir  mit  der  Geldofferte  so  weit  daß 
geschäftlich  verhandelt  werden  kann.  Louise  wird  Dir  Nälieres 
darüber  mitteilen. 

Was  hiesige  Korrespondenten  angeht  so  bitte  gib 
M.  Beer  eine  so  deutlich  von  allen  anderen  Korresp[ondenten] 
zu  unterscheidende  Chiffre,  daß  keine  Verwechslung  möglich. 
Der  Mann  ist  sehr  grüner  Junge  in  England  mit  galizisch- 
talmudistischer  Brille.  —  E.  B.*)  wird  schwerlich  viel  liefern 
können,  er  hat  schon  für  Vorwärts-Korrespondenzen  oft  wenig 
Zeit,  arbeitet  lieber  für  die  N.  Z.  **). 


)  Eduard  Bernstein. 
**)   „Neue  Zeit." 


Briefe :  April  1894  bis  Juli  1895  113 

Lafargue  f ra^t  an  ob  ihr  seine  Mitarbeiterschaft  brauchen 
könnt?  Ich  habe  ihm  gesagt  ihr  würdet  in  erster  Linie  an 
Frankel  denken  müssen,  doch  wisse  ich  nichts  Näheres  und 
würde  schreiben.  Er  —  Laf.  —  schreibt  lebhaft  und  interessant, 
aber,  wie  seine  Galluskorrespondenzen  im  Vorwärts,  nur 
französisch,  auch  seine  Frau  schreibt  nicht  deutsch 
und  spricht  es  auch  ziemlich  selten  und  nicht  so  fließend  wie 
Tussy.  Ob  euch  das  passen  kann,  dort  selbst  zu  übersetzen, 
weiß  ich  nicht.  Natürlich  würde  L.  auf  Honorar  reflektieren, 
da  ihm  seine  Deputiertendiäten  ausgegangen  sind;  auch  dar- 
über konnte  ich  ihm  nichts  sagen. 

Die  Sachen  auf  dem  Ko-ntinent  verwickeln  sich.  Während 
bei  euch  Wahlreform  sicher  —  und'  Steine  die  heut  einmal  ins- 
Rollen  kommen,  bleiben  nicht  so  bald  wieder  liegen  —  in  Ruß- 
land der  Anfang  des  Endes  der  zarischen  Allgewalt,  denn  diesen 
letzten  Thronwechsel  übersteht  die  Selbstherrsclierei  schwer- 
lich; in  Italien  treibt's  direkt  der  Revolution  zu,  die  der  Mon- 
archie den  Kopf  kosten  kann,  und  im  Deutschen  Reiche  will 
Wilhelmchen  mit  Gewalt  über  den  Halys  gehn  und  ein  großes 
Reich  zerstören.  Einen  besseren  Moment  für  Tagblattgründung 
kannst  Du  Dir  nicht  wünschen;  Stoff  genug,  und  zwar  solchen, 
bei  dem  die  anderen  Parteien  schief  sehn  und  schief  urteilen 
müssen,  während  unsere  Partei  die  einzige  ist  die  ihn  von  vorn- 
herein richtig  beurteilen  wird. 

Und  nun  vergnügte  Weihnachten  Dir,  Deiner  Frau  (die 
ich  herzlich  zu   grüßen  bitte)  und  Deinen  Kindern !  Dein 

F.  E. 


Adler  an  Engels. 


56. 

Wien,  25./12.  1894. 


Lieber  General! 

Auf  meinen  Brief  vom  18./12.  habe  ich  noch  keine  Ant- 
wort, ebensowenig  von  Luise  wegen  der  Korrespondenz.  Daß 
der  Brief  an  letztere  angekommen,  weiß  ich  von  Karpeles,  bin 
aber  unruhig,  ob  Du  meinen  erhieltest.  Ich  schrieb  nicht  nur 
über  das  Geldoffert,  sondern  bat  auch  mir  behilflich  zu  sein 
bei  Eruierung  des  Briefmarders.  Sollte  dieser  Brief  nicht 
angekommen  sein    bitte  ich  um  sofortige  Nachricht. 

Ich  wollte  die  erste  Nummer  wäre  schon  erschienen  und 
das   Werke]  im  Gang  —  lange  hielte  ich  die  Arbeit  und  Auf- 


lU  Briefe  :  April  1894  bis  Juli  1895 


regung  nicht  aus.  Unsere  Aussichten  werd'en  aber  täglich  besser, 
"die  Stimmung  für  das  Blatt  ist  glänzend  und  sein  Erscheinen 
wird  von  allen  Kreisen  mit  Spannung  erwartet.  Wenn  ich 
nur  nicht  unter  der  Erwartung  zurückbleibe  —  ich  schwanke 
zwiscJicn  Größenwahn  und  Kleinmut  — 

Luise  bitte  ich  dringend,  da  sie  sich  ja  für  die  Korrespon- 
denz opfern  will,  s  o  f  o  r  t  zu  schreiben  —  einen  kurzen  über 
die  politische  Situation  orientierenden  Brief,  der  einführt,  ohne 
den  Schein  zu  haben,  pedantisch  ex  ovo  zu  beginnen. 

Verzeih,  daß  ich  abbreche,  obwohl  ich  manches  zu  er- 
zählen hätte,  ich  bin  todmüde. 

Hoffentlich  habe  ich  bald  Nachricht  von  Euch. 

Herzlich  Dein  .  V.  A. 

Gruß  an  Luise  und  Ludwig. 


57. 

Adler  an  Engels. 


Wien,  27./12.  1894. 


Lieber  General! 

Nochmals  Dank  für  die  Intervention  in  der  Pumpaffäre, 
worüber  ich  Luise  schreibe. 

Was  Lafargue  anlangt,  so  habe  ich  gar  nichts  gegen 
französische  Korrespondenzen,  selbst  wenn  sie  seine 
Klaue  haben;  ich  werde  viel  übersetzen  müssen.  (Wenn  Du 
Vandervelde  zu  sehen  bekommst,  bitte,  rede  i'hm  zu,  daß  er 
meine  Bitte  uns  zu  korrespondieren  nicht  abweist,  oder 
Anseele  bestimmt;  Belgien  ist  für  uns  sehr  wichtig.)  Natürlich 
v.-ird  Frankel  regelmäßig  schreiben,  aber  Leo  ist  schrecklich 
ledern  und  pedantisch,  aber  gewissenhaft.  Laf.  ist  ein  Korre- 
spfondent]  wie  ich  es  für  den  Vorwärt»  bin,  selten,  aber  dann 
ohne  Ende.  Nun  wäre  mir  ja  mit  seinen  geistsprühenden  Ar- 
tikeln sehr  gedient,  wenn  ich  -nicht  fürchtete,  daß  er  mir  die- 
selben schickt,  die  Vorwärts  und  Echo  haben  und  wir 
dann  dasselbe  in  zwei  verschiedenen  Übersetzungen  in  drei 
Blättern  zu  lesen  kriegen.  Kannst  Du  arrangieren,  daß  er  mir 
etwa  zweimal  im  Monat  oder  bei  besonderen  Anlässen  schreibt, 
wäre  es  mir  ein  großer  Gefallen;  wir  können  nur  nicht  viel 
zahlen,  20  Frcs,  für  den  Artikel  müßte  ihm  genügen.  Noch 
eines:  Ich  möchte  gern  ein  Feuilleton  haben:  Karl  Marx 
in  Wien  und  habe  einige  Anhaltspunkte  in  dem  Becherschen 
,, Radikale'^  gefunden     und  lasse  die  Zeitungen  weiter  durch- 


Briefe :  AprU  1894  bis  JuÜ  1895  115 

stöbern.  Mit  Becher  habt  Ihr  Euch  später  überworfen,  er  oder 
Jellinek  schimpft  am  2T./9.  48.  gräulich  über  Buren  Wiener 
Korrespondenten.  Vielleicht  ist  Dir  der  Name  dieses  Korresi^on- 
denten  erinnerlich  oder  hast  Du  sanst  irgendwelche  Daten  über 
den  Aufenthalt  von  K.  M.  in  Wien?  Das  könnte  eine  sehr  inter- 
essante Arbeit  werden  *).  Für  baldige  Antwort  wäre  ich  se!hr 
dankbar. 

Ich  lerne  jetzt  erst  kennen,  was  arbeiten  heißt.  Schlafen 
wird  mir  mehr  und  mehr  zur  Nebensache.  Wenn  wir  die  ersten 
14  Tage  hinter  uns  haben   sind  wir  aius  dem  Wasser! 

Herzlichen  Neujahrswunsch  von  Emma  und  mir!!  und 
vergelt's  Gott,  daß  Du  uns  Österreichern  so  mit  Rat  und  Tat 
beistehst. 

Es  grüßt  Dich  herzlichst  Dein  getreuer      Viktor  Adler. 

58. 
Engels  an  Emma  Adler. 

41  Regents  Park  Road  N.  W. 

London,  1.  Jänner  95. 
Verehrte  Frau  Adler! 

Vielen  Dank  für  Ihre  liebenswürdigen  Glückwünsche  und 
Ihres  Mannes  und  Ihrer  Kinder!  Ich  erwidere  sie  von  Herzen 
und  hoffe  daß  das  neue  Jahr  ein  recht  erfreuliches  in  jeder 
Beziehung  für  Sie  sein  möge.  Ihnen  und  Viktor  eröffnet  sich 
heute  ein  neues  aussichtsvolles  Tätigkeitsfeld,  wir  werden 
dort  ja  auch  wähl  Ihre  Hand  nicht  selten  entdecken  können. 
Diesem  neuen  Unternehmen,  der  täglichen  Arbeiter-Zeitung, 
wünschen  wir  alle  hier  den  besten  praktischen  Erfolg. 

Bitte  sagen  Sie  Viktor,  dessen  letzten  Brief  ich  dieser 
Tage  beantworten  werde,  daß  ich  heute  per  Post  „einge- 
schrieben'* an  ihn  ein  Ex[emplar]  des  3.  Bandes  von  Marx' 
Kapital  abgesandt  habe,  das  bei  Ankunft  dieses  wohl  schon 
angekommen  sein  sollte**).  Es  ist  wie  dieser  Brief  adressiert 
Windmühlgasse  30  A. 

Nochmals  herzliche  Glückwünsche  und  Grüße  an  Sie  alle 
von  Ihrem  F.  Engels. 


*)  Der  Artikel  über  „Karl  Mar.x  in  Wien"  kam  tatsärlilich  zustande, 
er  hat  Max  Bach  zum  Verfassf-r  und  erschien  am  24.  .Jänner  1895  in  dei 
,, Arbeiter-Zeitung"  über  „Karl  Marx  in  Wien"  vergleiche  auch  den  Artikel 
von  G.  Hermann  (Carl  Grünberg)  im  „Kampf",  I.  Band,  Seite  266  (1908). 
*•)  Der  III."  Band  von  Marx'  „Kapital"  in  Victor  Adlers  Bibliothek 
trägt  die  Widmung:  „Seinem  Victor  Adler,  London  l./l.  95." 


116  Briefe:  April  1894  bis  Juli  1895 

59. 

Engels  an  Adler. 

41  Regent 6  Park  Road  N.  W. 

London,  9.  Jan.  95. 
Lieber  Victor 

Ich.  schreibe  Dir  heute  eigentlich  nur  um  Dir  anzuzeigen 
daß  Sonntag  Abend  Louise  unter  Streifband  ein  Ms.*)  ent- 
haltend drei  Notizen,  an  die  Ee[daktion]  der  A.  Z.  10  Sohwarz- 
sp[anier]ötr[aße]  abgeschickt  hat;  sie  enthalten 

1.  etwas  über  Baumwollindustrie. 

2.  etwas  über  die  Aktion  des  Parlamentary  Committee 
des  Trade  Unions  Kongresses  (teilweise  schon  antizipiert 
in  der  A.  Z.). 

•  3.  etwas  aus  einer  Pariser  Korrespondenz  der  Mrs.  Craw- 
ford.  Da  Ihr  früher  mit  M[anuskript]sendungen  unter  Streif- 
band Schwierigkeiten  hattet,  halte  ich  diese  Anzeige  für  ge- 
boten. 

Sollte  man  wieder  versuchen  Euch  nachträglich  Porto- 
zü schlag  zu  erheben  unter  dem  Vorwand  fdie  jSendung  als 
Brief  zu  behandeln,  so  wäre  es  an  der  Zeit  Beschwerde  zu 
führen.  Nach  dem  im  eng{I[ischen]  Posthandbuch  amtlich  gege- 
benen Auszug  (in  Anführungszeichen  gegeben)  sind  unter 
Streifband  zu  I/2  Penny  für  zwei  Unzen  Porto  versendbar  im 
internationalen  Verkehr  des  Weltpostvereins  „manujscript  of 
books  or  other  literary  productions".  Dae  muß  doch  auch  dort 
durchzusetzen  sein,  oder  wnll  die  A[rbeiter]-Z[edtung]  freiwillig 
zwanzigfaches  Strafporto  (2^/2  Penny  für  eine  V2  XTnze)  zahlen? 

Ferner.  Wir  erfahren  aus  Rußland,  daß  im  „Europäischen 
Boten"  (Vestnik  Jevropy),  Dezemberheft,  ein  äußerst  scharfer, 
für  rueisische  Zensurverhältnisse  sogar  unerhört  scharfer  Artikel 
über  Alexander  III.  steht  —  da  Deine  Frau  ja  vollkommen 
russisch  kann,  wäre  es  nicht  der  Mühe  wert,  ihn  anzusehen  und 
womöglich  zu  verwerten?  Es  wäre  ja  ein  Hauptspaß,  wenn  auch 
in  solchen  Dingen  die  „Arbeitea-'-Zeitung"  den  bürgerlichen 
Blättern  den  Rang  abliefe. 

Bis  jetzt  sind  von  der  A[rbeiter]-Z[eitung]  hier  Nummer 
1  und  3 — 8  angekommen,  alle  adressiert  an  Ludwig  Freyberger, 
dazu  ein  Ex[emplar]  Nummer  1  adressiert  von  Deiner  Hand 
an  mich.  Der  Übergang,  in  der  Anordnung  des  Stoffes,  von  dem 
zweimal  wöchentlichen  zum  täglichen  Blatt  ist  noch  nicht  ganz 

*)  Manuskript. 


Briefe :  April  1894  bis  Juli  1895  117 

vollendet,  man  sieht  aber  daß  er  im  Gang  ist,  und  daß  die 
Donnerstag-Abend-Nummer  und  die  Sonntagsnummer  jede  mit. 
besonderem  Cbaratter  und  für  ein  bej^onderes  Publikum  sieh  von 
den  anderen  Nummern  herausheben.  Daß  Du  einstweilen  keine 
Zeit  hast  zu  Leitartikeln,  begreift  ^ich,  es  ging  Marx  bei  der 
N[euen]  Rh[einischen]  Z[6itung]  ebenso,  im  ganzen  ersten  Monat 
sind  nur  zwei  von  ihm,  und  im  ganzen  ersten  Vierteljahr  kaum 
fünf.  Der  Chefredakteur  hat  anfangs  genug  zu  tun  mit  dem 
Organisieren,  und  das  ist  das  wichtigste.  Im  übrigen  macht  sich 
das  Blatt  schon  recht  gut  für  die  erste  Woche,  was  noch  fehlt 
wird  sich  schon  finden. 

Vandervelde  haben  wir  Deinen  Auftrag  am  l./l.  aus- 
gerichtet, wo  er  einen  Augenblick  hier  war. 

Laura  habe  ich  das  Nötige  aue  Deinem  Brief  mitgeteilt, 
aber  seitdem  nichts  mehr  darüber  gehört,  vielleicht  hat  Lafargue 
Dir  direkt  geschrieben. 

Wegen  .,Marx  in  Wien  1848'"  kann  ich  Dir  nicht  viel 
Material  liefern.  Ich  will  mal  die  N[eue]  Eh[einische]  Z[&itung] 
wegen  Daten  nachsehen,  auch  ob  ich  Näheres  wegen  Becher  finde. 
Unser  Wiener  Korreepondent  war  ein  gewisser  Müller-Tallering 
aus  Koblenz,  fanatisch  wie  alle  Koblenzer,  und  ein  Krakeeler 
erster  Klasse;  nach  seiner  Rückkehr  nach  Deutschland  kam  er 
erst  nach  Köln  Ende  49  und  fing  Krakeel  mit  dem  roten  Becker 
an,  kam  dann  nach  London,  hatte  wegen  einer  unbedeutenden 
persönlichen  Geschichte  (die  bei  etwas  weniger  Verkehrtheit 
seinerseite  durch  zwei  Minuten  Gespräch  auszugleichen  war) 
sofort  Krakeel  auch  mit  uns,  und  ließ  sogleich  eine  Broschüre 
von  Stapel:  Vorgeschmack  der  Diktatur  von  Marx  und  Engels. 
Dann  ging  er  nach  Amerika,  versuchte  gegen  uns  zu  stänkern, 
verscholl  aber  sehr  bald.  Seine  Wiener  Berichte  bis  zum  Einzug 
von  Windischgrätz  waren  übertrieben  gewaltrevolutionär  was 
gegenüber  der  überall  mächtiger  auftretenden  Reaktion  uns 
ganz  recht  war;  was  er  aber  über  Persönlichkeiten  sagte, 
konnten  wir  damals  aus  der  Ferne  nicht  beurteilen,  war  aber 
sieher  stark  durch  persönliche  Strömungen  beeinflußt.  Wir 
mußten  für  derlei  in  so  bewegter  Zeit  eben  unseren  Korrespon- 
denten viel  Verantwortlichkeit  und  im  Verhältnis  auch  viel  Frei- 
heit lassen.*) 


*)  Diese  Mitteilung  wurde  in  dem  Artikel  der  „Arheiter-Zeilung' 
über  „Karl  Marx  in  Wien"  vom  24.  Jänner  1895  benützt.  Vergleioho  aiul 
die  Mitteilungen    im  Brief  von  Engels  vom  12.  Jänner  1895. 


118  Briefe :  April  1894  bis  Juli  1895 

Noch  eine  politische  Nachricht,  die  Dir  vielleicht  nützen 
kann,  wenn  wieder  die  Eede  auf  derartigem  kommen  sollte: 
vorgestern  abend  war  hier  politisohes  Gerede  von  Minii&terkrise : 
der  Schatzkanzler  Ilaroourt  wollte  abdanken.  Er  desavouierte 
aber  gleichzeitig :  die  Behauptung,  wie  sie  aufgestellt 
sei  (as  made),  sei  absolut  erfunden.  Es  war  nioiht  wahrscheinlich 
daß  ein  Schatzkanzler  allein  sich  zurückzieht  im  Moment  wo 
er  drei  Millionen  Pflund  Überschuß  hat.  also  ein  brillantes 
Budget  machen  kann.  Die  Sache  war  aber  die :  Harcourt  ist  f  ü  r 
Einführung  von  Diäten  für  die  Parlamentsmitglieder  v  o  r  der 
Auflösung;  und  findet  starken  Widerstand  im  Kabinett  — 
wahrscheinlich  auch  bei  der  Königin.  Er  scheint  mit  Rücktritt 
gedroht  und  Konzessionen  in  obiger  Frage  erlangt  zu  haben, 
jedenfalls  ist  einstweilen  alles  wieder  im  Geleise.  Du  siehst  wie 
hier  die  Dinge  in  der  offiziellen  Welt  wacklig  stehn. 

Wegen  des  Geldes  sind  alle  erforderlichen  Schritte  ge- 
schehen, ich  denke  in  ein  paar  Tagen  wirst  Du  Näheres  erfahren 
und  hoffentlich   auch  das  Bare  erhalten. 

Luise  will  noch  ein  paar  Zeilen  drunter  schreiben.  Sie 
und  Ludwig  grüßen.  Ditto  Dich  und  Deine  Frau 

Dein  F.  Engels. 

Am  5.  d.  schickten  wir  Dir  drei  Ex[emplare]  von  engl[i- 
schen]  soz[ialistischen]  Blättern:  Clarion,  Justice,  Labour 
Leader  (Keir  Hardie)  und  werden  auch  fernerhin  diverse 
N[uramern]  von  diesen  von  Zeit  zu  Zeit  schicken,  damit  Du 
selbst  wählen  kannst,  welches  Dir  am  besten  gefällt.  Bitte, 
sieh  sie  an. 

(Nachschrift  Louise  Kautskys  zu  dem  Brief  von  Engels  vom  9.  Jänner  1895.) 
L.  V. 
Die  finanziellen  Geschäfte  sind  nun  soweit  erledig-t,  daß 
das  Geld  nun  bald  in  Wien  sein  wird.  Eines  möchte  ich  doch  noch 
ersuchen,  laß  mir  und  Ludwig  eine  Legitimationskarte  aus 
stellen.  Ludwig  läßt  sich  als  temporäres  Mitglied  im  National- 
Liberal  Club  aufnehmen,  dem  T.  liberalen  Club  hier  in  der 
Nähe  des  Parlaments,  wo  alle  Liberalen,  Radikalen  M.  P.  ver- 
kehren und  Journalisten  aller  Schattierungen.  Hier  muß  man 
sich  für  alles  legitimieren  können  und  Euch  schadet  es  ja 
nichts.  Herzlichen  Gruß  von  den  drei  L.  L.  L. 


Briefe:  April  1894  bis  Juli  1895  119 


60. 

Engels  an  Adler. 


London,  12.  Jan..  95. 


Lieber  Victor. 

Ich  scliri^b  Dir  zuletzt  am  9.  ds.  nach  Schwarzspa-nier  *). 
Heute  nur  der  Sicherheit  halber,  die  wiederholt^  Anzeige,  daß 
Louise  gestern  per  eingeschriebenen  Brief  an  Dich  Ferstel- 
gasse 10,  einen  Cheque  abgesandt  hat  für  3500  Gulden,  gezogen 
am  10.  ds.  von  der  Anglo-Foreign  Banking  Company,  Limited, 
auf  die  Union  Bank  in  Wien,  an  die  Ordre  von  Dr.  Victor 
Adler,  payable  dans  le«  huit  jours  **). 

Hast  Du  denselben  richtig  eAalten  so  bitte  gib  Luise 
durch  zwei  Zeilen  Nachricht  damit  die  Leute  hier  in  Kenntnis 
gesetzt  werden  können  zur  Beruhigung.  Das  formale  Dokument 
mit  den  diversen  Unterschriften  kann  dann  nachkommen. 

Hast  Du  den  Cheque  aber  nicht  erhalten,  so  stürze  ja 
gleich  zur  Unionbank  und  i>top  payment***).  Der  internationale 
Postverkehr  läßt  leider  keine  Wertdeklaration  resp[ektive]  Ver- 
.sioherung  zu,  daher  hier  eine  ge^visse  Ängstlichkeit. 

Wegen  Marx  habe  ich  in  der  X.  Rh.  Ztg.  nachgesehen, 
ich  finde  nur  dies:  Die  N[umme]r  vom  25.  Aug[u'St]  1848  zeigt 
an,  daß  „K.  M.  gestern  auf  einige  Tage  nach  Wien  abgereist  ist", 
(Nämlich  nicht  von  Köln,  er  war  schon  fort,  idh  glanbe,  er  ver- 
anlaßte  von  Hamburg  aus  daß  dies  hineingesetzt  wurde.)  Und 
dann  später  von  Wien,  81.  August  die  Nachricht,  daß  Marx 
gestern  im  Wiener  Arbeiterverein  in  der  Josefstadt  über  die 
sozialen  Verhältnisse  Westeuropas  einen  Vortrag  hielt  (nach 
ihm  sprach  Stift  im  selben  Verein)  (N.  Rh.  Ztg.,  6.  Sept[em- 
ber]),  und  nach  der  N[ummer]  vom  8.  Sept[ember]' sprach  Marx 
am  2.  Sept[ember]  „in  der  Versammlung  des  Ersten  Wiener 
Arbeitervereines  über  soziale  ökonomische  Zustände''.  —  Das 
ist  alles.  Inzwischen  war  am  7.  Sept[ember]  in  Berlin  die  ent- 
scheidende Abstimmung  über  den  Steinschen  Antrag,  das  Mini- 
sterium Hansemann  stürzte  und  der  Konflikt  war  da,  und  M. 
kam  eiligst  zurück.     Am    12.  Septfember]    schrieb  er  wieder 


*)    Als    die     „Arbeiter-Zeitung"    Tagblatt    wurde,     befand    sich    die 
Redaktion   Schwarzspanierstraße   10,  die  Administration    Ferstelgasse  6. 
**)   Zahlbar  in  acht  Tagen. 
***)  Verhindere  die  Auszahlune. 


120  Briefe :  Aprü  1894  bis  Juli  1895 


einen  Leitartikel  für  die  dent^elben  Nachmittag  erscheinende 
N[umme]r  vom  13.  SeiJt[ember]  1848. 

Gestern  abciul  hat  Louise  wieder  zwei  Notizen  untei' 
Streifband  abgeschickt.     Dein  F.  E. 

Clarion  tind  Lahour  Leader  heute  wieder  an  die  Eed.  ab- 
gegangen. 

Dir  und, Deiner  Frau  noch  meinen  schönsten  Dank  für 
den  prächtigen  Kalender! 

61. 

Adler  an  Engels. 

Wien,  am  33./J.  1895. 

Lieber  General! 

Für  Deine  beiden  Briefe  und  Deine  Mitwirkung-  beim 
Darlehen  sage  ich  Dir  besten  Dank.  Wir  sind,  nicht  zuletzt 
•dank  Eurem  Eingreifen,  daß  wir  uns  z%\'ar  mit  Ach  aber  ohne 
Krach  werden  durohw^ursteln  können.  Das  Blatt  geht  sehr  gut, 
das  heißt  wir  sind  viel  weiter,  als  wir  um  diese  Zeit  zu  sein 
hoffen  durften.  Ich  rechnete  für  Anfang  Februar  auf  10.000 
und  wir  drucken  jetzt  an  Wochentagen  15.000  an  ISonntagen 
22.000,  ohne  daß  sehr  viel  zurückkommt. 

Redaktionell  bin  ich  noch  immer  nicht  zufrieden.  Da? 
Blatt  ist  noch  immer  zu  ernist,  zu  wenig  wienerisch.  Prinzipielle 
Plutzer  dürften  nicht  allzu  viele  unterlaufen  sein,  obwohl  ich 
die  Augen  überall  haben  muß,  damit  nichts  passiert.  Der  Nach- 
richtendienst würde  weit  besser  sein,  wenn  ich  mich  an  bürger- 
liche Journalisten  statt  an  unsere  Genossen  wenden  könnte; 
die  sind  alle  so  schlechte  KorreS'pondenten,  wie" ich  selber.  Uns 
interessiert  alle  weit  mehr  das  Gewicht  der  Sache  als,  daß  sie 
neu  ist.  Nun  kann  man  in  Wien  aber  absolut  nicht  ä  la  Vor- 
wärts arbeiten,  der  die  Oasimiriaide  mit  einem  Leitartikel  eine 
halbe  Woehe  später  abgetan  hat.  Ja,  unsere  eigenen  Leute  sind 
verrückt  genug,  ausführliche  Originaltclegramme  zu  verlangen! ! 

Dazu  müßte  ich  in  Paris  und  Berlin  Gelddepote  errichten 

denn  unsere  Leute  können  uns  nichts  vorschießen  —  abgesehen 
davon,  -daß  die  Sache  schweres  Gekl,  das  wir  nicht  haben, 
kostete.  Ich  erzähle  Dir  das  nur,  damit  Ihr  seht,  was  von  uns 
erwartet  und  beansprucht  wird.  Ich  kann  mir  voi-stellen,  daß 
das  Blatt  Di  eh  sehr  sonderbar  anmuten  wir^;  und  doch  ist  es. 
wie  gesagt,  noch  immer  zu  wenig  Klatsch blatt. 


Briefe :  April  1894  bis  Juli  1895  121 

Mit  der  Redaktion  scheine  icli  ganz  ^t  gefahren  zu  sein. 
Austerlitz  ist  eine  Arbeitskraft  allerersten  Ranges,  zieht  wie 
ein  Roß  und  versteht  sofort,  was  man  will.  Er  schreibt  nur  noch 
zu  gebildet.  Daß  ich  sehr  selten  dazu  komme  Artikel  zu 
schreiben,  hast  Du  richtig  erraten.  Die  Arbeitslast  ist  eine 
furchtbare  und  daß  meine  Nerven  sie  aushalten,  macht  ihnen 
alle  Ehre.  Mein  Papierkorb  kostet  mich  weit  mehr  Arbeit  als 
das  Blatt  und  ich  soll  eigentlich  jede  Zeile  lesen  bevor  sie  in 
Druck  geht.  An  mancher  Lokaluotiz  redig:iere  ic'h  länger  als 
m.ich  ein  Artikel  Zeit  kosten  würde.  Hier  steht  für  uns  der 
Krakeel  im  Schöße  der  Klerikalen  im  Vordergrund.  Unsere 
Haltung  wird  sehr  beachtet  und  beide  Parteien  zitieren  uns 
lustigerweise  als  Autorität.  Die  Christlichsozialen  sind  für  uns 
unbezahlbar,  vielleicht  nur  noch  in  Belgien  haben  sie  dieselbe 
Wichtigkeit  —  sie  sprengen  uns  den  ungeheuren  Block  der 
klerikalen  Bauernschaft  und  machen  uns  den  Weg  frei.  Darum 
folgen  wir  allen  Phasen  so  genau,  was  Euch  vielleicht  nicht 
recht  verständlich  ist. 

Für  die  Korrespondenzen  bin  ich  L.  K.*)  sehr  dankbar. 
Bisher  habe  ich  wie  Ihr  gesehen,  alle  gedruckt,  bis  auf  die 
Anarchistengeschichte,  die  das  offizielle  Korrespondenzbüro 
erst  gemeldet  und  dann  dementiert  hatte:  sie  flößte  mir,  offen 
gesagt  recht  wenig  Vertrauen  ein  und  ich  wußte  nicht  recht, 
was  daraus  zu  machen. 

Die  Wirren  im  englischen  Ministerium  werden  hier 
Differenzen  über  das  Marinebudget  zugesdhrieben ;  was  ist 
denn  an  der  Sachet)  ? 

Von  den  englischen  Zeitungen  kann  ich  leider  nicht  so  viel 
Gebrauch  machen  als  ich  möchte,  mehr  noch  als  die  Zeit^  fehlt 
mir  der  Raum.  Nur  bitte  mir  mitzuteilen,  ob  Clarion  und 
Justice  von  Euch  stammen?  Der  Clarion  bekommt  nämlich 
Change    und  zwar  seit  lange. 

Sehr  dankbar  werde  ich  für  recht  ungeschminkte  Kritik 
de«  Blattes  sein ;  ich  verliere  nach  und  nach  das  Auge  für  das 
Canze    und  -die  Wirkung  allein  ist  doch  nicht  maßgebend. 

Bitte  Luise  zu  sagen,  daß  sich  die  Quittung  verzögerte, 
weil  Reumann,  der  unterschreiben  mußte,  nicht  da  war. 


t)  Deine    Andeutung,    daß   es    sich    um  die    Diätenfrage 
handle,  erklärt  mir  einiges,  aber  nicht  alles. 


'')  Louise  Kautsky-Freyberger. 


122  Briefe :  April  1894  bis  Juli  1895 

Jetzt  bin  ich  so  weit,  daß  icti  meinen  Monat  Arrest  um 
ca.  acht  Wochen  hinausgeschoben  habe  und  die  Wahl  habe, 
wann  ich  hineingehen  will.  Dafür  habe  ich  Samstag  eine  ekelige 
Ehrenbeleidigung^saohe,  die  ich  nicht  abschütteln  kann; 
hoffentlich  ist  sie  mit  Geld  abzumachen.  Man  "darf  nämlich  bei 
uns  einen  Lumpen  nicht  Lump  nennen,  selbst  wenn  man  es 
beweisen  kann  *). 

Die  Legitimationskarten  schließe  ich  gleich  bei  und  bitte 
Dich    die  drei  L   herzlich  zu  grüßen.  Dein  getreuer 

(Adlers  Unterschrift   ist   im  Orifrtnalbrief  ausgeschnitten.) 

62. 

Engels  an  Adler. 

London,  28.  Jan.  95. 
Lieber  Victor 

Meinen  und  unser  aller  besten  Glückwunsch  zum  raschen 
Erfolg  der  Arbeiter-Zeitung!  Ich  habe  es  zwar  erwartet,  aber 
die  Bestätigung  durch  die  Tatsache  ist  doch  auch  viel  wert. 

Wegen  der  Redaktion  laß  Dir  nur  keine  grauen  Haare 
wachsen.  In  den  ersten  Wochen  bist  Du  als  Organisator  viel 
wichtiger  denn  als  eigentlicher  Redakteur.  Ist  erst  alles  im 
richtigen  Geleise,  dann  wirst  Du  schon  dahin  kommen,  der 
Zeitung  den  richtigen  Ton  beizubringen.  Du  hast  ganz  recht,  bis 
jetzt  ist  das  Blatt  noch  bissei  zu  ernst,  etwas  mehr  Humor, 
besonders  auf  der  ersten  Seite,  die  in  der  zweiwöchentlichen 
Ausgabe  immer  sehr  lustig  war,  könnte  nicht  schaden.  Indes 
das  wird  schon  kommen. 

Originaltelegramme  aus  fremden  Hauptstädten  könnten 
Euch  absolut  nichts  nützen.  Dazu  gehörte  in  jeder  Stadt  ein  voll- 
ständig organisiertes  Büro  mit  einem  Ohefkorrespondenten, 
der  die  Sache  berufsmäßig  speziell  für  Euch  betriebe;  kostet 
hier  in  London  600  bis  1000  Pfund  jährlich,  und  würde  Euch 
doch  nicht  die  besten  Nachrichten  aus  den  Minister-  resp[ektive] 
Oppoeitionschefkreisen  besorgen,  aus  dem  einfachen  Grund  weil 
man  diese  Art  Nachrichten  nur  dann  privilegiert,  vor  allen 
andern,  ehe  sie  Gemeingut  geworden,  erhält,  wenn  man  den  Mit- 
teilenden Gegendienste  durch  Unterstützung  und  Veröffent- 
lichung fertig  gesandter  Reklameartikel  leisten  kann.  Das  kann 


*)  Zu  dieser  Verhandlung  ist  es  nicht  gekommen.  Vergleiche  „Arbeiter- 
Zeitung"  vom  27.    Jänner  1895. 


Briefe :  April  1894  bis  Juli  1895  123 


aber  unsere  Presse  grade  nicht.  x\lso  in  Naclirichten  aus  offi- 
ziellen Kreisen  werdet  Ihr  nie  mit  den  großen  Bourgeois- 
blättern konkurrieren  können,  die  nicht  nur  die  Quellen  mono- 
polieieren,  sondern  auch  den  Nachrichtendienst  auf  groß- 
industriellem   Fuß    organisieren  können. 

Ein  Pech  ist  für  Euch  daß  Ihr  Eucli  in  den  ersten  Wochen 
mit  den  kleinen  Landtager  zu  begnügen  habt,  aber  der  Reichs- 
rat fängt  ja  bald  wieder  an,  und  da  bekommt  Ihr  Stoff  genug, 
und  da  wird  Dein  persönliches  Eingreifen  auch  nötig  werden. 

Die  Differenzen  im  hiesigen  Ministerium  sind  nicht  weit 
her,  was  praktische  Folgen  angeht.  Die  liberale  Regierung  um- 
faßt soviel  Schattierungen  als  Köpfe.  Der  Liberalismus  ist, 
seitdem  die  große  Bourgeoisie  und  mit  ihr  die  Whigaristokraten 
und  die  Universitätsideologen  ins  konservative  Lager  abge- 
schwenkt (fing  an  nach  1848,  stieg  nach  der  Reform  1867,  wurde 
sehr  entschieden  seit  der  Homerule  bill)  vorwiegend  ein  Sam- 
melsurium aller  Sekten  und  Sektenschrullen  dieses  sektenreichen 
Landes.  Und  da  jede  einzelne  Sekte  ihre  absonderliche  Schrulle 
für  die  einzige  Panazee  hält  —  ewig'er  Krakeel. 

Mächtiger  als  der  Krakeel  aber  ist  die  Gewißheit,  daß  nur 
Zusammenhalt  nach  außen  hin  sie  noch  ein  paar  Monate  an  der 
Regierung  halten  kann.  Und'  da  ist's  reiner  Zufall,  welche 
(Strömung  gerade  die  Oberhand  bekommt. 

Von  den  drei  Arbeiterblättern,  die  hier  noch  bestehen, 
habe  ich  Dir  abwechselnd  Ex[emplare]  geschickt.  Da  Du  den 
Clarion  im  Tausch  erhälst,  verschone  ich  Dich  mit  diesem 
in  Zukunft.  Viel  steht  ioi  allen  dreien  nicht,  es  ist  aber  immer 
gut,  wenn  Du  von  Zeit  zu  Zeit  eine  Nummer  zu  sehen  bekommst. 
Der  Labour  Leader  ist  ein  Vergötterungsinstitut  für  Keir 
Hardie,  er  ist  ein  schlauer  durchtriebener  Schotte,  falscher 
Biedermann  und  Klügler  ei"ster  Klasse,  möglicherweise  aber 
zu  schlau  un<l  zu  eitel.  Seine  Geldquellen,  zur  Haltung  des 
Blatts,  sind  sehr  zweifelhafter  Natur,  was  bei  der  Neuwahl  un- 
angenehm werden  kann. 

A  propos.  Die  Donnerstag-Abend-N[umme]r  (konfiszierte) 
ist  in  keinem  einzigen  Ex[emplar]  hiehergekommen.  Ich 
möchte  aber  doch  den  Artikel  K.  M.  in  Wien*)  lesen.  Kannst 
Du   mir  nicht  noch  ein  Ex[emplar]   besorgen?    Übrigens  ist   es 

)   „Karl   Marx  in   Wien."   (Vergleiche  Anmerkungen   zu  den  Briefen 
vom  27.   Dezember  1894  und  9.    Jänner  1895.) 


124  Briefe :  April  1894  bis  Juli  1895 

eine  namenlose  Frechheit,  anzuzeigen,  die  Konfiskation  sei 
so  brillant  wirksam  gewesen,  daß  ihr  Euch  die  Kosten  einer 
zweiten,  ganz  zwecklosen  Ausgabe  ersparen  könnt.  Ihr  habt's 
grut  in  Österreich,  sage  das  in  Preußen  und  Du  bekommst  gleich 
drei  Umsturzvorlagen  an  den  Kopf. 

Wir  schicken  Dir  so  oft  Interessantes  drin  steht,  Auszüge 
aus  den  Pariser  Briefen  der  Crawford.  Ich  mache  Dich  be- 
sonders aufmerksam  drauf.  Sie  ist  seit  über  40  Jahren  in  Paris, 
kennt  jede  Maus  persönlich,  hat  Dossiers  über  den  Lebens- 
lauf aller  Politiker,  und  ist  eine  gute  Beurteilerin  von 
Charakteren.  An  Personalkenntnis  kommt  ihr  kein  Mensch 
in  Paris  gleich,  und  daher  wirst  Du  gut  tun,  auch  solche 
derartige  Artikel,  die  augenblicklich  unverwendbar  sind,  für 
späteres  Nachschlagen  zurückzulegen.  Sie  hat  noch  immer  und 
alle  ihre  radikalen  und  republikanischen  Freunde  in  den 
Schmutz  der  Korruption  eintauchen  gesehen,  und  ist  dadurch, 
Bourgeoise  wie  sie  ist,  den  Sozialisten  merkwürdig  zugewandt 
worden.  Nur  von  einem  läßt  sie  sich  nicht  abbriai,gen:  daß 
J.  Guesde  ein  Schwiegersohn  von  Marx  ist. 

Gestern  ging  Dir  wieder  ein  Auszug  ihrer  Korres- 
p[ondenz]  zu. 

Louise  freut  sich  besonders  über  die  entschiedene 
Zurückweisung-  der  Frauenvereinspetitionen  —  siehe  Clara 
Zetkins  Artikel  in  Donnerstags  Vorwärts-Beilage.  Clara  hat 
recht  und  hat  die  fest  und  lang  bekämpfte  Aufnahme  des 
Artikels  doch  durchgesetzt.  Bravo  Clara! 

Gruß  von  Louise  und  Ludwig  und  dem  Baby,  das  immer 
vor  Vergnügen  brüllt  wenn  die  Arbeiter-Zeitung  konmit  und 
Deinem  F.  E. 

63. 

Engels  an  Adlei-*). 

London,  16.  März  1895. 
]Jeber  Victor 
Hiemit  sogleich  die  verlangte   Auskunft.   Sombarts    Ar- 
tikel**)   ist    recht    gut     nur   leidet  seine  Auffassung  de?  Wert- 


*)  Diesen  Brief  hat  Victor  Adler  in  der  Marx-Festnummer  des 
„Kampf"  (I.  Jahrgang,  Heft  6,  März  1908)  veröffentlicht.  Seine  dort  gegebene 
Erläuterung  ist  im  zweiten  x\bschnitt  des  vorliegenden  Heftes  unter  dem  Titel 
„Ein  Biief  an  Friedrich  Engeb"  wiedergegeben    (Nr.  73). 

**)  Werner  Sombart  „Zur  Kritik  des  ökonomischen  Systems  von  Karl 
Marx".  Archiv  für  soziale  Gesetzgebung   und  Statistik.  Band  VH.   S.  555  ff, 


Briefe:  April  1894  bis  Juli  1895  125 

gesetzes  an  einiger  Enttäuschung  von  wegen  der  Lösung  der 
Profitratenfrage.  Er  hatte  offenbar  auf  ein  Wunder  gerechnet, 
und  findet  statt  dessen  das  einfach  Rationelle,  das  alles  nur 
nicht  wundertätig  ist.  Daher  seine  Reduktion  der  Bedeutung 
des  Wertgesetzes  auf  Durchsetzung  der  Produktivkraft  der 
Arbeit  als  entscheidender  ökon[omischer]  Macht.  Das  ist  viel  zu 
allgemein  und  unbestimmt.  —  Sehr  gut  ist  der  Art[ikel]  vom 
kleinen  Konrad  Schmidt  im  Soz[ial]pol[itisohen]  Zentral- 
blatt*). E.  Bernsteins  Art[ikel]**)  waren  sehr  konfus,  der 
Mann  ist  noch  immer  neurasthenisch  und  dabei  schmählich 
überarbeitet,  hat  zuviel  Verschiedenes  in  der  Hand,  ließ  die 
Sache  liegen,  und  wurde  dann  plötzlich  von  K.  K.***)  um  den 
Artikel  getreten. 

Da  Du  im  Loch  Kapital  II  und  III  ochsen  willst  so  will 
ich  Dir  zur  Erleichterung  einige  Winke  geben. 

Buch  IL  Abschnitt  I.  Lies  Kap[itell  1  gründlich,  dann 
kannst  Du  2.  und  3.  Kap[itel]  leichter  nehmen,  Kap[itel]  4 
wieder  als  Resümee  genauer;  5.  und  6.  sind  leicht  und  beson- 
ders 6.  behandelt  nebensächliches. 

Abschnitt  IL  Kap[itel]  7 — 9  wichtig.  Besonders  wichtig 
10.  und  11.  Ebenso  12.,  13.,  14.  Dagegen  15.,  16.,  17.  zunächst 
nur  für  kursorische  Lektüre. 

Abschnitt  III.  Ist  eine  ganz  ausgezeichnete  Darstellung 
des  hier  seit  den  Physiokraten  zum  erstenmal  behandelten 
Gesamtkreislaufs  von  Waren  und  Geld  in  der  kapitalist[ischen] 
Gesellschaft  —  ausgezeichnet  dem  Inhalt  nach,  aber  furchtbar 
schwerfällig  der  Form  nach,  weil  1.  zusammengeflickt  aus  zwei 
Bearbeitungen  die  nach  zwei  verschiedenen  Methoden  ver- 
fahren, und  3.  weil  Bearbeitung  Nr.  2  in  einem  Krankheits- 
zustand gewaltsam  zu  Ende  geführt  wurde,  wo  das  Hirn  an 
chronischer  Schlaflosigkeit  litt.  Das  würde  ich  mir  auf- 
bewahren bis  ganz  zuletzt,  nach  erster  Durcharbeit 
von  Buch  III.  Es  ist  auch  für  Deine  Arbeit  noch  am  ersten 
entbehrlich. 


*)  Konrad  Schmidt  „Der  dritte  Band  des  Kapital".  ..Sozialpolitisches 
Zentralblatt",  Band  IV,  Seite  255  ff.  —  Vergleiche  hiezu  auch  Fr.  Engels 
letzte  Arbeit:  „Ergänzung  und  Nachtrag  zum  dritten  Buch  des  „Kapital". 
„Neue  Zeit".  XIV/1,  Seite   Hf. 

**)    Eduard   Bernstein:    ,,Der   dritte   Band   des   Kapital".    ..Neue    Zeit", 
XIII/1,   Seite  333  ff. 

***)  Karl  Ka.utsky. 


126  Briefe :  April  1894  bis  Juli  1895 

Dann  das  dritte  Buch. 

Hier  ist  wichtig:  Im  I.  Abschnitt,  Kap[itel]  1 — 4, 
dagegen  für  den  allgemeinen  Zusammenhang  weniger 
wichtig,  also  zunächst  nicht  viel  Zeit  darauf  zu  verwenden, 
Kap[itel]  5,  6,  7. 

Abschnitt  II.  Sehr  wichtig  Kap[itel]  8,  9,  10.  Kursoriisch 
ZV.  behandeln  11  und  12. 

Abschnitt    III.     Sehr     wichtig,    alles,  13 — 15. 

Abschnitt  IV.  Ebenfalls  sehr  wichtig,  aber  auch  leicht 
zu  lesen  16 — 20. 

Abschnitt  V.  Sehr  wichtig  Kap[Ltel]  21—27.  Weniger 
Kap[itel]  28.  Wichtig  Kap[itel]  29.  Im  ganzen  unwichtig  für 
Deine  Zwecke  Kap[itel]  30 — 32,  wichtig  sobald  es  sich  um 
Papiergeld  etc.  handelt,  33  und  34,  über  internationalen 
Wechselkurs  wichtig  35,  sehr  interessant  für  Dich 
und  leicht  zu  lesen  36. 

Abschnitt  VI.  Grundrente.  37  und  38  wichtig.  Weniger, 
aber  doch  mitzunehmen  39  und  40.  Mehr  zu  vernachlässigen 
41 — 43.  (Differentialrente  II,  Einzelfälle).  44 — 47  wieder 
wichtig  und'  meist  auch  leicht  zu  lesen. 

Abschnitt  VII  sehr  schön,  leider  torso  und  obendrein 
auch  mit  starken  Spuren  von  Schlaflosigkeit. 

So,  wenn  Du  hiernach  die  Hauptsache  gründliich  'und  das 
weniger  wichtige  zunächst  oberflächlich  durchnimmst  (am 
besten  vorher  die  Hauptsachen  aus  Bd  I  nochmals  zu  lesen) 
so  wirst  Du  einen  Überblick  über  das  Ganze  bekommen  und 
nachher  die  vernaohlä;ssigten  Stellen  auch  leichter  verarbeiten. 

Deine  Nachrichten  über  das  Blatt  haben  uns  sehr  gefreut. 
Die  politische  Wirkung-  ist  die  Hauptsache,  die  finan- 
zielle folgt  schon  und  wird  sehr  erleichtert  und  beschleunigt 
sobald  jene  gesichert.  Ich  sehe  mit  Vergnügen  Deine  Hand  in 
den  Wahlreformnotizen  der  ersten  Seite  —  da  liegt  das  fulcrum 
für  die  entscheidende  Wirkung. 

Ich  bin  wieder  ein  bischen  lahm  von  wegen  der  alten 
Geschichte,  die  periodisch,  besonders  im  Frühjahr  mich  etwas 
plagt,  doch  ist's  weniger  als  früher  und  leichter,  in  ca 
14  Tagen  denk  ich  ist's  vorbei,  ohne  daß  ich  wie  93  und  94 
Seeluft  brauchen  muß. 

Die  hiesige  Bewegung-  resümiert  sich  dahin:  In  den 
Massen  geht  der  instinktmäßige  Fortschritt  seinen  Gang,  die 


Briefe :  April  1894  bis  Juli  1895  127 


Tendenz  wii-d  einf^ehalten ;  sowie  es  aber  dahin  kommt, 
diesen  Instinkt  und  dieser  triebmäßigen  Tendenz  bewußten 
Ausdruck  zu  geben,  geschieht  dies  durch  die  Sektenführer  in 
einer  so  dummen  und  bornierten  Weise,  daß  man  rechts  und 
links  Ohrfeigen  austeilen  möchte.  Aber  dies  ist  nun  einmal  die 
richtige  angelsächsische  Methode. 

Viele  Grüße  Dein  F.  E. 


64. 

Adler  an  Engels. 

Bezirksarrest  Eudolfsheim.   15./6.    1895. 

Lieber  Generali 
In  wenigen  Tagen  ist  meine  Haft  abgesessen.  Dank 
meinem  Entchluß,  einmal  auch  mir  zu  leben  und  aller^ 
,, Zeitliche''  für  ein  paar  Wochen  abzuschütteln,  ist  mir  die  2eit 
vom  18.  Mai  bis  jetzt  zu  einer  so  genußreiehen  und  ersprieß- 
lichen geworden,  wie  keine  andere  seit  vielen,  vielen  Jahren. 
Ich  habe  Kapital  II  und  III  ganz  durchgearbeitet  und  fast 
ganz  den  I.  Band  und  „Zur  Kritik"'  repetiert.  Ich  gestehe,  daß 
insbesondere  in  II  mir  mitunter  der  Atem  ausging,  aber  III 
entschädigt  reichlich.  Der  III.  Abschnitt  gab  mir  das  Gefühl 
des  Rausches,  wie  ihn  der  Ausblick  auf  einem  mühsam  erreichten 
Berggipfel  gibt,  wo  man  plötzlich  sieht,  we  man  gegangen 
und  warum.  Auf  die  Gefahr  hin,  daß  Du  mich  im  Verdacht 
hast,  die  Einsamkeit  habe  mich  überschnappen  gemacht,  muß 
ich  Dir  erzählen,  wie  der  Eindruck  der  Erhabenheit 
alles  Andere  überwog.  Und  Marx  selbst  hat  in  diesem 
Gefühle  geschrieben,  das  zeigt  die  wahrhaft  sieghafte 
Sprache,  in  der  alle  die  abschließenden  Stücke  geschrieben 
sind.  Selbstverständlich  wird  durch  den  II.  und  III.  Band 
das  Verhältnis  zum  I.  ein  ganz  anderes.  Jedes  ^System  ist  ein 
geschlossener  Ring,  und  wer  es  darlegt  muß  ihn  an  einem 
Punkt  öffnen ;  begriffen  wird  es  erst,  wenn  der  Ring  wieder 
geschlossen  ist.  —  Wie  Alle,  habe  auch  ich  die  Lücken,  die 
Wiederholungen,  die  abgerissenen  Gedankenfäden  schmerzlich 
empfunden.  Und  doch  gebe  ich  Dir  nun,  nachdem  ich  durch 
bin,  ganz  recht,  daß  Du  getreu  wie<lergogeben,  was  Du 
gefunden,  ohne  viel  abzuschleifen,  zu  feilen  und  wegzulaseen, 
sondern  nur  mit  treuer,  liebender   Hand  verbunden   hast,  was 


128  Briefe  :  April  1894  bis  Juli  1895 


zerriösen  dalag.  Abgesehen  davon,  daß  wir  literarisch  genommen 
ein  Recht  an  dem  ungekürzten  Text  haben,  ist  es  ein  Ersatz 
für  den  Mangel  an  Vollendung  und  Rundung,  daß  wir  in  die 
Arbeitsmethode  und  Denkmetho<le  des  Mannes  hineinsehen, 
sehen,  wie  er  mit  seinem  Stoffe  ringt,  die  Gedanken  gleichsam 
in  statu  nascendi  überkommen.  Dieses  intime  Interesse  am 
Denker  entschädigt  für  den  Mangel  an  Rundung  des  Gedanken- 
ganges und  es  kommt  noch  eines  dazu:  der  Dank  für  den,  der 
in  unerhörter,  beispielloser  Selbstlosigkeit  das  Riesenwerk 
hingestellt  und  rekonstruiert.  Dieses  persönliche  Element 
machte  auf  mich  wiederholt  einen  geradezu  rührenden  Ein- 
druck; man  spürt  nicht  nur  den  Mitarbeiter,  man  spürt  den 
Freund. 

Was  die  Welt,  was  die  Bewegung'  Dir  an  Dank  schuldet, 
wird  sie  Dir  oft  noch  sagen;  ich  will  Dir  nur  als  Mensch,  als 
einzelner  herzlich  danken  für  das,  was  ich  persönlich  durch 
Deine  Arbeit  gewonnen. 

Nun  freilich  kommt  auch  gleich  eine  Aufgabe  oder 
eigentlich  deren  zwei.  Erstens  für  die  Wissenschaft:  ist  jetzt 
m[eines]  E[rachtens]  neben  und  auf  Grund  von  les  Oeuvres  de 
K.  M.  darzustellen  „Foeuvre"  de  K.  M.,  eine  geschichtliche 
Darstellung  seiner  Leistung  zu  geben.  Wer  das  machen  wird? 
Du  hast  andere  Dinge  noch  in  Fülle  zu  tun,  die  nur  Du  leisten 
kannst,  und  von  den  unsern  scheint  mir  Ede  zu  viel  Detaillist 
und  Karl  steckt  in  der  Historie.  Schmidt  kenne  ich  zu  wenig, 
um  ihn  beurteilen  zu  können.  Aber  einer  wird  drangehen 
müssen,  freilich  nicht  gleich.  Denn  Zeit  wird  jeder  brauchen 
bis  er  das  Ganze  assimiliert  hat.  Dann  aber  zweitens,  was 
mir  weit  mehr  am  Herzen  liegt:  wie  nun  den  Inhalt  des 
Ganzen  dem  Proletariat  zum  Bewußtsein  bringen,  wenigstens 
in  dem  Grade,  wie  es  der  I.  Band  besitzt?  Das  ist  noch  weit 
schwerer.  Das  Beste  und  Wichtigste  hast  Du  in  „Utopie  z[ur] 
Wissensch[aft]''  geleistet,  aber  Du  hast  es  mit  einer  Diskre- 
tion, ich  kann  es  nicht  anders  nennen,  getan,  für  die  jetzt  der 
Grund  weggefallen  ist.  Aber  wer  ist  reich  genug,  um  die 
Tausendpfundnote  auf  Kleingeld  zu  wechseln?  Karl  hat  mit 
dem  I.  Band  m[eines]  E[rachtens]  sein  Ziel  nicht  erreicht  und 
obwohl  er  seitdem  gelernt  hat,  sehr  populär  zu  reden  (Erf. 
Progr.),  so  kann  ich  das  Gefühl  nicht  loswerden  dabei,  daß  er 
sich   die  Herablassung   zum  gemeinen,   unstudierten  Volke  zu 


Briefe  :  Apri]  1894  bis  Juli  1895  129 

^ehr  merken  läßt.  Das  ist  aber  nun  nicht  anders  und  er  wiid 
v;ohl  dran  müssen. 

Daß  Sombart  an  einem  KarJ  Marx  arbeilet,  weißt  Du 
wohl  schon?  Was  es  werden  eoll,  ob  Darstellung  oder  Kritik, 
weiß  ich  nicht.  Von  den  Kathedermenschen  ist  er  wohl  der 
einzige,  der  dazu  berufen  ist. 

Für  mich  beginnt  natürlich  jetzt  erst  die  Arbeit  des  Ver- 
dauens.  Ich  hatte  zu  kämpfen  genug,  um  durchzukommen,  da 
ich  nicht  nur  kurzatmig  bin  in  der  Abstraktion,  sondern  mir  in 
Kredit  und  Banksachen  die  elementarsten  Vorkenntnisee 
fehlen.  Aber  jetzt  will  ich  das  nachholen  und  hoffe  bald  festen 
Boden  unter  den  Füßen  zu  haben.  — 

Politisch  steht's  bei  uns  vortrefflich.  Nicht  nur  ist 
irgendeine  Sorte  von  Wahlrecht  errungen,  sondern  die 
Koalition,  jenes  System,  daß  immer  zu  fürchten  war  als  eine 
der  echwersten  Gefahren,  hat  sich  daran  zu  Tode  gestrampelt. 
Das  Ministerium  wird  nächstens  fliegen;  da  man  sich  bei  uns 
wie  die  polnischeii  Juden  immer  mit  der  rechten  Fland  ans 
linke  Ohr  greift,  natürlich  nicht  über  die  Wahlreform, 
sondern  über  irgendeinen  nationalen  Dreck.  Aber  sie  sind 
fertig  und  alle  bürgerlichen  Parteien  haben  ebenso  an 
Ansehen  eingebüßt,  wie  wir  gewonnen  haben.  Die  Wahlreforra 
des  Subkoraitece  mit  ihren  schäbigen  Unmöglichkeiten  hat  das 
Gute,  daß  sie  die  Antisemiten  und  ihre  „Demokratie" 
demaskiert  hat.  Was  für  ein  Wahlrecht  wir  kriegen?  Wahr- 
scheinlich Taaffe,  im  schlimmsten  Falle  eine  ungeteilte 
fünfte  Kurie.  Jedenfalls  kriegen  wir  mehr  Mandate,  als  wir 
anständig  besetzen  können  und  das  macht  mir  die  meisten 
Sorgen.  Dadurch,  daß  wir  wenig  wirklich  tüchtige  Leute  haben, 
kommen  die  Jüngels,  die  sich  uns  anhängen  und  von  sich  reden 
machen,  obenauf.  Die  Kerls  können  „sich  räuspern  und 
spucken",  drängen  manche  brave  Arbeiter,  die  alles  können, 
nur  nicht  kunstgerecht  ,, spucken",  in  den  Hintergrund.  Doch 
vertraue  ich  auf  die  Gesundheit  unserer  Leute  und  daß  sie 
ihnen,  wenn's  zum  Klappen  kommt,  den  Weg  weisen.  An 
mir  soll'ß  nicht  fehlen,  ich  bin  ohnehin  schon  berüchtigt  als 
Massenmörder  der  ,, Intelligenzen". 

Das  Blatt  geht  gut  und,  wenn  Du  es  liest,  wirst  Du 
sagen  müssen,  daß  ee  auch  während  meiner  Haft  nicht  schlechter 
war,  wie  sonst.     Ich   bin  geradezu  stolz  darauf,  daß  ich  mich 


130  Briefe :  April  1894  bis  Juli  1895 

fast  überflüssig  gemacht  habe.  Ich  sage  —  fast,  denn  es  hapert 
schon  manches  und  es  wird  gut  sein,  wenn  [ich]  wieder  die 
Zügel  in  die  Hand  nehme.  Aber  idie  Tradition  ist  geschaffen  und 
dann  habe  ich  das  ungeheure  Glück  gehabt,  einen  Redakteur 
zu  finden  von  seltener  Tüchtigkeit  und  unerhörter  Arbeits- 
kraft: A  u  s  t  e  r  1  i  t  z,  merk  Dir  den  Xamen,  der  Mann  wird 
von  sich  reden  machen.  Bis  zum  ersten  Jänner  war  er  Buch- 
halter und  Geschäftsführer  in  einem  Exporthaus;  nebenbei 
Organisator  der  Wiener  Handlungsgehilfen.  Er  hat  noch  ein 
wenig  den  Literaten  in  den  Knochen,  aber  er  ist  ein  braver  Kerl 
und  wie  gesagt  eine  phänomenale  Arbeitskraft.  Sonst  klappt 
freilich  noch  nicht  alles,  aber  es  wird  hoffentlich  werden. 
Jedenfalls  haben  wir  es  in  den  paar  Monaten  zu  einem  Blatte 
gebracht,  das  überall  und  von  allen  ernstgenommen  wird,  sogar 
von  den  Inserenten,  den  Geschäftsleuten.  Zum  Herljst  hoffen 
wir  drei  Seiten  Inserate  an  Wochentagen  zu  haben  und  sind 
dann  mit  12  Seiten  im  ganzen  redaktionell  und  finanziell  au< 
dem  Wasser. 

Von  Dir  höre  ich  seit  langem  kein  Wort,  selbst  Luise  ist 
offenbar  ganz  Mutter  geworden  und  schreibt  nichts. 
Hoffentlich  geht's  Euch  allen  gut.  Offenbar  denkt  Ihr  schon  an 
die  seaside?*)  Wenn  ich  nur  loskönnte,  das  ist  meine  Privat- 
utopie, ein  paar 'Wochen  mit  Dir  an  der  See!  Xun,  wird's  nicht 
heuer,  so  übers  Jahr,  wenn  der  Kongreß  tagi; ;  der  wdrd  wohl 
etwas  ledern  werden,  fürchte  ich. 

Na,  jetzt  habe  ich  aber  genug  von  Deiner  Zeit  genommen; 
lies  den  Brief  in  Fortsetzungen  auf  Raten  (für  die  Warnung 
iet  der  Schluß  ein  gut  gewählter  Ort.)  Wenn  Du  Zeit  findest, 
mir  eine  Zeile  zu  schreiben,  wie  Dein  Befinden  ist,  und  was 
Du  treibst,  so  tue  es  ja! 

Grüße  L.  L.  u.  L.  und  sei  herzlich  gegrüßt 

von  Deinem        V.  Adler. 

W^ann  icli  den  Brief  hinausschwärzen  kann,  weiß  ich 
nicht.  Ich  kriege  zwar  Besuche,  aber  neuestens  sieht  man  mir 
auf  die  Finger.  Die  Trottel  bilden  sich  nämlich  fest  ein,  ich 
arrangiere  von  hier  alle  Demonstrationen,  und  ich  bin  stolz 
darauf,  daß  alles  ohne  mich  so  am  Schnürl  geht ! ! 

'')  Meeresküste.  ,  .  .      . 


Briefe :  April  1894  bis  Juli  1895  131 

65. 

Adler  an  Engels. 

Wien,  am  13./7.  1895. 
Lieber  Engels! 
Soeben  wurde  entschieden,  daß  ich  im  Laufe  nächster 
Woche  einen  Urlaub  von  ca.  14  Tagen  antreten  kann.  Xun 
möchte  [ich]  diese  Zeit  dazu  benützen,  um  Dich  in  Eastbourne 
aufzusuchen.  N'eben  dem  Wunsch,  Dich  wieder  einmal  zu 
sehen  und  mit  Dir  zu  sprechen,  habe  ich  nocli  als  Parteimensch 
sehr  triftigen  Grund  Deinen  Eat  einzuholen,  und  zwar  aus- 
führlicher als  das  schriftlich  möglich  ist.  Wir  werden  im  Herbste 
entweder  vor  Wahlen  stehen  oder  vor  einer  entscheidenden 
Parteiaktion,  die  nach  allen  Seiten  überlegt  sein  will.  Und 
w^enn  es  Wahlen  —  mit  unserer  Beteiligung  —  gibt,  werden 
wir  sehr  große  Schwierigkeiten  zu  überwinden  haben  innerhalb 
der  Partei,  insbesondere  was  das  Verhältnis  zu  Tschechen  und 
Polen  angeht.  Ich  möchte  nun  nicht  einen  Plan  fassen  ohne 
Deinen  Eat  —  wenn  es  Dir  also  nicht  sehr  ungelegen  ist,  so 
hoffe  ich  Dich  in  kurzer  Zeit  zu  sehen*).  Bis  dahin  grüßt  Dich, 
und  falls  sie  bei  Dir  sind  Freybergers  herzlich 

Dein  getreuer  Dr.  V.  Adler, 

loh   schreibe    nach   London,     da    ich    Dein^e    Eastbourner 
Adresse  nicht  weiß. 


*)  Engels  war  im  März  189.5  an  einem  Krebsleiden  erltrankt,  das, 
von  der  Speiseröhre  ausgehend,  rasch  um  sich  griff.  Der  Arzt  von  Engels, 
Dr.  Freyberger,  verständigte  Viktor  Adler  über  die  ernste  Gefahr,  von  der 
Engels  selbst  nichts  wußte.  Adler  entschloß  sich,  nach  England  zu  fahren, 
um  den  verehrten  Freund,  wie  er  mit  Sicherheit  wußte,  zum  letztenmal 
zu  sehen.  Um  ihn  nicht  etwa  durch  diesen  Besuch  auf  die  Gefahr  aufmerksam 
zu  machen,  in  der  er  schwebte,  schrieb  Adler  obigen  Brief,  der  der  letzte 
war,  den  er  an  ihn  richtete.  Viktor  Adler  blieb  bis  3.  August  bei  Engels, 
der  die  letzten  Tage  das  Bewußtsein  schon  vollkommen  verloren  hatte. 
Adler  sah,  daß  das  Ende  unmittelbar  bevorstand,  aber  er  konnte  seinen 
Aufenthalt  in  England  nicht  länger  ausdehnen.  Als  er  nach  Österreich 
zurückgekehrt  war.  traf  das  Telegramm  ein,  daß  Friedrich  Engels  am 
5.  August  gestorben  sei. 


IL  Aufsätze  und  Reden  Adlers 
nach  Engels  Tod. 


Friedrich  Engels  135 


66. 

„Arbeiter-Zeitung."  11.  August   1895. 

Friedrich  Engels. 

Wien,  10.  August. 

Heute  bestatten  sie  in  London  den  besten  Mann  der  Sozial- 
demokratie, und  nun  gilt  es  Abschied  nehmen.  Noch  scheint 
es  unfaßbar,  daß  wir  ihn  verloren,  daß  wir  seinem  Wort  nun 
nicht  mehr  lauschen  sollen,  daß  wir  ohne  seinen  Rat  uns  behelfea 
anüesen.  So  sehr  wir  unseren  Verlust  betrauern,  noch  könneii 
wir  ihn  nicht  ermessen. 

Wir  haben  uns  den  Verlauf  seines  reichen  Lebens  ins  Ge- 
dächtnis gerufen  und  damit  die  Geschichte  des  revolutionären 
Proletariats  seit  fünfzig  Jahren.  Wir  haben  die  Reihe  seiner 
Schriften  überechaut  und  damit  die  Umwälzung  im  Denken 
unseres  Jahrhunderts.  Und  doch  ist  damit  nicht  erschöpft,  was 
i^v  uns  war.  Uns  Jüngeren,  die  wir  Karl  Marx  nicht  mehr  ge- 
kannt, uns  bindet  an  Friedrich  Engels  die  Liebe  für  den  Lehrer, 
die  Dankbarkeit  für  das  Vorbild.  Was  er  geleistet,  liegt  offen 
zutage  und  iet  unvergänglich;  nur  die  das  Glück  hatten,  ihm 
nakezustehen,  wiss-en,  was  er  gewesen,  und  er  ist  unersetzlich. 

Zum  Lehrer  befähigte  Engels  vor  allem  seine  Universalität, 
•die  unerhört  ist  in  der  Zeit  der  Spezialitäten  und  der  Fach- 
simpelei. Er  war  ein  Polyhistor  im  besten  Sinne  des  Wortes, 
ein  vieles  Wissender.  Auf  die  Grundlage  einer  tiefen  philo- 
sophischen Schulung  baute  er  die  Kenntnis  nicht  nur  der 
Ökonomie,  sondern  auch  der  Geechichte  in  ihrem  ganzen 
I'^mfang,  insbesondere  auch  die  der  vergleichenden  Sprach;^ 
Wissenschaft  und  der  Naturwissenschaft.  Dabei  besaß  er  da« 
ganze  praktische  Rüstzeug  des  modernen  Kaufmanne  und 
Fabrikanten.  Oft  rühmte  er  sich  lachend,  er  sei  stolz  darauf,  in 
seinem  ganzen  Leben  keine  Prüfung  bestanden  zu  haben.  Aber 
wie    verstand   der   Mann    zu    lernen!    Als    er    dem    Joche   des 


136  Friedrich  Engels 

Comptöirs  in  Manchester  entfliehen  konnte,  war  seine  erste 
Sorge  eine  vollständige  ., mathematische  und  naturwissen- 
schaftliche Mauserung",  und  den  besten  Teil  von  acht  Jahren 
verwendete  er  darauf.  Marx  wollte  dem  Abschnitt  über  Grund- 
rente die  russischen  Verhältnißse  des  Grundbesitzes  zugrunde 
legen,  wie  im  Buch  I  des  „Kapital"  die  industrielle  Lohnarbeit 
in  England.  Engels  lernt  russisch  und  hilft  seinem  Freunde  die 
umfangreichen  Quellen  exzerpieren.  Noch  im  vorigen  Jahr 
vertiefte  er  sich  in  die  Geschichte  des  Urchristentumß  —  ein 
Aufsatz  in  der  „Neuen  Zeit"  zeugt  davon  —  und  nimmt  die 
ganze  neuere  Literatur  darüber  durch.  Wenige  Monate  vor 
seinem  Tode  bemerkt  er,  daß  er  des  genialen  Meynert  For- 
schungen über  Leben  und  Leistung  der  Gehirnrinde  nur  aus 
zweiter  Hand  kenne,  und  studiert  in  einem  Zuge  seine  Haupt- 
werke durch.  Das  alles  zu  einer  Zeit,  wo  ihn  die  Herauegabe  des 
dritten  Bandes  des  „Kapital"  voll  in  Anspruch  nahm. 

Nur  wer  so  lernen  konnte,  vermochte  ein  Lehrer  wie 
Engels  zu  sein.  Der  Sozialismus  im  Sinne  von  Marx  und  Engels 
ist  nicht  eine  ökonomische  Doktrin,  er  ist  eine  Weltanschauung. 
Die  Bewegung  des  revolutionären  Proletariats  ist  nur  ein  Teil 
der  Umwälzung  der  Gehirne,  die  unser  Jahrhundert  zu  einem 
Zeitalter  der  Eevolution  macht.  Aber  den  Zusammenhang 
festzuhalten,  wird  schwer  für  den,  der  im  Gewühl  des  täglichen 
Kampfes  steht.  Engels  war  ee,  der  uns  lehrte,  zusammen- 
zufassen, das  Gesamtbild  der  Entwicklung  festzuhalten,  jeden 
Fortschritt  auf  allen  Wissensgebieten  einzureihen  und  fruchtbar 
zu  machen.  Der  Mann,  der  schreiben  durfte:  „Wir  deutschen 
Sozialisten  sind  stolz  darauf,  daß  wir  abstammen  nicht  nur  von 
Saint-Simon,  Fourier  und  Owen,  sondern  auch  von  Kant, 
Fichte  und  Hegel",  ihm  verdanken  wir  es  als  Partei  wie  als 
einzelne,  daß  die  Sozialdemokratie  sich  die  Partei  der  Wissen- 
schaft nennen  darf. 

Aber  noch  in  einem  anderen  Sinne  kam  die  Universalität 
von  Engels  uns  zugute.  JTnsere  Bewegung  ist  international,  das 
will  aber  keineewegs  heißen,  daß  sie  gleichmäßig  in  Form  und 
Tempo  in  allen  Ländern  vorrückt.  Sie  ist  weit  hinausgewachsen 
über  die  Möglichkeit,  durch  einen  Bund,  wie  die  alte  „Inter- 
nationale" war,  geleitet  zu  werden.  Die  Verständigung 
zwischen  den  Bruderparteien  der  einzelnen  Länder  ist  jedoch 
notwendiger  als  je,    aber  freilich  schwerer  als    je    geworden,. 


Friedrich  Engels  137 

seitdem  die  proletarische  Revolution  aus  einer  Vorstellung- 
und  einem  Wunsche  in  den  Köpfen  einzelner  zur  Tatsache 
und  Massenbewegung  geworden  ist.  Denn  die  Verständigung 
hat  zur  Voraussetzung  das  Verständnis,  die  Kenntnis  der 
besonderen  Bedingungen  der  Bewegung  in  jedem  einzelnen 
Lande.  Jeder  unserer  internationalen  Kongresee,  und  führe 
er  nur  Fachgenossen  zusammen,  lehrt,  wie  viel  das  sagen  will. 
I>a  war  nun  die  genaue  Kenntnis  der  Dinge  und  Personen  in 
jedem  einzelnen  Lande,  über  die  Engels  verfügte,  unschätzbar. 
Nicht  als  ob  sein  Urteil  maßgebend  in  dem  Sinne  gewesen  wäre, 
■daß  eich  ihm  alle  fügten  oder  als  ob  er  das  auch  nur  je 
beansprucht  hätte.  Aber  aufklärend  hat  er  stets  eingegriffen, 
und  auch  wo  er  uns  nicht  überzeugen  konnte,  hat  er  uns  stets 
l^elehrt.  Er  hat  uns  einander  verstehen  gelehrt  und  dadurch 
zusammengeführt  und  zusammengehalten.  Denn  neben  seiner 
Wissenschaft  besaß  er  auch  Kunst  in  seltenem  Grade.  Es  war 
ihm  gegeben,  aufzuhellen,  klarzumachen,  was  dunkel  und 
verworren  schien.  Jedes  Gespräch  mit  ihm,  jeder  seiner  Briefe 
über  politische  Dinge  brachte  Licht.  Der  glühende  Wunsch, 
das  Ziel,  die  Befreiung  des  Proletariats  zu  sehen,  verleitete  ihn 
mitunter  zu  sanguiniechen  Prophezeiungen  auf  Jahrzehnte 
hinaus,  worüber  dann  die  Gegner  spöttelten.  Aber  derselbe 
Mann  mit  der  Hoffnungsfreudigkeit  des  Jünglings  war 
nüchtern  und  kaltblütig,  so  wie  es  sich  um  Entscheidungen 
handelte.  Sein  Sinn  für  Tatsachen  ließ  ihn  seine  „Lage  der 
arbeitenden  Klasee  in  England"  schreiben,  zwanzig  Jahre  bevor 
die  deutschen  Professoren  der  Nationalökonomie  entdeckten,  es 
sei  nützlich,  die  Dinge  zu  kennen,  von  denen  man  spricht,  und 
die  „historische  Methode''  erfanden.  Was  sie  aber  nicht  von  ihm 
lernten  und  nicht  lernen  dürften,  war  die  Grundanschauung, 
daß  die  politischen  Machtverhältnisse  sich  ableiten  von  den 
ökonomischen.  iSie  bringen  nun  Material  herbei  in  Scheffeln, 
aber  sie  wissen  damit  nichts  anzufangen.  Für  ihn  aber  gewann 
jede  Tatsache  Leben,  sie  war  ihm  nicht  nur  eine  Wirkung, 
sondern  auch  eine  L^rsache.  Es  hat  niemals  einen  konkreteren, 
sachlicheren  Denker  gegeben.  Darum  haßte  er  nichte  so  sehr 
als  die  hohle  Phrase,  und  wer  dem  begreiflichen  Hang  erlag,  die 
Ereignisse  optimistisch  auszudeuten,  war  ihm  nicht  nur  Schön- 
färber, er  nannte  ihn  kurzweg  „Lügner".  Unaufhörlich  zwang 
er  uns,   der  Wahrheit  ins   Gesicht  zu  sehen,  und  je  bitterer  sie 


138  Friedrich  Engels 

war,  um  so  feeter.  Vor  keiner  Gefahr  warnte  er  eifriger  als  vor 
der  Selbsttäuschung,  und  wen  er  über  Deklamation  ertappte^ 
der  konnte  seine  herzerfrischende,  wackere  Grobheit  zu  spüren 
bekommen.  Gerade  nach  dieser  Seite  war  es  schwer,  sein 
Vertrauen  zu  erringen;  wer  es  aber  einmal  besaß,  der  konnte 
sicher  auf  ihn  rechnen.  Verschwenderißch  stellte  er  nicht  nur 
seine  Erfahrung  und  sein  Wissen,  sondern  auch  seine  Zeit  zur 
Verfügung.  Er  gehörte  zu  den  Leuten,  die  noch  Briefe 
schrieben;  sie  sind  im  Aussterben,  und  der  Nachwuchs  muß  mit 
seinem  spärlichen  Gute  knausern  und  geizt  sich  jedes  Wort  ab 
für  die  Druckerpresse.  Die  Korrespondenz  von  Engels  war 
enorm;  er  schrieb  nicht  nur  fließend  deutsch,  französisch,, 
englisch,  italienisch  und  spanisch,  sondern,  wenn  es  sein  mußte, 
auch  schwedisch  und  russisch.  Und  wie  schrieb  er!  Wenn  einmal 
die  Korrespondenz  zwischen  Marx  und  Engels  veröffentlicht  i.<t, 
wird  man  die  beiden  von  einer  ganz  neuen  Seite  kennen  lernen. 
Engels  schrieb  in  feinen,  fast  zierlichen  Zügen  und  im  Stil  sa 
sorgfältig  wie  für  den  Druck,  wie  ihm  überhaupt  jede  Schlam- 
perei fremd  war.  Niemand  konnte  entfernter  sein  als  er  von  der 
Pose  würdevoller  Steifheit,  aber  stramm  war  er  in  allen  Dingen 
und  jederzeit. 

Engels  verfolgte  natürlich  mit  größtem  Eifer  die 
Bewegung  in  allen  Ländern,  und  das  Parteiblatt  mußte  schoa 
die  reine  Scherenarbeit  sein,  das  er  nicht  wenig'stens  durchflog. 
Und  das  will  was  sagen,  wenn  man  bedenkt,  daß  ihm  jede  Post 
Berge  von  Zeitungen  auf  den  Tisch  warf.  Für  die  österreichische 
Bewegung  interessierte  er  sich  ganz  besonders,  und  wir  können 
es  mit  Stolz  sagen,  er  hielt  große  Stücke  auf  die  österreichieciie 
Sozialdemokratie  und  setzte  große  Hoffnungen  auf  sie.  Ganz 
regelmäßig  las  er  unsere  Zeitungen,  nicht  nur  die  deutschen, 
sondern  auch  die  tschechischen,  und  war  in  erstaunlicher  Wei^e 
über  alle  Einzelheiten  unterrichtet,  eine  Kenntnis,  die  allerdings 
auch  durch  die  Genossin  Louise  Kautsky-Freyberger  vermittelt 
wurde,  die  sein  Hauswesen  seit  fünf  Jahren  führte  und  seine 
aufopfernde  Pflegerin  war,  als  ihn  die  tückische  Krankheit 
packte. 

Sein  schweres  Leiden  trug  er  mit  iStoizismus,  ja  mit 
Humor.  Wenn  ihm  auch  bis  zuletzt  verborgen  blieb,  daß  er 
unrettbar  verloren  sei,  so  wußte  er  sich  doch  längst  in  Lebens- 
gefahr und  ordnete  alles  mit  größter  Ruhe.  Er  war  ruhig,  denn. 


Friedrich  Engels  139 

was  er  für  sein  Lebenswerk  hielt,  die  Herausgabe  des  dritten 
Bandes  vom  „Kapital",  hatte  er  vollendet. 

Damit  berühren  wir  eine  der  merkwürdigsten  Seiten  des 
merkwürdigen  Mannes.  Was  ihn  an  Karl  Marx  feseelte,  war 
anderes  und  noch  mehr  als  hingehendste,  zarteste  Freundschaft: 
seine  ganze  Persönlichkeit  unterordnete  er  dem  Zweck,  dem 
Genius  von  Marx  den  Weg  zu  bereiten.  Er  sah  in  sich  selber  nur 
den  Helfer  dee  großen  Denkers,  und  seine  Selbstverleugnung 
äußerte  sich  auch  darin,  daß  ihm  nichts  mehr  am  Herzen  lag, 
als  seinen  eigenen  Anteil  an  dem  gemeinsamen  Werke  so 
gering  als  möglich  erscheinen  zu  lassen,  wahrscheinlich  geringer, 
als  er  in  Wirklichkeit  war.  Freilich  war  eine  Abgrenzung  der 
Leistung  der  beiden  Freunde  nicht  einmal  ihnen  selbst  möglich. 
Aber  Engels  ging  weiter;  mit  einer  Selbstlosigkeit  ohnegleichen 
stellte  er  seit  dem  Tode  von  Marx  seine  eigene  Arbeit  völlig 
zurück  und  widmete  sich  der  unsäglich  mühevollen  Heraus- 
gabe von  dessen  Nachlaß.  Und  wie  hat  er  die  Riesenarbeit  ge- 
macht! Wer  leeen  kann,  der  findet  die  Spuren  der  Liebe,  der 
Hewunderung  und  Verehrung  für  den  Toten  in  seiner  Aus- 
gabe vom  zweiten  und  dritten  Band  des  ,, Kapital".  Nicht  nur 
der  Mann  der  Wissenschaft,  die  zarte  Hand  de>  Freundes  hat 
da  gewaltet. 

Friedrich  Engels  war  ein  Mann  aus  einem  Stück.  Der  Ge- 
lehrte, der  Kämpfer,  der  ^lensch,  das  waren  nicht  getrennte 
Seiten  seines  W^eeens,  es  war  ein  Ganzes,  eine  ebenso  mächtige 
wie  bezaubernde  Persönlichkeit.  Höchste  Bildung,  energischestes 
Wollen  vereinigten  sich  in  ihm.  Dabei  war  sein  Wesen  schlicTit, 
man  möchte  sagen :  er  hatte  nicht  Enthusiasmue,  aber  Leiden- 
schaft. 

Er  wird  uns  fehlen  überall,  beim  Rat,  wie  bei  der  Tat, 
und  lange  werden  wir  uns  wie  verwaist  fühlen.  Aber  wenn  die 
brennende  Wunde  vernarbt  sein  wird,  bei  jedem  Schritt,  den  das 
revolutionäre  Proletariat  tut,  wird  sein  Name  auf  unser  aller 
Lippen  schweben.  Wie  Karl  Marx  der  größte  Theoretiker,  so 
war  Friedrich  Engels  der  größte  Taktiker  der  internationalen 
Sozialdemokratie.  Großen  ^Eännern  gegenüber  gibt  ec  nur  eine 
Art  von  Dankbarkeit:  von  ihnen  zu  lernen  und  ihnen  zu  folgen. 
J  >as  Proletariat  aller  Länder  wird  verstehen,  dankbar  zu  sein. 
]hr  Denkmal  wird  die  Befreiung  der  Arbeiterklasse  sein. 

V.  a. 


140  Genosse  Leo  Frankel 


67. 

„Arbeiler-Z^itung."  •  31.  März   J896. 

Genosse  Leo  Frankel 

ist  nach  langer  Krankheit  vorgestern  im  Spital  Laribrisiere  zn 
Paris  gestorben.  Er  lag  zwei  Monate  an  einem  schweren  Lungen- 
abszeß darnieder,  und  schon  ließen  günstigere  I^achrichten  seine 
Genesung  hoffen,  da  uns  die  Drahtnachricht  von  seinem  Tode 
schmerzlich  enttäuscht.  Leo  Frankel  war  einer  von  der  alten 
Garde  der  Internationale.  Am  28.  Februar  1844  in  Budape.-^t 
geboren,  wurde  er  Goldarbeitergehilfe  und  wanderte  einige 
Jahre  in  Österreich  und  Deutschland.  Etwa  23  Jahre  alt,  kam 
er  nach  Frankreich,  und  dem  Sozialismus  mit  Leib  und  Seele 
ergeben,  beteiligte  er  sich  an  der  Gründung  der  Lyoner  Sektion 
der  Internationale.  Knapp  vor  dem  Sturze  Napoleons  im  Juli 
1870  wurde  er  wegen  „Beteiligung  an  geheimen  Gesellschaften'^ 
zu  zwei  Monaten  Gefängnis  verurteilt,  und  die  Proklamierung 
der  Republik  befreite  ihn  aus  dem  Kerker.  Er  genoß,  obwohl 
er  Ausländer  war,  in  dem  Grade  das  Vertrauen  der  Pariser 
Arbeiter,  daß  er  beim  Ausbruch  des  Commune-Aufstandes  am 
26.  März  1871  zum  Mitglied  des  Ausschusses  gewählt  und  zum 
Delegue  au  Travail,  etwa  „Arbeitsminister",  ernannt  wurde. 
Von  ihm  stammen  die  zahlreichen ^  ebenso  klug  durchdachten 
wie  energischen  Dekrete,  die  mitten  im  Waffenlärm  den  Ar- 
beiterschutz in  Paris  weiter  förderten  als  jahrelange  parla- 
mentarische Quälereien.  Als  die  Commune  zusammenbrach, 
gelang  es  ihm  als  einem  der  letzten,  mit  einem  Verwundeteu- 
transport,  in  den  Mantel  eines  bayrischen  Dragoners  gehüllt, 
durch  die  feindlichen  Linien  zu  kommen  und  nach  England  zu 
flüchten.  Dort  wurde  er  von  Marx  und  Engels  wie  ein 
alter  Freund  in  die  Familie  aufgenommen  und  verdankte 
ihrem  intimen  Umgang  eine  tiefe  theoretische  Ausbildung. 
Dieser  Proletarier  war  eine  wahre  Gelehrtennatur,  unermüd- 
lich im  Studium,  gewissenhaft,  nüchtern,  der  Phrase  abgeneigt 
bis  zur  Trockenheit.  Dabei  aber  war  Leo  Frankel  ein  prakti- 
scher Organisator  und  ein  unermüdlicher  Agitator.  In  London 
war  er  Mitglied  des  Generalrates  der  Internationale  und  korre- 
spondierender Sekretär  für  Österreich-Ungarn.  Im  Jahre  1871 
kehrte  er  nach  Ungarn  zurück,  und  seiner  Tätigkeit  zumeist 
ist  es  zu   danken  gewesen,     daß  die  ungarländische   Arbeiter- 


Bleanor  Marx-Aveling  tot  141 

partei  sich  rasch  entwickelte  und  in  der  „Arbeiter-Wochen- 
chronik" ein  tapferes,  nach  den  Grundsätzen  des  wissenschaft- 
lichen Sozialismus  geleitetes  Blatt  bekam.  Wegen  eines  Preß- 
vergehens  saß  er  achtzehn  Monate  im  Gefängnis  und  kam  dann 
auf  kurze  Zeit  nach  Wien.  Aber  seine  Sehnsucht  zog  ihn  nach 
Paris  zurück,  wo  er  seit  1889  lebte.  Zuletzt  haben  wirLeoFrankel 
auf  dem  ititernationalen  Kongreß  in  Zürich  1893  gesehen,  und 
nichts  ließ  idamals  aihnen,  daß  der  Mann,  der  in  vier  Sprachen 
mit  dem  größten  Eifer  alle  prinzipiellen  und  praktischen 
Fragen  erörterte,  der  von  Engels  als  sein  „lieber  Junge"  be- 
g:rüßt  wurde,  dem  Alten  so  bald  ins  Grab  nachfolgen  werde. 
Die  „Arbeiter-Zeitung"  verliert  an  Leo  Frankel  einen  treuen 
Mitarbeiter,  der  in  den  Zeiten  der  „Gleichheit"  Beiträge 
theoretischen  Inhaltes  lieferte,  von  Paris  aus  Korrespondenzen 
schrieb,  die  sich  durch  ihre  absolute  Verläßlichkeit  und'  Gründ- 
lichkeit auszeichneten.  Wer  ihn  kannte,  hat  ihn  geliebt,  den 
alten  Communard,  der  weich  und  gut  war  wie  ein  Kind,  aber 
in  dem  eine  Heldenseele  stürmte,  wenn  es  den  Kampf  galt 
gegen  die  Tyrannei  des  Kapitalismus.  Ehre  seinem  Andenken! 


68. 

,, Arbeiter-Zeitung."  4.  April  1898. 

Eleanor  Marx-Aveling  tot. 

Eine  Trauernachrioht  aus  London  erreicht  uns  mit  be- 
dauerlicher Verzögerung.  Freitag  wurde  die  Genossin  Eleanor 
Marx-Aveling  tot  in  ihrer  Wohnung  aufgefunden.  Während 
ihr  Mann  vom  Hause  abwesend  war,  scheint  sie  Blausäure  ge- 
nommen zu  haben.  Nichts  Näheres  ist  noch  über  die  Motive 
ihrer  Tat  bekannt.  Man  telegraphiert  uns,  sie  habe  unter  dem 
Einfluß  tiefer  geistiger  Depression  ihrem  Leben  ein  Ende 
gemacht,  aber  ob  es  eich  um  einen  akut  eingetretenen  Zu- 
sammenbruch oder  um  einen  langsam  heranschleichenden  Er- 
schöpfungszustand gehandelt  hat,  wissen  wir  bisher  nioht'.  Daß 
alle  näheren  Nachrichten  fehlen,  erklärt  sich  zum  Teil  daraus, 
daß  ihr  Mann  Dr.  Edward  Aveling  noch  Rekonvaleszent  nach 
einer  schweren  Krankheit  ist,  wegen  der  er  sich  mehrfachen 
lebensgefährlichen  Operationen  unterziehen  mußte.  Gewiß  hat 
auch  die  Aufregung  und'  Angst  um  das  Leben    des    geliebten 


142  Eleanor  Marx-Aveling  tot 

Mannes,     die    Überanstrengung    in     der     Krankenpflege     das 
tragische  Ende  Eleanors  beschleunigt*). 

Eleanor  Marx-Aveling,  die  jüngste  Tochter  von 
Karl  Marx,  sein  Lieblingskind,  war  eine  der  bedeutendsten 
und  sympathischesten  Gestalten  der  neueren  Internationale. 
Im  Jahre  1855  geboren,  zei^e  sie  sehr  bald  eine  außerordent- 
liche Begabung.  Wie  ihr  Vater,  sprach  und  schrieb  sie  deutsch, 
englisch  und  französisch  gleich  vollkommen.  Schon  als  junges 
Mädchen  konnte  sie  dem  altwerdenden  Vater  als  Hilfs- 
arbeiterin zur  Seite  stehen.  T  u  s  s  y,  wie  sie  die  Freunde 
nannten,  begleitete  ihn  auf  allen  Reisen,  war  auch  1874  und 
1876  mit  ihm  in  Karlsbad  und  war  nicht  nur  seine  Pflegerin, 
sondern  auch  sein  Sekretär.  Die  beiden  anderen  Schwestern 
waren  in  Frankreich,  Jenny  an  L  o  n  g  u  e  t,  Laura  an 
Lafargue  verheiratet,  und  so  blieb  sie  allein  dem  Vater 
nahe  bis  an  sein  Ende.  Ihren  eisernen,  hingebungsvollen  Fleiß 
widmete  sie  dem  Lebenswerke  von  Marx.  So  hat  sie,  um  ein 
Beispiel  zu  nennen,  für  die  englische  Übersetzung  de& 
., Kapital",  die  Sam  Moore  und  Aveling  besorgten,  sämtliche 
vielen  Hunderte  von  Zitaten,  die  das  Werk  enthält,  nach  den 
Quellen  kontrolliert.  Aber  Eleanor  entfaltete  bald  auch  eine 
energische  und  erfolgreiche  Tätigkeit  auf  dem  Gebiete  der 
Agitation  und  Organisation.  Sie  war  die  Begründerin  einer 
der  größten  neuen  Gewerkschaften,  der  Gasarbeiter-  und  Tag- 
löhiierunion,  und  der  Erfolg  dieser  Organisation  verhalf  dem 
Prinzip,  die  ungelernten  Arbeiter  einzubeziehen,  zum  Durcli- 
bruch.  Aber  nicht  nur  bei  den  Gasarbeitern  war  sie  unermüd- 
lich tätig,  sie  durchzog  ganz  England  und  war  eine  der  hervor- 
ragendsten Agitationskräfte  der  englischen  x\rbeiterbewegung- 
sowohl  auf  gewerkschaftlichem  als  auf  politischem  Gebiete. 
Eine  ganze  Anzahl  der  jüngeren  englischen  Genossen,  die  heute 
im  Vordergrund  stehen,  nennen  sich  ihre  Schüler.  Dabei  mußte 
sie  um  des  Lebens  Notdurft  hart  kämpfen ;  auch  nachdem  sie 
den  Lebensbund  mit  Dr.  Edward  Aveling  geschlossen,  war 
ihr  Tag  mit  Unterricht,  Übersetzungen  und  Zeitungsarbeit 
ausgefüllt,  und  ihre  Arbeit  für  die  Partei,  an  der  allein  andeie 
übergenug  zu  tun  gehabt    hätten,    war     für    sie  Erholung  am 


*)  Die  tatsächlichen  Motive,  die  Eleanor  Marx-Aveling  zum  Selbst- 
mord tiieben,  wurden  erst  später  bekannt.  VerKleiche  Eduard  Bernstein: 
„Was  Eleanor  Marx  in  den  Tod  trieb."  »Neue  Zeit',  Band  2  des  Jahr- 
gang XVI,  Seite  481  (auch  Seite  118)  1898. 


Was  uns  Karl  Marx  ist  143 

Feierabend.  Ihre  besonders  in  England  seltene  Sprachen- 
kenntnis machte  sie  zu  dem  natürlichen  Dolmetsch  der  inter- 
nationalen Arbeiterbewegung.  Xoch  bei  dem  letzten  Streik  der 
englischen  Maschinenbauer  verfaßte  und  übersetzte  sie  die 
meisten  Zirkulare,  die  ins  Ausland  gingen,  und  die  Delegierten 
der  internationalen  Sozialistenkongresse  von  Paris  1889  bis 
London  1896  werden  eine  schöne  Erinnerung  an  sie  als  Über- 
setzerin haben,  an  die  wunderbare  Geistesbereitschaft,  Ge- 
wissenhaftigkeit und  Unermüdlichkeit  dieser  Frau.  Wir  haben 
sie  einmal  in  Brüssel  nach  zehnstündiger  angestrengtester 
Kongreßarbeit  spät  nach  Mitternacht  in  einer  Gewerkschafts- 
versammlung d€r  Kellner  reden  hören,  mit  einem  Feuer,  einer 
Eindringlichkeit  und  einer  Kraft,  als  komme  sie  direkt  aus  den 
Ferien. 

Nicht  nur  die  englische  Arbeiterbewegung,  die  ganze 
internationale  Sozialdemokratie  trauert  an  der  Bahre  von 
Marx'  Tochter,  die  an  Leib  und  Seele  ein  prächtiges  Weib  war, 
Ann  echtem  Vollblut,  von  höchstem  menschlichen  Adel.  Ehre 
und  Liebe  ihrem  Andenken  I 


69. 

Marx-Feslschrift  der  österreichischen  Sozialdemokratie.  März  1903. 

Was  uns  Karl  Marx  ist. 

Zwanzig  Jahre  ist  es  her,  daß  Karl  Marx  seine  Augen  für 
immer  geschlossen.  Die  Arbeiter  der  ganzen  Welt  schicken  sich 
an,  sein  Andenken  zu  feiern:  aber  nicht  als  einen  Toten  feiern 
««ie  ihn,  sondern  als  einen  Lebendigen. 

In  der  Tat,  nie  ist  von  einem  Mann  mehr  lebendige,. 
wirkende  Kraft  ausgegangen,  als  von  diesem  Toten  ausgeht,, 
dessen  Gedanke  heute  das  Denken  der  Arbeiterklasse  aller 
Länder  beherrscht  und  durchdringt.  Mit  jedem  Jahre  mehr 
wird  das  Proletariat  zum  weltgeschichtlichen  Faktor  und  so 
wächst  in  demselben  Maße  noch  heute  der  Einfluß  des  Denkers,, 
der  ihm  zuerst  die  Erkenntnis  seiner  selbst  gebracht,  ihm  die 
Bedingungen  seiner  Existenz,  die  Gesetze  seiner  Entwicklung 
enthüllt,  ihm  die  Ziele  seiner  Kämpfe  gezeigt  hat.  Mehr  als  ein 
halbes  Jahrhundert  ist  dahingegangen,  seit  Karl  Marx  —  und 
wer    von    Karl    Marx     spricht,     spricht    auch    von    Friedrich 


144  Was  uns  Karl  Marx  ist 

Engels  —  im*  Kommunistischen  Manifest  den 
Weckruf  der  Arbeiterklasse  hinausgerufen  und  noch  heute  tant 
das  Echo  nach  aus  immer  gewaltigerem  Umkreis. 

Der  Sozialismus  war  ein  Notschrei,  ein  Hilferuf,  eine 
Anklage.  Heute  ist  der  Sozialismus  eine  zielbewußte  Politik 
■«der  Arbeiterklasse  geworden,  eine  Politik,  die  auf  einer  deut- 
lichen Erkenntnis  der  Bedingungen  der  wirtschaftlichen  Ent- 
wicklung fußt,  die  die  Mittel  kennt  und  abzuwägen  weiß,  die 
der  Arbeiterklasse  zu  Gebote  stehen  und  die  den  Weg  kennt, 
den  sie  zu  gehen  hat.  Daß  dem  so  ist,  das  hat  das  Proletariat 
vor  allem  Marx  und  Engels  zu  danken. 

Zwei  Namen  sind  es,  die  die  Brücke  schlagen  vom  neun- 
zehnten zum  zwanzigsten  Jahrhundert:  Darwin  und  Marx. 
Sie  haben  die  tiefsten  Furchen  gegraben  in  die  Gehirne  der 
heute  lebenden  Generationen,  sie  haben  unsere  ganze  Vor- 
^tellungswelt  umgewälzt  und  neu  geordnet.  Darwin  hat  die 
Naturbeschreibung  zur  Naturgeschichte  umgeschaffen,  hat  uns 
das  organische  Leben  als  einen  Werdegang  erkennen  gelehrt. 
Marx  zerstörte  den  Aberglauben  an  die  Ewigkeit  der  Eigen- 
tumsordnung und  der  Wirtschaftsverhältniss-e  und  zeigte  sie 
■als  historisch  bedingt  von  der  Entwicklung  der  Produktions- 
weise, die  ihrerseits  von  der  Entwicklung  der  materiellen 
Produktivkräfte  bestimmt  wird.  Die  Entfaltung  der  Produktiv- 
kräfte ist  der  Untergrund  der  Geschichte  der  Gesellschaft. 
Ewig  ist  nichts  in  ihr  als  das  Werden  und  Vergehen  ihrer 
Lebensformen.  Immer  wieder  rebelliert  das  Werdende  gegen 
-das  Gewordene,  in  Eigentumsformen  und  HJerrschaftsverhält- 
ni!3sen  Erstarrte.  Die  wirtschaftliche  Entwicklung  gestaltet  die 
"Geschichte  der  Gesellschaft  zu  einer  Geschichte  der  Kämpfe 
Ton.  Klassen,  die  Träger  der  ökonomischen  Gegensätze  sind. 

Die  moderne  Industrie  hat  die  Bourgeoisie  zur  herr- 
schenden Klasse  gemacht  und  ihre  Lebensbedingung  ist,  daß 
^ie  schneller  als  je  zuvor  den  ganzen  Produktions- 
ii  p  p  a  r  a  t,  damit  aber  die  Eigentumsverhältnisse  und  die 
gesellschaftlichen  Verhältnisse  umwälzt.  Mit  der  rapid  ins 
Bi€senhafte  ansteigenden  Produktivkraft  wächst  aber  der 
umfang  und  der  Grad  der  Aiisbeutung  des  Proletariats.  Mehr 
und  mehr  verschwindet  die  Selbständigkeit  der  Mittelschichten, 
•«Ue,  wenn  sie  nicht  ins  Proletariat  hinabsinken,  in  offene  oder 
verhüllte    Abhängigkeit    von    der    Kapitalistenklasse    geraten. 


Was  uns  Karl  Marx  ist  145 

Immer  mehr  häuft  sich  der  Eeichtum  in  den  Händen  weniger^ 
immer  geringer  wird  im  Verhältnis  zu  dem  ungeheuren  An- 
schwellen der  Produktion  der  Anteil  der  arbeitenden  Klassen. 
Aber  die  Entwicklung  treibt  über  den  Kapitalismus  und  die 
kapitalistische  Form  des  Privateigentums  hinaus.  „Es  ent- 
wickelt sich  die  kooperative  (genossenschaftliche)  Form 
des  Arbeitsprozesses  auf  stets  wachsender  Stufenleiter,  die 
bewußte  technologische  Anwendung  der  Wissenschaft,  die 
planmäßig  gemeinsame  Ausbeutung  der  Erde,  die  Ver- 
wandlung der  Arbeitsmittel  in  nur  gemeinsam  verwend- 
bare Arbeitsmittel  und  die  Ökonomisierung  aller  Produktions- 
mittel durch  ihren  Gebrauch  als  gemeinsame  Produktions- 
mittel   kombinierter,    gesellscihaftlicher    Arbeit." 

Während  die  Produktion  durch  die  Entwicklung  ihrer 
Technik  immer  mehr  eine  gemeinsame,  genossenschaftliche, 
gesellschaftliche  wird,  verschärft  sich  der  Monopolscharakter 
der  Eigentumsordnung.  Zugleich  wächst  jedoch  die  Aus- 
beutung, „aber  auch  die  Emj)örung  der  stets  anschwellenden 
und  durch  den  Mechanismus  des  kapitalistisclien  Produktions- 
prozesses selbst  geschulten,  vereinten  und 
organisierten  Ar  heiter  klass  e".  .  .  .  „Der  Fort- 
schritt der  Industrie,  dessen  willenloser,  widerstandsloser 
Tiäger  die  Bourgeoisie  ist,  setzt  an  die  Stelle  der  Isolierung 
der  Arbeiter  durch  die  Konkurrenz  ihre  revolutionäre 
Vereinigung  durch  die  Assoziation.  Mit  der 
Entwicklung  der  großen  Industrie  wird  also  unter  den  Füßen 
der  Bourgeoisie  die  Grundlage  selbst  weggezogen,  worauf  sie 
produziert  und  die  Produkte  sich  aneignest.  Sie  produziert  vor 
allem  ihre  eigenen  Totengräber.  Ihr  Untergang  und  der  Sieg 
des  Proletariats  S'ind  gleich  unvermeidlich.  Von  allen  Klassen, 
(lie  heute  der  Bourgeoisie  gegenüberstehen,  ist  nur  das  Prole- 
tariat eine  wirklich  revolutionäre  Klasse."  Die  Arbeiter  sind 
somit  die  Träger  der  revolutionären  Entwicklung,  die  dazu 
führen  wnrd,  „das  vom  Kapitalismus  vernichtete,  indivi- 
duelle Eigentum  wieder  herzustellen,  aber 
auf  Grundlage  der  Errungenschaft  der  kapitalistischen  Ära, 
der  Kooperation  (genossenschaftlichen  x\rbeit)  freier 
Arbeiterund  ihrem  Gemeineigentum  an  der 
Erde  sowie  an  den  durch  die  Arbeit  selbst 
produzierten  Produktionsmittel  n''. 


146  Was  uns  Karl  Marx  ist 

Der  Kapitalismus  selbst  also  schafft  die  objektiven  Be- 
dingungen für  seine  Überwindung,  und  noch  mehr,  er  schafft 
-die  subjektiven  Bedingungen,  durch  die  das  Proletariat  sein 
Überwinder  werden  muß :  Schulung,  Vereinigung 
und  Organisation  der  Arbeiter,  „Organisation 
-der  Proletarier  zur  Klasse  und  damit  zur 
politischen  Parte  i."  In  den  ersten  Stadien  schon 
kommt  es  zu  Kämpfen ;  von  Zeit  zu  Zeit  siegen  die  Arbeiter, 
aber  nur  vorübergehend,  das  eigentliche  Resultat  ihrer  Kämpfe 
ist  nicht  der  unmittelbare  Erfolg,  sondern  die  immer  weiter  um 
sich  greifende  Vereinigung  der  Arbeiter.  Die  Organisation 
wird  jeden  Augenblick  wieder  gesprengt  durch  die  Konkurrenz 
unter  den  Arbeitern  selbst,  aber  sie  ersteht  immer  wieder, 
stärker,  fester,  mächtiger.  Sie  erzwingt  die  Anerkennung  ein- 
zelner Interessen  der  Arbeiter  in  Gesetzesform.  Jeder  dieser 
Erfolge  aber  ist  ein  Schritt  dem  Ziele  zu. 

Wir  haben  früher  das  Ziel  des  proletarischen  Kampfes  in 
•den  Worten  des  „Kapital"  und  des  ,, Kommunistischen 
Manifest"  ausgesprochen;  an  einer  anderen  Stelle  hat  Marx  es 
in  anderer  Weise  ausgedrückt,  die  unseren  zaTimen  Zeiten 
vielleicht  minder  herb  klingt,  obwohl  sie  genau  dasselbe  sagt: 
,,Die  durch  soziale  Fürsorge  geregelte  soziale 
Produktion,  das  ist  der  Inbegriff  der  politischen  Ökonomie 
der  Arbeiterklasse."  Und  desihalb,  so  fährt  er  fort,  „war  die 
Forderung  der  Z  e  h  n  s  t  u  n  d  e  n  'b  i  1 1  in  England  nicht  bloß 
■em  großer  praktischer  Erfolg,  sie  war  der  Sieg  eines 
Prinzips;  zum  erstenmal  am  hellen,  lichten  Tag  unterlag 
die  politische  Ökonomie  der  Bourgeoisie  der  politischen 
Ökonomie  der  Arbeiterklasse".  Das  ist  1865  geschrieben,  aber 
^chon  1847  —  im  „Elend  der  Philosophie"  —  verteidigt  Marx 
die  Bedeutung  der  gewerkschaftlichen  Koalition  gegen  ihre 
.„transzendentale  Geringschätzung"  durch  die  Utopisten.  Schon 
damals  spricht  er  klar  aus,  was  das  Grundgesetz  aller  soziali- 
stischen Taktik  ist,  daß  der  wichtigste  Faktor  der  ökonomischen 
Umwälzung  der  Grad  der  Entwicklung  des  Proletariats  selbst 
sei.  „Soll  die  unterdrückte  Klasse  sich  befreien  können,  so  muß 
■eine  Stufe  erreicht  sein,  auf  der  die  bereits  erworbenen 
Produktivkräfte  und  die  geltenden  gesellschaftlichen  Ein- 
rieb tu  ngen  nicht  mehr  nebeneinander  bestehen  können.  V  o  n 
allen        Produktionsinstrumenten        ist        die 


Was  uns  Karl  Marx  ist  147 

größte  P  r  o  d  u  k  t  i  V  k  r  a  f  t  die  r  e  \-  o  1  u  t  i  o  n  ä  r  e 
Klasse  selbst.  Die  Organisation  der  revolutionären  Ele- 
mente als  Klasse  setzt  die  fertige  Existenz  aller  Produktiv- 
kräfte voraus,  die  sich  überhaupt  im  Schoß  der  alten  Gesell- 
schaft entfalten  konnten.''  Der  objektive,  ökonomisch-technische 
Faktor  und  der  subjektive,  proletarische  Faktor  der  revolu- 
tionären Entwicklung  bedingen  sich  gegenseitig.  So  setzt  sich 
denn  die  internationale  Arbeiterassoziation 
zum  Zweck,  „eine  Verbindung  zu  schaffen  zwischen  den  in  ver- 
schiedenen Ländern  bestehenden  Arbeitergesellschaften,  die 
dasselbe  Ziel  verfolgen,  nämlich  den  Schutz,  dieHebung 
und  die  ^•öllige  Emanzipation  der  arbei- 
tenden Klasse  n''.  Alles  das  hat  längst  aufgehört  die 
Lehre  eines  einzelnen  Mannes  zu  sein,  es  ist  in  Fleisch  und 
Blut  des  kämpfenden  Proletariats  übergegangen  und  so  erfüllt 
und  angezogen  haben  wir  uns  mit  den  Gedanken,  die  Marx 
zuerst  gedacht,  daß  es  unmöglich  ist,  fe-'?tzustellen,  was  in  uns 
von  ihm  herrührt.  Schopenhauer  bemerkte  einmal,  nur  eiu 
kurzes  Siegesfest  sei  der  neuen  Wahrheit  beschieden  zwischen 
den  langen  Zeiträumen,  da  sie  als  paradox  verdammt  und.  als 
trivial  geringgeschätzt  wird.  Nicht  ganz  so  verhält  e,^  sich  mit 
den  Erkenntnissen,  die  uns  Marx  übermittelt  hat,  sie  werden 
nicht  alt  und  setzen  keinen  Eost  an.  Denn  es  sind  nicht  fertige 
Maximen,  sondern  das  Beste,  was  er  uns  gegeben,  sind  Methoden 
des  Erkennens  geschichtlicher,  wirtschaftlicher  und  politischer 
Zusammenhänge.  Und  diese  Methoden  haben  die  Welt  erobert, 
weit  über  das  kämpfende  Proletariat  hinaus.  Die  Zunft- 
gelehrten sträuben  sich  gegen  die  materialistische  Geschichts- 
auffassung, aber  jeden  ernstlichen  Fortschritt  ihrer  Wissen- 
schaft danken  sie  ihrer  widerwilligen  und  selbstverständlich 
anonymen  Anwendung.  Die  Lehre  vom  Klassenkampf  freilich 
gilt  der  bürgerlichen  Welt  noch  heute  als  paradox  und  mit 
gutem  Grunde.  Nicht  die  Theorie  bekämpfen  sie  in  ihr,  sondern 
die  politische  Praxis  des  Proletariats,  die  auf  ibr  fußt,  und 
zwar  überall  auf  ihr  fußt.  Denn,  sei  es  an  dieser  Stelle 
gesagt,  man  möge  sich  durch  den  jetzt  wieder  so  heftig  gewor- 
denen internationalen  Streit  nicht  irremachen  lassen,  der 
immer  wieder  um  die  sozialistische  Taktik  geführt  wird:  nicht 
die  prinzipielle  Grundlage  steht  in  Frage,  i^roletarische 
Klassenpolitik    wollen    alle    machen,    Franzosen 


148  Was  uns  Karl  Marx  ist 

und  Italiener,  Belgier  und  Engländer  nicht  weniger  wie  die 
Deutschen.  Freilich,  welches  jedesmal  die  richtige  Klasseh- 
politik,  das  heißt  die  den  dauernden  Eigentümlichkeiten  jedes 
Landes  und  ihrer  eigenen  augenblicklichen  Lage  entsprechende 
Politik  der  Arbeiterklasse  sei,  darüber  gehen  die  Meinungen 
oft  weit  auseinander.  Begreiflich  genug,  denn  das  Problem 
wird  komplizierter  und  schwieriger  mit  jedem  Schritt,  den  das 
Proletariat  nach  vorwärts  macht,  mit  jedem  Stück  politischen 
Gewichtes,  das  ihm  zuwächst.  Die  Politik  der  revolutionären 
Minorität  war  einfach  im  Vergleiche  zur  Politik  einer  stetig 
wachsenden  revolutionären  Partei,  die  sich  dem  Punkte  nähert, 
wo  sie  die  entscheidende  Macht  im  Staate  werden  kann. 
Unabsehbar  vielfältig  sind  heute  die  Formen  geworden,  in 
denen  das  proletarische  Klasseninteresse  geltend  gemacht 
werden  kann  und  darum  muß.  Wenn  es  möglicli  war,  das  allge- 
meine Wahlrecht,  „das  bisher  ein  Mittel  der  Täuschung  war, 
umzuwandeln  in  ein  Mittel  der  Befreiung",  warum  s-ollte  es 
von  vornherein  und  gänzlich  ausgeschlossen  sein,  den 
wachsenden  Einfluß  auf  die  Staatsverwaltung,  die  bisher  die 
Maschinerie  der  Klassenherrscbaft  war  und  ist,  im  Interes-se 
des  Proletariats  zu  nützen?  Gewiß,  der  Weg,  so  verlockend  er 
sei,  ist  voll  von  Gefahren  und  von  der  gutgläubigen  Selbst- 
täuschung über  den  Wert  kleinlicher  und  vorübergehender 
Vorteile  bis  zu  der  mehr  oder  minder  bewußten  Preisgebung 
jeder  selbständigen  proletarischen  Politik  droht  da  jede  Art 
von  Irrtum.  Wir  wollen  auch  mit  der  Meinung  nicht  zurück- 
halten, daß  da  und  dort  in  Handlung  und  Unterlassung  solche 
Irrtümer  begangen  wurden,  ja  wir  wollen  zugeben,  daß  sie  fast 
unvermeidlich  sind.  Aber  wenn  wir  sie  als  Irrtümer  erkennen, 
wenn  wir  mit  Erfolg  zu  lernen  suchen,  me  die  proletarische 
Klassenpolitik  anzuwenden  sei  auf  ihre  neuen,  täglich  schwie- 
rigeren Aufgaben,  so  danken  wir  das  vor  allem  Karl  Marx  und 
Friedrich  Engels,  die  uns  gelehrt,  vor  nichts  mehr  auf  der  Hut 
zu  sein  als  vor  unseren  eigenen  Vorurteilen,  keine  Pflicht  höher 
zu  achten,  als  die  gewissenhafte  Erwägung  der  Tatsachen.  Dem 
Klassenkampfe  des  Proletariats  seine  unabänderliche  Bahn  zu 
weisen,  haben  unsere  Meister  weder  vermocht  noch  gewollt, 
aber  ihm  Licht  zu  sc 'h  äffen  auf,  den  Weg,  daß  es 
ihn  zu  finden  und  sehend  zu  wandeln  vermöge,  das  war  ihre 


Was  uns  Karl  Marx  ist  14!) 


große  Tat.    Und   je   schwieriger   der  Weg   wird,     um   so   mehr 
bedürfen  wir  ihrer  Leuchte. 

Gewiß,  in  dem  Werke  von  Marx  war  vieles  vergänglich 
und  seine  enivsigen  Eezensenten  bemühen  sich  unermüdlich  um 
die  Schlacke,  die  der  Verlauf  der  Geschichte  aus  ihm  aus- 
geschieden. Marx  war  eben  nicht  nur  der  kühne  Denker,  der 
zuerst  einen  geschichtlichen  Prozeß  in  seinem  Wesen  erkannte, 
sondern  er  war  auch  das  Kind  seiner  Zeit,  unterworfen  jedem 
Irrtum  in  der  Schätzung  von  Gewicht  und  Dauer  der  augen- 
blicklichen Ereignisse.  Und  überdies  war  er  ein  leidenschaft- 
licher Kämpfer,  der  selbst  handelnd  eingriff,  und  mit  jedem 
j^erv  beteiligt  an  dem  Drama,  das  zu  deuten  seine  Tat  war. 
So  hat  der  dreißigjährige  Marx  des  Manifests  einen  Geschichts- 
verlauf in  genialer  Verkürzung  gesehen,  dessen  Etappen  sich 
als  weit,  ach  allzu  weit,  auseinanderliegend  erweisen  sollten. 
Aus  einer  mit  einem  Fleiß  sondergleichen  aufgehäuften  Fülle 
von  Tatsachen  hat  er  das  Bewegungsgesetz  des  Kapitalismus 
abgeleitet,  aber  er  hat  freilich  nicht  alle  Erscheinungen  vorher- 
gesehen, in  denen  sich  dieses  von  ihm  erkannte  Gesetz  durch- 
setzen sollte.  Marx  war  ein  Seher,  ein  unfehlbarer  Wahrsager 
zu  sein,  hat  er  nie  prätendiert.  Er  war  auch  nicht  der  Mann  der 
einfachen  Formeln,  der  bequemen  Schablonen  und  nichts  war 
seinem  Wesen  mehr  entgegen,  als  jede  Art  sektiererischer 
Rechthaberei  und  dogmatischer  Starrheit.  Das  letzte  Wort  von 
Friedrich  Engels,  das  man  oft  sein  Testament  genannt  hat,  war 
jene  berühmte  Vorrede  zu  den  ,, Klassenkampf en'*  (1895),  die 
mit  einem  bewundernswerten  Mute  zur  Wahrheit  alle  bisherigen 
Anschauungen  über  proletarische  Taktik  revidiert.  Dem 
„Manifest",  dessen  Schluß  gelautet  hatte:  „Die  Kommunisten 
erklären  es  offen,  daß  ihre  Zwecke  nur  erreicht  werden  können 
durch  den  gewaltsamen  Umsturz  aller  bisherigen  Gesellschafts- 
ordnungen"', stellt  Engels  die  Tatsachen  der  Geschichte  gegen- 
über und  kommt  zu  dem  Schluß:  „Die  Creschichte  hat  uns 
Unrecht  gegeben'".  „Die  Ironie  der  Weltgescliichte  stellt  alles 
auf  den  Kopf.  Wir,  die  ,Eevolutionäre',  die  ,Umstürzler',  wir 
gedeihen  weit  besser  bei  den  gesetzlichen  Mitteln  als  bei  den 
ungesetzlichen,  dem  Umsturz."  Und  schon  1871  schrieb  Marx 
im  „Bürgerkrieg":  „Die  Ar'beiterklasse  hat  keine  fix  und 
fertigen  Utopien  durch  Volksbeschluß  einzuführen.  Sic  weiß, 
daß  sie  —  um  ihre   eigene   Befreiung   und  mit   ihr  jene 


150  Was  uns  Karl  Marx  ist 

höhere  Lebensform  hervorzuarbeiten,  der  die  gegen- 
wärtige Gesellschaft  durch  ihre  eigene  ökonomische  Entwick- 
lung unwiderstehlich  entgegenstrebt  —  lange  Kämpfe, 
eine  ganze  Reihe  geschichtlicher  Prozesse 
durchzumachen  hat,  durch  welche  die  Menschen  wie  die  Um- 
stände gänzlich  umgewandelt  werden.  Sie  hat  keine  Ideale  zu 
verwirklichen,  sie  hat  nur  die  Elemente  der  neuen  Gesellschaft 
in  Freiheit  zu  setzen,  die  sich  bereits  im  Schöße  der  zusammen- 
brechenden Bourgeoisgesellschaft  entwickelt  halben.''  Und  er 
fügt  hinzu,  was  heute  aktueller  klingt  als  je:  „Im  vollen 
Bewußtsein  ihrer  geschichtlichen  Sendung  und  mit  dem 
Heldenentschluß,  hier  würdig  zu  handelh,  kann  die  Arbeiter- 
klasse sich  begnügen  zu  lächeln  gegenüber  den  plumpen 
Schimpfereien  der  Lakaien  von  der  Presse  wie  gegenüber 
der  lehrhaften  Protektion  wohlmeinender 
B  o  u  r  g  e  0  i  s  d  o  k  t  r  i  n  ä  r  e,  die  ihre  unwissenden  Gemein- 
plätze und  Sektierermarotten  im  Orakelton  wissenschaftlicher 
Unfehlbarkeit  abpredigen." 

„Lange  Kämpfe,  eine  ganze  Reihe  geschichtlicher  Pro- 
zesise"  —  wieviel  davon  liegt  hinter  uns,  wieviel  steht  uns 
noch  bevor?  Wer  will  es  ermessen!  Das  Proletariat  ist  ein  Stück 
vorwärts  gekommen  in  den  zwanzig  Jahren,  die  seit  Marx'  Tod 
verflossen.  Das  Kampffeld  hat  sich  erweitert,  der  Schauplatz 
seiner  Geschichte  umfaßt  nicht  nur  Europa  und  Amerika, 
sondern  schon  heute  Australien  und  Afrika  und  morgen  auch 
Asien.  Der  Kapitalismus  zur  Zeit  des  Kommunistischen  Mani- 
festes war  eine  lokale  Erscheinung  im  Vergleich  zu  seiner  welt- 
umspannenden gigantischen  Entwicklung  in  dem  letzten 
Jahrzehnt;  die  Wunder  der  Elektrizität  haben  die  Wunder  des 
Dampfes  weit  überholt  und  die  Wirklichkeit  der  technischen 
Entwicklung  läßt  die  ausschweifendsten  Träume  aller  Utopisten 
weit  hinter  sich  zurück.  Dabei  stehen  wir  erst  an  der  SchWelle 
einer  neuen  Reihe  von  technischen,  wirtschaftlichen  und  poli- 
tischen Erscheinungen,  die  die  eben  beginnende  Koalition  und 
Organisation  der  Kapitalisten  zu  Kartellen  heraufführen  wird. 
Die  Spannung  der  gesellschaftlichen  Gej?ensätze  wächst  von 
Tag  zu  Tag.  Die  pblitisdhe,  gewerkschaftliche  und  genossen- 
schaftliche Organisation  hat  die  vorgeschrittensten  Schichten 
des  Proletariats  zu  gemeinsamem,  planmäßigem  Handeln  fähig 
gemacht,  fortgesetzt  gliedern  sich  verspätete  Schichten  in  das 


Der  Nachlaß  von  Marx,  Engels  und  Lassalle 


151 


große  Kampfheer  ein,  das  vom  Klassenbewußtsein  zusammen- 
gehalten, von  den  Zielen  der  Klassenpolitdk  geleitet  wird.  Es 
steigt  die  materielle  und  geistige  Lebenshaltung  des  Prole- 
tariats, es  wächst  seine  Kampffähigkeit.  Amdere  sind  die  Mittel 
des  Kampfes  geworden,  andere  die  Maßstäbe,  nach  denen  seine 
Erfolge  bemessen  werden,  die  da  und  dort  nicht  in  gewaltigen 
Entscheidungsischlacliten,  sondern  in  zäher  rastloser  Arbeit  der 
Übermacht  der  herrschenden  Klassen  abgerungen  werden  Not- 
wendiger als  je  ist  es,  daß  das  Bewußtsein  der  revolutionären 
Bedeutung  alles  dieses  Kämpfens  lebendig  bleibe,  daß  über  der 
Fülle  der  Erscheinungen  nicht  das  Erkenntnis  des  Wesens 
zurücktrete,  daß  die  mühselige  Arbeit  des  Tages  nicht  kurz- 
sichtig und  stumpf  mache  und  daß  nicht  das  Bewußtsein  sich 
abschwäche,  daß  es  das  Ziel  allein  ist,  das  aller  ^dieser  Arbeit 
Bedeutung  und  Wert  gibt. 

So  möge  denn  dieser  Gedenktag  ein  Anlaß  sein,  daß  wir 
von  unserer  Tage^arbeit  aufsehen  und  wieder  einmal  ins  Weite 
blicken.  So  am  besten  feiert  die  Arbeiterklasse  ihren  Meister 
Karl  Marx,  der  ihrer  Not  die  Sprache,  ihrem  Kampfe  die 
Würde,  ihrem  Eingen  die  Siegessicherheit  gegeben  hat. 

Victor    Adle  r. 


70. 

„Arbeiter-Zeitung."  15    j^^^rz   1903. 

Der  Nachlaß  von  Marx,  Engels  und  Lassalle. 

neute,  am  Todestag  von  Karl  Marx,  geziemt  es  sich,  von 
einem  Denkmal  zu  reden,  das  seinem  Andenken  aufgerichtet 
wurde  und  das  deutlicher  spricht,  als  Stein  und  Erz  je  sprechen 
könnten. 

Die  Sozialisten  gehen  mit  ihren  großen  Männern  ziemlich 
schlecht  um.  Die  Werke  der  großen  Utopisten,  der  Vorläufer 
des  wissenschaftlichen  Sozialismus,  sind  fast  verschollen.  Nur 
von  Fourier  haben  wir  eine  Gesamtausgabe,  die  übrigens 
manches  zu  wünschen  übrig  läßt  und  zudem  vergriffen  ist;  von 
den  Schriften  Saint  Simons  gibt  es  keine  vollständige,  von 
.denen  Owens  und  Weitlings  gar  keine  Sammlung,  und  von 
vereinzelten  Neudrucken  einiger  weniger  ihrer  Bücher 
abgesehen,     sind    sie    zu    Raritäten    geworden,     nur    wenigen 


152  Der  Nachlaß  von  Marx,  Engels  und  Lassalle 

Bevorzugten  zugänglich.  Und  doch  hätte  die  Verbreitung  der 
veralteten  Werke  dieser  Denker  noch  anderen  Wert  als  den 
gefichichtlicher  Zeugnisse;  eine  Fülle  von  Gedanken  liegt  in 
ihnen — man  muß  es  sagen — begraben,  die  noch  heute  keimfähig 
sind,  und  so  manches  dünne  Heft,  das  läng-et  vergilbt  ist,  vermag 
mehr  Anregung  zu  bieten,  als  eine  mäßige  Wagenladung 
moderner,  populärer  Lektüre. 

Besser  steht  es  um  Lassalle.  Seine  Reden  sind  noch  heute 
lebendiges  Eigentum  der  Älteren  von  uns,  und  es  wäre 
dringend  zu  wünschen,  daß  auch  die  Jüngeren  davon  in  sich 
aufnähmen,  was  unvergänglich  ist.  Von  Lassalles  politischen 
und  ökonomischen  Schriften  besitzen  wir  auch  die  von 
Bernstein  ganz  vortrefflich  besorgte  Gesamtausgabe  und 
dürfen  wohl  hoffen,  daß  eine  neue  Auflage  davon  ihr  noch  einen 
vierten  Band  anfügen  wird,  mit  den  in  einem  halben  Dutzend 
Sammlungen  und  Zeitschriften  zerstreuten  Briefen  Lassalles. 
Auch  die  Persönlichkeit  Lassalles  glaubten  wir  zu  kennen;  in 
seinen  entscheidenden  Jahren  stand  er  im  grellsten  Lichte  der 
politischen  Bühne,  der  dramatische  Verlauf  seines  Lebens  macht 
seine  glänzende  Gestalt  deutlich,  und  ihm  selbst  war  nichts 
unwichtig,  was  ihn  betraf.  L^nd  trotzdem  ist  uns  vor  kurzem 
ein  Laesalle  enthüllt  worden,  den  wir  vordem  nicht  kannten. 
Doch  davon  soll  später  gesprochen  werden. 

Das  Lebenswerk  A'on  Karl  Marx^  vermögen  wir  noch 
heute  nicht  in  seiner  Gänze  zu  überblicken.  Nach  seinem  Tode 
erst  hat  Engels  den  zweiten  und  dritten  Band  des  „Kapital" 
veröffentlicht,  und  eben  ist  die  treue  Hand  Karl  Kautskys  mit 
der  Riesenarbeit  beschäftigt,  vom  vierten  Band  für  die  Welt 
zu  retten,  was  davon  vollendet  ist.  Aber  damit  ist  der  hand- 
schriftliche Nachlaß  von  Marx  noch  lange  nicht  erschöpft. 
East  alljährlich  fördert  die  ,,Neue  Zeit"  und  nun  auch 
Bernsteins  „Dokumente  des  Sozialismus"  einzelne  Stücke 
zutage,  deren  jedes  wertvoll  ist  und  une  bereichert.  Aber  auch 
vieles  von  den  in  den  vierziger  und  fünfziger  Jahren 
veröffentlichten  Schriften  von  Marx  war  uns  bisher  verloren. 
Verloren  in  doppeltem  Sinne: .  Erstlich  sind  die  Zeitschriften, 
in  denen  die  meisten  erschienen,  längst  zu  den  größten  Selten- 
heiten geworden,  die  man  nur  vereinzelt  in  öffentlichen 
Bibliotheken  oder  beneidenswerten  privaten  Sammlungen 
findet;  dann  aber  sind  uns  heute  alle  Vorauesetzungen  verloren 


Der  Nachlaß  von  Marx,  Engels  und  Lassalle  153 

gegangen,  einen  großen  Teil  dieser  Schriften  zu  verstehen. 
Was  der  Marx  der  ersten  Periode  schrieb,  war  für  seine  Gegen- 
wart; geschrieben,  wuchs  aus  seiner  Gegenwart  heraus,  die 
immer  mehr  für  uns  Vergangenheit  wird,  zu  der  die  Brücke 
täglich  schvverer  zu  finden  ist.  Um  so  schwerer,  als  es  noch 
k'ine  Geschichte  der  deutschen  Revolution  gibt,  deren  Träger 
ia  allererster  Eeihe  Karl  Marx  war.  Unser  Bild  von  der  öko- 
r.omischen,  politischen  und  geistigen  Umwälzung,  die  das 
deutsche  Leben  zwischen  dem  vierten  und  siebenten  Jahrzehnt 
des  vorigen  Jahrhunderts  erfuhr,  ist  unvollständig,  und  kaum 
sind  die  äußeren  Vorgänge  in  ihrem  Zusammenhange  deutlich 
geschildert.  Wer  uns  den  Karl  Marx  jener  Jahre  zeigen  will, 
hat  somit  ein  Stück  Geschichtsehreibung  höchster  Ordnung  zu 
leisten. 

Franz  M  eh  ring  hat  die^e  große  Leistung  vollbracht. 
Unter  dem  bescheidenen  Titel  ,,A  us  dem  Nachlaß  von 
Karl  Marx,  Friedrich  Engels  und  Ferdinand 
L  a  s  s  a  1 1  e"  hat  er  vier  Bände  herausgegeben,  in  denen  er 
den  größten  Teil  der  von  Marx-Engels  bis  1850  veröffentlichten 
Schriften  und  die  Briefe  Lassalles  an  diese  beiden  gesammelt 
hat.  Es  fehlt  in  der  Sammlung  nur,  was  durch  Neudruck  ohne- 
hin jedem  zur  Verfügung  steht,  wie  „Das  Elend  der  Philo- 
sophie", „Das  Kommunistische  Manifest'"',  „Die  Lage  der 
arbeitenden  Klassen  in  England''.  Dagegen  enthält  sie  nebst 
den  in  den  l'evuen  zerstreuten  größeren  Aufsätzen,  den  Ar- 
tikeln aus  der  „Rheinischen  Zeitung"'  und  „Neuen  Rheinischen 
Zeitung",  auch  die  niemals  gedruckte  Doktordissertation  von 
Karl  Marx  imd  ein  ganzes  Buch  „Die  heilige  Familie",  das 
Marx-Engels  1844  erscheinen  ließen,  das  aber  heute  bis  auf 
ganz  wenige  Exemplare  gänzlich  verschwunden  ist.  Aber  der 
getreue  Abdruck  verschollener  Schriften  ist  die  Arbeit  des 
Verleger?,  etwa  auch-  des  kritischen  Philologen,  der  für  Rein- 
lichkeit und  Genauigkeit,  für  die  Akribie  zu  sorgen  hat.  Mehring 
hat  weit  mehr  getan.  Jedes  einzelne  Stück  der  Sammlung 
ist  durch  eine  ausführliche,  weit  ausgreifende  Einleitung 
historisch  auf  seinen  Platz  gestellt  und  verständlich  gemacht 
und  durch  Anmerkungen  in  allen  Einzelheiten  erläutert. 
So  ist  unter  seinen  Händen  lebendig  geworden,  was  selbst  den 
wenigen,  die  es  kannten,  zum  guten  Teile  totes  Material 
geworden  war. 


154  Der  Nachlaß  von  Marx,  Engels  und  Lassalle 

Nun  wollen  wir  ein  Geständnis  machen,  das  wie  ein.  höchst 
pei peinliches  aussieht,  aber  weit  entfernt  davon  ist,  es  zu  sein. 
Der  Schreiber  dieser  Zeilen  bekennt  sich  dazu  und  weiß,  daß 
er  ln\  Namen  nicht  allzu  weniger  spricht,  daß  eine  gewisse 
Unruhe  wach  wur'de,  als  die  Nachricht  kam,  Franz  Mehring 
sei  ausersehen,  den  Nachlaß  von  Marx-Engels  herauszugeben. 
Nicht  als  ob  sich  der  gering.ste  Zweifel  an  dem  umfassenden 
Wissen  und  den  außerordentlichen  Fähigkeiten  des  Verfassers 
der  ..Lessing-Legende",  des  Geschichtschrei'bers  der  deutschen 
Sozialdemokratie  hätte  rühren  können.  Aber  Mehring  ist  auch 
ein  glänzender  Tagesschriftsteller,  ein  Polemiker  ersten 
Eanges  und  unterliegt  gerade  als  solcher,  wie  wir  alle,  den 
Lastern  seiner  Tugenden.  Davon,  von  dem  Überschäumen  des 
Tejf.perame-its,  von  der  sich  vordrängenden  Kraft  einer  nicht 
allen  und  nicht  in  allen  Stücken  gleich  sympathischen  Per- 
sönlichkeit, die  in  der  Wertung  von  Dingen  und  Menschen 
nicht  nur  von  der  großen  Leidenschaft  des  Tages,  sondern  auch 
von  dei'  kl'^inen  Laune  der  Minute  beherrscht  wird,  war  zu 
befürchten,  daß  das  ebenso  notwendige  wie  ersehnte  Werk 
schrdigendo  Spuren  tragen  werde.  Nun  wohl,  wer  mit  uns 
gszweifeit  und  gefürchtet  hat,  ist  aufs  glücklichste  enttäuscht 
und  beschämt.  Franz  Mehring  hat  in  den  vier  Bänden  'des 
„Nachlasses'  ein  Werk  der  Selbstüberwindung,  der  Liebe,  der 
LIingcbung  und  des  Fleißes  geleistet,  wofür  ihm  der  inter- 
nationale Sozialismus,  die  ganze  gebildete  W^elt  dauernden 
nnd  innigsten  Dank  schulden.  In  überraschendem  Maße  hat 
er  sich,  zur  Höhe  und  Würde  seiner  Aufgabe  erhoben  und  nur 
an  ganz  vereinzelten  und  überdies  nebensächlichen  Stellen  wird 
der  Leser  vorübergehend  daran  erinnert,  was  der  Autor  in  sich 
überwinden  tiuißte. 

Allerdings,  wer  einen  geistlosen.  uni)ersönlichen  Kom- 
mentar erwartet  von  der  Art,  mit  der  gewisse  Literatur- 
professoren uns  unsere  Klassiker  verekeln,  das  heißt  denen  von 
une,  die  töricht  genug  sind,  die  Schmöker  in  die  Hand  zu 
nehmen,  wird  sich  sehr  getäuscht  sehen.  Mit  Recht  verwehrt 
sich  Mebiing  auch  gegen  „jene  heuchlerische  Objektivität,  die 
nur  in  den  interessierten  Vorurteilen  der  herrschenden  Klassen 
ihr  gespensterhaftes •  Dasein  führt";  vielmehr  hat  er,  so  sagt 
er  selbst,  srine  subjektive  Auffassung  nicht  zu  verbergen  ge- 
sucht, sondern    sie  geflissentlich    hervorgekehrt,   eben  um  das 


•    Der  Nachlaß  von  Marx,  Engels  und  Lassalle  155 

eigene  Urtf-ii  des  Lesers  nicht  zu  kaptivieren,  e-s  nicht  einzu- 
schläfern, sondern  anzuregen.  Auch  keine  Apologie  der  großen 
Männer,  mit  deren  Schriften  er  sich  beschäftigt,  .gibt  sein  Buch, 
vielmehr  steht  er  ihnen  so  unbefangen  und  kritisch  gegenüber, 
als  nur  immer  dem  Jüngeren  gegeben  sein  kann,  der  auf  den 
Sibuliern  des  Meisters  steht. 

Den  ersten  Band  des  „Nachlasses"  hat  bei  seinem  Er- 
scheinen August  Bebel  an  dieser  Stelle  angezeigt.  So  sei  nur 
nochmals  daran  erinnert,  daß  in  diesem  Bande  uns  zum  ersten- 
mal der  junge  Marx  gezeigt  wird.  Es  ist  ein  Stück  Biographie, 
das  uns  zum  erstenmal  den  Menschen  Marx  in  intime  Nähe 
bringt.  Was  man  bisher  von  ihm  wußte,  beschränkte  sich  auf 
eiae  Zahl  von  Skizzen,  die  seine  Töchter  Laura  und  Eleanor, 
seine  Freunde  Engels  und  Liebknecht  da  und  dort  veröffent- 
licht. Aber  alles  das  waren,  soweit  es  sich  nicht  um  Bilder  des 
Forschers  und  Politikers  handelte,  nur  gelegentliche,  ver- 
einzelte, fa^t  anekdotenhafte  Züge.  Sonst  war  Marx  für  uns 
Jüngere,  die  ihn  nicht  mehr  gesehen,  persönlich  fast  ein 
Fremder,  eine  Erscheinung  von  fast  unheimlicher,  ganz  unver- 
mittellpi'  Größe.  Nun  lese"  man  —  und  jeder  kann  das  lesen 
und  verstehen  —  das  Stück  Jugendgeschichte,  das  uns  Mehring 
als  Einleitung  zur  Doktordissertation  gibt,  und  man  wird  Marx 
werden  und  wachsen  sehen.  Die  stilistische  Meisterschaft 
Mehrings  wird  hier  fast  übertroffen  von  einer  Herzens  wärme, 
die  unwiderstehlicii  wirkt.  Wir  lernen  Marx,  zu  dem  wir  mit 
dankbarer  S-'^erehrung  und  scheuer  Bewunderung  hinaufsahen, 
al-i  Menschen  lieben  und  wir, lernen  einen  zweiten  lieben,  seinen 
Vater.  Den  Briefwechsel  zwischen  dem  alten  Marx  mit  dem 
Zwanzigjährigen  wird  man  nicht  lesen  können,  ohne  im 
Innersien  ergriffen  zu  werden.  Zugleich  aber  ist  man  starr  vor 
Erstiunen  darüber,  welches  Quantum  von  Arbeit  das  junge 
Gehirn  von  Karl  Marx  schon  damals  zu  bewältigen  imstande  war. 
und  v/ird  wieder  daran  erinnert,  daß  das  Beste  im  Genie  sein 
Fleiß  ist. 

Nun  kommen  die  ersten  schriftstellerischen  Arbeiten 
von  Marx  in  der  „Rheinischen  Zeitung",  sein  Aufsatz  über  die 
Zensur  in  den  Anekdota  und  seine  Beiträge  zu  den  Deutsch- 
französischen Jahrbüchern.  In  diese  Zeit  fällt  auch  der  Glücks- 
fall seineb'  Lebefns;  er  kommt  mit  Friedrich  Engels  zusammen. 
E?  i>l  dif  Zeit,  wo  sirh  Marx-Engels  mit  der  Hegeischen  Philo- 


156  Der  Nachlaß  von  Marx,  Engels  und  Lassalle 

Sophie  und  mit  dem  damaligen,  wesentlich  französischen  Sozia- 
lismus auseinandersetzen,  zu  sich  selbst  kommen.  Um  die  zahl- 
reichen, damals  entstandenen  Arbeiten  verständlich  zu  machen, 
die  bis  an  das  Ende  des  zweiten  Bandes  reichen,  mußte 
Mehring',  wie  er  es  ausdrückt,  „das  Milieu  erneuern",  worin 
sie  entstanden  sind.  Aber  welche  Arbeit  bedeutet  das  und 
welche  ungeheuerlichen  Vorbedingungen  sind  zu  erfüllen! 
Jene  vierziger  Jahre  sind  uns  heute  fremd  geworden,  bis  ßogar 
auf  dif  Sprache  der  Hegel-Schüler,  die  wir  keineswegs  ohne- 
weitor^>  verstehen.  Weit  ferner  zurückliegende  Zeiten  der 
geistigen  Entwicklung  Deutschlands  oder  Frankreichs  sind  uns 
heute  viel  verständlicher,  und  Mehring  mußte  in  der  Tat  d^e 
philoe^ophische,  politische  und  ökonomische  Geschichte  jener 
Zeit  erst  heraufbeschwören  und  deutlich  machen,  er  mußte  die 
Personen,  die  die  Träger  jener  Gedankengänge  waren,  mit 
denen  sich  Marx-Engels'  auseinandersetzten,  wieder  lebendig 
machen,  um  uns  jenes  Stück  großartigen  Kampfes  zu  zeigen, 
das  unsere  Meister  in  jenen  Jahren  vollbrachten,  die  sie  zu  dem 
machten,  was  sie  1847  geworden  waren,  die  Verkünder  des 
,, Kommunistischen  Manife&ts".  Wir  gestehen,  daß  für  den  heute 
Lebenden  die  Aufbewahrung  einzelner,  der  im  ,, Nachlaß"  ab- 
gedruckten kleineren  Aufsätze  unserer  Meister,  unbeschadet 
ihres  hisiorLschen  und  persönlichen  Wertes,  an  Wichtigkeit 
zurücktritt  gegen  die  Vermittlung  der  geschichtlichen  Kennt- 
nis, die  Mehrings  Einleitungen  darbieten. 

Wir  haben  nicht  vor,  ein  Inhaltsverzeichnis  des  Werkes 
zu  geben,  und  erwähnen  nur  noch,  daß  wir  im  dritten  Band 
Marx  und  Engels  als  Journalisten  kennen  lernen  in  einer  Anzahl 
Leitartikel  jener  berühmten  „Neuen  Eheinischen  Zeitung",  ge- 
schrieben zwischen  dem  31.  Mai  1848  und  dem  18.  Mai  1840, 
mitten  in  den  Wettern  der  Eevolution,  mitten  in  persönlichen 
Gefahren  aller  Art.  Es  geht  eine  berauschende  Kraft  von 
diesen  Zeitungsartikeln  aus,  die  eine  unvergleichliche  Vereini- 
gung von  revolutionärer  Leidenschaft  und  gewissenhaftem 
Verantwortungsgefühl  darstellen.  Weniges,  was  Marx  und 
Engels  geschrieben  haben,  hat  neben  dem  hohen  sachlichen 
Interesse  den  gleichen  Zauber  der  Persönlichkeit. 

Der  vierte  Band  bringt  eine  unerwartete  Gabe,  die  Briefe 
Lassalles  an  ]\[arx  und  Engels.  Wir  haben  es  schon  angedeutet: 
Wir  glaubten  Lasealle  zu  kennen,  und  nun  erleben  wir  einen 


Marx-Feier  1903  157 

.ganz  reuen  Lassalle,  einen  weichen,  liebenswürdigen  Menschen, 
einen  hingebenden  Freund  und  zugleich  einen  Mann,  der  mit 
iieroischer  Kraft  und  wühlender  Wahrheitsliebe  mit  sich  selbst 
ringt.  Zum  ersten  Male  sehen  wir  LassaHe  und  durch  ihn  Marx 
und  Engels  in  intimer  Nähe.  Leider  sind  die  Antworten 
an  ihn  in  der  Familie  LEatzfeld  Beeitz,  und  sie  hat 
sich  noch  nicht  entschließefi  können,  davon  abzustehen, 
sie  dem  einzig  berechtigen  Erben,  der  Geschicht- 
schrei'bung  des  Sozialismus,  vorzuenthalten.  Aber  auch  die 
Hälfue  dieses  Briefwechsels,  die  wir  nun  kennen,  ist  ein 
historische?  Zeugnis  ersten  Ranges  und  gibt  erst  den  Schlüssel 
^u  der  Persönlichkeit  und  der  Politik  Lassalles.  Die  Briefe, 
«die  Lassalles  Tragödie  „Franz  von  Sickingen''  betreffen,  ent- 
halten ein  Stück  Philosophie  der  politischen  Taktik  von  nnaus- 
•schöpfbarem  Werte  .  .  . 

Mehring  nennt  die  vier  Bände  „Nachlaß"  eine  der  unum- 
gänglichen Vorarbeiten  zu  einer  wissenschaftlichen  Gesamt- 
ausgabe der  Schriften  von  Marx  und  Engels.  Gewiß  sind  sie 
das,  aber  sie  sind  auch  eine  Arbeit  von  selbständigem  und 
bleibendem  Werte,  unschätzbar  und  unentbehrlich  für  jeden, 
der  die  proletarische  Bewegung  unserer  Tage,  der  unsere  eigene 
Geschieht'^  begreifen  will.  Durch  dieses  Werk  w'ird  uns  im 
^einzelnen  zum  Bew^ußtsein  gebracht,  was  der  Stolz  und  die 
Würde  unserer  Bewegung  ist,  daß  sie  in  allen  Höhen  des 
menschlichen  Gedankens  nicht  minder  wie  in  den  Tiefen  der 
wirtschaftlichen  Zusammenhänge  wurzelt.  Und  noch  einmal  sei 
^es  am  Schlüsse  gesagt:  wer  den  Mann,  dessen  wir  heute  ge- 
-denkrn,  wer  Karl  Marx  mehr  als  verehren,  wer  ihn  lieben 
lernen  will,  der  nehme  diesen  Nachlaß  zur  Hand.  V.  A. 

71. 

„Arbeiter-Zeilung.'  17.  März  1903. 

Marx-Feier  1903. 

dedenkrecle.  gehalten  von  Victor  .V  d  1  e  r  am  16.  März  1903  im  Sofiensaal, 

Wien  III. 

Parteigenossen  und  -Genossinnen! 

W^ir  haben  Sie  liier  zusammengerufen  zu  einer  Feier  des 

MäiZ,  zu  einer  Feier,  die  die  Fortsetzung  der  Feier  ist,  die  Sie 

gestern  begangen  haben.     Ln    März    1848    trat    zum   erstenmal 

das   deutsche   Proletariat   auf   die    Bühne    der    Weltgeschichte. 


158  Marx-Feier  1903  i} 

und  im  Miiiv  1883  starb  der  Mann,  der  dem  Proletariat  seine 
Mission  zeigte,  der  verstanden  hat,  was  im  März  1848  ge- 
schehen. Es  sind  nicht  nur  die  Märzgefallenen  hier  und  in 
Berlin,  es  smd  die  Märzgefallenen  des  Jahres  1871  in  Paris, 
es  sind  alle,  die  im  Kampfe  für  die  Freiheit  gefallen  sind,  die 
wir  heute  grüßen,  wenn  wir  darangehen,  Marx  zu  feiern.  Was 
war  die  Märzrevolution?  Was  war  die  Commune?  Versuche,. 
Stiirm.e,  die  zurückgeschlagen  wurden,  verunglückte  Versuche. 
Und  heute  hebt  sich  die  Weisheit  mancher  hoch  und  sieht 
zarück  auf  die  armen  Irregeführten,  die  ihr  Blut  gelassen 
haben  um  eine  Täuschung,  um  ein  verunglücktes  Experiment. 
Wir  aber  sagen :  Weiser  war  der  Naivste,  weiser  war  der  Ein- 
fältigste von  denen,  die  dort  liegen,  weiser  war  er  und  frucht- 
bringender als  diese  Weisen,  die  heute  wissen,  wie  kostbar  jeder 
ihrer  Blutstropfen  ist,  die  heute  wissen,  daß  man  ja  nichts 
anfangen  darf,  dessen  Ende  man  nicht  absehen  kann.  Weiser, 
sage  ich,  und  fruchtbringender  war  jene  Torheit,  als  es  die  alt- 
kluge Philisterhaftigkeit  unserer  Tage  ist. 

Gev.'iß,  heute  sind  die  Formen  der  Eevolution  andere 
gewor-len.  Heute  hat  die  Arbeiterklasse  andere  Mittel,  als  sie 
die  Opfer  des  März  hatten.  Aber  wenn  sie  andere  Mittel  hat, 
wenn  die  Arbeiterklasse  eine  andere  geworden  ist,  so  dankt  sie 
das  mit  und  zuerst  denen,  die  ihr  Leben  geopfert  haben  jenen 
Zwecken,  verdankt  sie  das  denen,  die  geopfert  haben,  was  sie 
hatten,  mit  einem  Schlag,  so  wie  jener  Karl  Marx  geopfert  hat, 
das  größte  Gehirn  des  Jahrhunderts,  die  tiefste  Denkerarbeit 
des  Jahrhunderts,  wie  er  sie  in  den  Dienst  gestellt  der  großen 
heiligen  Sache,  in  deren  Namen  wir  hier  versammelt  sind. 

Karl  Marx  war  1848  ein  junger  Mann,  kaum  dreißig 
Jahre  alt.  Und  da  wir  hier  in  Wien  sind,  so  will  ich  Ihnen  einen 
Begriff  geben,  wie  er  über  Wien  gesprochen  hat.  Sie  wissen, 
daß  Marx  zu  jener  Zeit. der  Chefredakteur  jener  „Neuen  Eheiui- 
sehen  Zeitung*'  war,  die  das  Organ  der  vorgeschrittensten  Revo- 
lutionäre Deutschlands  gewesen  ist.  Die  man  damals  Revolu- 
tionäre nannte,  die  kämpften  alle  für  die  Ideale,  für  die  Frei- 
heit, aber  für  wessen  Freiheit  und  gegen  wen  sie  kämpften,  das 
wußten  sie  nicht.  Die  Proletarier  selbst,  die  mit  in  ihren  Reihen 
standen  —  und  in  allerereter  Linie  —  und  die  die  Schlachten 
gesciilagen  haben,  sie  selbst  hatten  nur  ganz  instinktiv  eine 
Ahnung  von  dem,  was  sie  selbst  verrichteten.  Das  Bürgertum 


Marx-Feier  1903  159 

und  die  Arbeiterschaft  waren  damals  noch  nicht  differenziert. 
Das  Jahr  1848  war  einer  der  Hebel  dieser  Differenzierunjj-. 
In  dem  gemeinsamen  Kampfe  kamen  sie  aus- 
einander, in  dem  gemeinsamen  Kampfe  wurde  der  Gegen- 
satz offenbar  und  in  ihm  zeigte  sich,  daß  die  bürgerliche 
Freiheit  ein  ganz  anderes  Ding  ist  als  die 
proletarische  Freiheit.  Und  in  dem  Moment,  wo  die 
Klassengegensätze  in  diesem  Kampfe  zum  Bewußtsein  kamen, 
da  gab  es  für  das  Bürgertum  in  Deutschland  wie  in  Österreich 
eine  Wahl  ebensowenig  wie  in  Frankreich.  Es  ließ  sich  lieber 
s.eine  ijolitische  Macht  nehmen,  es  streckte  seine  Hände  denen 
hin,  die  sie  ketteten,  es  ergab  sich  hier  dem  Windischgrätz  und 
dort  dem  Napoleon,  ergab  sich  um  den  Preis,  daß  das  Prole- 
tariat zu  Boden  gerungen,  daß  es  festgehalten  und  daß  ihre 
bürgerliche  Revolution  vor  der  proletarischen  Revolution 
geschützt  werde.  Das  wußte  man  damals  nicht.  Aber  Marx 
hat  es  gewußt,  und  wenn  ich  Ihnen  ein  paar  Zeilen  von 
jenem  Leitartikel  vorlese,  den  er  schrieb,  als  die  Xachricht  kam., 
daß  Wien  gefallen  sei,  so  tue  ich  es,  um  Ihnen  einen  Probe  zu 
geben  zugleich  von  dem  Stil  dieses  Mannes  und  von  dem,  wio 
Marx  Journalist  war : 

Der  Artikel  ist  datiert  von  Köl  n,   6.  November  1848: 

Die  kroatisclie  Freiheit  und  Ordnung  Jiaben  gesiegt  und  rnit  Mord, 
Brand,  Schändung,  Plünderung,  mit  namenlos  verru'ciiten  Untaten  ihren 
Sieg  gefeiert.  Wien  ist  in  den  Händen  von  Windischgrätz,  Jellacic  und 
Auersperg.  Hekatomben  von  Menschenopfern  werden  d-'m  srei^en  Verräter 
Latour  in  sein  Grah  nachgeschleudert. 

Verrat  jeder  Art  hat  Wiens  Fall  vorbereiloL  Die  ganze  Ge- 
schichte des  Reichstages  und  des  Gemeinderates  seit  dem 
6.  Oktober  ist  nichts  als  eine  forlgesetzte  Geschichte  des  Verrats.  Wer 
war  repräsentiert  im  Reichtag  und  Genieindcrat?  Die  Bourgeoisie. 

Ein  Teil  der  Wiener  N  a  t  i  c  n  a  1  g  a  r  d  o  ergriff  gleich  irn 
Begiim  der  Oktolierrevolution  offene  Partei  für  die  Kamarilla.  Und 
am  Schluß  der  Oktoberrevolution  finden  wir  einen  anderen  Teil  der 
Nationalgarde  im  Kampfe  mit  dem  Proletariat  und  der  akademischen 
Legion,  im  geheimen  Einverständnis  mit  Jen  kaiserlichen  Banditen.  Wem 
gehören  diese  Fraktionen  der  Nationalgarde  an?  Der  Bourgeoisie. 

Wer  lief  in  Scharen  aus  Wien  fort  und  überließ  der  Großmut  des 
I  Volkes  die  Überwachung  der  hinterlassenen  Reichtümer,  um  es  lür  seinen 
Wachtdienst  während  der  Flucht  zu  verlästern,  und  bei  der  Wiederkehr 
,  niedermetzeln   zu  sehen?  Die  Bourgeoisie. 

Wessen  innerste  Geheimnisse  spricht  das  Thermometer  aus,  das 
bei  jedem  Lebensatem  des  Wiener  Volkes   fiel,  bei  jedem  Todesröcheln 


160  Marx-Feier  1903 

desselben  stieg?  Wer  spricht  in  der  Runensprache  der  Börsenkurse?  Die 
Bourgeoisie. 

Die  „deutsche  Nationalversammlung"  und  ihre  ,,Zentralge\valt" 
haben  Wien  verraten.  Wen  repräsentieren  sie?  Vor  allem  die  Bourgeoisie. 

Der  Sieg  der  „kroatischen  Ordnung  und  l'reiheit"  zu  Wien  war 
bedingt  durch  den  Sieg  der  „honetten"  Republik  zu  Paris.  Wer  siegte 
in  den  Junitagen?  Die  Bourgeoisie. 

Mit  ihrem  Siege  zu  Paris  begann  die  europäische  Kontrerevolution 
ihre  Orgien  zu  feiern. 

Wir  baben  sie  erlebt.  Begreifen  Sie,  wie  anders  diese 
Sprache  ist  als  die,  die  die  Naiven  von  damals  kannten?  Be- 
greifen Sie,  daß  das  ein  greller  Mißton  war  für  alle,  die  sich 
Volksfreunde,  die  sich  Demokraten  nannten?  Begreifen  Sie, 
daß  Marx  schon  damals  der  proletarischen  Demokratie  den 
Boden  bereitete?  Begreifen  Sie,  warum  von  damals  an  die 
edelsten,  die  vorges-chrittensten,  die  menschenfreundlichsten 
und  freiheitlichsten  Elemente  des  deutschen  BürgertumS'  bei 
aller  Einsicht,  bei  allem  Fortschritt,  bei  aller  Liebe  zum  Volke 
niemand  bitterer  haßten  als  Karl  Marx  nnd  die  jSeinen  ? 
Karl  Marx,  der  die  Lüge  zerstört  hat  —  seien  wir  nicht  unge- 
recht, nicht  die  Lüge,  sondern  den  Wahn  und  die  Selbst- 
täuschung zerstört  hat  —  daß  es  ein  Volk  gebe,  etwas  Gemein- 
sames, etwas  Ununterschiedenes  gebe  mit  gleichem  Interesse, 
und  daß  diese  unterschiedslose  Masse  kampffähig  sei! 

Das  war  Marxens  erster  Eintritt  in  die  aktive  Politik. 
Er  hat  aber  da  schon  ein  reiches  Erbe  mitgebracht,  ein  Erbe, 
das  er  selbst  errungen  hat.  Wenn  wir  heute  Marx  feiern,  mehr, 
lauter  und  wärmer  feiern,  alsi  ,  es  sich  mit  den  nüchternen 
Gewohnheiten  unserer  Partei  verträgt,  wenn  wir  ihm  etwas  • 
mehr  entgegenbringen  als  anderen,  die  auch  gekämpft  und  ihr  ; 
Bestes  getan,  und  wenn  wir  Marx  feiern,  die  wir  Heroenkultus 
sonst  nicht  üben,  so  hat  das  seine  guten  Gründe.  In  Marx  stellt 
sich  für  uns  dar  das  Beste,  was  die  kämpfende  Arbeiterklasse 
empfunden  hat,  das  Höchste,  was  die  Arbeiterklasse  gedacht 
hat;  in  seinem  Namen  vereinigten  sich  für  uns  alle  ihre 
Hoffnungen,  alle  ihre  Entschlüsse,  in  seinem  Namen  vereinigt 
sich  für  uns,  was  wir  erkennen  und  was  wir  wollen.  Marx  hat 
uns  die  Lehre  vom  Klassenkampf  gebracht,  dais-  heißt,  er  hat 
die  Entwicklung  der  Geschichte  uns  verständlich  gemacht;  er 
bat  die  Arbeiterklasse,  die  anfing  die  ersten  Schritte  zu 
machen,  sehend  gemacht,  er  hat  ihr  ein  Ziel  gezeigt  —  gezeigt. 


Marx-Feier  1903  161 

nicht  gesteckt  — ,  er  hat  die  Tatsachen  zu  deuten  gewußt,  und 
er  hat  dem  Proletariat  etwas  gegeben,  das  das  Wertvollste  ist 
für  jeden  einzelnen  Kämpfer  wie  für  jede  kämpfende  Klasse: 
er  hat  ihr  die  S  i  c  li  e  r  h  e  i  t  des  Sieges  gegeben,  die 
entspringt  aus  der  Ednsicht,  daß  wir  die  Träger  des  mensch- 
lichen Fortschrittes  sind,  daß  die  Arbeiterklasse  der  Träger 
jenes  geschichtlichen  Prozesses  ist:  der  Träger  der  Revolution, 
inmitten  der  wir  stehen. 

Es  sind  nüchterne  Dinge,  die  er  erzählt  hat,  und  trockene 
Bücher,  die  er  gesiohrieben.  Man  sieht  es  den  Bänden,  des 
„Kapitals"  gar  nicht  an,  welchen  Sprengstoff  sie  enthalten,  und 
wer  glaubt,  eine  aufregende,  eine  für  Agitationsreden  brauch- 
bare Lektüre  zu  finden,  der  täuscht  sich  sehr.  Harte  Arbedt 
eines  langen  Lebens  ist  da  zusammengetragen.  Wenn  Marx  im 
,, Kapital"  die  Gesetze  der  kapitalistischen  Ökonomie  auf- 
gezeichnet hat,  wenn  er  gezeigt  hat,  dn  welcher  speziellen  Art 
in  dieser  kapitalistischen  Periode  Mehrwert  aus  den  Ar- 
beitenden gepumpt  wird,  wie  da  Eeiclitum  aufgehäuft  wird  von 
denen,  die  die  Produktionsmittel  besitzen,  wenn  er  in  diesen 
Forschungen  das  Pätsel  der  Sphynx  gelöst  hat,  so  ist  das  nicht 
seine  größte  Tat.  Man  streitet  heute  viel  über  Marxens  Wert- 
theorien, und  man  wird  noch  lange  streiten.  Sicher  ist  aber 
eines:  Es  hat  noch  keine  ökonomische  Theorie  gegeben,  die  so 
fruchtbringend  war  für  die  Wissenschaft,  und  —  ich  scheue 
mich  nicht,  es  zu  sagen  —  was  höher  steht:  so  fruchtbringend 
für  das  Leben.  Mit  seiner  Theorie  gab  Marx  der  Arbeiterklasse 
das  A  u  g  e,  i  h  r  e  eigene  Lage  zu  sehen;  er  gab  ihr 
aber  auch  die  Möglichkeit,  zum  erstenmal  ihre 
geschichtliche    Würde    zu    empfinden. 

Marx  hat  aber  nicht  nur  Bücher  geschrieben.  Er  hat  kein 
reiches  Leben  in  dem  Sinne,  daß  man  viel  von  seiner  Biogra- 
phie erzählen  könnte.  Anfangs  der  fünfziger  -Jahre,  nach  der 
Revolution,  ist  er  nach  England  verschlagen  worden  und  ist 
kaum  wieder  aus  seinem  Studierzimmer  und  aus  dem  Lesesaal 
des  Britischen  Museums  herausgekommen.  Wenig  äußere  Er- 
eignisse hat  er  erlebt.  Aber  in  dieser  Klause  wurde  der  Mann 
zu  einem  der  wichtigsten  Faktoren  der  europäischen  Gesohichte 
der  zweiten  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts,  und  von  diesem 
engen  Studierzimmer  heraus  ging  die  mächtigste  geschichtliche 
Wirkung.  Allerdings,  Marx  war  ein  Mann  der  Wissenschaft, 


162  Marx-Feier  1903 


aber  er  war  auch  ein  Politiker.  Er  ^ab  dem  Proletariat 
nicht  nur  die  Erkenntnis,  er  war  auch  der  erste,  der  seine 
Politik  machte.  Wie  machte  er  sie?  Wenn  wir  zurückdenken  an 
die  ersten  Zeiten  der  österreichischen  Arbeiterbewegung,  wenn 
wir  denken,  wie  damals  von  Deutschland  ein  Stück 
Lassalleschen  Feuers  herüberflog  und  zündete;  wenn  wir  uns 
erinnern,  wie  das  in  die  Höhe  ging  und  wieder  in  kurzer  Zeit 
niedergeschlagen  wurde  —  nicht  nur  niedergeschlagen  —  das 
müssen  wir  bekennen  —  durch  die  Gewalt,  sondern  auch 
niedergerungen  durch  die  eigene  Schuld  des  österreichischen 
Proletariats,  das  noch  nicht  reif  war  für  die  Aufgaben,  die  es 
sich  damals  stellte;  wenn  w^ir  daran  zurückdenken  und  den 
Zustand  der  österreichischen  Partei  von  damals  mit  den 
gleichen  Verhältnissen  in  England  vergleichen,  wo  eigentlicu 
von  einer  selbständigen  poMtischen  Bewegung  des  Proletariats 
keine  Rede  war,  wo  sich  das  Proletariat  in  einer  Gewerk- 
schaftsbewegung auslebte;  wenn  wir  es  mit  Frankreich  ver- 
gleichen, wo  das  Proletariat  schon  ein  politischer  Faktor  war, 
der  eine  solche  große  Tat  wie  die  Commune  zu  leisten  imstande 
war,  und  mit  Deutschland,  das  an  der  Schwelle  jener  Entwick- 
lung zur  deutschen  Sozialdemokratie  war,  die  heute  das  Prole- 
tariat aller  Länder  führt;  wenn  wir  so  in  einem  kurzen  Über- 
blick unsere  Lage  vergleichen  und  daran  denken,  wie  Marx  von 
seinem  Zimmer  in  London  aus  die  ganzen  fünfziger  und 
sechziger  Jahre  Mndurch  jedem  einzelnen  Mann,  der  in  der 
internationalen  Bewegung  tätig  war  und  der  Verantwortungen 
auf  sich  nahm,  zur  Seite  stand,  sein  Berater  und  Freund  war, 
und  wie  er  diese  ungeheuren  Verschiedenheiten  zusammenzu- 
fassen wußte :  da  bekommen  wir  erst  einen  Begriff  von  der 
ungeheuren  politischen  Leistung  dieses  Mannes. 

Man  pflegt  heute  so  viel  vom  Marxischen  Dogma  zu 
sprechen,  und  es  gilt  als  bekannt,  daß  es  nichts  Unduldsameres 
gegeben  hat,  als  es  Marx  war,  nicht  nur  in  der  Wissenschaft, 
sondern  vor  allem  auch  in  der  Politik.  Unduldsam,  herrsch- 
süe-htäg,  eigenwillig  soll  Marx  gewesen  sein.  Aber  es  ist  von 
vornherein  unwahrscheinlich,  daß  ein  Unduldsamer  und 
Herrschsüchtiger  herrschen  könne.  Herrschen  können  die 
Unduldsamen  nie.  Ist  das  also  schon  von  vornherein  unwahr- 
scheinlich, so  möchte  ich  Ihnen  zwei  kleine  Belege  bringen  für 
die  Art,  wie  unduldsam  er  war. 


Marx-Feier  1903  163 

Die  Internationale  besaß  in  London  ihren  Generalrat,  in 
dem  die  Delegierten  der  Parteien  aller  Länder  saßen  —  eine 
Form,  die  heute  längst  gesprengt  ist,  weil  die  Parteien  heute 
weit  über  den  Eahmen  einer  solchen  zentralen  Leitung  hinaus- 
gewachsen sind.  Aber  damals  war  diese  zentrale  Leitung  sehr 
wichtig,  weil  sich  überall  erst  Embryonen  der  Entwicklung 
einer  Organisation  der  Arbeiter  regten.  Unter  den  Leuten,  die 
da  im  Generalrat  der  Internationale  saßen,  waren  auch  sehr 
merkwürdige  Marxisten.  Wenn  es,  müßte  man  meinen,  irgend- 
einen Fleck  gegeben  hat,  wo  Marx  vor  allem  jene  schablonen- 
hafte Führung,  jene  zwiingende  Einseitigkeit  ausgeübt  hätte, 
von  der  man  heute  spricht  —  und  es  gibt  genug  Leute,  die  das 
ganz  ernsthaft  glauben  — ,  so  wäre  ja  gerade  der  Generalrat  der 
Internationale  dieser  Fleck.  In  diesem  Generalrat  saßen  nicht 
nur  Kommunisten,  also  was  wir  heute  Sozialdemokraten  oder 
Marxisten  nennen  würden,  sondern  da  saßen  neben  Gewerk- 
schaftern auch  alte  Oweniten,  wie  der  alte  W  e  s  t  o  n,  die 
überzeugt  waren,  daß  die  Bewegung  der  x\rbeiterschaft,  die 
politische  wie  die  gewerkschaftliche,  zwecklos  sei,  und  daß  nur 
auf  dem  Wege  einer  —  man  möchte  heute  fast  sagen  —  über- 
irdischen Erleuchtung  der  Herrschenden  einerseits  und  au^ 
einer  Einrichtung,  die  das  Zirkulationswesen  regelt,  die  Be- 
freiung des  Proletariats  möglich  sei.  Mitte  der  Sechzigerjahre 
entwickelten  sich  nun  in  ganz  Europa,  in  den  ersten  Anfängen 
einer  wirtschaftlichen  Hochperiode,  auch  Lohnkämpfe,  und 
diese  nahmen  so  überhand,  daß  sich  der  Generalrat  damit  be- 
schäftigen mußte,  weil  so,  wie  die  englischen  Gewerkschafter 
im  Generalrat  absolut  von  nichts  anderem  wiesen  wollten  als 
von  ihrem  gewerkschaftlichen  Leben,  die  alten  Oweniten,  die 
einen  großen  Einfluß  hatten,  wieder  darauf  hindrängten,  daß 
man  gegen  diese  Streiks  vorgehe.  Nun  mußte  Marx  seine  An- 
sicht durchsetzen,  und  er  setzte  sie  durch.  Er  wendete  daran, 
den  alten  Weston  zu  überzeugen,  einen  Vortrag  von  ungefähr 
sieben  bis  acht  Druckbogen,  in  dem  er  ihm  genau  auseinander- 
setzt, was  an  seinen  Ansichten  berechtigt,  was  daran  falsch  sei 
und  warum  man  Streiks  nicht  behandeln  könne  als  eine  Ver- 
schwendung der  Kräfte  usw.  Er  mußte  natürlich  nach  zwei 
Seiten  kämpfen,  er  mußte  gegen  die  ünterschätzung  und  Ver- 
urteilung der  Gewerkschaften  kämpfen  und  zugleich  gegen 
die  Überschätzung  der  Gewerkschaften;  das  tat  er  in  dem  Vor- 


164  Marx-Feier  1903 

trage,  der  noch  heute  lesenswert  ist.  In  der  Internationale 
'.varen  alle  diese  Eichtungen  vertreten,  und  er  brachte  sie  auf 
die  Mittellinie  in  der  aktuellen  Frage,  die  für  ihn  lautet: 

Die  Gewerkscliaften  sind  wirksam  als  Zentren  des  Wider- 
standes gegen  übergriffe  des  Kapitals.  Sie  verfehlen  aber  den  Zwecke 
wenn  sie  sich  auf  einen  Guerillakrieg  gegen  die  Wirkungen  des  gegen- 
wärtigen Systems  beschränken,  statt  gleichzeitig  auf  seine  ü  m- 
Wandlung  hinzuarbeiten  und  ihre  organisierte  Kraft  als 
Hebel  für  die  endgültige  Emanzipation,  das  heißt  Ab- 
schaffung des  Lohnsystems,  zu  gebrauchen. 

Das  wurde  1865  gesagt  und  das  macht  noch  heute  das 
Prinzip  unserer  ganzen  Gewerkschaftspolitik  aus:  den  Inhalt 
der  gewerkschaftlich  organisierten  Kraft  der  Arbeiterschaft 
auszunützen  im  täglichen  Kampfe  der  Gegenwart,  a  b  e  r 
diese  G  e  g  e  n  w  a  r  t  s  a  r  b  e  i  t  zur  Z  u  k  u  n  f  t  s  a  r  1)  e  i  t" 
zu  machen,  indem  sie  benützt  wird  zur  Organisation  der 
Armee  des  Proletariats,  die  die  Befreiung  bringen  soll. 

Etwas  anderes:  Marx  wurde  während  der  Zeit,  wo  er  an 
der  Spitze  der  Internationale  war,  natürlich  von  allen  Seiten^ 
als  derjenige  bezeichnet,  der  alles,  w'as  geschah,  auch  bewirke. 
Wahr  ist,  daß  er  alles  beeinflußte,  -wahr  ist,  daß  nichts  Ernste- 
vorging,  wo  sein  Rat  nicht  zur  Stelle  war,  aber  ebenso  wahr 
ist,  daß  selbstverständlich  die  wichtigsten  Entwicklungen  über 
seinen  Kopf  hinweggingen,  und  daß  sein  Eat  eben  nichts^ 
anderes  sein  konnte  als  ein  Fingerzeig,  dessen  Benützung  oft 
von  denjenigen  gar  nicht  abhing,  denen  er  gegeben  war.  Marx 
wurde  nach  dem  Falle  der  Commune  als  der  hingestellt,  der 
die  Commune  gemacht  und  der  alle  sog'enannten  Greuel  der 
Commune  auf  dem  Gewissen  habe  —  Greuel  nennt  die  bürger- 
liche Presse  nämlich  das,  was  die  Commune  in  Verteidigung 
ihrer  Freiheit  getan;  Greuel  w^aren  ihr  aber  nie  die  nieder- 
trächtigen Metzelungen,  die  die  Ordnungsparteien  verrich- 
teten. Es  ist  für  uns  alle  belehrend,  wie  sich  Marx  zur 
Commune  tatsächlich  verhalten  hat.  Als  Napoleon  gefalleit 
war,  als  die  Republik  in  Paris  ausgerufen  w\ir,  da  richtete  der 
Generalrat  der  Internationale  eine  Adresse  an  die  Arbeiter  von 
Frankreich,  eine  Adresse,  in  der  er  sie  auf  das  ernsteste  zut 
Riihe  mahnte.  Es  heißt  darin : 

Die  französische  Arbeiterklasse  findet  sich  in  äußerst  schwierige- 
Umstände  versetzt.  Jeder  Versuch,  die  neue  Regierung  zu  stürzen,  \\r 
der  Feind     fast  schon  an  die  Tore  von  Paris  pocht,     wäre     eine     v  e  r 


Marx-Feier  1903  165 


zweifelte  Torheit.  Die  französischen  Arbeiter  müssen  ihre 
Pflicht  als  Bürger  tun;  aber  sie  dürfen  sich  nicht  beherrschen 
lassen  durch  die  nationalen  Erinnerungen  von  1792  ...  Sie  haben  nicht 
die  Vergangenheit  zu  wiederholen,  sondern  die  Zukunft  aufzubauen. 
Mögen  sie  ruhig  und  entschlossen  die  Mittel  ausnützen,  die 
ihnen  die  republikanische  Freiheit  gibt,  um  die  Organisation 
ihrer  eigenen  Klasse  gründlich  durchzuführen.  Das  wird  ihnen 
neue  herkulische  Kräfte  geben  für  die  Wiedergeburt  Frankreichs  und 
für  unsere  gemeinsame  Aufgabe   —  die  Befreiung  des  Proletariats. 

Kann  man  klarer  und  deutlicher  die  besonnene,  ruhige 
Taktik  empfehleai,  kann  man  ruhiger  und  besonnener  reden 
und  in  stärkeren  Worten  zur  Besonnenheit  auffordern?  Aber 
die  Tatsachen  waren  stärker  als  die  Katschläge.  Marx  hat 
wenige  Monate  darauf  den  Aufstand  der  Commune  erlebt  und 
er  hat  sich  nicht  an  die  Communarden  herangedrängt  mit 
neuen  Eatschlägen,  er  hat  sie  nicht  mit  Vorwürfen  verfolgt, 
daß  sie  seiner  Klugheit  nicht  gefolgt  waren,  er  hat  ihnen  nicht 
hinterher  zeigen  wollen,  wie  weise  er  war,  und  er  hat  nicht, 
wie  das  heute  möglich  und  traurige  Wirklichkeit  geworden 
ist,  den  Versuch  gemacht,  die  Eevolution  der  Commune  als 
einen  Fehler  hinzustellen.  Marx  wußte  ganz  genau,  wieviel 
die  Taktik  im  vorhinein  feststellen  kann,  er  wußte  auch  ganz 
genau,  daß  die  Dinge  stärker  sind  als  alle  unsere  Überlegungen, 
un-d  daß  es  .schließlich  darauf  ankommt,  in  jedem  Moment  seine 
Pflicht  zu  tun,  in  jedem  Moment  aber  auch  nicht  zu  vergessen, 
daß  die  Zukunft  eine  andere  werden  kann.  Aber  während 
andere  die  Communarden  im  Stiche  gelassen  hatten,  die,  weil 
sie  Marx  nicht  gehört  haben,  so  Furchtbares  über  sich  gebracht, 
stand  Marx  in  dem  Moment,  wo  die  Commune  entzündet  war, 
in  dem  ]\roment,  wo  die  Commune  erlaig,  stand  mit  der  gesamten 
Internationale  bei  ihr  und  war  mit  ihr  solidarisch,  als  ob  die 
Commune  auf  den  Rat  von  Marx  unternommen  worden  wäre. 

Ich  möchte  hier  eine  kleine  Einschaltung  machen.  Ein 
merkwürdiges  Zusammentreffen  hat  mir  hier  im  Saale  von 
einer  Totenfeier  für  Marx  Kunde  gebracht,  die  unter  ganz 
merkwürdigen  Umständen  —  Umständen,  die  sich  nicht 
mehr  wiederholen  können  und  ein  bezeichnendes  Bild  öster- 
reichischer Zustände  zur  Zeit,  als  Marx  starb,  liefern  — 
begangen  wurde.  Einer,  der  bei  dieser  Totenfeier  dabei  war, 
schrieb  mir  davon.  Sie  wissen,  daß  zu  dieser  Zeit  in  Wien  der 
Merstallinger-Prozeß    stattfand.    Es    war    von  einer 


166  Marx-Feier  1903 

Gruppe  von  Leuten,  die  auch  allerhand  andere  unklare  Dinge- 
getan hatten,  ein  armer  Schuster  überfallen  worden,  um  Gelder 
für  revolutionäre  Zwecke  zu  gewinnen.  Eine  große  Anzahl 
,,Terroristen"  wurde  verhaftet,  und  der  gestern  verstorbene 
Graf  L  a  m  e  z  a  n  trat  als  Staatsanwalt  in  dem  Prozeß  auf. 
Während  der  Dauer  de»  Prozesses  starb  Marx.  Da  ließ,  als  die 
Kunde  vom  Tode  Marx'  kam,  Graf  Lamezan  die  Verhafteten 
holen,  erzählte  ihnen,  was  geschehen,  ließ  :sie  zum  ersten  und 
einzigen  Mal  in  eine  Zelle  führen  und  gestattete  ihnen, 
gemeinsam  zu  essen.  Einer  der  Verhafteten  —  Wenzel 
Führer  —  es  sind  vielleicht  noch  einige  da,  die  seinen 
jS amen  kennen  —  hielt  die  erste  Gedenkrede  auf 
Marx  —  im  Wiener  Lande  sgericht!  Eine 
Anekdote,  nur  eine  Anekdote,  und  doch  so  bezeichnend.  Be- 
zeichnend für  die  Arbeiter,  die  solcher  Verbrechen  angeklagt, 
die  niemand  mehr  verurteilt  hätte  als  Karl  Marx,  Leute,  die 
sich  wirklich  zum  Teil  von  der  Linie,  die  Marx  vorgezeichnet 
hatte,  entfernt  hatten,  die  aber  davon  so  wenig  wußten,  daß 
sie  ganz  ehrlich  und  naiv  auch  diesem  Stück  ihres  besonderen 
Kampfes  einordneten  in  die  Gedankenreihe,  die  von  Karl  Marx 
ausging. 

Wenn  wir  uns  auf  das  Gebiet  der  Taktik  begeben  haben, 
so  wacht  eine  ganze  Reihe  aktuellster  Fragen  auf,  und  ich 
glaube,  es  geht  einfach  nicht  an,  ,daß  man  an  einer  Stelle,  wo 
man  des  Werkes  des  Karl  Marx  gedenkt,  daran  vorübergeht, 
was  heute  die  Marx- Krise  heißt.  In  allen  Ländern  bestehen 
Diskussionen,  ob  das  Werk  von  Marx  noch  aufrecht  steht. 
Diskussionen  taktischer  und  wissenschaftlicher  Natur.  Über 
die  wissenschaftlichen  Diskussionen  will  ich  hier  nicht 
sprechen,  aber  die  taktische  Diskussion  will  ich  kennzeichnen 
an  ihrer  jüngsten  Erscheinung.  In  Frankreich  geht  heute 
ein  Streit,  wie  sich  die  Sozialisten  nennen  sollen:  revolutio- 
när oder  reformistisch?  Ein  Streit,  an  .dem  sich 
zwei  Männer  beteiligen,  die  sonst  nahe  genug  nebeneinander 
stehen,  J  a  u  r  e  s  und  M  i  1 1  e  r  a  n  d.  Millerand  will  das 
Wort  „revolutionär"  beseitigt,  es  habe  keinen  Wert  mehr 
und  drücke  nichts  mehr  als  ein  Mißverständnis  aus. 
Jaures  will  es  aufrechthalten  und  hält  das  Wort 
„reformistisch"  für  einen  Mißstand  und  eine  Gefahr.  Partei- 
genossen!    Wenn   es    etwas    gibt,     was    allen   Marxisten   klar 


Marx-Feier  1903  167 

— V 

ist,  so  ist  es  das:  daß  alle  diese  Streitigkeiten  Streitigkeiten 
um  Worte,  wenn  nichts  Schlechteres  sind,  wenn  sie  nicht  eine 
Verführung  sind,  die  Arbeiterklasse  in  den  Dienst  einer  Sache 
zu  stellen,  die  ihr  fremd  ist.  Marx  hat  sich  nie  einen 
Revolutionär  genannt,  und  wir  hören  es 
nicht  auf,  zu  sein,  wenn  unsere  Mittel  auch 
friedliche  sind.  Ja:  je  friedlicher  sie  sind, 
desto  notwendiger  ist  es,  uns  zu  erinnern, 
(laß  wir  revolutionär  sind.  Gewiß,  die  Partei  hat 
heute  eine  komplizierte  Tätigkeit  zu  entfalten;  der  Weg  zur 
politischen  Macht,  der  Weg  zur  Umgestaltung  der  Gesellschaft 
ist  ein  langer,  ein  durchaus  nicht  einfacher,  er  zerschlägt  sich 
in  hundert  kleine  Pfade  oder,  wenn  Sie  wollen,  aus  hundert 
kleinen  Quellen  wird  der  große  Strom!  Wenn  das  so  ist,  wenn 
wir  jede  harte  Arbeit  verrichten  müssen,  Tagesarbeit,  ich 
möchte  sagen:  Fronarbeit  der  Partei,  Arbeiten  im  Interesse 
einzelner  Gruppen,  mühselige  Kleinarbeit;  wenn  wir  von  den 
Parlamentsmandaten  bis  hinab  zu  den  Gewerbegerichts- 
mandaten Besitz  ergreifen  wollen,  wenn  wir  uns  einnisten  und 
festkrallen  in  diese  alte  Gesellschaft,  wenn  wir  Stück  für  Stück 
die  Macht  der  Arbeiterschaft  zur  Geltung  bringen,  so  ist  all 
das  nur  erträglich,  weil  wir  revolutionär  sind,  weil  die  Idee 
unsere  Arbeit  belebt.  Sonst  müßte  jeder  von  uns  längst 
zugrunde  gegangen  sein  in  dieser  kleinen,  elenden  Stückarbeit! 
Nun  sollen  aber  Reformen  erobert,  durchgeführt  werden  und 
die  Sozialdemokratie,  so  sagt  man  uns,  soll  sich  gemausert 
haben,  indem  sie  diese  Reformen  für  das  Wichtigste  hält. 
Parteigenossen!  Wir  Sozialdemokraten  haben  nie  anderes  von 
uns  gewußt  als  daß  wir  Reformisten  sind,  und  wir  haben  nichts 
anderes  gewußt,  als  daß  wir  z\i  gleicher  Zeit  Revolutionäre  sind. 
Jede  Reform  ist  wichtig  und  wert  jeder  Mühe,  aber  jede 
Reform  ist  soviel  wert,  als  Revolution  in 
ihr  steckt!  Wenn  man  uns  fragt:  Revolution  oder 
Reform?,  so  antworten  wir:  Revolution  und 
Reform!  Oder :  Reform,  nur  um  derRevolution 
willen!  (Lebhafte  Zustimmung  und  Bravorufe.)  Ich  gebe 
mir  Mühe,  jeden  Gegner  zu  verstehen,  am  meisten,  wenn  er 
Parteigenosse  ist.  Wofür  ich  aber  —  ich  gestehe  es  —  gar  kein 
Verständnis  habe,  das  ist,  daß  diejenigen,  die  den  Marxismus 
auf  dem  Boden  der  Partei  angreifen,  sich  einbilden,  Idealisten 


168  Marx-Feier  1903 

zu  sein,  während  sie  tatsächlich  nichts  anderes  sind  als 
klägliche  Philister,  Erzphilister  wie  der  Famulus 
Wagner: 

"Wie  nur  dem   Kopfe   nicht   alle   Hoffnung   schwindet, 
Der  immerfort  am  schalen  Zeuge  klebt, 
Mit  gieriger  Hand  nach  Schätzen  gräbt 
Und  froh  ist,  wenn  er  Regenwürmer  findet. 

Ja,  wenn  es  sich  nur  um.  die  „Eegenwürmer"  handelte, 
um  die  Dinge,  mit  denen  man  hier  ein  kleines  Loch  stopft,  dort 
ein  kleines  Gesetz  macht,  wenn  es  sich  bei  unserer  Arbeit  nur 
immer  darum  liaadeln  würde,  das  hielten,  wir  nicht 
aus!  Das  ist  das  Große  an  Marx,  daß  das  Bürgertum  nach  ihm 
offen  ins  Philisterium  zurückkriechen  mußte  und  daß  er  den 
Arbeitern  das  revolutionäre  Ideal  gegeben  hat.  (Lebhafter 
Beifall.)  Freilich,  Marx  hat  Fehler  gemacht  in  Wissenschaft 
und  Taktik.  Von  der  Wissenschaft  will  ich  nicht  viel  reden,  ich 
bin  kein  Mann  der  Wiseenschaft,  kein  Theoretiker,  aber  soviel 
weiß  ich,  daJ3  selbst  in  hundert  Einzelheiten  die  Wissenschaft 
von  Marx  lebt.  Im  übrigen  bekämpfen  sie  ihn.  Aber,  indem 
sie  ihn  bekämpfen,  hat  er  sie  gefangen! 
Worauf  die  heutige  Ökonomie  so  stolz  ist,  die  beschreibende 
Nationalökonomie,  die  Bhilisterökonomie,  auch  sie  stammt  von 
Marx  und  Engels  her.  D^s  erste  Werk  dieser  Schule  war  „Die 
Lage  der  arbeitenden  Klassen  in  England"  von  Engels  und  noch 
vor  ihr  das  kleine  Werkchen  von  Marx,  das  anläßlich  der  Holz- 
diebstähle  in  Baden  entstand. 

Aber  die  Taktik  von  Marx  i'st  verfehlt?  Wer  hand'elt, 
mackt  immer  Fehler.  Die  einzigen  Unfehlbaren 
das  sind  die,  die  nichts  sind  als.  die  Re- 
präsentanten der  Taktik.  (Heiterkeit.)  Niemand 
war  mehr  bereit,  es  einzusehen,  wenn  er  irrte,  als  Marx.  Darin 
können  wir  von  ihm  lernen :  die  Geduld  mit  unseren 
Parteigenossen!  Freilich,  Marx  war  auch  sehr  unduld- 
sam. Derselbe  Mann,  der  sich  wochenlang  hinsetzte,  um  einem 
englischen  Arbeiter  beizubringen,  was  die  Gewerkschaften 
können  und  was  nicht,  war  sehr  unduldsam  gegen  andere  Leute. 
Noch  heute  kann  man  ihm  nicht  verzeihen,  was  er  der  euro- 
päischen Demokratie  angetan,  als  die  M  a  z  z  i  n  i,  Rüge  und 
andere  einen  großen  Demokratenbund  stiften  wollten,  in  dem 
alle  Demokraten  beisammen   und    alle   Gegensätze  ausgewischt 


Marx-Feier  1903  169 

«ein  sollten,  wie  da  Marx  dazwischenfnhr  und  sagte:  ,,Was  ihr 
wollt,  ist  Phrase!  Was  ihr  Freiheit,  Gleichheit,  Brüderlichkeit 
nennt,  das  ist  die  Xacht,  in  der  alle  Katzen  grau  sind.  Es 
handelt  sich  nicht  um  einen  Kampf  aller  um  die  Freiheit, 
sondern  um  eineij  Kampf  der  Arbeiterklasse  für  ihre  Frei- 
heit!" —  Das  war  hart,  unduldsam.  So  sprach  er  mit  den 
Gegnern  d'er  Arbeiterklasse.  Aber  milde,  brüderlich,  ver- 
söhnlich mit  seinen  Genossen. 

Er  war  ein  armer  Mann,  der  von  seiner  Arbeit 
leben  mußte,  nachdem  er  das  bißchen,  das  er  hatte,  für  die 
Eevolution  geopfert  hatte.  Als  armer  Mann  kam  er  nach 
London.  Wie  schwer  sein  Leben  war,  das  sehen  Sie  aus  einer 
Stelle  aus  einem  Briefe  Lassalles  an  Marx,  der  im 
Juni  1852  geschrieben  war: 

Seit  langem  selie  icli  mit  Ingrimm  und  Trauer,  wie  Deine  große 
Kraft  durch  den  beständigen  Kampf  mit  der  Misere  unterminiert  zu 
werden  oder  mindestens  an  ihrer  Frische  zu  verlieren  Gefahr  läuft.  Das 
,.ganz  Gemeine"  ist's,  mit  welchem  der  Kampf  am  meisten  den 
Genius  ermattet,  weit  mehr  als  große,  tragische  Schläge,  die 
zugleich  heben  und  alle  Elastizität,  die  im  Geiste  schlummert,  ins 
Leben  ruft. 

Den  ganz  gemeinen  Kampf  mit  dem  ganz  gemeinen 
Elend  mußte  dieser  Mann  führen,  und  während  dieses  Kampfes 
nicht  nur  Politik  treiben,  sondern  auch  seine  ganze  theoretische 
Leistung  vollbringen.  Auf  den  erwähnten  Brief  Lassalles 
besitzen  wir  die  Antwort  nicht,  aber  wir  haben  eine  Antwort  in 
einem  Briefe,  den  er  gerade  zehn  Jahre  früher  an  Rüge  schrieb. 
Dort  heißt  es : 

Meine  Familie  legte  mir  Schwierigkeiten  in  den  Weg,  die  mich 
trotz  ihres  Wohlstandes  momentan  den  drückendsten  Ver- 
hältnissen aussetzten.  Ich  kann  Sie  unmöglich  mit  der  Er- 
zählung dieser  Privatlumpereien  belästigen.  Es  ist  ein  wahres  Glück, 
daß  die  öffentlichen  Lumpereien  jede  mögliche 
Irritabilität  für  das  Private  einem  Menschen  von 
Charakter  unmöglich  machen. 

Daß  er  sein  Privatelend  aushalten 
konnte,  dazu  hat  ihm  die  Kraft  gegeben: 
sein  öffentliches  Wirken!  Daß  er  das  Privatelend 
ertragen  konnte,  dazu  hat  er  die  Kraft  geschöpft  aus  dem 
gewaltigen  Kampfe,  den  er  führte!  Daß  er  das  Leben  ertragen 
konnte,  das  macht,  daß  er  ein  großer  Idealist  war !  — 
Idealist?    Der  Mann,    den    sie  als    groben  Materialisten    ver- 


170  Marx-Feier  1903 


fehmen!  Ja,  er  war  ein  Mann  von  großem  Herzen,  das  erfüllt 
war  von  Liebe  wie  kein  zweites!  Der  Mann,  dem  sie  nach- 
sagen, daß  er  das  Gehässigste,  das  Boshafteste  war,  das  je  die 
Welt  getragen! 

Genossen!  Wenn  wir  heute  um  uns  sehen,  wie  weit  wir 
in  den  zwanzig  Jahren,  seit  Marx  starb,  gekommen  sind,  so 
haben  wir  die  Empfindung,  daß  er  selbst  nicht  ahnen  konnte, 
wie  ungeheuer  groß  sich  das  verwirklichen  sollte,  was  er  lehrte. 
Die  Internationale,  die  er  gegründet  und  die  er  auflösen  mußte, 
verfügt  heute  über  eine  Summe  von  Kraft,  von  bewußt  gelei- 
steter Arbeit,  wie  sie  in  gleicher  Weise  in  der  Welt  nicht  da 
war.  Vor  mehr  als  hundert  Jahren  haben  wir  die  Bewegung 
gekannt,  die  von  den  Enzyklopädisten  ausging.  Aber 
was  ist  diese  Bewegung  von  damals  gegen  die  internationale 
Arbeiterbewegung  von  heute,  eine  Bewegung,  die  alle  Welt- 
teile, alle  Rassen,  alle  Farben  umfaßt,  ihnen  demselben  Geist 
einflößt,  dasselbe  Wort  auf  die  Lippen  legt  und  dabei  jedem 
Teil  doch  die  Freiheit  läßt,  sich  anzupassen  und  anziußchmiegen 
den  Verhältnissen  jedes  einzelnen  Landes? 

Soll  ich  von  Österreich  reden?  Wir  haben  ein 
schweres  Los,  daß  wir  hier  proletarische  Politik  machen 
müssen !  ()  s  t  e  r  r  e  i  c  h  ist,  hat  man  uns  vor  kurzem  gesagt. 
Eine  genügsame,  bescheidene  Wahrheit!  Österreich  ist  eine 
Tatsache,  und  daß  das  Lob  so  bescheiden  ist,  das  ist  eine 
traurige  Tatsache.  (Heiterkeit.)  Was  ist  Österreich? 
Ist  Österreich  eine  Förderung  für  die  Völker,  die  verurteilt 
sind,  in  diesem  Staate  zu  leben,  oder  ist  Österreich  vielleicht 
schon  eine  Kette  geworden,  die  die  Entwicklung  hemmt? 
Österreich  ist  —  ja,  das  spüren  wir  in  allen  Gliedern  (Heiter- 
keit), aber  alle  aufsteigenden  Klassen,  auch  das  Bürgertum, 
leiden  schwer  unter  dieser  offiziellen  Tatsache.  Kein  Wunder, 
daß  auch  unsere  Gegner  die  Spuren,  fast  möchte  ich  sagen: 
den  Makel  an  sich  tragen,  daß  sie  B  ü  r  g  e  r  e  i  n  e  s  S  t  a  a  t  e  s 
sind,  der  längst  ausgelebt  hat,  dessen  Formen  längst 
erstarrt  sind  und  der  der  Gegenwart  nichts  mehr  zu  sagen  hat. 
tiberall  hat  das  Bürgertum  seine  eigene  Revolution  verraten, 
aber  so  schmachvoll  preisgegeben  wie  in  diesem  Österreich 
nirgends.  Heute  haben  wir  in  Österreich  ein  Bürgertum,  das 
ängstlich  und  scheu  geworden  ist,  aus  dem  nichts  mehr  werden 
kann,  das   das  empfindet   und  sich   vor   lauter  Angst  bald   au 


Marx-Feier  1903  171 

die  Rockschöße  des  w  i  1  d  und  auch  korrupt  .gewordenen 
Kleinbürgertums  hängt,  bald'  sich  an  die  Arbeiterschaft  heran- 
biedert. Wie  Marx  eiüst  im  „18.  Brumaire"  sagte:  „Die 
Bourgeoisie  muß  die  Dummheit  derMassen 
fürchten,  so  lange  sie  konservativ  bleiben, 
11  nd  die  Einsicht  der  Massen,  sobald  sie  revo- 
lutionär werde  n." 

Wir  haben  ein  schweres  Los.  Wir  haben  das  traurige 
Schicksal,  daß  die  Arbeiterschaft  dieses  Staates  weiter  ent- 
wickelt ist  als  die  politischen  Verhältnisse  dieses  Staates,  ja, 
daß  sogar  die  wirtschaftlichen  Verhältnisse  weiter  Strecken 
dieses  Staates  zurückgeblieben  sind  hinter  der  Entwicklung  der 
Arbeiterklasse  in  den  vorgeschritteneren  Teilen  des  Reiches. 
Wir  haben  das  Wirrsal  der  Nationen,  wir  haben  eine  rück- 
ständige Verfassung,  staatsrechtliche  Verhältnisse,  die  in  ihrer 
Eigenheit  unmöglich  sind  wie  unser  Verhältnis  zu  Ungarn,  wir 
luiben  mit  einem  Wort  von  allen  P  r  o  1  e  t  a  r  i  a  t  e  n 
aller  Länder  das  schwerste  Los  zu  tragen! 

Wenn  wir  unseren  Weg  zu  gehen  imstande  sind,  wenn 
wir  hier  den  Weg  finden  in  diesem  Nebel,  der  dicker  ist  als 
-onst  irgendwo,  so  verdanken  wir  das  Marx  und  der  marxisti- 
schen Gedankenrichtung,  die  uns  gelehrt  hat,  jedem  äußeren 
Schein  seinen  inneren  Kern  zu  entlocken,  uns  vor  Selbst- 
täuschungen zu  schützen  und  in  diesem  Lande  der 
liroßen  Worte,  dergroßen  Illusionen  die  verhält- 
nismäßig nüchternste  Partei  zu  bleiben.  Wir  Österreicher  haben 
allen  Grund,  Marxisten  zu  sein,  mehr  wie  andere! 

Die  heutige  Internationale  umschließt  die  proletarische 
Bewegung  aller  Länder,  die  immer  größer,  immer  breiter, 
immer  tiefer  wird,  und  wenn  Marx  erlebt  hätte,  was  nicht  nur 
aus  den  versprengten  Österreichern,  die  er  kennen  gelernt, 
■sondern  was  aus  der  Bewegung  dieses  Landes  geworden  ist,  von 
der  damals  erst  die  ersten  Anfänge  zu  erkennen  waren,  wenn 
er  erlebt  hätte,  was  aus  der  russischen  Revolution  heute  ge- 
worden ist,  wenn  er  mithoffen  könnte  wie  wir  auf  diese  in  ganz 
Europa  entscheidende  Revolution,  wenn  er  mithoffen  könnte 
wie  wir,  daß  endlioh  auf  dem  langsamen  Wege  auch  einmal  ein 
Kuck  nach  vorwärts  erfolgen  werde,  den  wir  alle  ersehnen; 
wenn  Marx  das  erlebt  hätte,  so  würde  er  zurückdenken  an  sein 
Kommunistisches  Manifest :  Proletarier  allerLän  der, 


172  Marx-Feier  1903 

vereinigt  euch!  Proletarier  aller  Länder !  Und  da  lassen 
Sie  sich  noch  eines  sagen,  was  Marx  charakterisiert.  Marx  war 
nicht  der  Führer  einer  Partei.  Marx  hat  nicht  Partei- 
politik gemacht.  Marx  hat  K  i  a  s  «  e  n  p  o  1  i  t  i  k  gemacht, 
und  von  ihm  sollen  wir  lernen  und  in  seinem  Geist  denken  und 
handeln,  wenn  wir  uns  über  die  Politik  der  Partei,  über  die 
täglichen  Pflichten  des  Parteimannes  erheben  und  den  Blick 
auf  'die  gesamte  Arbeiterklasse  und  ihren  Fort- 
schritt richten,  deren  Diener,  d'eren  Mittel, 
deren  Werkzeug  die  Partei  ist.  Traurig  wäre  es, 
wenn  das,  was  die  Sozialdemokratie  heute  bedeutet,  das  Um 
und  Auf  der  proletarischen  Kräfte,  wäre.  Aber  wir  müssen  uns 
in  jedem  Moment  bewußt  sein,  daß  das  unser  Ziel  ist,  d  i  e 
Sozialdemokratie  zum  Führer  .der  proletari- 
schen Bewegung  zumachen,  der  sich  die  Partei  und 
.jeder  einzelne  sehr  oft  unterordnen  müssen. 

Parteigenossen  und  Genossinnen!  Ich  habe  sehr  deutlich 
die  Empfindung,  daß,  was  ich  in  diesen  Worten  geben  konnte, 
lange  nicht  das  ist,  was  ich  Ihnen  geben  möchte.  Ich  habe  sehr 
deutlich  die  Empfindung,  daß  es  sich  in  kurzem  nicht  au.s- 
sprechen  läßt,  was  der  Inhalt  aller  unserer  Vorstellungen,  was 
das  Ziel  alles  unseres  Wollens  ist  und  was  nns  Marx  ist,  der 
uns  mehr  ist  als  ein  Lehrer,  mehr  als  ein  Vorkämpfer,  der  uns 
auch  ein  Symbol  ist.  Aber,  und  mit  dem  Gedanken  wollen  wir 
auseinandergehen :  wenn  das  Proletariat  durch  irgend  etwas 
befähigt  ist,  seinen  Weg  zxf  finden,  so  ist  es  es  dadurch,  d  a  ß 
es  sich  als  Klasse  empfindet,  und  wenn  es  dnrch 
irgend  etwas  befähigt  ist,*  seinen  Willen  zu  verwirklichen,  so 
ist  es  der  Gedanke,  der  echt  marxistische  Gedanke,  daß  das 
Durchsetzen  seines  Willens  eine  Aufgabe  ist,  die  nur  dem 
Proletariat  gestellt  ist  und  von  sonst  niemandem  erfüllt  werden 
kann,  daßda&Proletariat  es  ist,  dasder  Träger 
seiner  Befreiungnicht  nurs  einkann,  sondern 
sein  muß  und  sein  wird,  daß  das  Proletariat  es  selbst 
und  einzig  das  Proletariat  es  ist,  das  diese  Befreiung  be- 
wirken kann.  Das  ist  es,  was  der  Name  Karl  Marx 
sagt,  das  ist  es,  was  uns  die  Kraft  geben  wird, 
überall  h  i  n  w  e  g  z  u  s  c  h  r  e  i  t  e  n  über  die  T  r  ü  in  m  e  r 
der  feudale  n  V  e  r  g  a  n  g  e  n  h  e  i  t,  das  uns  die  Kraft 
geben   wird,     die     Ketten     der     kapitalistischen 


Ein  Gedenktag  173 

Gegenwart  zu  brechen,  und  die  Kraft,  die  uns  ermög- 
lichen wir<3,  aufzubauen  d  i  e  g  r  o  ß  e  sozialistische 
Zukunft. 

In  diesem  Sinne  grüßen  wir  das  Andenken  von  Karl 
Marx,  und  in  seinem  Namen  und  in  seinem  Geiste  rufen  wir 
den  alten  Feldrui:  Es  lebe  die  internationale,  es- 
lebe  die  revolutionäre  Sozialdemokratie,  sie 
lebe  hoch!  (Stürmische,  begeisterte  Hochrufe.  Lebhafter, 
andauernder  Beifall.) 

72. 

„.Arbeiter-Zeitung."  5.  August  1905. 

Ein  Gedenktag. 

Wien,  4.  August. 

Morgen  werden  es  zehn  Jahre  sein,  daß  Friedrich 
Engels  dahingegangen,  daß  in  seinem  stillen  Hause  in 
London  der  Mann  die  Augen  zum  letztenmal  geschlossen,  der 
dem  kämpfenden  Proletariat  der  ganzen  Welt  Führer  und  Be- 
rater war. 

Zehn  Jahre  sind  es  schon,  aber  wir  haben  den  Verlust 
noch  nicht  verschmerzt,  das  Gefühl,  daß  wir  verwaist  sind,  ist 
noch  nicht  von  uns  gewichen,  er  fehlt  uns  wie  am  ersten  Tage. 
Denn  Friedrich  Engels  war  uns  nicht  nur  der  große  Denker, 
der  unübertreffliche  Lehrer,  er  war  der  große  Praktiker  der 
proletarischen  Bewegung.  Mit  Marx  hat  er  den  Gedankenbau 
des  modernen  Sozialismus  aufgerichtet,  hat  ihn  von  der  Utopie 
zur  Wissenschaft  geführt.  Die  unerhörte  Energie  seines 
Lernens  hat  ihm  ermöglicht,  den  Wissensinhalt  des  Jahr- 
hunderts zusammenzufassen  und  der  grandiosen  Gesamtauffas- 
sung, der  sozialistischen  Weltanschauung  anzugliedern  und  ein- 
zuverleiben. So  ist  er  unser  Lehrer  im  höchsten  Sinne  geworden, 
der  uns  die  Bewegung  des  Proletariats  in  allen  ihren  Zu- 
sammenhängen begreifen  ließ.  Die  Klarheit,  die  Frische,  die 
Energie  seines  Geistes  machen  jede  einzelne  seiner  kleinen 
Schriften,  die  nun  endlich  zum  großen  Teile  gesammelt  und 
zusammengefaßt  sind,  zu  einer  unversiegbaren  Quelle  jener 
liöchsten  Form  der  Belehrung,  die  nicht  fertig  Gedachtes 
vermittelt,  sondern  zum  selbständigen  Denken  zwingt. 


l74  Ein  Gedenktag 

Friedrich  Engels  hat  Karl  Marx  um  zwölf  Jahre  überlebt 
und  auch  nach  dessen  Tod  galt  ihm  als  Höchstes,  sein  Mit- 
arbeiter zu  bleiben.  Die  Arbeit,  die  er  dem  zweiten  und  dritten 
Bande  des  „Kapital"  gewidmet,  ist  ein  Denkmal  unvergleich- 
licher Treue.  Aber  in  diesen  zwölf  Jahren  war  die  Arbeiter- 
bewegung mit  Riesenschritten  gewachsen.  War  sie  in  ihrem 
embryonalen  Zustand  schon  schwer  in  der  alten  „Inter- 
nationale" zusammenzufassen,  so  wurde  es  nun  von  Tag  zu  Tag 
schwerer,  sie  auch  nur  zu  übersehen.  Je  weiter  die  Bewegung 
fortschreitet,  je  mächtiger  sie  in  den  einzelnen  Ländern  wird, 
desto  mehr  differenziert  sie  sich  auch,  desto  mehr  gewinnt  sie 
in  jedem  Lande  ihr  besonderes  Gepräge,  das  von  den  beson- 
deren Verhältnissen  dieses  Landes  abhängt.  Aber  die  inter- 
nationale Zusammenfassung  wird  in  demselben  Grade  not- 
wendiger, als  sie  schwerer  wird.  Da  ist  nun  Friedrich  Engels 
mit  seiner  Kenntnis  der  Dinge  und  Menschen  eingetreten.  Er 
hat  uns  einander  verstehen  gelehrt  und  so  ermöglicht,  daß  wir 
uns  verständigen.  Erst  als  er  uns  entrissen  wurde,  mußten  wir 
uns  unser  internationales  Büro  errichtet.  Solange  er  lebte,  hat 
er  ganz  allein  diesen  Dienst  versehen  und  mit  ganz  unver- 
gleichlichem Erfolge.  Weil  er  ein  wahrer  Führer  war,  ist  ihm 
nie  eingefallen,  zu  gängeln;  weil  er  ein  wahrer  Lehrer  war,  ist 
ev  weltweit  davon  entfernt  gewesen,  ein  Schulmeister  zu  sein. 
Niemals  hat  er  seine  Meinung  als  eine  entscheidende  auf- 
gedrängt, aber  keiner  ist  ohne  Bereicherung  von  ihm  gegangen, 
und  auch  wo  er  nicht  überzeugen  konnte,  hat  er  die  Klarheit 
des  Erkennens  gefördert.  So  hat  Friedrich  Engels  der  inter- 
nationalen Verständigung  als  Mittelpunkt  gedient,  weil  er  uns 
geholfen  hat,  einander  zu  verstehen. 

Unser  größter  Politiker,  unser  größter  Taktiker  war 
Friedrich  Engels,  Er  ist  es  geworden,  weil  er,  der  ein  jugend- 
lif  iier  Feuergeist  geblieben  war  bis  zur  Stunde,  da  er  als  fünf- 
undsiebzigjähriger  Greis  die  Augen  schloß,  den  nüchternen 
und  ehrlichen  Blick  für  die  Tatsachen  hatte.  Nichts  dünkte 
ihm  gefährlicher  als  Selbsttäuschung,  nichts  war  ihm  zuwiderer 
als  Deklamation,  und  wäre  sie  noch  so  gutgläubig  gewesen. 
Al»cr  auch  der  (Jefahr  aller  systemisierenden  Köpfe,  die  Er- 
kenntnis der  Tatsachen,  dem  Willen  zum  System  zu  beugen, 
ist  er  so  selten  unterlegen  wie  wenige.  Wo  es  aber  geschah,  da 
tjiit    seine   Selbstkritik   berichtig'end    ein.      Diejenigen   unserer 


Ein  Gedenktag  175 


Genossen^  die  ihren  angeblichen  Revisionismus  dem  fabel- 
haften Dogmatismus  entgegensetzen  zu  müssen  wähnen, 
können  an  Engels  lernen,  welcher  Unterschied  besteht  zwischen 
zersetzendem,  unfurchtbarem,  jedes  Handeln  lähmendem  Ske}>- 
tizismus  und  nüchterner,  rücksichtsloser,  aber  schöpferischer 
Selbstkritik.  Niemand  hat  gründlicher,  ja  grausamer  seine 
eigenen  Anschauungen  unaufhörlich  revidiert  als  Engels.  Sein 
letztes  Wort  an  das  revolutionäre  Proletariat,  jene  berühmte 
Vorrede  zu  den  „Klassenkämpfen  in  Frankreich",  ist  so  ein 
Stück  Selbstkritik,  das  ruhig  einbekennt :  ,,die  Geschichte  hat 
uns  unrecht  gegeben"'  ujad  das  auf  die  Erkenntnis  der  neuen 
Tatsachen  die  moderne  Taktik  des  kämpfenden  Proletariats 
aufbaut. 

Wie  oft,  seit  wir  Engels  entbehren  müssen,  hätten  wir 
ihn  so  bitter  nötig  gehabt!  Sein  klares  Auge,  das  durch  keine 
Spur  von  Rechthaberei  getrübt  war,  hätte  uns  manche  Wirren 
leichter  lösen  lassen,  seine  erfahrene  Hand  hätte  uns  über 
manchen  Streit  hinübergeholfen.  Er  war  der  Vertrauensmann 
der  Sozialdemokratie  aller  Länder  und  mühsam  müssen  wir 
nun  gemeinsam  suchen,  die  Leistung  zu  ersetzen,  der  nur  er 
gewachsen  war.  In  seinem  Geiste  zu  wirken,  ist  das  Höchste, 
vvtis  wir  von  uns  selbst  verlangen  können. 

Jedes  Jahr,  seit  Engels  gestorben,  hat  große  Verände- 
rungen gebracht.  Immer  mehr  wird  die  proletarische  Bewegung 
der  Kern  und  die  Achse  der  Geschichte  unserer  Zeit.  Die 
Gedankenwelt  des  Sozialismus  bemächtigt  sich  aller  Gehirne, 
sie  wird  die  treibende  Kraft  des  Proletariats  und  wirkt 
lähmend  auf  die  herrschenden  Klassen,  die  sich  ihr  trotz  alles 
Widerstrebens  nicht  versehließen  können.  Der  Klassenkampf 
geht  in  die  Breite  wie  nie,  nimmt  die  mannigfaltigsten  Formen 
an  und  spitzt  sich  da  und  dort  zu  kritischen  Phasen  zu.  Aber 
alle  Einzelheiten  der  Geschehnisse  treten  in  ihrer  Bedeutung 
zurück  liinter  der  entscheidenden  Wucht  der  Tatsache,  daß 
Rußland  in  die  Ära  der  Revolution  eingetreten.  Man  kann 
nicht  ohne  Schmerz  daran  denken,  daß  Marx  und  Engels  diese 
Tage  nicht  erlebt,  die  sie  herbeisehnten  mit  allen  Fibern  ihres 
Seins.  Daß  der  Endkampf  gegen  den  Zarismus,  dessen  Erfolg 
sein  Sturz  sein  muß.  nicht  nur  für  Rußland,  sondern  für  die 
Gesamtbewegung  die  größte  Bedeutung  haben  wird,  das 
empfinden     wir     alle.     Die     russische     Revolution     wird     der 


176  Ein  Brief  von  Friedrich  Engels 

Arbeiterbewegung  des  Westens  einen  neuen  Anstoß  und 
neue,  bessere  Kampfbedingumgen  geben  und 
damit  den  Sieg  des  modernen,  industriellen 
Proletariats  beschleunigen,  schrieb  Engels  1894. 
Wir  stehen  davor,  diese  Weltenwende  zu  erleben.  Wie  das 
neunzehnte  Jahrhundert  von  der  Französischen  Revolution,  so 
wird  das  zwanzigste  von  der  russischen  Revolution  eingeleitet. 
Ein  neues  Jahrhundert  der  Revolution  bricht  an,  der  Revo- 
lution, deren  Träger  aber  nicht  mehr  das  Bürgertum,  sondern 
das  Proletariat  sein  wird.  Den  Weg  dieser  Revolution  haben  uns 
Karl  Marx  und  Friedrich  Engels  erleuchtet.  Das  Vermächtnis 
Engels'  insbesondere,  unseres  ,, Generals",  ist  die  Strategie  und 
die  Taktik  der  revolutionären  Bewegung.  Unvergeßlich  ist  sein 
Angedenken,  unsterblich  sein  Werk,  unerschöpflich  die  Wir- 
kung, die  über  sein  Leben  hinaus  von  seiner  Persönlichkeit 
ausgeht. 


73. 

„Der  Kampf."  1.  März  1908. 

Ein  Brief  von  Friedrich  Engels. 

Die  Redaktion  des  ,, Kampf '  hat  mich  aufgefordert,  ihr 
den  unten  folgenden  Brief  von  Friedrich  Engels  zum  Abdruck 
zu  überlassen,  und  ich  bin  mit  ihr  der  Meinung,  daß  sein  Inhalt 
durch  ein  nicht  geringes  sachliches  und  persönliches  Interesse 
die  Veröffentlichung  rechtfertigt.   Vor  allem  trägt  der  Brief,. 
Avie   jede    Zeile,   die   Engels   schrieb,  das  Gepräge  des   ganzen 
Menschen,  seiner   Kraft   und   Liebenswürdigkeit.   Dann  ist  er 
cm  Beispiel  dafür,  wie  hilfsbereit  unser  „General"  für  seine 
Schüler  und  Freunde  war      und  wie  etwa  die  Korrespondenz 
aussah,    die    er    in    einem  'halben  Dutzend  Sprachen  bis  in  die     j 
letzten   Wochen  todbringender  Krankheit  hinein  führte,     und    | 
das   neben  seiner  schweren  schriftstellerischen  Arbeit,  seinen     ■ 
umfassenden  und  intensiven  Studien;  weiter  aber  ist  die  An-    | 
Weisung,     die  Engels     für     das   Studium  des   dritten   Bandes    || 
,, Kapital"  gibt,  wichtig,  weil  niemand  kompetenter  dazu  war 
als   er.     Schließlich   werden  unsere   österreichischen   Genossen 
in  diesem  Briefe  wieder  einen  Beweis  dafür  finden,  mit  welchem 
gespannten  Interesse  Engels  unsere  Bewegung  in  allen  ihren 


Ein  Brief  von  Friedrich  Engels  177 

Einzelheiten  verfolgte.  Welch  herzliche  Sorgfalt  er  ihr  widmete 
und  welch  große  Hoffnungen  er  auf  sie  setzte,  das  hat  er  selbst 
anderthalb  Jahre  vorher  im  Wiener  Sofiensaal  ausgesprochen. 

Zum  näheren  Verstäntdnis  einiger  Einzelheiten  des  Briefes 
diene  folgendes:  Es  war  das  erste  Quartal  der  täglichen  „Ar- 
beiter-Zeitung'' und  das  letzte  Quartal  der  Koalitionsregiei"ung. 
Unser  Wahlrechtskampf  hatte  wieder  einen  Hö-hepunkt.  Das 
famose  „Subkomitee"  war  im  Begriff,  an  seiner  impotenten 
Schuftigkeit  kaput  zu  gehen.  Wie  sehr  die  Arbeiterschaft  be- 
griffen hatte,  daß  die  Wahlreform  „das  Fulcrum  für  die  ent- 
scheidende Wirkung"  in  der  österreichischen  Politik  sei,  konnte 
ihm  die  jSiummer  der  „Arbeiter-Zeitung"  sagen,  die  er  einen 
Tag  später  erhielt,  nachdem  er  seinen  Brief  abgeschickt  hatte, 
und  die  von  dem  gewaltigen  Aufmarsch  beim  Märzmonument 
und  einer  noch  wirksameren  Demonstration  vor  dem  Parlament 
erzählte. 

Ich  mußte  damals  auf  einen  Monat  „ins  Loch";  eigentlich 
auf  sieben  Wochen  in  zwei  Raten.  Warum,  weiß  ich  nicht  mehr 
genau.  W'ahrscheinlich  hatte  ich  meinem  Zweifel  an  der  politi- 
schen Weisheit  der  Herren  Windischgrätz  und  Plener  be- 
scheidenen Ausdruck  gegeben.  Wir  lösten  uns  ja  damals  in  den 
„besseren"  Bezirksgerichtsarresten  —  ich  schwärmte  für  Sechs- 
haus —  ab,  wie  die  Schildwachen.  Das  waren  die  in  ihrer  Art 
guten  Zeiten,  wo  die  österreichische  Regierung  noch  etwas  für 
unsere  theoretische  Weiterbildung  tat;  jetzt  ist  es  uns  schwerer 
geworden,  die  Muße  für  ruhiges  Studium  zu  finden.  Hinzufügen 
will  ich  noch,  daß  ich  wie  manche  Freunde  das  von  Engels  ge- 
gebene Rezept  zum  Studium  des  „Kapital"  fleißig  befolgt  habe 
und  daß  ich  es  bestens  empfehlen  kann.  Probatum  est. 

Das  Leiden,  über  das  Engels  klagt,  war  ein  altes  chroni- 
sches Übel,  ein  unbequemes,  aber  sonst  harmloses  Bruchleiden. 
Er  ahnte  nicht,  daß  ihn  wenige  Wochen  später  jene  furchtbare 
Krankheit  packen  sollte,  der  er  im  August  desselben  Jahres 
erlag.  Ende  März  zeigten  sich  die  ersten  ernsten  Symptome  von 
Krebs  der  Speiseröhre,  der  dann  rapid  um  sich  griff.  Er  mußte 
doch  Seeluft  brauchen;  zum  letztenmal.  Als  ich  ihn  im  Juli  in 

Eastbourne  aufsuchte,  fand  ich  einen  sterbenden  Mann. 

So  ist  der  hier  veröffentlichte  Brief  einer  der  letzten,  die  ich 
A'on  ihm  erhielt. 

(Folgt  der  in  dieser  Ausgabe  als  Nr.  63  abgedruckte  Brief.) 


178  Der  Briefwechsel  zwischen  Marx  und  Engels 

74. 

„Der  Kampf."  1.  Oktober  1913. 

Der  Briefwechsel  zwischen  Marx  und  Engels. 

Die  Briefe,  die  Karl  Marx  und  Friedricli  Engels  einander 
schrieben,  liegen  nun,  soweit  sie  erhalten  sind,  in  vier  starken 
Bänden  der  Öffentlichkeit  vor.  Der  erste  der  abgedruckten 
Briefe  ist  Ende  September  1844  aus  Barmen  von  dem  vierund- 
zwanzigjährigen  Engels  an  den  zwei  Jahre  älteren  Marx  nach 
Paris  gerichtet,  den  letzten  schreibt  „der  Mohr"  am  10.  Jänner 
lfc83,  drei  Monate  vor  seinem  Tode.  Es  sind  die  Dokumente 
eines  gemeinsamen  Lebens  von  beispielloser  Fülle,  Kraft  und 
Spannung.  Sie  zeigen,  wie  sich  im  Kopfe  jedes  der  beiden 
Männer  die  Geschichte  dieses  Zeitraumes,  deren  Inhalt  die 
revolutionäre  Umgestaltung  Europas  ist,  aufgelöst  in  Tages- 
geschichte, spiegelt,  wie  die  Verbindung  von  gewaltigster 
Denkarbeit  der  Schöpfer  des  wissenschaftlichen  Sozialismus 
mit  täglich  betätigter  Energie  politischen  Handelns  der  Grün- 
der und  Führer  der  Internationale,  der  Berater  des  Proletariats 
von  zwei  Weltteilen,  erstaunlichstes  Ereignis  wurde.  Aber 
dieser  Briefwechsel  bringt  mehr  als  das  Bild  der  Leistung  von 
zwei  Männern,  er  führt  uns  eine  Gemeinsamkeit  vor,  die  ganz 
einzigartig  ist.  Was  Marx  und  Engels  verband,  wird  durch  das 
Wort  Freundschaft  nur  sehr  unvollkommen  ausgedrückt;  es 
war  Gemeinschaft  und  Gemeinsamkeit  der  Arbeit,  des  Denkens^ 
Forschens,  Handelns,  Kärapfens,  des  ganzen  Lebens  nach 
seinem  ganzen  Inhalt  und  in  allen  seinen  Formen.  Von  diesem 
Verhältnis  bekommt  man  erst  durch  diesen  Briefwechsel  eine 
ausreichende  Vorstellung.  Was  beide  als.  Hemmung  empfanden, 
daß  Marx  in  London  und  Engels  bis  1870  in  Manchester 
wohnte,  wird  uns  nun  zur  unschätzbaren  Quelle  deutlichster 
Einsieht  in  ihr  Leben.  Denn  da  sie  —  von  kargen  Tagen  des 
Beisammenseins  abgesehen  —  auf  schriftlichen  Verkehr  an- 
gewiesen waren,  haben  wir  nun  in  Briefen  aller  Art,  vom  flüch- 
tigen Zettel  bis  zur  ausführlichsten  Darlegung,  Zeugnisse  von 
dem  Leben  fast  jeden  Tages. 

Die  Frische,  Unmittelbarkeit,  Lebendigkeit  dieser  Briefe 
gibt  ihnen  einen  unerschöpflichen  Reiz.  Sie  ersetzen  den  münd- 
lichen Gedankenaustausch  der  zwei  Freunde  und  sind  darum 
ursprünglicher,    ungehemmter    im    Ausdruck   als    selbst    Tage- 


Der  Briefwechsel  zwischen  Marx  und  Engels  ITi) 

bücher  gemeinhin  sind,  die  doch  die  Absicht  haben  festzu- 
halten, was  von  dem  Eindruck,  der  Stimmung  de's  Augenblicks 
aufbewahrt  werden  soll.  Diese  Briefe  aber  sind  aus  der  Stunde 
für  die  Stunde  entstanden  und  haben  ihren  Beruf  erfüllt, 
wenn  sie  das  Auge  —  fast  möchte  man  sagen  das  Ohr!  —  des 
Empfängers  getroffen,  der  seinerseits  sie  als  aus  dem  Flusse 
der  Gedanken  und  der  Stimmung  entspringend  aufnimmt  und 
nicht  als  festgefrorene,  starrgewordene  Meinungen  mißversteht. 
Das  Bild  dieser  absoluten  Offenheit,  Ungezügeltheit  und  ün- 
genjertheit  in  dem  Verkehr  zweier  gewaltiger  Menschen  gibt 
dem  Briefwechsel  ein  ganz  besonders  psychologisches  Inter- 
esse; aber  gerade  hierin  liegt  auch  eine  ernste  Gefahr  des  Miß- 
verständnisses, ja  des  Mißbrauchs  solcher  Veröffentlichungen. 
Bedarf  es  schon  großer  Vorsicht ,  und  Liebe  zur  Wahrhaftig- 
keit, aus  einzelnen  aus  dem  Zusammenhang  gerissenen  Stellen 
von  Werken  und  Reden,  die  für  die  Öffentlichkeit  bestimmt 
sind,  die  richtigen  Schlüsse  zu  ziehen,  .so  ist  die  Gefahr  hier 
um  so  größer,  daß  Kommentatoren,  auch  wenn  sie  besten 
Willens  wären,  aus  einzelnen  Äußerungen  dieser  Briefe  völlig 
falsche  Schlüsse  ziehen,  in  dem.  sie  für  fest  und  starr  ansehen, 
was  fließt,  als  Meinung,  was  nur  Einfall,  als  Urteil,  was  nur 
Stimmung.  Aus  Zeugnissen  größter  subjektiver  Wahrheit 
können  so  Bilder  größter  objektiver  Unwahrheit  gewonnen 
werden.  Marx  und  Engels  hatten  nicht  nötig,  in  ihrem  Ver- 
kehr vor  Einseitigkeiten  auf  der  Hut  zu  sein,  denn  sie  waren 
sicher,  daß  vom  Empfänger  die  andere  Seite  gekannt  und 
vorausgesetzt  wurde.  Wenn  Marx  sich  über  das,  was  er  als 
Lassalles  ökonomische  Mißverständnisse  und  persönliche  Takt- 
losigkeiten bezeichnete,  in  heftigen  Worten  an  Engels  austobt, 
hat  er  nicht  nötig  immer  hinzuzufügen :  „Aber  politisch  war  er 
sicher  einer  der  bedeutendsten  Kerle  in  Deutschland  und  der 
einzige  Kerl  in  Deutschland  selbst,  vor  dem  die  Fabrikanten  und 
Fortschrittsschweinehunde  Angst  hatten.''  Engels  wußte  ganz 
genau,  was  Marx  von  dem  „toten  Löwen"  hielt,  und  war  darin 
mit  ihm  einig,  daß  Lassalles  „unsterbliches  Verdienst  es  ist, 
nach  fünfzehnjährigem  Schlummer  die  Arbeiterbewegung  in 
Deutschland  wieder  wachgerufen  zu  haben".  Und  so  in  hundert 
anderen  Dingen.  Die  Briefe  sind  erfüllt  von  einem  unaufhör- 
lichen Ringen  nach  Selbstverständigung,  von  schonungsloser, 
bohrender  Selbstkritik,  daneben  aber    findet    man    auf    jeder 


180  Der  Briefwechsel  zwischen  Marx  und  Engels 

Seite  übermütig-ste  Paradoxie  bis  zur  burschikosen,  ja  blutigen 
Selbstironie.  So  unvergleichlich  abziehend  und  fesselnd  das  ist, 
die  Empfindung  wird  manchen  Leser  beschleichen,  daß  es  in- 
diskret ist  und  daß  eine  Art  Schamhaftigkeit  sich  dagegen 
sträubt,  sich  in  das  nun  nackt  daliegende  innerste  Gedanken- 
leben dieser  zwei  großen  Menschen  zu  drängen.  Aber  eben  ihre 
geschichtliche  Größe  macht,  daß  sie  den  Anspruch  ^uf 
Schonung  verwirkt  haben,  und  Bebel  hat  recht,  wenn  er  im 
Vorwort  sagt :  „Vor  allem  hat  die  sozialistisch  denkende  Welt 
Anspruch,  ein  unverfälschtes  Bild  von  dem  Werdegang,  dem 
Fühlen  und  Denken  der  beiden  Männer  zu  erhalten,  die  als  die 
Begründer  des  modernen  wissenschaftlichen  Sozialismus  an- 
gesehen werden  müssen  und  die  für  ihn  als  die  Sache  des  Prole- 
tariats ihre  ganze  Persönlichkeit  einsetzten." 

So  empfand  auch  Engels  selbst;  er  hat  die  Veröffent- 
lichung des  Briefwechsels  gestattet,  ja  gewünscht,  und  man 
muß  ihm  dankbar  sein  dafür  sowie  seinen  Willensvollstreckern 
Bebel  und  Bernstein,  die  sich  ihrer  ungemein  schwierigen  Auf- 
gabe mit  Takt  und  Geschick  unterzogen  haben.  So  imponierend 
das  Bild  der  Persönlichkeit  von  Marx  und  Engels  auch  schon 
bisher  erschien,  im  wesentlichen  konnte  es  nur  aus  dem  Ergeb- 
nis, aus  der  vollendeten  Leistung  entnommen  werden.  Erst  jetzt 
kann  man  die  ungeheuerliche  Größe  der  Arbeit  ermessen,  die 
sie  für  notwendig  gehalten,  um  ihrer  Aufgabe  zu  genügen.  Und 
diese  Arbeit  wird  getan  unter  einer  Fülle  von  Schwierigkeiten, 
deren  jede  einzelne  auch  willensstarke  Menschen  erdrücken 
konnte.  Als  Marx  mit  seiner  Familie  in  London  ankam,  mußte 
er  das  Flüchtlingselend  in  allen  seinen  Bitterkeiten  auskosten 
bis  auf  die  Neige.  Not  und  Krankheit,  der  widerwärtige  und 
zeitraubende  Emigrantenzwist  raubten  ihm  Zeit  und  Kraft. 
Dabei  ist  er  ununterbrochen  tätig,  die  Fäden  der  durch  den 
Sieg  der  Reaktion  zertrümmerten  revolutionären  Organisation 
in  Deutschland  durch  eine  umfangreiche  Korrespondenz  wieder 
ajizuknüpfen  und  zu  vervollständigen,  steht  mit  den  Führern 
der  Bewegung  in  England  selbst  in  engster  Fühlung  und  führt 
einen  endlosen,  mühevollen  Kleinkrieg  für  die  reinliche 
Scheidung  der  Kommunisten  von  bürgerlichen  Demokraten 
und  unklaren  Köpfen  und  Phrasendreschern  aller  Nationen 
und  jeden,  zum  Teil  sehr  bedenklichen  Kalibers.  Und  während 
'Cr   so   leistet,  was  allein  schon   die  Kraft  von   zwei   tüchtigen 


Der  Briefwechsel  zwischen  Marx  und  Engels  181 


Menschen  hinreichend  in  Ansprucii  nehmen  würde,  findet  er 
Zeit  und  Kraft,  nicht  nur  im  Le-sesaal  des  British  Museum  das 
Material  für  sein  ökonomisches  Werk  zu  saimneln,  sondern 
sogar  diese  Arbeit,  die  den  höchsten  Grad  von  geistiger  An- 
spannung und  Sammlung  fordert,  in  gewaltigen  »Stößen  weiter- 
zubringen. Über  jeden  Schritt  dieser  Arbeit  gibt  er  Engels 
Bericht,  und  wie  er  in  politischen  und  organisatorischen 
Dingen  auch  nicht  das  geringste  unternimmt,  ohne  Engels  be- 
fragt zu  haben :  was  denkst  du  davon  ?  so  unterrichtet  er  ihn 
in  langen  Auseinandersetzungen  über  den  Stand  seiner  theo- 
retischen Arbeit;  jeden  Zweifel,  jede,s  Bedenken  legt  er  ihm 
vor  und  sie  beruhigen  sich  nicht,  bevor  sie  zu  Übereinstimmung 
und  Klarheit  gekommen. 

Engels*  Leistung  und  Persönlichkeit  und  sein  Verhältnis 
zu  Marx  kann  erst  aus  diesem  Briefwechsel  voll  erkannt  wer- 
den. Man  liat  immer  gewußt,  daß  Engels  dem  Freunde  nach 
Kräften  geholfen  hat,  die  schlimmste  Not  zu  überwinden,  und 
daß  er  Anteil  hatte  an  seiner  wirtschaftlichen  und  politischen 
Arbeit.  Jetzt  wissen  wir  mehr  und  erkennen  aus  den  Briefen 
mit  wachsender  Ergriffenheit,  daß  Engels  seines  Lebens  Inhalt 
darin  gesehen  hat,  Helfer  des  Genius  und  seines  Werkes  zu 
sein.  Aber  diese  Hingebung  bedeutet  für  Engels  keineswegs 
zurücktreten  oder  gar  sich  unterordnen.  Dazu  war  Engels 
eine  viel  zu  starke  und  reiche  Persönlichkeit,  und  gerade  die 
Selbständigkeit  und  Kraft  seiner  Persönlichkeit  machte  aus 
ihm  den  Helfer,  den  Marx  brauchte,  und  ohne  den  er  sein 
W^erk  nicht  hätte  vollbringen  können.  Mehr  als  dreißig  Jahre 
ist  Engels  ihm  helfend  zur  Seite  gestanden,  und  jedes  Blatt 
dieser  Briefe  gibt  davon  Zeugnis.  Aber  nicht  in  einem  einzigen 
Worte  dieser  tausend  Briefe  kommt  etwas  zum  Ausdruck,  was 
nach  Entsagung  schmeckt  und  nach  Opfer  bringen  oder  Opfer 
annehmen.  Engels  will  dasselbe,  was  Marx  will;  sie  tragen  ge- 
meinsam die  gemeinsame  Last.  Immer  wieder  muß  man  an  die 
naiven  Worte  denken,  die  der  junge  Engels  im  Jahre  1844  an 
Marx  schreibt.  Er  kündigt  ihm  das  Erscheinen  von  Stirners 
Buch  „Der  Einzige  und  sein  Eigentum"  an,  natürlich  nicht 
ohne  es  sofort  in  Grund  und  Boden  zu  kritisieren  als  „voll- 
kommenen Ausdruck  der  bestehenden  Tollheit".  Und  er  fügt 
gleich  hinzu,  was  „man  dem  Kerl  erwidern  muß",  daß  nämlich 
seine  egoistischen  Menschen    notwendig    aus    lauter  Egoismus 


182  Der  Briefwechsel  zwischen  Marx  und  Engeln 

Kommunisten  worden  müssen  und  daß  „das  menschliche  Herz 
von  vornherein,  unmmittelbar  in  seinem  Egoismus  uneigen- 
nützig und  aufopfernd  ist'*.  Wahr  aber  an  Stimers  Prinzip  sei 
allerdings,  daß  .,w  i  r  erst  eine  Sache  zu  unserer 
eigenen  egoistischen  Sache  machen  müssen, 
che  wir  dafür  etwas  tun  können"  und',  fährt  er 
fort,  „daß  wir  also  in  diesem  Sinne  auch  aus  Egoismus  Kom- 
munisten sind,  aus  Egoismus  Menschen  sein  wollen,  nicht  bloß 
Individuen".  Zu  seiner  „egoistischen  Sache''  hat  Engels  den 
Befreiungskampf  des  Proletariats  gemacht,  dessen  schärfste 
Waffe  zu  schmieden  die  Lebensarbeit  von  Marx  ist.  Dieses 
Leben  und  diese  Arbeit  zu  ermöglichen,  ist  nicht  minder  seine 
Sorge  wie  die  von  Marx  selbst.  Unermüdlich  schafft  er  Geld 
herbei,  um  das  Äußerste  an  Not  von  Marx  fernzuhalten  und 
ohne  Zweifel  bleibt  er,  um  diese  Möglichkeit  zu  haben,  Sklave 
des  ihm  längst  widerwärtig  gew^ordenen  „Kommerzes".  Aber 
alle  diese  Fürsorge,  die  ihn  selbst  oft  in  peinliche  Verlegenheit 
bringt,  ist  nichts  im  Vergleich  zu  der  großartigen  Selbstver- 
ständlichkeit, mit  der  er  seine  Zeit  und  seine  Arbeit  in  den 
Dienst  der  Bedürfnisse  des  Freundes  stellt.  Marx  gelingt  es 
endlich  durch  regelmäßige  Mitarbeit  an  der  „IS^ewyork 
Tribüne"  die  ersehnte  Quelle  halbwegs  regelmäßigen,  wenn 
auch  elend  kargen  Erwerbes  zu  finden,  aber  noch  macht  ihm 
das  Englische  Schwierigkeiten,  die  er  übrigens  überschätzt.  So- 
fort übernimmt  Engels  die  Arbeit,  indem  er  nicht  nur  über- 
setzt und  zurechtfeilt,  was  Marx  geschrieben,  sondern  selbst 
schreibt,  sobald  Marx  irgendwie  durch  Krankheit  oder  Über- 
lastung mit  Arbeit  verhindert  ist,  oder  der  zu  behandelnde 
Stoff  seinem  besonderen  Arbeitsgebiet  näher  liegt.  Und  als 
Marx  später  die  Mitarbeit  an  einer  in  x\merika  erscheinenden 
Enzyklopädie,  einer  Art  Konversationslexikon  großen  Stiles, 
angeboten  wnrd,  ist  er  sofort  Feuer  und  Flamme  dafür  und 
übernimmt  ganz,  selbstverständlich  alle  Artikel,  die  mit  Kriegs- 
wissenachaft  und  Kriegsgeschichte  irgendwie  zusammen- 
hängen. Mit  welcher  in  die  Tiefe  der  Probleme  gehenden 
Gründlichkeit,  mit  welchem  ungeheuren  Aufwand  an  Fleiß 
und  Ausdauer  er  diesen  Zweig  der  Geschichte  studierte,  er- 
fährt man  deutlicher  noch  als  aus  seinen  veröffentlichten 
Schriften  aus  diesem  Briefwechsel  und  sieht  zugleich,  daß  er 
meinte,  durchaus  nicht  nur   Wis^senschaft,  sondern   auch  Vor- 


Der  Briefwechsel  zwischen  Marx  und  Engels  183 

bereitung  für  ihre  praktische  Anwendung  zu  treiben.  Bis  weit 
in  die  Sechzigerjahre  hinein  hoffte  er  noch  immer,  ea  werde  ihm 
vergönnt  sein,  zu  Pferde  zu  steigen  und  ein  Revolutionsheer 
zu  führen. 

Denn  daß  die  Ära  der  Revolutionen  durch  die  Reaktions- 
periode der  Fünfzigerjahre  nur  unterbrochen,  aber  keineswegs 
geschlossen  sei,  war  beider  Überzeugung  und  leidenschaftlich 
gehegter  Glaube.  Jedes  der  großen  Ereignisse,  die  an  ihnen 
vorüberziehen,  untersuchen  und  werten  sie  von  diesem 
Gesichtspunkt,  und  nichts  ist  fesselnder,  als  zu  sehen,  wie  jede 
Enttäuschung  ihnen  ziuii  Ausgangsf^unkt  neuer  Erkenntnis, 
aber  auch  neuer  Hoffnung  wird.  Die  Umwälzung,,  die  sie  er- 
i-ehnten,  hat  sich  freilich  in  anderer  Form  vollzogen,  als  sie 
meinten,  und  schmerzlich  enttäuscht  wurde  ihre  Sehnsucht 
nach  der  deutschen  Revolution,  die  dem  deutschen  Volke  Ein- 
heit und  Freiheit  bringen  und  das  Signal  zum  entscheidenden, 
weltumspannenden  Kam.pfe  -sein  sollte.  Aber  wenn  Marx  noch 
Ende  1867  knirschend  der  „deutschen  Philister'"  gedenkt, 
,, deren  ganze  Vergangenheit  bewiesen,  daß  ihnen  die  Einheit 
nur  von  Gottes  und  Säbels  Gnaden  oktroyiert  werden  kann'', 
so  zieht  Engels  —  und  Marx  stimmt  ilim  zu  —  schon  Ende 
Juli  1866  in  einem  sehr  merkwürdigen  Brief  kaltblütig  die 
Konsequenz  aus  den  Ereignissen.  ,,Wir  müs^n  ebensogut  wie 
andere  die  Tatsache  anerkennen,  sie  mag  uns  gefallen  oder 
nicht"  .. . .  „Die  Sache  hat  das  Gute,  daß  sie  die  Situation  ver- 
einfacht, eine  Revolution  dadurch  erleichert,  daß  sie  die 
Krawalle  der  kleinen  Hauptstädte  beseitigt  und  die  Entwick- 
lung jedenfalls  beschleunigt.  Am  Ende  ist  doch  ein  deutsches 
EVtrlament  ein  ganz  anderes  Ding  als  eine  preußische  Kammer. 
Die  ganze  Kleinstaaterei  wird  in  die  Bewegung  hineingerissen, 
die  schlimmsten  lokalisierenden  Einflüs-se  hören  auf  und  die 
Tarteien  werden  endlich  wirklich  nationale,  statt  bloße  lokale. 
Der  nauptnachteil  ist  die  imvenneidliche  Überflutung 
Deutschlands  durch  das  Preußentum  und  der  ist  ein  sehr 
großer.  Dann  die  momentane  Abtrennung  Deutschö.sterreichs, 
die  ein  sofortiges  Vorschreiten  des  Slawischen  in  Böhmen, 
Mähren,  Kärnten  zur  Folge  haben  wird.  Gegen  beides  ist  leider 
nichts  zu  machen.  Wir  können  also  gar  nichts  anderes  tun,  als 
da-^  Faktum  einfach  akzeptieren,  ohne  es  zu  billigen,  und  die 
sich  jetzt  jedenfalls  darbieten  müssenden  größeren  Fazilitäteu 


184  Der  Briefwechsel  zwischen  Marx  und  Engels 

zur  nationalen  Org'anisation  und  Vereinigung  des  deut- 
schen Proletariats  benützen,  soweit  wir  können.''  Vielleicht 
war  so  nüchterne  Auffassung  der  Tat-sachen  in  London  leichter 
zu  gewinnen  als  auf  dem  deutschen  Schauplatz  der  Ereifgnisse, 
wo  die  kleine  Partei  unter  Liebknechts  Führung  nicht  nur 
gegen  Bismarck,  sondern  auch  und  hauptsächlich  gegen  die 
Lassalleaner  zu  kämpfen  hatte.  Wenn  sich  Liebknecht  von 
seinem  Bismarckhaß  an  die  Seite  der  süddeutschen  Parti- 
kularisten  drängen  ließ,  wird  er  immer  und  sehr  lebhaft  von 
London  zur  Ordnung  gerufen  und  die  Kritik  seiner  Politik 
ist  fortgesetzt  Gegenstand  der  Erörterung.  Für  seine  Taktik 
kann  ihm  Engels  „nur  zwei  Hauptgesichtspunkte  geben  :  1.  sich 
zu  den  Ereignissen  und  Resultaten  von  1866  nicht  rein  negativ, 
das  heißt  reaktionär,  sondern  kritisch  zu  verhalten,  und  2.  die 
Feinde  Bismavcks  ebensosehr  anzugreifen,  wie  diesen  selbst, 
da  sie  ebenfalls  nichts  wert  sind".  Die  zum  guten  Teil  neue 
Beleuchtung  zu  erörtern,  die  das  Verhältnis  zu  Schweitzer  und 
der  Bruch  mit  ihm  erfährt,  würde  hier  zu  weit  führen.  Wie  wir 
überhaupt  zunächst  der  großen  Verlockung  widerstehen  müssen, 
aus  dem  ilberreichen  Stoff  einzelnes  herauszugreifen.  Soweit 
die  vier  Bände  geschichtliches  Material  bringen,  wird  es  von 
berufenen  Kennern  gefördert,  geordnet  und  nutzbar  gemacht 
werden  müssen.  Das  Bild  der  großen  i*ersönlichkeit  aber,  das 
die  Briefe  gewissermaßen  als  eine  Reihe  von  Momentaufnahmen 
darbieten,  kann  durch  keinen  Bericht  auch  nur  annähernd 
wiedergegeben  werden.  Die  Vollblütigkeit  des  Temperaments, 
der  sprühende  Geist,  dabei  vor  allem  die  nie  ermattende  Leiden- 
schaft, die  nicht  minder  der  Wissenschaft  gilt  als  der  Revolu- 
tion, der  faustische  Trieb,  die  ganze  geistige  liitwicklung  in 
sicJi  aufzunehmen,  zu  verarbeiten  und  ihrer  wissenschaftlichen 
Leistung  einzuordnen,  Tind  das  alles  mitten  im  politischen 
Tageskampf  und  gehetzt  von  der  aufreibenden  Qual  des 
Ringens  um  die  elende  Notdurft  der  Existenz,  gepeinigt  von 
dem  eklen  Detail  des  Lebens  in  allen  seinen  widerwärtigsten 
Fonnen  —  das  alles  läßt  aus  dem  Briefwechsel  einen  in  seiner 
Art  einzigen  Eindruck  gewinnen,  der  nicht  abgeschwächt 
sondern  verstärkt  wird  dadurch,  daß  er  nichts  verbirgt,  sondern 
im  Gegenteil  niclit  nur  alle  Irrtümer,  sondern  auch  alle  Mensch- 
lichkeiten der  beiden  Männer  unverhüllt  bloßlegt  und  in 
grellem  Tageslicht  zeigt. 


Der  BriefwechseJ  zwischen  Marx  und  Engels  185 

Eine  eigene  Darstellung  müßte  der  Entstehungsgeschichte 
des  ..Kapital''  gewidmet  sein,  des  Schmerzenskindes  von  Marx 
und  in  mehr  als  einem  Sinne  auch  von  Engels.  Die  Konzeption 
reicht  bis  in  die  vierziger  Jahre  zurück  und  wenn  auch  Marx 
schon  damals  vielleicht  so  ungeduldig,  aber  kaum  so  sanguinisch 
war  wie  Engels,  so  hatte  er  gewiß  keine  Ahnung  davon,  daß 
dieses   Werk   bis  an   sein  Lebensende   den   Mittelpunkt   seiner 
ganzen  Existenz  bilden  werde.  Engels  allerdings  schreibt  ihm 
am  20.  Jänner  1845  —  man  liest  es  mit  wehmütigem  Lächeln: 
.,Was    uns    jetzt    vor    allem    nottut,     sind    ein    paar    größere 
Werke  .  .  .  Mache,  daß  Du  mit  Deinem  nationalökonomischen 
Buche    fertig    wirst,    wenn    Du    selbst    aucJi    mit  Vielem    un- 
z^iifrieden  bleiben  solltest,  es  ist  einerlei,  die  Gemüter  sind  reif 
und  wir    müssen    das  Eisen    schmieden,  weil    es  warm    ist . . . 
•  letzt  aber  ist  hohe  Zeit,  darum  mache,  daß  Du  vor  April  fertig 
wirst,  mach's  wie  ich,  setze  Dir  eine  Zeit,  bis  wohin  Du  positiv 
fertig    sein    willst,    und    sorge    für   baldigen    Druck  .  .  . 
Aber  heraus  muß  es  bald."  Und  so  hat  er  immer  gedrängt,  noch 
mehr  als  zwanzig  Jahre  lang,  bis  auch  nur  der  erste  Band  er- 
schienen war.  Dabei  hat  Marx  wahrhaftig  seine  Zeit  nicht  ver- 
loren,  trotz  Politik,  trotz   der   Jagd  nach  dem  Schilling  und 
häufiger  Krankheit.  Im  Mai  1863  klagt  er  über  die  Leiden,  die 
ihm   die  Anschwellung   der  Leber  bereitete   ,,und  Du   glaubst 
nicht  wie    das    auf   die  Moral    eines  Men.schen    einwirkt,    die 
Dummheit  im  Kopf  und  die  Paralysis  in  den  Gliesdern,  die  man 
fühlt  .  .  .    Ich     war     natürlich     in    der     Zwischenzeit    nicht 
müßig,  aber  ich  konnte  nicht  arbeiten.   Was  ich 
tat,  war  teils  meine  Lücken  (diplomatische,  historische)  in  der 
russisch-preußisch-polnischen  Geschichte  ausfüllen,  teils  aller- 
lei Literarhistorisches  in  bezug  auf  den  von  mir  bearbeiteten 
Teil  der  politischen  Ökonomie  zu  lesen  und  exzerpieren.  Dies 
auf  dem   British-Museum  .  .  .''   Und    damit   man   einen  Begriff 
bekomme,  welchen  Zustand  bei  Marx  der  technische  Ausdruck 
„Arbeitsunfähigkeit"    bezeichnet,    sei   noch    angeführt,    daß    er 
am  4.  Juli  1864  schreibt:  ,,Immer  noch  Influenza,  bis  in  Mund 
und  Nase  ist  es,  so  daß  ich  weder  rieche  noch  schmecke.   In' 
dieser   Zeit,  wo   ich  ganz  arbeitsunfähig,   gelesen  :   Carpenter : 
Physiology,  Lord:    ditto.  KöUiker:    Gewebelehre,    Spurzheim: 
Anatomie  des  Hirn-  und  Nervensystems,  Schwann  und  Schiei- 
den über  die  Zellenschraiere."  Und  wie  er  gelesen,  das  kommt 


186  Der  Brietwechsel  zwischen  Marx  und  Bngel.4 


in  den  kritischen  Berichten  an  Engels  zum  Ausdruck,  der  ihm 
übrigens  in  dieser  erstaunlichen  Schwerathletik  des  Lernens 
durchaus  nichts  nachgab.  Sein  besonderes  G-ebiet  ist  neben  der 
Kriegswi^isenschaft  die  vergleichende  SprachforsoKung  und 
Germanistik.  Die  slawischen  Sprachen  lernt  er,  weil  man  sie 
brauchen  wird,  er  vor  allem  vschon  jetzt  russisches  Material 
exzerpieren  muß  und  so  nebenbei  nimmt  er  Persisch  mit  und 
teilt  dem  Freunde  interessante  Lesefrüchte  mit.  Aber  Engels 
ist  für  Marx  vor  allem  der  Gewährsmann  für  die  Technik  des 
Geschäftlichen  im  industriellen  und  kaufmännischen  Betrieb. 
Unaufhörlich  stellt  er  seine  Fragen,  die  oft  nur  durch  mülisame 
Erhebungen  beantwortet  werden  können.  Aber  trotz  des  Riesen- 
fleißes, den  Marx  aufwendet,  sieht  er  lange  kein  Ende,  denn 
das  Problem  gewinnt  E-iesendimensionen  und  der  Kapitalis- 
mus, dessen  Bewegimgsgesetze  er  ergründen  will,  ist  gerade  in 
diesen  Jahrzehnten  in  stürmischer  Entfaltung  begriffen.  Es 
ist  ein  Fest  für  beide,  als  endlich  das  Manuskript  zum  ersten 
Band  nach  Hamburg  abgeht  und  Engels,  der  schon  die  wichtig- 
sten Gedankengänge,  aber  noch  nicht  die  Darstellung  kennt, 
die  ersten  Druckbogen  bekommt.  Wie  Marx  sein  urteil  ein- 
schätzt, sagt  er  ihm  in  einem  Worte  am  22.  Juni  1867:  ,Jcb 
hoffe,  daß  Du  mit  den  vier  Bogen  zufrieden  bist.  Deine  bis- 
herige Satisfaktion  ist  mir  wichtiger  als  irgend  etwas,  was  die 
übrige  Welt  darüber  sagen  mag."  Und  als  Marx  in  der  Nacht 
des  16.  August  den  letzten  Bogen  abschickt,  richtet  er  an  Engeis 
den  Brief  (die  Herausgeber  haben  den  glücklichen  Gedanken 
gehabt,  das  Faksimile  beizugeben),  dessen  schlichte  Worte 
doppelt  ergreifen,  weil  zwischen  Männern  gesprocJien,  denen 
nichts  verhaßter  war  als  jede  Art  von  Pathos  und  Pose. 

2  Uhr  Naclit;  16.  August  J867. 
Deal    Fred! 

Eben  den  letzten  Bogen  (ift.)  des  Buclies  feitig  korrigiert.  Der  An- 
hang —  Wertform  —  klein  gedruckt,  umfaßt  IV*  Bogen. 

Vorrede  ditto  gestern  korrigiert  zurückgeschickt.  Also  dieser  Band 
ist  fertig.  Bloß  Dir  verdanke  ich  es,  daß  dies  mösflich  war!  Ohne  Deine 
Aufopferung  für  mich  konnte  ich  unmöglich  die  Ungeheuern  Arbeiten 
zu  den  drei  Bänden  machen.  I  emljrace  you,  füll  of  thanks!  (Ich  um- 
arme Dich  voll  des  Dankes.) 

Beiliegend  zwei  Bogen  Reinahzug 

Die  J5  Pfund  Sterling  mit  besten   Dank  erhallen 

Salut,  mein  lieber  teurer  Freund! 

Dein  K    M 


Das  Jahrhundert  von  Karl  Marx  187 

Es  war  ein  Höhepunkt  in  Ihrem  Leben  und  Triumph  des 
Sieges  über  eine  Welt  von  Widerständen  verband  sich  mit  dem 
Bewußtsein,  ein  bahnbrechendes  Werk  zu  einem  ersten  Ab- 
.'^ehluß  gebracht  zu  haben. 

Der  Briefwechsel  bringt  die  Lebensführung  von  Marx 
und  Engels  in  nächste  Nähe  vor  das  betrachtende  Auge,  in  jene 
gefährliche  Nähe,  die  alles  Große  in  triviale  Einzelheiten  auf- 
zulösen droht.  Es  ist  die  Feuerprobe  auf  den  Edelgehalt  ihres 
Wesens,  daß  man  dieses  Buch  aus  der  Hand  legt  mit  gesteiger- 
ter Bewunderung  und  Verehrung  für  ihr  G^nie  und  ihr 
Heldentum. 

75. 

„Der  Wahre  Jacob"   (Stuttgart).  April  1918. 

Das  Jahrhundert  von  Karl  Marx. 

Hundert  Jahre  sind  e^,  seit  Karl  Marx  die  Augen  auf- 
schlug, um  die  Welt  zum  erstenmal  zu  sehen,  die  er  wie  kein 
anderer  durchschauen  sollte.  Es  war  der  etille  Augenblick,  die 
Atempause  nach  der  Umwälzung  Europas,  die  von  Frankreich 
ibren  Ausgang  nahm,  und  heute,  da  wir  sein  Zentenarium  feiern, 
geschieht  es  mitten  in  einer  blutigen  Umwälzung  der  ganzen 
Welt,  deren  Ausgang  und  Ergebnis  noch  kein  Sterblicher  zu 
ermessen  vermag.  Dazwischen  liegt  ein  Jahrhundert  der  un- 
geheuersten Entwicklung.  Das  damals  junge  Kapital,  das  in 
seinen  Anfängen  steckte,  umfaßt  heute  die  Welt,  beherrscht, 
umklammert,  vv'ürgt  sie;  das  Proletariat,  das  ein  Kind  war,  ist 
zum  Manne  erwachsen  und  mitten  im  Kampfe  nicht  nur  als 
leidendes,  sondern  als  in  erster  Linie  mit  entscheidendem 
Element. 

Kaum  dreißig  Jahre  war  Marx  alt,  da  schleuderte  er  zu- 
-aramen  mit  Engels  das  Kommunistische  Manifest  in  die  Welt, 
und  mit  einem  Schlage  gab  er  dem  Proletariat,  das  sich  noch 
in  seinen  ersten  Jugendjahren  befand,  Augen,  um  eich  selbst 
zu  erkennen,  und  wies  ihm  das  Ziel  für  sein  Wollen.  Nicht 
Vorschrift  brachte  er  ihm,  sondern  Erkenntnis.  Er  deutete  ihm 
die  kapitalistische  Welt  mit  einem  Wissen  von  Dingen  ohne- 
gleichen, erworben  schon  damals  und  wie  erst  epäter  mit  jener 
Arbeitsenergie,  die  ims  immer  gigantischer  ersclieint,  je  mehr 
allmählich  aus  seinen  hinterlassenen   Schriften   davon  enthüllt 


188  Das  Jahrhundert  von  Karl  Marx 

wird.  Er  gab  dem  Proletariat  die  Leuchte  iu  die  Hand,  sich 
selbst  zu  erkennen,  seine  eigene  Rolle  in  der  Geschichte  zu 
begreifen,  seinen  Weg  zu  finden  und  damit  die  Kraft  und  eein 
Wollen  zur  Tat  werden  zu  lassen. 

Wer  von  Karl  Marx  spricht,  spricht  auch  von  Friedrich 
Engels.  Der  Lebensbund  dieser  beiden  Männer  steht  einzig  da 
in  der  Geschichte:  mehr  als  Freundschaft,  mehr  als  bi-üderliche 
aufopfernde  Liebe,  eine  Arbeitsgemeinschaft,  die  fern  von  aller 
sentimentalen  Gefühlsprotzerei  zwei  geniale  Menschen  ver- 
einigte, in  allen  ihren  Lebensäußerungen,  nicht  minder  in  dem 
trivialen  Detail  des  Alltäglichen  als  in  dem,  was  ihr  Wesen  war, 
dem  faustischen  Ringen  nach  Erkenntnis  und  dem  Kampfe  nm 
die  Zukunft  der  Menschheit  und  die  Befreiung  der  Arbeiter- 
klasse. Als  vor  wenigen  Jahren  die  Veröffentlichung  des  Brief- 
wechsels ein  Stück  des  Vorhangs  von  diesem  erhebenden  Bilde 
wegzog,  war  die  Welt,  Feind  wie  Freund,  voll  der  staunenden 
und  verehrenden  Bewunderung.  ISTun  erst  ist  Engels  neben  Marx 
zu  seinem  Recht  gekommen,  er,  dessen  Hingebung  und  Be- 
scheidenheit selbst  daran  schuld  war,  daß  er  gew4ssenmaßen  nur 
als  Hilfskraft  von  Marx  eingeschätzt  wurde,  nicht  aber  als  gleich- 
wertiger und  gleichwirkender  Mitarbeiter,  der  er  in  Wirklich- 
keit gewesen  und  als  der  er  von  Marx  anerkannt  und  geliebt 
wurde. 

Da  wir  nun  diese  Feier  begehen,  endet  das  Jahrhundert 
in  jener  furchtbaren  Katastrophe,  die  uns  den  Atem  raubt  und 
fast  die  Besinnung  nimmt.  Der  geschichtliche  Inhalt  dieser 
hundert  Jahre  ist  die  Riesenentwicklung  des  Kapitalismus  über 
die  ganze  Erde,  seine  Ausweitung  zum  Imperialismus,  eine 
grandiose  ungeahnte  Entfaltung  der  Produktivkräfte  mit  wach- 
sender Unfähigkeit  der  besitzenden  Klassen,  sie  zu  beherrschen, 
bis  es  zu  einer  jener  Krisen  gekommen,  die  Marx  und  Engels 
oft  beschrieben  und  gedeutet,  deren  Umfang  und  Tiefe,  wie 
wir  sie  erleben,  sie  jedoch  nicht  ahnen  konnten.  In  diese  Krise 
aber  treten  die  Proletariate  ein,  ganz  anders  gewappnet  und 
gegliedert,  als  sie  Marx  seinerzeit  gekannt  hat.  Trotzdem  werden 
sie  vom  Wirbel  erfaßt  und  mit  fortgerissen,  auseiuandergerissen, 
gegeneinander  geschleudert.  Dieser  Krieg  hat  gleich  einem 
gewaltigen  Erdbeben  einen  Zustand  geschaffen,  der  alles  zu  ver- 
nichten droht,  'die  primitivsten  Existenzverhältnisse  jedes  ein- 
zelnen, jeder  Klasse,  jedes  Staates   und  jeder  Nation,  der  die 


1 


Das  Jahrhundert  von  Kad  Marx  189 


natürlicheten  Bedingungen  des  Lebens  und  der  Zukunft  des 
Menschengeschlechtes  an  ihrer  Wurzel  vergiften,  wenn  nicht 
ausroden  muß.  Da  ist  es  denn  kein  Wunder,  daß  überall,  über 
[alle  Klassengegensätze  hinweg,  die  Solidarität  der  Lebens- 
geuieinschaft  und  Sehicksalsgemeinsehaft  in  Nation  und  Staat 
sich  geltend  macht,  daß  die  nationale  Selbstbehauptung  und 
Landesverteidigimg  als  durch  die  Not  der  Zeit  jedem  Proletariat 
unvenneidlich  auferlegte,  bitter  empfundene,  abel-  restlos  er- 
füllte Pflicht  erscheint  und  daß  es,  weil  der  Widerspruch  zu 
dem  bereits  klar  erkannten  B&«<itztum  der  Arbeiterklasse  ge- 
wordenen Bewußtsein  der  internationalen  Solidarität  des  Prole- 
tariats schmerzlich  gefühlt  wird,  zu  Verwirrung  und  Ver- 
worrenheit kommt.  Solche  Wirrnis  war  auch  bei  frühei'cn  Kon- 
flikten nicht  unbekannt,  und  der  Briefwechsel  von  Marx  und 
Engels  zur  Zeit  des  Deutsch-Französischen  Krieges  zeigt  mit 
größter  Deutlichkeit,  mit  welcher  Schärfe  und  unbeirrbaren 
Überlegenheit  die  beiden  in  London  die  Folgerungen  aiLS  der 
Tatsache  zu  ziehen  wußten,  daß  der  Krieg  in  Deutschland  zum 
„Nationalkrieg''  geworden. 

Die  Internationale  hat  die  (iefalir  seit  langcMu  klar 
erkannt  und  noch  zuletzt  in  Basel  Worte  und  Losungen 
gefunden,  die  vom  besten  Geiste  von  Marx  und 
Engels  getragen  waren.  Aber  als  das  Gefürchtete  und 
Vorhergesehene  in  entsetzlicher  Wirklichkeit  hereinbrach, 
da  zeigte  sich,  daß  das  Proletariat  noch  zu  schwach 
war,  um  es  zu  hindern,  aber  schon  zu  ,stark.  um  sich 
aller  Verantwortungen  entledigen  zu  können  und  wie  einst  mit 
mutigem  Protest  zur  Seite  stehen  zu  dürfen.  So  kam  Verwirrung 
in  die  Politik  de«  Proletariats:  in  der  Zerklüftung  wurde  die 
Organisation  der  Internationale  zur  praktischen  Wii-kungslosig- 
keit  verurteilt.  Aber  wei-  meint,  daß  sie  auf  iuuiicr  in  Scherben 
gegangen  ist,  der  verkennt  zweierlei:  erstens,  wie  ti'otz  aller 
Verschiedenheit  und  alles  Gegensatzes  sich  in  fa-<t  allen  Ländern 
dieselben  einander  bekämpfenden  Tendenzen  innerhalb  der 
Arl)eiterklasse  zeigen,  erzwungen  durch  die  allen  auferlegten 
unausweichlichen  Notwendigkeiten,  und  zweitens,  wie  mitten  in 
dem  grausen  Schicksal,  einander  morden  zu  müssen,  der  über 
allem  stehende  Gedanke  der  brüderlichen  Solidarität  der 
Arbeiter  aller  Nationen  nirgend  und  nicht  einen  Moment  lang 
verlorengegangen  ist.  Auf  allen  vom  Graus  beherrschten  Kriegs- 

14 


190  •  Das  Jahrhundert  von  Karl  Mai-x    i 

Schauplätzen,  aus  allen  Schützengräben  wird  uns  täglich  Kunde 
von  Zeugnissen  für  das  durch  nichts  zu  vei"drängende  und  aus- 
zutilgende Bewußtsein  der  Zusamraengeliörigkeit  der  arbeiten- 
den Massen  diesseits   und  jenseits  der  ßlutströme.  Was  wird,^ 
weiß  heute  niemand.  Das  aber  läßt  sich  schon  erkennen,  daß  wir! 
den  in  aller  bisherigen  Ge>schichte  gewaltigsten  Bankrott  eines- 
weltumfassenden  Systems  erleben,  daß  die  kapitalistische   Oe- 
sellschaft  unfähig  geworden  ist,  die  Widersprüche  zu  bewältigeu, 
die  aus  ihrer  eignen  Machtentwicklung  entspringen,  und  daß  jes 
riesenhafter  die  Gewaltmittel  werden,  die  ihnen  unerhörte  tech-' 
nisehe  Entwicklung  in  die  Hand  gibt,  um  so  mehr  ihre  Macht  ^ 
schwindet,  sie  zu  gebrauchen.  Immer  mehr  werden  sie  willen-| 
los  die  Gefangenen  der  von  ihnen  entfesselten  Gewalt.  Das  ist 
jener    die    (j^schichte    beherrschende    Konflikt,    den   Marx   mit 
genialem   Blick  gezeichnet,   aber  nun  auf  einer  von  ihm  und 
Engels  kaum  geahnten  Höhe  der  Stufenleiter. 

»Schon  ist  das  Angesicht  Europas  völlig  verändert  durch 
den   Sieg  der   russischen    Revolution,    den    heißersehnten   Sieg: 
über  den  Zarismus,  der  bisher  Hebelpunkt  und  Rückhalt  aller  I 
konterrevolutionären  Kräfte  war.  Was  immer  das  Ergebnis  des 
russischen  Dramas  sein  möge,  der  Alpdruck  ist  abgewälzt,  mit , 
der  Beherrschung  Europas   ist   es  vorbei,   und   dafür,  daß  die 
Mission,    Kerkermeister    und    Henker    jeder  befreienden  Ent 
wickUmg  zu  sein,  da  sie  in  Petersburg  vernichtet,  nicht  weiter 
westlich   übernommen  w^erde,     dafür   wird   die    Arbeiterklasse 
sorgen,  die  trotz  alledem,  zwar  dezimiert  und  zunächst  durch 
Blutverlust  bedrängt,  aber  im  Geist  und  Willen   gestählt,  neu 
erleuchtet  durch  übermenschliche  Erfahrung  und  —  kaum  wagt , 
man  das  scheinbar  Widerspruchsvolle  auszusprechen  —  einander  '. 
nähergebracht  worden  ist  gerade  durch  die  gemeinsam  durch 
lebten  Schrecknisse  des  Krieges. 

Freilich,  schwere  Wirrnis,  die  der  Krieg  geschaffen,  wird 
überwunden  werden  müssen  und  überwunden  werden.  Ist  doch 
sogar  die  machtvolle  Einheit  der  deutschen  Sozialdemokratie,  ; 
der  Stolz  und  der  Ruhm  der  ganzen  Internationale,  auf  das  ^ 
schwerste  gefährdet  und  scheinbar  in  die  Brüche  gegangen.  So 
schmerzhaft  das  ist,  so  wenig  ist  es  erstaunlich.  Wir  mußten 
das  Schicksal  des  Krieges  auf  uns  nehmen  bis  in  alle  seine  Kon- 
sequenzen und  dabei  jede  Verantwortung  für  seine  Entzündung 
und  Fortführung  ablehnen.  Wir  mußten  dem  Proletariat  in  der 


Das  Jahrhundei-t  von  Karl  Marx  191 

Not  dee  Tages  zu  helfen  suchen,  uns  auf  den  Boden  des  National- 
krieges begeben  und  doch  eben  diesen  Krieg  verurteilen.  Die- 
ijenigen  von  uns,  die  das  Auge  auf  das  Ganze  der  Entwicklung 
richteten,  die  weltgeschichtlichen  Geschehnisse  verfolgten  und 
übersahen,  geraten  in  Gefahr,  zu  einer  Politik  zu  kommen,  die 
zwar  häufig  der  Stimmung  entspricht,  die  aus  den  Nöten,  des 
Tages  geboren  ist,  aber  nicht  ihren  wirklichen  und  wirksamen 
Bedürfnissen.  Gegenseitig  verführt  man  einander  zu  Exzessen, 
die  um  so  schmerzlicher  empfunden  werden,  je  näher  uns  der 
Verüber  gestanden  war.  Da  kanu  es  geschehen,  daß  Genossen 
meinen,  die  vom  Kriege  erzwungene  Einheit  des  Volkes,  die 
Marxens  Kritik  erbarmimg-sios  in  Klassen  zerriseen  hat,  sei 
wieder  auf  die  Dauer  zusammengeleimt,  und  daß  auf  der  andern 
Seite,  die  jede  Berührung  mit  den  heutigen  ^[achthabern  als 
unsühnbaren  Sündenfall  verdammt,  die  Besorgnis  sich  zeigt, 
der  Klassenkampf  und  das  Bewußtsein  von  seiner  unerbittlichen 
^Notwendigkeit  könne  den  Massen  abhanden  kommen.  Und  je 
trüber  die  Zeit  ist,  um  v'^o  mehr  wird  der  Streit  vergiftet,  allzu 
Menschliches  mischt  sich  überall  ein.  Je  schmerzliafter  wir  dJfs 
alle  empfinden,  um  so  besser  für  uns  und  unsere  Zukunft,  um 
so  sicherer  und  schneller  wird  es  in  jedem  Lande,  vor  allem  in 
Deutschland  überwunden  sein.  Wenn  sich  der  Bhitnebel  ver- 
zogen haben  würd,  wenn  vor  unseren  Blicken  das  Neue  liegen 
wird,  das  sich  dem  Mutterschoße  des  Gewesenen  unter  furcht- 
barsten Krämpfen  entbunden  liat,  wenn  die  neuen  Aufgaben 
erkennbar  sein  werden,  die  dem  Proletariat  gestellt  sind,  dann 
^vird  auch  die  Einheit  wieder  kommen,  weil  sie  kommen  muß, 
dann  wird  gutgemacht  werden,  was  durch  den  Streit  jetzt  in 
Vergeudung  edelster  Kräfte  gesündigt  wurde.  Es  wird  uns 
wieder  zum  Bewnißtsein  kommen,  das  was  Marx  den  Ausgebeu- 
teten der  ganzen  Welt  als  befreiende  Losung  zurief:  „Prole- 
arier  aller  Länder,  vereinigt  euch!"  —  soll  es  erfüllt  weixlen 
iber  zur  Voraußsetzung  hat,  daß  zunächst  zur  Wahrheit  w-erde: 
Proletarier  jedes  Landes,  vereinigt  euch!  Auf  dieser  neu- 
rrungenen,  vom  Bewußtsein  der  täglich  wachsenden  Macht  des 
Proletariats  in  der  neuen  kommenden  Welt  wird  die  erneute 
fnternationale  errichtet  werden  und  wird  sie,  die  bisher  nur  Er- 
ebnis  und  »Summe  der  erst  allmählich  wachsenden  Macht  des 
roletariats  sein  konnte,  nunmehr  auch  zu  ihrer  ergiebigsten 
Quelle  werden. 


192  Das  Jahrhimdert  von  Karl  Maix 


Voranleuchten  aber  wird  der  Internationale  der  Name  des 
Mannes,  der  dem  Jahrhundert,  dessen  Verenden  nun  von  einem 
Cxlühen  ohnegleichen  beleuchtet  wird,  mehr  als  irgend  ein  an- 
derer seinefi  Stempel  aufgedrückt,  der  den  Werdegang  der 
kapitalistischen  Welt  durchschaut,  dem  Proletariat  seinen  Weg 
erleuclitet  und  seine  Würde  gegeben  hat,  der  es  schon  im  Kom 
iniinisti sehen  Manifest  vor  siebzig  Jahren  aufgerufen  ak  „d  i  c 
revolutionäre  Klasse,  welche  die  Zukunft  in 
ihren  Händen  trag  t".  Viktor  Adler  (Wien). 


Victor  Adlers 
Aufsätze,  Reden  und  Briefe 


Herausgegeben   vom   Parteivorstand  der  Sozial- 
demokratischen Arbeiterpartei  Deutschösterreichs 


Zweites  Heft: 

Victor  Adler  vor  Gericht 


Wien  1923 

Verlag  der  Wiener  Volksbuchhandlung-,  Wien  VI. 


Alle  Rechte  vorbehalten. 


Copyright  1923   by  Wiener  Volksbuchhandlung- 
Wien  VI,  Gumpendorferstraße  18. 


Druck-  und  Verlagsanstalt  „Vorwärts",  Wien  V,  Rechte  Wienzeile  97. 


Inhaltsverzeichnis. 


Seite 

^'ol■\vort  des  Herausgebers ^ 

I.  Adler  als  Angeklagter. 

Prozesse    in    den    Jahren    1887biblS8  9. 

r>er  Münzverfälschungsprozeß  und  der  Polizeirat  Frank]  (1887)    ...  13 

l'olizeirat  Frankl  rächt  sich  höchstpersönlich  (1887) 17 

Zwei  Geheimbundprozesse  (1888) 20 

Unbefugte  Verteilung  der  „Gleichheit"  an  die  Ziegelarbeiter  (1888)    .  26 

Fine  Ehrenbcleidigungsklage  wegen  der  BlechA\irtschaft  (1888)    ...  27 

Wegen  Beleidigung  eines  Regierungsvertreters  (1888) 30 

Vor   dem   A  u  s  n  a  h  m  e  g  e  r  i  c  h  t  s  h  o  f   (1889). 

\\'egen    anarchistischer   Bestrebungen    vor  dem  Ausnahmegericht .    ,  30 

Die  Einstellung  der  „Gleichheit"  und  Adlers  Selbstanzeige    .....  37 

Adler  vor  dem  Holzinger-Senat 44 

Die  Schlußverhandlung  am  27.  Juni  1889 47 

Prozesse  in  den  Jahren  1890  bis  189  3. 

Anklagen  infolge  der  Kandidatur  in  Nordböhmen  (1891) 104 

„Singt's  nur  weiter!"  (1892) 106 

Die  Auflösung  einer  Versammlung  in  Warncdorf  (1893) 107 

Eine  Portion  Hirn  für  Taaffe  (1893); .109 

Die  verkleinerten  Delikte  (1893) 111 

Dunkel  sind  die  Wege  der  Staatsanwaltschaft  (1893) 117 

Der  R  e  i  c  h  e  n  b  e  r  g  e  r  S  c  h  w  u  r  g  e  r  i  c  h  t  s  p  r  o  z  e  ß  (1893).  , 

Der  große  Schwurgerichtsprozeß  in  Reichenberg  (1893) ,  117 

Eine  Volksversammlung  nach  der  Verhandlung  (1893) 204 

Prozesse    in    den   Jahren    1894    bis    189  9. 

Für  die  Rechte  der  tschechischen  Arbeiter  in  Wien  (1894) 206 

Die  Ehrenbeleidigungsklage  eines  Gesinnungslumpen  (1894)      ....  207 

Der  unbefangene  Holzinger  (1894) .20.8 

Die  Schüsse  in  Falkenau  und  Ostrau  (1894) 210 

Beleidigung  eines  Erzherzogs  und  des  Kaisers 215 

Die  Wienerberger  Ziegelfabriken  und  die  Behörden  (1895) 21.7 

Pater  Stojalowski  (1896) 230 

Die  galizischen  Wahlgreuel  (1896) 241 

Adler  wegen  Mißhandlung  eines  Arbeiters  angeklagt  (1897)  .....  245 

Er  darf  kein  Verbrechen  begangen  haben  (1897) 247 

1* 


Seite 

Adler  übernimmt  sofort  die  Verantwortung  (1898) 252 

Bei  den  streikenden  Textilarbeitern  in  Brunn  (1899) 252 

Wegen  Auflaufs  veruneilt!  (1899) 255 

Steckengebliebene  Verfolgungen  (1894,  1895,  1899) 255 

A  n  h  a  11  g : 

Recht.san\vält(>  über  Adler 256 

Adlers  Strafregister 260 

IL  Adler  als  Ankläger. 

Gegen  die  scblechteu  Richter 265 

Die  Richter  und  die  Polizei 265 

Graf  Lamezan  und  die  Advolvaten 272 

Einer  vom  Holzinger- Senat 276 

Die  Verurteilung  zweier  Rednerinnen 285 

Drei  vielsagende  Zeilen      287 

Der  Selbstmord  Holzingers 288 

III.  Adler  als  Verteidiger. 

Weshalb  damals  kontiszieit  wurde 293 

Die  Konfiskation  wegen  Beleidigung  der  Polizeilockspitzel 298 

Ein  konfisziertes  Lied  und  ein  „konfisziertes"  Gesicht 300 

Die  konfiszierte  Wahlrechtsbroschüre 304 

Ein  verurteilter  Landesgerichtsrat 317 

IV.  Adler  als  Zeuge. 

Als  Entlastungszeuge  in  einem  Anarchistenprozeß 321 

Nicht  auf  der  Tagesordnung 322 

Die  militärgerichtliche  Untersucliung  gegen  Dr.  Soukup  und  Genossen  323 

Als  Zeuge  im  Prozeß  gegen  Friedrich  Adler 324 

V.  Adler  bei  Demonstrationen. 

Wir  lassen  uns  nicht  einschüchtern 339 

Adler  als  Standartenträger 339 

Die  gestörte  Maifeier 340 

Bei  der  Polizeiattacke  am  Praterstern 341 

Beim  Einbrucli  der  Polizei  ins  P^avoritener  Arbeiterheim 342 

Die  Arretierung  bei  der  Demonstration  gegen  lAieger 347 

Die  letzte  Verurteilung  Adlers      349 

Adler  über  das  Davonlaufen 354 

VI.  Adler  im  Arrest. 

Einleitung 359 

Zarte  polizeiliche  Fürsorge  bei  Strafantritt  und  Strafbeendigung     .    .  360 

Erinnerungen 361 

Mit  Victor  Adler  im  Arrest.  Von  Dr.  Wilhelm  Ellenbogen  .    .    .    .  304 
Als    der  Wahlreformentwurf  veröffentlicht  wurde.   Von    Friedrich 

A  u  s  t  e  r  1  i  t  z 367 

Adlers  erste  Maifeier  im  Arrest 369 

Victor  Adler:  Mein  erster  Mai 369 


VICTOR     ADLER, 


Staub  liegt  auf  den  J^äiulen,  die  Deine  Werke,  nein,  die  D  e  i  li 
W  e  r  k.  Dein  Lebenswerk  enthalten,  auf  den  alten  Jahrgängeii 
der  „Cr  1  e  i  c  h  li  e  i  t"  und  der  ,.A  r  b  e  i  t  e  r  -  Z  e  i  t  u  n  g"  aus 
den  achtziger  und  neunziger  Jaliren;  aber  da  ich  sie  auf- 
schlage und  Bbitt  für  Blatt  wende,  schwebt  Deine  Gestalt 
frisch  und  lebendig  hervor,  als  wäre  das  alles,  was  sie  von  Dir 
erzählen,  nicht  drei  Jahrzehnte  alt,  als  wäre  alles  erst  gestern 
gewesen.  Es  rauscht  und  raschelt  in  dem  vergilbenden  Pai)icr 
und  die  Gestalten  Deiner  Freunde  und  Kampfgenossen  scharen 
sich  um  Dich,  und  euch  gegeniVber  sammeln  sich  wie  Spnk- 
gestalten  die  dununen.  boshaften  Polizeikonmiissäre,  die  euch 
das  Wort  abschnitten  und  die  Versammhingen  auflösten;  die 
bornierten  Bezirkshauptniänner,  die  euch  die  Versammlungen 
verboten;  die  streberischen  Staatsanwälte,  die  euch  auf  Wunsch 
der  jeweiligen  Eegierung  anklagten  und  eure  Zeitungen  und 
Schriften  konfiszierten;  die  knechtischen  und  gewissenlosen 
Richter,  die  euch  auf  Ihd'ehl  von  o1)eii  verurteilten;  die  brutalen 
Polizisten,  Gendarmen  und  Soldaten,  die  als  unbewußte 
Büttel  des  Kapitals  ;iut"  iMich  einhieben;  die  ihrer  ]ioll(^  als 
Werkzeug  der  l)esitzenden  Klasse  b  e  w  u  1?  t  e  n  Minister  uml 
Parteiführer  im  Peichsrat,  Landtag  und  Gemeinderat,  die 
sich  gegen  die  ])olitischen  Rechte  des  Volkes  verschworen 
hatten;  die  l)iirgerlicheii  /.(dtungsmachcr,  die  eucli  totschwiegen 
oder  verlästerten,  je  na(didem  es  ol)en  gewünscdit  wurde.  G(;gen 
eine  Welt  von  Feinden  hattet  ihr,  die  wenigen  Wortführer  der 
Armen  und  Klemh  n,  zn  kämpfen.  Aber  ihr  liabt  sie  besiegt; 
ihr  habt  so  l;iiii:c  die  sittliche  Fntriistung  der  Öffentlichkeit 
über  sie  wachgeiufen.  -o  lange  ihre  numnulreicstigkciten 
dem  Spotte  [)reisgegeben,  bis  sie  an  ihrer  Lächerlichkeit 
starben.  Es  ging  heil.»  zu  in  diesen  Kämpfen,  und  ohne  Ver- 
luste, ohne  Wunden  ging  es   nicht  ab.   Sie   alle   wareii  tapfere 


Seite 

Adler  übernimmt  sofort  die  Verantwortung  (1898) 252 

Bei  den  streikenden  Textilarbeitern  in  Brunn  (1899) 252 

Wegen  Auflaufs  veruneilt!  (1899) 255 

Steckengebliebene  Verfolgungen  (1894,  1895,  1899) 255 

Anhang: 

Rechtsanwälte  über  Adler 256 

Adlers  Strafregister 260 

II.  Adler  als  Ankläger. 

Gegen  die  schlechten  Richter 265 

Die  Richter  und  die  Polizei 265 

Graf  Lamezan  und  die  Advokaten 272 

Einer  vom  Holzinger- Senat 276 

Die  Verurteilung  zweier  I^ednerinnen 285 

Drei  vielsagende  Zeilen      287 

Der  Selbstmord  Holzingers 288 

III.  Adler  als  Verteidiger. 

Weshalb  damals  konfisziert  wurde 293 

Die  Konfiskation  wegen  Beleidigung  der  Polizeilockspitzel 298 

Ein  konfisziertes  Lied  und  ein  „konfisziertes"  Gesicht 300 

Die  konfiszierte  Wahlrechtsbroschüre 304 

Ein  verurteilte!"  Landesgerichtsrat 317 

IV.  Adler  als  Zeuge. 

Als  Entlastungszeuge  in  einem  Anarchistenprozeß 321 

Nicht  auf  der  Tagesordnung 322 

Die  militärgerichtliche  Untersuchung  gegen  Dr.  Soukup  und  Genossen  323 

Als  Zeuge  im  Prozeß  gegen  Friedrich  Adler 324 

V.  Adler  bei  Demonstrationen. 

Wir  lassen  uns  nicht  einschüchtern 339 

Adler  als  Standartenträger 339 

Die  gestörte  Maifeier 340 

Bei  der  Polizeiattacke  am  Praterstern 341 

Beim  Einbruch  der  Polizei  ins  Favoritener  Arbeiterheim 342 

Die  Arretierung  bei  der  Demonstration  gegen  T>ueger 347 

Die  letzte  Verurteilung  Adlers      349 

Adler  über  das  Davonlaufen 3.54 

VI.  Adler  im  Arrest. 

Einleitung 359 

Zarte  polizeiliche  Mirsorge  bei  Straf  antritt  und  Strafbeendigung     .    .  360 

Erinnerungen 361 

Mit  Victor  Adler  im  Arrest.  Von  Dr.  Wilhelm  Ellenbogen  .    .    .    .  364 
Als    der  W^ahlreformentwurf  veröffentlicht  wurde.    Von    Friedrich 

A  u  s  t  e  r  1  i  t  z 367 

"Adlers  erste  Maifeier  im  Arrest 369 

Victor  Adler:  Mein  erster  Mai 369 


VICTOR     ADLER, 


Staub  liegt  auf  den  Bänden,  die  Deine  Werke,  nein,  die  Dein 
Werk,  Dein  Lebenswerk  enthalten,  auf  den  alten  Jahrgängen 
der  mCt  1  e  i  c  h  h  e  i  t"  und  der  ..  A  r  1)  e  i  t  e  r  -  Z  e  i  t  u  n  g"  aus 
den  achtziger  und  neunziger  Jahren;  aber  da  ich  sie  auf- 
schlage und  Blatt  für  Blatt  wende,  schwebt  Deine  Gestalt 
frisch  und  lebendig  hervor,  als  wäre  das  alles,  was  sie  von  Dir 
erzählen,  nicht  drei  Jahrzehnte  alt,  als  wäre  alles  erst  gestern 
gewesen.  Es  rauscht  und  raschelt  in  dem  vergilbenden  Papier 
und  die  Gestalten  Deiner  Freunde  und  Kampfgenossen  scharen 
sich  um  Dich,  und  eucli  gegenüber  sammeln  sich  wie  Spuk- 
gestalten die  dummen,  boshaften  Polizeikommissäre,  die  euch 
das  Wort  abschnitten  und  die  Versammlungen  auflösten:  die 
bornierten  Bezirkshauptmänner,  die  euch  die  Versammlungen 
verboten;  die  streberischen  Staiitsanwälte,  die  euch  auf  Wunsch 
der  jeweiligen  Begierung  anklagten  und  eure  Zeitungen  und 
Schriften  konfiszierten;  die  knechtischen  und  gewissenlosen 
Richter,  die  euch  auf  Befehl  von  oben  verurteilten;  die  brutalen 
Polizisten,  Gendarmen  und  Soldaten,  die  als  u  n  b  e  w  u  ß  t  o 
Büttel  des  Kapitals  auf  euch  einhieben;  die  ihrer  Rolle  als 
Werkzeug  der  besitzenden  Klasse  bewußten  Minister  und 
Parteiführer  im  Reichsrat,  Landtag  und  Gemeinderat,  die 
sich  gegen  die  politischen  Rechte  des  Volkes  verschworen 
hatten;  die  bürgerlichen  Zeitungsmacher,  die  euch  t(jtschwiegen 
oder  verlästerten,  je  nachdem  es  oben  gewünscht  wurde.  Gegen 
eine  Welt  von  Feinden  hattet  ihr,  die  wenigen  Wortführer  der 
Armen  und  hdcnden,  zu  kän)i)fen.  Aber  ihr  ha])t  sie  besiegt; 
ihr  habt  so  lange  die  sittliclie  Entrüstung  der  Öffentlichkeit 
über  sie  Avachgerufen,  -o  lange  ihre  Dummdreißtigkeitcn 
dem  Spotte  preisgegeben,  bis  sie  an  ihrer  Lächerlichkeit 
starben.  Es  ging  heiß  zu  in  diesen  Kämpfen,  und  ohne  Ver- 
luste, ohne  Wunden  ging  es  nicht  al).  Sie  alle   waren  tapfere 


Vorwort  des  Herausgeber.^ 


Kämpfer  in  dieser  Heroenzeit  der  österreichischen  Arbeiter- 
partei, und  Du,  Victor  Adler,  gingst  ihnen  voran. 

Du  hast  den  alten  k.  k.  Polizeistaat,  den  „Absolutismus, 
gemildert  durch  Schlamperei"  Dir  gegenüber  gehabt  und  hast 
nie  verzweifelt.  Du  hast  mit  dem  noch  größeren  Feind  zu 
ringen  gehabt,  mit  dem  eingefressenen  Mißtrauen  der 
gespaltenen,  mit  Polizeispionen  und  Lockspitzeln  durch- 
seuchten Arbeiterschaft;  Du  hast  es  überwunden.  Du  hast 
eine  Generation  von  Sozialdemokraten  gelehrt,  wie  mau 
kämpfen  muß :  mit  äußerster  Vorsicht,  um  der  Ar- 
beiterklasse keine  überflüssigen  Opfer  aufzuerlegen,  al)er 
auch  mit  rücksichtsloser  Entschlossenheit, 
wenn  es  ohne  Opfer  nicht  geht.  Und  alle  folgten  Dir  gerne, 
weil  sie  sahen,  wie  klug  Du  Stück  für  Stück  Redefreiheit, 
Preßfreiheit,  Wahlrecht,  Arbeiterschutz  erkämpftest,  und  weil 
sie  sahen,  wie  Du  auch  kein  Opfer  Deiner  Person,  Deiner 
Freiheit  scheutest.  Du  warst  kein  Prahler  und  stets  v.-ar  es 
Dir  lieber,  nicht  angeklagt  und  nicht  eingesperrt  zu  werden 
und  nie  hast  Du  den  Märtyrer  gespielt.  Aber  wenn  es  nicht 
anders  ging,  wenn  es  notwendig  war,  hast  Du  gesprochen  und 
geschrieben,  in  dem  Bewußtsein,  daß  ee  zur  Anklage  konnuen 
werde,  zur  Verurteilung,   zum   Gefängiiis. 

Teurer  Meister,  ich  sehe  Dich  noch,  wie  Du  eines 
Abends  nach  Hauise  kamst,  an  dem  Tage,  als  das  Wiener 
Landeegericht  unter  der  Führung  des  verruchten  Ritters 
V.  H  o  1  z  i  n  g  e  r  eine  unserer  Rednerinnen,  Charlotte  Glas, 
wegen  Verbrechens  der  Beleidigung  von  Mitgliedern  des 
kaiserlichen  Hauses  zu  vier  Monaten  schweren  Kerkers  vor- 
urteilt hatte.  Du  warst  aufs  tiefste  empört  über  das  Urteil, 
gingst  eine  Weile  im  Bibliothekzimmer  umher  und  überlegtest, 
ob  Du  einen  scharfen  Artikel  darüber  schreiben  solltest, 
einen  so  scharfen,  daß  er  das  öffentliche  Gewissen,  vielleicht 
gar  das  des  Obergerichts  gegen  jenes  Urteil  wecken  könnte. 
Dazu  war  nach  allen  Erfahrungen  wahrhaftig  wenig  Aus- 
sicht, um  so  mehr  aber  dafür,  selbst  angeklagt  und  möglicher- 
weise verurteilt  zu  verden  und  so  den  Triumph  jenes  ])ös- 
artigen  Henkerknechtes  nur  zu  vergrößern.  Nach  zehn 
Minuten  warst  Du  zu  einem  Entschluß  gekommen  und 
diktiertest  mir  den  berühmten  Artikel  gegen  H  o  1  z  i  n  g  e  r, 
der  das  größte  Aufsehen  hervorrief,   derart,  daß  der  Oberste 


Vorwort  des  Herausgebers 


Gerichtshof  das  Urteil  über  Genossin  Glas  aufhob  —  etwas, 
was  dem  Holzinger  gegenüber  und  gar  bei  einer 
Prinzenbeleidigung  noch  nicht  da  war. 

So  hast  Du  nicht  gezögert,  in  Wort  und  Schrift  zu 
sagen,  was  für  die  Arbeiter,  was  für  die  Partei,  der  Du  Dein 
Leben  geweiht  hattest,  zu  sagen  notwendig  war.  In 
jener  Zeit  der  politischen  Verfolgungen  warst  Du  ein 
ständiger  Gast  bei  den  Bezirks-  und  Landesgerichten,  vor 
den  .Berufsrichtern  wie  vor  den  Geschwornen  bist  Du 
immer  wieder  gestanden.  Und  alle  diese  Prozesse,  ob 
Du  freigesprochen  oder  verurteilt  wurdest,  wurden  zu 
Waffen  gegen  Altösterreich,  gegen  die  Willkür  der  Be- 
hörden, gegen  die  politische  und  soziale  Unterdrückung.  Nie- 
mals gingst  Du  von  einem  Prozeß  ohne  moralischen 
Sieg  fort,  niemals,  ohne  vor  aller  Welt  mit  dem  Finger  auf 
ein  Geschwür  am  sozialen  Körper  hingewiesen  zu  haben.  Jede 
Verurteilung  war  wie  jeder  Freispruch  eine  Agitation  für  die 
politischen  Rechte  der  Arbeiter,  eine  gelungene  Werbung  neuer 
Anhänger  für  die  Partei.  Den  schlechten  Richtern 
warfst  Du  in  solcher  Form,  daß  sie  es  deutlich  spürten,  aber 
nichts  dagegen  tun  konnten,  Deine  Verachtung  als  die  Ver- 
achtung aller  ehrlichen  Leute  ins  Gesicht,  bei  den  Ge- 
schwornen, damals  ausschließlich  der  besitzenden  Klasse 
angehörig,  machtest  Du  durch  Dein  sittliches  Pathos,  durch 
Dein  Wissen,  durch  Deinen  schneidenden  Witz  jedesmal  den 
tiefsten  Eindruck. 

Diese  Wirkung  blieb  gleich,  wenn  Du  nicht  als  Ange- 
klagter vor  Gericht  erscheinen  mußtest,  sondern  als  Zeug  e, 
und  ich  erinnere  mich  an  einen  solchen  Prozeß  in  Graz,  wo 
einige  „Anarchisten"  wegen  einer  Broschüre  ob  Hochverrats 
angeklagt  waren.  Du  wurdest  als  Zeuge  geführt,  und  zur 
Überraschung  des  dummen  Staatsanwalts,  der  offenbar  ge- 
glaubt hatte.  Du  würdest  die  „Anarchisten",  die  Dich  und  die 
Sozialdemokratie  in  dieser  selben  Schrift  ebenso  scharf  als 
ungerecht  angegriffen  hatten,  dafür  strafen,  zeigtest  Du  den 
Geschwornen  die  Lächerlichkeit  der  Anklage  so  deutlich,  daß 
das    freisprechende    L'rteil    zweifellos    dadurch    zustande    kam. 

LTnd  wenn  Du  nicht  als  Angeklagter  vor  Gericht 
standest,  gingst  Du  als  Verteidiger  und  Ankläger 
hin.  Die  Konfiskationen  der  „Gleichheit"  und   der  „Arbeiter- 


S  Vorwort  des  Herausgebers 

Zeitung",  die  ja  bald  —  für  Wien  wenigstens  —  praktisch 
wirkungslos  geworden  waren,  weil  die  Vertrauensmänner  der 
Partei  am  Abend  die  ganze  Auflage  in  Sicherheit  brachten, 
bevor  die  Sicherheitswachleute  sie  holen  konnten,  mußten  in 
besonders  wichtigen  Fällen  ebenfalls  zur  Gelegenheit  dienen, 
dem  Staatsanwalt  und  den  Richtern  Verlegenheiten  zu  bereiten 
und  vor  allem  die  Aufmerksamkeit  weiter  Kreise  darauf  zu 
lenken,  agitatorisch  zu  wirken.  Der  Ausgang  dieser  E  i  n- 
s  p  Y  u  c  h  s  V  e  r  h  a  n  d  1  u  n  g  e  n  war  bei  den  Berufsrichtern, 
war  gar  bei  einem  Holzin  ger  als  Vorsitzenden  von  vorn- 
licrein  klar;  aber  Du  triebst  doch  die  hohe  Justiz  mit  Deinem 
ätzenden  Spott  in  die  Enge  und  trugst  doch  auch  dort  zur  E  r- 
z  i  e  li  u  n  g  der  Behörden  bei. 

Das  war  ja  Dein  Hauptberuf  und  dieses  Buch  könnte 
ebensogut  die  Aufschrift  tragen :  Victor  Adler  als 
E  r  z  i  e  h  e  r.  Du  hast  sie  zur  Gesetzlichkeit  erzogen,  die  Eegie- 
rungsvertreter  in  den  Versammlungen  und  die  Bezirkshaupt- 
männer, die  Statthalter  und  Minister,  und  selbst  die  Staats- 
anwälte und  die  Wachleute  ■ —  wenn  es  da  auch  am  schwersten 
ging  und  bei  Demonstrationen  oft  Rückfälle  eintraten.  Du 
hast  aber  auch  die  Arbeiter  erzogen;  Du  hast  mit  Deinen 
Kampfgenossen  ihnen  die  Straße  erobert,  indem  Du  sie 
gelehrt  hast,  entschlossen,  aber  w  ü  r  d  i  g  zu  demon- 
strieren. ,,W  i  r  lassen  uns  nicht  provozieren  und 
nicht  einschüchtern!"  Mit  diesem  Zauberspruch  hast 
Du  uns  diese  gewichtige,  aber  zweischneidige  Waffe  handhaben 
gelehrt.  Und  wie  Du  gefährliche  Artikel  mit  Deinem  Namen 
oder  Deinen  Anfangsbuchstaben  gezeichnet  hast,  wie  Du  auch 
ohne  das  bei  wichtigen  Prozessen  die  Verantwortung  vor  Ge- 
richt übernommen  hast,  so  warst  Du  bei  den  D  e  m  o  n  s  t  r  a- 
t  i  o  n  e  n  mit  dabei  und  hast  Vernunft  hüben  und  drüben  ge- 
predigt, auf  die  Arbeiter  hier  und  auf  die  Wache  dort  einge- 
wirkt, damit  keine  unnötigen  Opfer  fallen.  Mehr  als  einmal 
warst  Du  dabei  in  Gefahr,  aber  Furcht  stand  nicht  in  Deinem 
Wörterbuch.  Und  was  Du  von  Deinen  Genossen  verlangtest, 
wenn  es  nicht  anders  ging,  dazu  warst  Du  selbst  auch  bereit. 
Aber  es  wußten  es  auch  alle,  und  sie  wären  ins  Feuer  gegangen, 
weil  sie  wußten,  daß  Du  mit  Deinem  höchstentwickelten  G  e- 
f  ü  h  1  der  Verantwortlichkeit  für  das,  was  dem  ein- 
zelnen Proletarier  und  der  ganzen  Partei  passieren  konnte,  sie 


Vorwort  des  Herausgebers 


nur  ins  Feuer  führen  würdest,  wenn  es  nicht  mehr  andei-s 
ginge,  und  daß  Du  mit  ihnen  gehen  würdest! 

Eine  schwere  Zeit,  teurer  Meister,  waren  die  achtziger 
und  neunziger  Jahre,  reich  an  Mühen  und  Sorgen,  aber  auch  au 
freudigen  und  lustigen  Augenblicken.  Wenn  so  ein  Dummkopf 
von  Regierungsvertreter  in  einer  Versannnlung  recht  blamiert 
wurde,  wenn  der  Preßpolizei  ein  Schnippchen  geschlagen 
wurde,  wenn  einer  freigesprochen  wurde,  das  war  ein  Fest! 
Und  wenn  einer  in  einem  Bezirksgericht  oder  im  ,.<yrauen 
Hause"  verunglückte  und  der  Verbrecher  nach  weidlicher  Aus- 
nützung des  Unfalls  in  der  Zeitung  die  Haft  antreten  mußte, 
gab  es  keine  Trauer.  Nicht  als  ob  Du  oder  einer  Deiner 
Genossen  eine  Freude  daran  gehabt  hätten,  aber  jede  Haft 
hatte  doch  auch  ihre  Vorteile:  ausschlafen,  ausschlafen! 
Welch  ein  Genuß,  der  bei  den  ewigen  und  endlosen  Sitzungen 
und  Versammlungen  so  selten  geworden  war!  Und  dann: 
lesen,  lernen!  Und  das  diabolische  Vergnügen,  wenn  man 
dem  Arrestanten  beim  Besuch,  trotz  Anwesenheit  des  g(^- 
strengen  Gefangenenaufsehers,  Briefe,  eine  Zeitung,  ein  Bucii 
zustecken  oder  ins  Bett  schieben  konnte!  Das  waren  reine 
Freuden!  Du  triebst  es  manchmal  schon  zu  arg,  denn  ganze 
Artikel  diktiertest  Du  mir  in  der  Zelle  in  der  Form  eines  poli- 
tischen Gespräches.  Ob  die  Aufseher  wirklich  nichts  merkten 
oder  manchmal  nur  so  taten,  ist  schwer  festzustellen. 

Victor  Adler, 

als  Dein  historisches  Verdienst  gilt  die  Einigung 
des  in  „Radikale"  und  „Gemäßigte"  zerrissenen,  durcli  diese 
Spaltung,  die  anarchistischen  Torheiten,  die  Polizeispitzeleieu 
und  den  Ausnahmezustand  ohnmächtigen  Proletariats  in  Öster- 
reich. Aber  ebenso  ist  es  Dein  geschichtliches  Ver- 
dien s  t,  die  gesamten  Behörden  zur  Gesetzlichkeit  ge- 
zwungen, den  Ausnahmezustand  zuerst  praktisch  und  dann 
formell  beseitigt  zu  haben.  Die  in  den  Staatsgrundgesetzeii 
festgelegten,  aber  durch  die  behördliche  Praxis  für  die 
Arbeiter  in  ganz  Österreich  aufgehobenen  politischen  Rechtem 
hast  Du  erst  für  das  Proletariat  erobern  müssen,  bevor  es  zum 
Sturm  auf  das  Wahlprivilegium  der  besitzenden  Klasse 
schreiten,  das  allgemeine  Wahlrecht  erobern  konnte.  Was  das 
bedeutet,  wie  es  damals  in  Österreich  ausgesehen 


10  Vorwort  des  Herausgebers 

hat,  als  Du  in  der  „Gleichheit"  und  „Arbeiter-Zeitung"  die 
Rubrik  einführtest :  Wie  man  uns  behandelt.  Kapitel 
Versammlungsrecht  .  .  .,  Kapitel  Vereinsrecht  .  .  .,  Kapitel 
Hecht  der  Freizügigkeit  .  .  .,  Kapitel  Koalitionsrecht  usw.  — 
das  möge  dieses  Buch  zeigen!  Der  jungen  Generation 
zeigen,  welcher  die  Früchte  mühelos  in  den  Schoß  fallen 
und  die  nicht  wissen,  daß  Du  und  Deine  Kampfgenossen  in 
den  achtziger  und  neunziger  Jahren  mit  unsäglichen  Mühen, 
Opfern  und  Gefahren  erst  das  karstige  Erdreich  urbar  machen 
mußten,  in  dem  der  Baum  so  starke  Wurzeln  schlagen  konnte. 
Den  Alten  aber,  die  das  Glück  hatten,  mit  Dir  zu- 
sammen zu  arbeiten,  möge  das  Buch  eine  Erinnerung  an 
schwere  und  doch  so  schöne  Stunden  sein.  Sprich  wieder  zu 
ihnen,  sprich  wieder  zu  allen!  Sieh,  wir  horchen  alle  auf,  wie 
es  alle  taten,  in  der  Volksversammlung  und  in  der  Partei- 
sitzung,  im  Parlament  und  vor  Gericht,  wenn  es  hieß: 

Victor  Adler  hat  das   Wort  ! 
Wien,  im  November  1922. 

Dr.   Michael  Schacherl. 


I. 

Adler  als  Angeklagter. 

ehrenvolle    Wunde    im    Dienste 

der   Freiheit   des   Vaterlandes. 

L  a  s  s  a  11  e. 


Der  Münzvei'fälschungsprozeß  und  der  Polizeirat  Frankl  13 


Der  Münzverfälschungsprozeß  und  der 
Polizeirat  Frankl. 

In   der  Nummer  52    der    „G  1  e  i  c  h  h  e  i  f    vom    17.   Dezember    1887 
schrieb   Adler    über  den    „anarchistischen"    Münzverfälschungsprozeß: 

Am  10.  Dezember  1887  spielte  sich  vor  dem  Ausnahme 
gericht  unter  Vorsitz  des  Landesgerichtsrats  Herrn  v.  H  o  1- 
z  i  n  g  e  r  wieder  einmal  ein  „Anarchistenprozeß"  ab.  Es 
handelte  sich  um  „Münzverfälschung",  deren  Resultat  sechs 
Guldenstücke  und  zwei  Zehnkreuzerstücke  waren,  sämtliche 
ganz  ungeeig"net  zur  Ausgabe.  Die  Angeklagten:  Anton 
M  1  i  c  z  k  o,  Ferdinand  H  i  1  b  e  r  t,  Viktoria  T  i  t  z,  Ferdinand 
E  m  m  e  r  1  i  n  g  und  Anton  S  c  h  r  e  g  e  r,  verteidigt  durch  die 
Herren  Dr.  Schmied],  Dr.  O  r  n  s  t  e  i  n,  Dr.  M  a  n  d  ]. 
Dr.  E  1  b  0  g  e  n  und  Dr.  Weisel,  waren  sämtlich  geständig. 
Als  Motive  ihrer  Handlungsweise  führten  Mliczko  und  Hu- 
bert ihre  traurige  materielle  Lage,  Frau  Titz  ihr  Mitleid  mit 
Mliczko,  Emmerling  den  Wunsch,  für  die  Familien  der  Inhaf- 
tierten Geld  herbeizuschaffen  und'  Seh  reger  den  Auf- 
trag des  k.  k.  Polizeirates  Frankl  an.  Der  Prozeß 
hätte  also  vor  die  Geschwornen  und  nicht  vor  das  Ausnahme- 
gericht gehört.  Ein  diesbezüglicher  Antrag  der  Verteidigung 
wurde  jedoch  vom  Gerichtshofe  abgewiesen.  Der  Staatsanwalt 
verstieg  sich  sogar  zu  dem  Satze,  die  von  ihm  behauptete  Ab- 
sicht der  Angeklagten,  die  Familien  der  inhaftierten  An- 
archisten zu  unterstützen,  genüge  allein  schon,  um  die  Handlung 
als  eine  anarchistische  zu  kennzeichnen,  worauf  ihm  Dr.  E 1- 
b  oge  n  erwiderte,  diese  Aufstellung  sei  wohl  nur  ein  „Ausfluß 
der  höchsten  proze?*sualen  Verlegenheit".  Dr.  Schmiedl 
wie  Dr.  E  1  b  o  g  e  n  verwiesen  darauf,  daß  der  „Verein  für  ent- 
lassene Sträflinge",  dem  alle  Gerichtsbeamten  angehören,  daß 
Landesgerichtsrat  Grinzenberger,  durch  dessen  Hände  so  viele 
Unterstützungen  für  Inhaftierte  und  ihre  Familien  gingen, 
nach  dieser  Theorie  strafbar  wären.  Freilich  umsonst;  der 
Staatsanwalt  behielt  auch  diesmal  recht! 


14  Der  Münzverfälschungsprozeß  und  der  Polizeirat  Frankl 

Mliczko  und  Hubert  wurden  zu  4  Jahren,  Viktoria  Titz 
zu  11/4  Jahren,  Emmerlin^  zu  1  Jahr  und  Schreger  zu  5  Jahren 
schweren  Kerker  verurteilt. 

*  * 

Der  k.  k.  P  o  1  i  z  e  i  r  a  t  F  r  a  n  k  1  spielte  in  diesem  Pro- 
z^isse  eine  Rolle,  die  nähere  Beleuchtung  erfordert. 

Anton  Schreger,  1884  ausgewiesen,  .erlangt  im  März 
1885  die  Erlaubnis  zur  Rückkehr  nach  Wien.  Der  Polizei- 
kommissär seines  Bezirkes  schickt  ihn  sofort  zu  Polizei  rat 
Frankl.  Dieser  erklärt  ihm,  daß  es  „eine  Pflicht  der 
Dankbarkeit  für  die  Erlaubnis  zur  Rückkehr  sei,  sich 
wieder  zum  Scheine  den  Anarchisten  anzuschließen"  und  ihra,^ 
dem  Polizeirat  Frankl,  über  ihre  Tätigkeit  zu  berichten,  mit 
einem  Worte  Konfidentendienste  zu  leisten.  Am  11.  April  1.  J. 
teilte  er  Frankl  mit,  daß  in  Fünfhaus  falsches  Geld  gemacht 
werde.  Wie  Frankl  vor  dem  Untersuchungsrichter  angibt,  habe 
er  nun  erfahren,  daß  Schreger  selbst  beteiligt  sei  und  „hielt 
ihm  das  strenge  vor"  ;  Schreger  selbst  erzählt  bei  der  Verhand- 
lung, Frankl  habe  gesagt,  „das  war  doch  ungeschickt  von 
Ihnen!"  Tatsächlich  hatte  Schreger,  der  offenbar  zu  wenig 
Material  für  seine  Bezahlung  liefern  konnte,  zwei  junge,  harm- 
lose und  unerfahrene  Bursche,  Spiegel  und  Emmerling,  einfach 
zur  Falschmünzerei  verleitet  und  die  Werkzeuge  dazu  nach 
seinem  Geständnis  für  das  Geld  der  Polizei  angeschafft.  Als 
Frankl  dies  erfuhr,  trug  er  ihm  auf  (nach  Aussage  Schregers 
bei  der  Verhandlung),  „die  Fabrikation  zu  unterbrechen,  die 
Geldstücke  zu  bringen  und  die  Formstücke  zu  zerschlagen".  Er 
überbrachte  tatsächlich  die  sechs,  ganz  unbrauchbaren  Guiden- 
stücke und  damit  war  zunächst  für  ihn  und  seine  Mit- 
schuldigen die  Sache  erledigt,  ebenso  für  Polizeirat  Frankl. 

Bald  darauf,  am  24.  April  1.  J.,  berichtete  Schreger  dem 
Frankl,  er  habe  entdeckt,  daß  Nedomansky,  Czaska  und  Presl 
falsches  Silbergeld  gießen.  Die  erwiesene  Glaubwürdigkeit 
dieses  Zeugen  bewog  Herrn  Polizeirat  Frankl,  die  sofortige 
Verhaftung  der  Angeschuldigten  zu  veranlassen.  Sie  blieben 
sieben  Wochen  in  Haft,  bis  sich  ihre  Unschuld  herausstellte; 
Czaskas  Frau  war  vor  Kummer  und  Not  inzwischen  irrsinnig 
geworden.  Zwei  Tage  nach  der  Verhaftung  dieser  drei  Un- 
schuldigen,   am    Pfingstsonntag,   war    Spiegel    noch    eine   Paß- 


Der  Münzverfälschungsprozeß  und  dor  Polizeirat  Frank!  15 

anweisung  vom  Polizeikommissariat  ausgefolgt  worden,  die 
ihm  die  Flucht  ermöglichte.  Seine  Verhaftung  hätte  eben  auch 
die  von  Schreger  herbeiführen  müssen.  (Schreger  wirkte  auch 
sonst  „anregend";  so  sagte  er  zu  Mliczko,  man  solle  doch  beim 
Blumenkorso  „etwas  ausführen".  Auch  schriftstellerisch  war 
er  tätig  und  suchte  bei  der  Eedaktion  der  „Gleichheit"  ein 
Manuskript  einzuschmuggeln,  in  welchem  er  sich  sehr  abfällig 
über  „Denunziantentum"  aussprach,  welches  aber,  weil  das' 
Urteil  über  diese  Tätigkeit  als  ohnehin  feststehend  angesehen 
wurde,  nicht  zum  Abdruck  kam.  Es  ist  nicht  bekannt,  ob  der 
Polizeirat  Frankl  auf  die  Abfassung  dieses  Aufsatzes  Einflu!] 
nahm.) 

Die  Berichte  lieferte  Schreger  in  die  Privatwohnung 
Frankls.  Seine  Verhaftung  sowie  die  Emmerlings  erfolgte  erst 
später.  Nachdem  der  Untersuchungsrichter  bei  der  Verfolgung 
des  Falles  Mliczko  auf  ihn  aufmerksam  wurde,  lud  er  Herrn 
Polizeirat  Frankl  vor  und  legte  ihm  die  Frage  vor,  „warum  die 
von  Schreger  über  seine  eigene  sowie  über  die  des  Spiegel  und 
Mliczko  erfolgte  Beteiligung  an  der  Münzverfälschung  in  der 
Siebenbrunnengaese  gemachten  Mitteilungen  nicht  sofort 
zum  Gegenstand  der  in  der  Strafprozeßordnung  vorgesehenen 
Amtshandlung  gemacht  wurden"?  Worauf  Polizeirat  Frankl 
antwortete :  „  .  .  .  diese  Erwägungen  beruhen  darauf,  daß  die 
Mitteilungen  Schregers  lediglich  auf  Vorbereitungs- 
handlungen schließen  ließen  .  .  ."  usw.  Diese  „Vorberei- 
tungshandlungen" waren  Herrn  Polizeirat  Frankl  als  solche 
gekennzeichnet  durch  Vorlage  von  sechs  Münzen  und  führten 
Schreger  auf  fünf  Jahre  ins  Zuchthaus.  Die  Vorlage  eines 
falschen  Zwanzigkreuzerstückes,  welches  Schreger  von  Czaska 
erhalten  zu  haben  behauptet  hatte,  gewann  hingegen  für 
Herrn  Polizeirat  Frankl  die  Bedeutung  eines  wichtigen  Corpus 
delicti  und  führte  die  sofortige  Verhaftung  des  Beschuldigten 
herbei .  .  . 

Die  Verteidigung  verlangte  die  Vorladung  des  Polizei- 
rates Frankl  als  Zeuge,  was  natürlich  abgelehnt  wurde.  Der 
Staatsanwalt  suchte  dessen  Vorgehen  zu  rechtfertigen;  er 
führte  an,  sein  Bestreben  hätte  sein  müssen,  „die  Frucht  nicht 
früher  zu  pflücken,  bevor  sie  reif  sei",  das  heißt  so  viele  Mit- 
schuldige als  möglich  fassen  zu  können.  Die  Erfahrung  hat 
gelehrt,  daß  erstens  Unschuldige  dadurch  in  Verdacht  kamen; 


16  Der  Münzverfälschungsprozeß  und  der  Polizeirat  Frankl 

daß  zweitens  Unschuldige  wirklieh  durch  den  Polizeibeamten 
Schreger  verleitet  wurden.  Der  Herr  Polizeirat  Frankl  scheint 
also  denn  doch  in  seinem  „Streben"  etwas  zu  weit  gegangen 
zu  sein. 

Dr.  Elbogen,  als  Verteidiger  des  armen,  verleiteti?n 
JMumerling,  wies  darauf  hin,  daß  sich  das  ganze  Delikt  „unter 
den  Augen  der  Wiener  Polizeidirektion  zugetragen  habe",  daß 
Schreger  der  „Vertrauensmann  der  Polizei"  gewesen  sei  und 
daß  die  Polizei  an  der  Fortsetzung  der  Tat  „moralisch  wenig- 
stens nicht  loszuzählen"  sei  —  daß  man  an  §  212  des  Straf- 
gesetzes (Vorschul  )leistung)  hier  zu  denken  habe  —  — 
Fuimerling  wurde  verurteilt  wie  Schreger. 

Die  Verteidigung  Schregers  wurde  unseres  bescheidenen 
Faachtens  nicht  richtig  geführt;  der  Verteidiger  Dr.  Weisel 
liätte  darauf  hinweisen  können  und  müssen,  daß  niemand,  nicht 
einmal  Polizeirat  Frank],  der  das  doch  versteht,  Schreger  für 
einen  Anarcliisten  gehalten  habe;  daß  schon  die  fälschliche 
Beschuldigung  gegen  drei  gänzlich  unschuldige  Arbeiter  be- 
weise, daß  er  einfach  in  seinem  Eifer  über  das  Ziel  geschossen 
habe,  vielleicht  um  seinen  Posten  nicht  zu  verlieren. 

Was  l)r.  W  e  i  s  e  1  als  Milderungsgrund  anführte,  „(I  e- 
h  o  r  s  a  m  gegen  die  Obrigkeit",  nämlich  Herrn 
]*olizeirat  Frankl,  mußte,  ins  richtige  Licht  gestellt,  den  Mann 
ganz  freinuichen.  Daß  für  einen  Agent  provocateur  wie 
Schreger  keine  Sti-afe  zu  liart  ist,  ist  sicher.  Aber  gerade  die 
Verteidiger  des  Polizeirates  Frankl  waren  unserer  Meinung 
nach  nicht  in  der  Lage,  diese  Strafe  auszusprechen  .  .  . 

Bei  unseren  Preßverhältnissen  ist  eine  freimütige  Kritik 
der  Tätigkeit  von  Beamten  unmöglich.  Das  eine  aber  möchten 
wir  denn  doch  uns  zu  bemerken  erlauben,  daß  weder  der 
-Respekt  vor  der  bürgerlichen  Moral  noch  der  Respekt  vor 
den  Behörden  dabei  gewinnt,  wenn  man  die  „Anarchisten" 
bekämpft,  wie  es  hier  geschehen  —  mit  allen  Mitteln. 

Nun   ist  es  freilich  nicht  unsere  Sache,  diese  Interessen 

xn   wahren ,  aber  es  liegt  uns  daran  zu  konstatieren, 

daß  man  auch  \on  der  anderen  Seite  „gesetzliche  und  mora- 
lische"   Mittel   nicht  als  ausreichend  betrachtet!  V.  A. 


Artikel   wurde  fasl  zur  Gänze  1^  o  n  f  i  s  z  i  e  r  t. 


Pcvlizeirat  Frankl  rächt  sich  höchstpersönlich 


Polizeirat  Frankl  rächt  sich  höchstpersönlich. 

Eine  Anklage  gegen  Adler  wurde  nicht  erhohen,  aber  Polizeiral 
Frankl  rächte  sich  selbst ; 

Am  i.  Dezember  war  nämlich  in  Schwenders  Kolosseum  in  Rüdolfs- 
heim  das  zwanzigjährige  Gründungsfest  des  Arbeiter-Bildungs- 
vereines in  Wien  gefeiert  worden,  wo  als  letzter  Redner  Adler 
sprach. 

Adler  erinnerte  daran,  daß  der  Arbeiter-Bildungsverein 
vor  zwanzig  Jahren  zuerst  in  Österreich  die  rote  Fahne  auf- 
gepflanzt habe;  daß  er,  obwohl  kein  politischer  Verein,  viel 
lazu  beigetragen  habe,  daß  die  „Arbeiter  die  Augen  auftun"; 
auf  den  Sieg  der  roten  Fahne  brachte  er  ein 
„Hoch!",  in  das  die  Tausende  brausend  einstimmten. 

N  e  m  e  c  schwenkte  die  rote  Fahne,  v'ährend  das  Orchester  die 
„Marseillaise'"  anstimmte. 

Einige  Tage  nach  dem  Angriff  Adlers  auf  Polizeirat  Frankl  stand 
Adler  als  Beschuldigter  vor  dem  Gewaltigen.  In  der  „Gleichheit" 
vom  24.  Dezember  1887  schilderte  Adler  die  Szene; 

Herr  Polizeirat  Frankl  als  Richter  trat  un.'<  anl  Montag 
und  Mittwoch  —  wenige  Tage  nach  der  eben  erwähnten  Konfis- 
kation —  gegenüber.  Wir  hatten  nämlich  etwas  zu  voreilig 
unserer  Verwunderung  darüber  Ausdruck  gegeben,  daß  der 
erhebende  Verlauf  des  Arbeiter-Bildungsvereinsfestes  von 
keiner  Seite  für  „staatsgefährlich"  angesehen  wurde.  Herr 
Polizeirat  Frankl  holte  das  Versäumte  nach.  Er  erinnerte  sich 
einer  alten  Verordnung  vom  Jahre  1854,  an  welcher  die  „be- 
freienden" Staatsgrundgesetze  spurlos  vorübergegangen  sind 
und  nach  deren  §  11  „jede  demonstrative  Handlung,  wodurch 
Abneigung  gegen  die  Regierung  oder  Geringschätzung  ihrer 
Anordnungen  ausgedrückt  werden  soll,  mit  einer  Ordnungs- 
buße von  einem  bis  einhundert  Gulden  Konventionsmünze  oder 
von  sechsstündiger  bis  vierzehntägiger  Anhaltung  geahndet" 
werden  soll. 

Die  Genossen  Xemetz  und  Dr.  Adler  wurden  nun  vor- 
geladen und  ihnen  mitgeteilt,  daß  das  Schwenken  der  roten 
Fahne  durch  den  ersteren  sowie  die  Rede  des  letzteren,  welche 
mit  dem  „Hoch"  auf  den  Sieg  der  roten  Fahue  schloß,  auf 
,.Abneigung"  und  „Geringschätzung"  der  Regierung  schließen 
lasse.     Genosse     Nemetz     wurde     vom     Polizeirat     Frankl     zu 


18  Pülizeirat  Frankl  rächt  sich  höchstpersönlich 

25  Ghilden  Geld.^trafe  oder  fünf  Tagen  Arrest,  Genosse 
Dr.  Adler  zu  5  0  Gulden  Geldstrafe  oder  zehn  Tagen 
Arrest  verurteilt. 

Auch  in  diesem  Falle  haben  wir  rekurriert,  um  einmal 
festzustellen,  oh  in  Österreich  wirklich  jedei"  Polizeikommissär 
befugt  ist.  das  angeblich  bestehende  .,Recht  der  freien 
Meinungsäußerung"  nach  seinem  persönlichen  besten  „Wissen 
und  Gewissen"  durch  derartige  Polizeistrafen  zu  beengen. 
Unter  den  vielen  elastischen  Gesetzen  in  Österreich  ist  diese 
Verordnung  das  allerelastischeste:  es  gibt  absolut  keiue  poli- 
tische Handlung,  die  nicht  durch  ihre  Anwendung  der  Polizei 
verfallen  könnte  und  es  ist  wirklich  die  pure  Nachsicht  des 
Herrn  Polizeirates  Frankl,  daß  er  sie  nicht  öfter  in  Anwen- 
dung bringt.  Wir  glauben,  daß  das  österreichische  Defizit  sehr 
bald  verschwinden  müßte,  w'enn  alle,  die  „A'bneigung"  gegen 
die  jeweilige  Eegierung  hegen,  mit  Geldstrafen  belegt  würden. 
Wie  wäre  es,  wenn  Herr  Polizeirat  Frankl  diese  Idee  Herrn 
V.  Dunajewski  mitteilte;  ihm  wäre  geholfen  —  er  würde  Hof- 
rat im  Finanzministerium;  wir  würden  ihm  zu  seiner  Bef<">rde- 
rung  nur  mit  geteiltem  Herzen  gratulieren  können,  denn  seine 
jetzige  Tätigkeit  ist  für  die  Aufklärung  der  Arbeiter  über  die 
bestehenden  Zustände  geradezu  unersetzlich  I 

Auch  dies&i'  Artikel  wurde  konfisziert. 

Beschwerde  beim  Reichsgericht  über   die  Verurteilung   durch 
den  Polizeispitzelrat. 

Der  Kampf  Adlers  gegen  die  Polizeiwillkür  verlangte  es,  daß  auch 
seine  Verurteilung  zu  .50  Gulden  Geldstrafe  durch  den  Polizeirat  Frankl  nicht 
ruhig  hingenoinmen,  sondern  dagegen  an  die  niederösterreichische  Statt- 
halterei  rekurriert  und,  als  der  Rekurs  abgewiesen  wurde,  die  Be- 
schwerde   an    das   Reichsgericht   erhoben    wurde. 

Über  die  Verhandlung,  die  am  16.  April  1888  stattfand,  ])erichtete  dis' 
Nummer  16  der  „Gleichheit'': 

Die  durch  Dr.  E  p  p  i  n  g  e  r  vertretene  Beschwerde  erblickt  in  der 
Verurteilung  zunächst  eine  Verletzung  des  dem  Beschwerdeführer  als 
österreichischer  .Staatsbürger  durch  Artikel  8  des  Staatsgrundgesetzes  vom 
21.  Dezember  1867,  respektive  §  1  des  Gesetzes  vom  27.  Oktober  1862 
(R.-G.-Bl.  Nr.  87)  gewährleisteten  politischen  R  e  c  li  t  e  s,  daß 
n  i  e  m  a  nd  seinem  gesetzlichen  Richter  entzogen  werden 
dürfe,  sowie  eine  weitere  Verletzung  des  durch  Artikel  13  des  vorzitierten 


Polizeirat  Frankl  rächt  sich  höchstpersönlich  19 

Slaatsgrundgesetzes  gewahrten  Rechtes  der  freien  Meinungs- 
äußerung und  führt  diesbozüglich  im  wesentlichen  folgendes  aus: 
-Als  Richter  darf  nur  jener  Beamte  angesehen  werden,  welcher  die 
durch  besondere  Gesetze  und  Vorschriften  geregelte  Befähigung  zum  Richter- 
amt erworben,  in  gesetzlicher  Weise  zum  Richter  bestellt  ist  und  nach  dem 
gesetzlichen  Verfahren  Recht  spricht.  Das  Rechtsprechen  durch  Polizei- 
beamte ist  im  Widerspruch  mit  Wort  und  Geist  der  Staatsgrundgesetze  und 
führt  dahin,  daß  der  Schutz  dieser  Gesetze  vollständig  illusorisch  wird,  daher 
auch  die  Kompetenz  der  Polizeibeamten  zur  Fällung  von  Erkenntnissen  be- 
stritten wird.  Durch  den  Artikel  13  des  zitierten  Staatsgrundgesetzes  erscheint 
die  Bestimmung  des  §  II.  der  erwähnten  Verordnung  vom  Jahre  1854  natur- 
gemäß aufgehoben,  da  bei  dem  Fortbestand  derselben  das  Recht  der  freien 
Meinungsäußerung  und  die  Sicherheit  des  politischen  Parteilebens  überhaupt 
nicht  etwa  beschränkt,  sondern  vollständig  aufgehoben  werde.  Die  Ehrfurcht 
vor  den  Staatsgrundgesetzen  zwinge  zu  der  Annahme,  daß  sie  nicht  nur 
leere  Sätze  seien,  sondern  daß  sie  rechtbildende  Gesetze  seien,  daß  sie 
nicht  bloß  Versprechungen  machen,  sondern  wirkliche  Rechte  gewährleisten. 
Endlich  müsse  das  Reichsgericht  befugt  sein,  in  jedem  Falle  zu  prüfen,  ob 
tatsächlich  Anlaß  zu  einer  Verfügung  nach  §  11  gegeben  war,  denn  mangels 
der  Befugnis  zu  einer  solchen  Prüfung  bliebe  es  jedem  Betroffenen  un- 
möglich, gegen  die  etwaige  Willkür  einer  Administrativbehörde  Schutz  zu 
suchen.  Dr.  Eppinger  bemerkt,  er  verhehle  sich  angesichts  der  Präjudikate 
des  Reichsgerichts  in  analogen  Fällen  nicht  die  Schwierigkeit  seines  Stand- 
punktes; wie  immer  aber  auch  das  Erkenntnis  fallen  sollte,  jedenfalls  werde 
es  dazu  dienen,  den  Wert  der  Staatsgrundgesetze  in  bezug  auf 
den  Schutz  politischer  Rechte  richtig  beurteilen  zu  können.  Er 
schließt  mit  der  Bitte,  das  Reichsgericht  wolle  erkennen:  durch  die  gleichen 
Entscheidungen  der  Polizeidirektion  in  Wien  und  der  niederösterreichischen 
Statthalterei  hat  eine  Verletzung  der  obbezeichneten  Rechte  des  Beschwerde- 
lührers  stattgefunden. 

Der  Vertreter  der  Regierung,  Statthaltereiiat  v.  Kozaryn,  betont,  das 
Hochlebenlassen  der  roten  Fahne,  eines  Symbols  des  Umsturzes  der  be- 
stehenden gesellschaftlichen  Ordnung,  hätte  leicht  zur  Störung  der  öffent- 
lichen Ruhe  führen  können;  die  Venirteilung  wegen  Übertretung  nach  §  11 
der  Kaiserlichen  V'erordnung  vom  20.  April  1854  sei  gerechtfertigt;  übrigens 
entziehe  sich  die  Beurteilung  dieser  Verfügung  der  Kompetenz  des  Reichs- 
gerichts. 

Tatsächlich  hat  das  k.  k.  Reichsgericht  -.zu  Recht"  erkannt:  Durch  die 
Entscheidungen  der  k.  k.  Polizeidirektion  in  Wien  vom  21.  Dezember  1887 
und  der  k.  k.  niederösterreichischen  Statthalterei  hat  eine  Verletzung  der  im 
Artikel  8  des  Slaatsgrundgesetzes  vom  21.  Dezember  1867,  respektive  im  §  1 
des  Gesetzes  vom  27.  Oktober  1862  R.-G.-Bl.  Nr.  87)  gewährleisteten 
politischen  Rechte  nicht  stattgefunden. 

Das  Erkenntnis  hat  also  die  Verordnung  vom  Jahre  1854  als  zu  Recht 
bestehend  anerkannt  und  dadurch  den  von  Dr.  Eppinger  gewünschten  :. .Maß- 
stab für  die  Beurteilung  de?  Wertes  der  Staatsgrundgesetze"  tatsächlich 
geliefert! 


20  Zwei  Geheimbuudprozesse 

Zwei  Geheimbundprozesse. 

Ali?  Victor  Adler  daranging,  die  „Gleiichheit"  erscheinen  zu  lassen, 
rieten  ihm  gute  Freunde  aus  seiner  deutschnationalen  Zeit  besorgt  davon 
ab:  „Man  wird  Sie  wegen  Geheimbündelei  anklagen  und  in  Ketten 
nach  Prag  zum  dortigen  Ausnahmesenat  des  Landesgerichts  liefern.  Dort 
werden  Sie  monatelang  in  Untersuchung  sitzen  und  schließlich  noch  ver- 
urteilt werden.'' 

.Adler  wagte  es.  Gerade  er,  der  die  Arbeiter  als  öffentliche  poli- 
tische Partei  konstituieren  wollte  und  sie  nicht  genug  vor  der  anarchi- 
stischen Geheimbündelei  warnen  konnte,  sollte  wegen  Geheimbündelei  ver- 
folgt werden  können? 

Im  Mai  1888  schienen  aber  die  Warner  teilweise  recht  zu  bekommen. 
Am  5.  Mai  berichtete  er  in  der  „Gleichheit"  (Nr.  18): 

Hier  scheint  ein  G  e  h  e  i  m  b  u  n  d  p  r  o  z  e  ß  beab- 
sichtigt zu  sein.  Die  Genossen  G  o  1 1  e  i  m,  T  i  k  a  1  und 
Dr.  Adler  hatten  ein  Verhör  zu  bestehen,  für  welches  ältere 
Briefe  das  Substrat  bildeten.  —  Genosse  Anton  König, 
Kleidermacher,   soll  in  Wien  inhaftiert  sein. 

Am   16.  Juni  1888  konnte  aber  die  „Gleichheit"  mitteilen: 

Der  Geheimbundprozeß,  welcher  gegen  einige  Wiener 
Genossen  im  Zuge  war,  ist  nicht  zustande  gekommen.  Nach- 
dem der  Untersuchungsrichter  Dr.  Bürger  über  ein  Dutzend 
ausführliche  Vernehmungen  vorgenonnnen  hatte,  wurde  die 
Untersuchung  von  der  Staatsanwaltschaft  als  gänzlich 
resultatlos  eingestellt. 


Verfolgung  wegen  Geheimbündelei  beim  Reichenberger  Kreis- 
gericht. 

Am  22.  September  1888  berichtet  Adler  in  der  zweiten  Auflage  der 
„Gleichheit": 

Samstag  den  22.  Septem])er  morgens  fand  in  der  Woh- 
nung des  Genossen  Dr.  Adler  und  in  der  Redaktion  der 
,. Gleichheit"  eine  äußerst  gründliche  Haussuchung  auf 
Requisition  des  Reichenberger  K  r  e  i  s  g  e  r  i  c  h  t  s 
statt.  Gehaussucht  wurde  nach  Briefen  und  vSchriftstücken. 
Aus  dem  Haussuchungsbefehl  geht  hervor,  daß  es  sich  um  den 
Verdacht  der  Geheimbündelei  (§  285)  handelt.  Da  die 
Haussuchung  noch  nicht  beendet  ist,  können  wir  über  ihr 
Ergebnis  noch  nichts  mitteilen. 


Zwei  Geheimbundprozesse  21 

In  der  nächsten  Nummer  39  vom  29.  Septembeil  bericlitet  Adler 
darüber  mehr: 

Hausdurchsuchungen.  Sam.stag  den  22.  Sep- 
tember um  halb  7  Uhr  früh  erschien  bei  den  Genossen  Adle  r 
und  Pokorny  je  ein  Polizeikomniissär  mit  zwei  Detektivs, 
der  zunächst  einen  ,,Hausdurch.vuchungsbefehl"  des  Reichen- 
berger  Kreisgerichts  vorwies.  Aus  diesem  war  vor  allem  die 
den  Besuchten  bisher  unbekannte  und  einigermaßen  über- 
raschende Tatsache  ersichtlich,  daß  sie  beide  schon  seit 
18.  August  dieses  Jahres  in  Untersuchung  wegen 
des  Vergehens  nach  §  285  (Geheimbündelei) 
s  t  e  h  e  n,  was  den  zunächst  Beteiligten  vom  Beichenberger 
Kreisgericht  durch  volle  fünf  Wochen  absichtlich  ver- 
heimlicht wurde.  Dieses  scheint  also  selbst  die  Gefahr,  in 
welcher  Stadt,  Land  und  Reich,  von  der  gesamten  ..Ordnung"" 
ganz  zu  schweigen,  durch  diesen  .,Geheinibund"  geraten  sind, 
nicht  sehr  hoch  zu  veranschlagen,  sonst  hätte  es  wohl  die  Fort- 
setzung des  Verbrechens  rechtzeitig  gehindert. 

Tu  dem  amtlichen  Schriftstück  wurde  weiterhin  eröffnet, 
daß  „Verdachtsgründe  vorliegen,  daß  die  beiden  im  Besitz  von 
Papieren  und  Druckschriften  sich  befinden,  welche  der  sozia- 
listischen Propaganda  dienen'".  Die  Haussuchung  hat  nun 
allerdings  diesen  scharfsinnigen  Verdacht  des  Reichenberger 
Untersuchungsrichters  glänzend  gerechtfertigt;  bei  beiden  Be- 
schuldigten, die  seit  Jahren  für  die  sozialistische  Propaganda 
tätig  sind,  fanden  sich  „Druckschriften"  in  Menge,  bei  dem 
einen,  der  Herausgeber  eines  Parteiblattes  ist,  auch  .,Papiere". 
das  heißt  Manuskripte  und  Briefe,  die  auf  das  Parteileben  und 
die  Redaktion  Bezug  haben,  natürlicli  aV)er  auch  nicht  eine 
Zeile,  aus  der  sich  —  selbst  nach  böhmischen  Begriffen  — 
ein  ,,Geheimbund"  konstruieren  ließe.  Was  den  Reichenberger 
Untersuchungsrichter  besonders  enttäuschen  wird,  ist,  daß 
sich  auch  nicht  ein  einziger  Brief  aus  der  schwer  bedrohten 
Stadt  Reichen]>erg  vorfand,  der  nicht  rein  a(hninistrativer 
Natur  gewesen  wäre.  Mitgenommen  wurde  also  eine  Menge, 
gefunden,  was  einen  Anhaltspunkt  bieten  könnte,  konnte 
nichts  werden  und  wurde  niclits. 

So  wollen  wir  denn  ruhig  abwarten,  was  man  uns  über 
den  jüngsten   ..Geheimbund"    Neues  erzählen   wird. 


22  Zwei  Geheimbundpi'ozesse 

Das  Prager  Landesgericht  wird  delegiert! 

Trotzdem  schien  die  Warnung  tatsächlich  prophetisch  gewesen  zu 
sein.  Am   IB.   Oktober    1888  teilte  Adler  in   der  „Gleich'beit"   (Nr.  41)  mit: 

Wien.  Den  (r  e  h  e  i  m  b  n  n  d  p  r  o  z  e  ß,  welcher  gegen 
Genossen  Dr.  Adle  r  vom  R  e  i  c  h  e  n  b  e  r  g  e  r  Kreisgericht 
angestrengt  wurde,  hat  das  k.  k.  Oberlandesgericht  Prag  „nach 
Anhörung  des  k.  k.  Oberstaatsanwalts"  dem  k.  k.  Landes 
g  e  r  i  c  h  t  in  P  r  a  g  „zur  weiteren  Durchführung  und  Ent- 
scheidung zuzuweisen   befunden". 

Der  Ausfall  des  Rekurses  wird  beweisen,  ob  auch  der 
Oberste  Gerichtshof  die  Kreisgerichte  in  Böhmen  für  un- 
geeignet hält,  Sozialistenprozesse  zu  führen.  Seit  Jahren 
werden  dieselben  bekanntlich  insgesamt  ausschließlich  nacli 
Prag  verwiesen.  Natürlich  enthält  das  Schriftstück  als 
einzige  Motivierung  der  Delegierung  des  Prager  Landes- 
gerichts die  vielsagenden,  aber  schwer  verständlichen  Worte : 
,,aus  Gründen  für  die  öffentliche  Sicherheit  .  .  ." 

Beschwerde    gegen    die    Delegierung    des    Prager    Blutsenats. 

Die  Beschwerde  Adlers  hatte  Erfolg.  Am  15.  Dezemhoi  schrieb 
er  in  der  „Gleichheit"  (Ni.  50)  folgenden  Artikel: 

Unser    Geheimbundprozeß    und    das    Prager    Ausnahmegericht. 

Seit  Jahren  sind  Hunderte  von  unseren  Parteigeno.ssen 
in  Böhmen  aus  allen  Gerichtsbezirken  des  Landes  i  n  K  e  1 1  e  n 
nach  Prag  gebracht  und  dort  nach  m  e  li  r  m  o  n  a- 
t  i  g  e  r  Untersuchungshaft  meist  wiegen  G  e  h  e  i  m- 
b  ü  n  d  e  1  e  i  (§  1285  Str.-G.)  verurteilt  worden.  Dr.  K  r  o  n  a- 
Wetter  sagte  darüber  im  Abgeordnetenhause  am  24.  Mai  1888 
wörtlich  folgendes: 

..Dort  herrscht  die>  Klassenjustiz.  Es  besteht  nämlich  iii  Prag  seit 
Jahren  faktisch  ein  A  u  s  n  a  h  m  e  g  e  r  i  c  h  t  s  h  o  f,  der  ausschließlich  über 
alle  sozialistischen,  nicht  a  n  a  r  c  h  i  s  t  i  s  c  h  e  n ,  sondern  sozia- 
listischen Delikte  entscheidet,  und  zwar  fungiert  nicht  das  Prager  Ge- 
richt im  allgemeinen  als  .Ausnahmegericht,  sondern  im  Prager  Gerichtshof 
selbst  ist  wieder  ein  e  i  g  e  n  e  r  Senat  zusammengesetzt,  dem  allein  und 
speziell  diese  Delikte  fiii-  ganz  Böhmen  zui-  .\burteilung  zugeteilt  sind,  und 
dieser  Senat  ist  aus  ganz  entschiedenen  Feinden  einer  jeden  freiheitlichen 
und  fortschrittlichen  Bewegung  überhaupt,  insbesondere  aus  Feinden  jedei' 
Bewegung  mit  sozialistischen  Tendenzen  zusammengesetzt.  Wi/  finden  i  n 
P  r  a  g  e  i  n  e  n  G  e  i-  i  c  h  t  s  h  o  f  wider  Recht  u  n  d  Gesetz  ad  hoc  zu- 


Zwei  Geheimbuudproze^se  28 

sammengesetzl,  vor  welchen  aus  ganz  Böhmen  die  Leute,  die  insbesondere 
des  Vergehens  der  geheimen  Verbindung  oder  überhaupt  eines  Deliktes  von 
sozialistischer  Tendenz  angeklagt  sind,  gelangen.  Ich  habe  bei  früheren 
Gelegenheiten  erörtert,  daß  aus  allen  Gegenden  Böhmens  die  Leute  nicht 
einfach,  sondern  mit  Stricken  und  Fesseln  gebunden  viele 
Meilen  weit  vor  diesen  Gerichtshof  geschleppt  werden." 

Der  Justizminister  verwies  in  seiner  sehr  wenig  sagenden 
Antwort  darauf,  die  Leute  hätten  ja  das  Eecht  gehabt,  an 
den  Obersten  Gerichtshof  zu  rekurrieren.  Dr.  Kronawetter  rief 
ihm  ganz  richtig  zu:  ..Dazu  haben  sie  kein  Geld."  Er  hätte 
aber  noch  zwei  Umstände  anführen  können.  Die  meisten 
Angeklagten  wissen  nichts  von  diesem  Rekursrecht,  sie 
empfangen  keine  Rechtsbelehrung,  und  bis  sie  einen  Ver- 
teidiger haben,  ist  die  Frist  jedesmal  schon  versäumt.  Weiter 
aber,  und  das  ist  die  Hauptsache,  sie  sind  in  Unter- 
s  u  c  h  u  n  g  s  h  a  f  t  und  man  sagt  ihnen  —  und  sie  wissen, 
daß  dies  pünktlich  ausgeführt  wird  —  daß  sie  so  lange  in 
Untersuchungshaft  bleibe  n,  bis  der  Rekurs  erledigt  ist,  was 
monatelang  dauert,  während  sie  vielleicht  eine  Verurteilung 
von  sechs  Wochen  zu  gewärtigen  haben.  So  ist  es  gekommen, 
daß  unseres  Wissens  der  Rekurs  an  den  Obersten  Gerichtshof 
bis  jetzt   nicht   ein  einziges  Mal  ergriffen  wurde. 

Am  17.  September  dieses  Jahres  hat  das  Reichenberger 
Kreisgericht  gegen  J.  U  1  b  r  i  c  h,  R.  Po  k  o  r  n  y  und  Doktor 
V.  Adle  r  die  Anklage  auf  Geheimbündelei  erhoben.  Warum? 
Das  wissen  wir  nicht  und  hoffen  es  gelegentlich  zu  erfahren. 
Am  4.  Oktober  teilte  man  uns  mit,  daß  wir  dem  Prager 
Landesgericht  überantwortet  seien.  Wir  reichten  durch  unseren 
Vertreter  Dr.  Zweybrück  die  Beschwer  d  e  ein.  Nach 
vollen  zwei  Monaten,  am  7.  Dezember,  wurde  uns  folgende 
Entscheidung  zugestellt: 

M.-E.  8362   St.-G. 

Der  hohe  k.  k.  Oberste  Gerichts-  und  Kassationshuf  hat  mit  der 
hohen  Entscheidung  vom  7.  November  1888,  Z.  13.042,  nach  Anhörung 
der  k.  k.  Generalprokuratur  der  Beschwerde  des  Dr.  Victor  Adler 
und  des  Rudolf  P  o  k  o  r  n  y  gegen  die  Verfügung  des  böhmischen  Ober- 
landesgerichts vom  3.  Oktober  1888,  Z.  26.053,  womit  aus  Rücksichten 
der  öffentlichen  Sicherheit  nach  §  62  St.-P.-O.  zur  Untersuchung  und  Ver- 
handlung wegen  des  den  Beschwerdeführern  zur  Last  gelegten  Vergehens 
gegen  die  öffentliche  Ruhe  und  Ordnung  nach  §  285  St.-G.  statt  des 
k.  k.  Kreisgerichts  Reichenberg  das  k.  k.  Landes-  als  Strafgericht  in 
Prag  delegiert    wurde,   stattgegeben    und    diese    Delegation  s- 


24  Zwei  Geheimbundproze^se 

Verordnung  behoben,  weil  derzeit  weder  aus  dem  staatsanwalt- 
lichen  Antrag,  noch  aus  der  Delegationsverordnung  des  k.  k.  Oberlandes- 
gerichts, noch  endlich  aus  den  Akten  solche  Umstände  zu  entnehmen 
sind,  welche  die  Besorgnis  zu  begründen  geeignet  wären,  daß  die  Durch- 
führung dieser  Untersuchung  und  die  allfällige  Hauptverhandlung  dieser 
Strafsache  bei  dem  k.  k.  Kreisgericht  Reichenberg  eine  Gefahr  f  ü  r 
die  öffentliche  Sicherheit  herbeizuführen  vermöchte  und 
sonach  dermalen  kein  Grund  vorliegt,  die  Beschuldigten 
ihrem  ordentlichen  Richter  zu   entziehen. 

Von  diesem  über  die  Entscheidung  des  hohen  k.  k.  Obersten  Gerichts- 
ais Kassationshofes  herabgelangten  Intimat  des  hochlöblichen  k.  k.  Ober- 
landesgerichts vom  28.  November  1888,  Z.  30.672,  geschieht  die  Ver- 
ständigung. 

Vom  k.  k.  Kreisgericht  Reichenberg,  am  i.  Dezember  1888. 

(Unterschrift  unleserlich.) 

Wir  sind  überzeugt  und  gewiß  jeder  Urteilsfähige  mit 
uns,  daß  alle  die  unzähligen  Prozesse  ganz  gleichen  Charakters 
für  den  Sitz  des  jeweiligen  Kreisgerichts  genau  ebensowenig 
,,eine  Gefahr  für  die  öffentliche  Sicherheit  herbeizuführen 
vermochten",  daß  also  die  Angeklagten  ohne  Grund  ihrem 
ordentlichen  Richter  entzogen  wurden. 

Nun  könnte  man  glauben,  daß  die  Worte  „dermalen'', 
„derzeit"  in  dem  Bescheid  des  Obersten  Gerichtshofes  irgend- 
welche Bedeutung  haben,  daß  eine  vielleicht  ehemals  vor- 
handene „Gefahr"  jetzt  nicht  mehr  existiere.  O  nein!  Für 
die  Prager  Oberstaatsanwaltschaft,  für  das  Prager  Ober- 
landesgericht besteht  auch  heute  diese  „Gefahr",  und  wer  aus 
irgendeinem  Grunde  nicht  rekurriert,  wird  auch  heute  „seinem 
ordentlichen  Richter  entzogen". 

Zugleich  mit  dem  abgedruckten  Bescheid  erhalten  wir 
folgende  Mitteilung:  Am  15.  Oktober  d.  J.  erschien  bei  dem 
Weber  Karl  Alber  in  Zwickau  ein  Bezirksgerichts- 
adjunkt mit  zwei  Gendarmen  und  nahm  eine  Haussuchung 
vor.  Gefunden  wurden  angeblich  Arbeiterblätter,  von  ver- 
botenen Schriften  eine  einzige  Nummer  des  „Sozialdemokrat". 
A  1  b  e  r  wurde  verhaftet  und  am  2  2.  O  k  t  o  b  e  r  an  das 
Landesgericht  in  Prag  eingeliefert,  wo  er 
bis  heute  sitzt.  Dieser  Mann  hat  nicht  rekurriert,  er  hat 
noch  keinen  Verteidiger,  ist  also  der  „Rechtsanschauung"  des 
Prager  Landesgerichts  auf  Gnade  und  Ungnade  ausgeliefert. 
Wir  werden  Gelegenheit  haben,  auf  diesen  Fall  zurück- 
zukommeu. 


Zwei  Geheimbundprozesse  25 

Wir  geben  uns  der  Hoffnung  hin,  daß  man  künftig- 
maßgebenden  Orts  in  Prag  den  Wink  mit  dem  Zaunpfahl  ver- 
stehen und  daß  man  endlich  einsehen  wird,  daß  man  selbst 
gegen  Sozialisten  wenigstens  in  der  Form  gesetzlich  vorgehen 
muß.  Diese  gesetzlichen  Formen  und  die  Öffentlichkeit  sind 
die  einzigen  Waffen,  die  uns  in  dem  Kampfe  gegen  die  ,,Art, 
mit  uns  umzugehen"  zur  Verfügung  stehen.  Wir  müssen  sie 
ausnützen  bis  aufs  äußerste  und  wir  richten  darum  an  alle 
Genossen  wiederholt  die  Mahnung,  sich  nichts  still- 
s  c  h  w  e  i  g  e  n  d  g  e  f  a  1 1  e  n  z  u  1  a  s  s  e  n,  sondern  alle  Kechts- 
mittel  auszunützen  und  sofort  an  die  A  r  b  e  i  t  e  r  1)  1  ä  1 1  e  r 
zu  berichten. 

Nur  diesem  Vorgehen  haben  wir  es  zu  danken,  daß  nun- 
mehr ein  Präjudiz  geschaffen  ist,  welches  hoffentlich  einen 
Abschnitt  in  der  Geschichte  der  Sozialistenverfolgungen  in 
Böhmen  bilden  wird. 

Am  12.  Jänner  1889  konnte  die  rGleichheit'"  dann  mitteilen,  daß  die 
L'ntersuchung  wegen  Geheimbündelei  vom  Reichenberger  Kieisgericht  ein- 
gestellt  sei. 

In  Nr.  3  der  „Gleichheit"  vom  18.  Jänner  1889  erschien  als  Abschluß 
folgender  Artikel  Adlers: 

Das  Ende  eines  Geheimbundprozesses. 

Am  8.  August  vorigen  Jahres  wurden  die  Genossen 
Pokorny  und  Adler  in  Reichenberg  polizeilich  angehalten  „zur 
Ausweisleistung".  Am  18.  August  wurde  von  der  Staats- 
"anwaltschaft  Keichenberg  eine  Hausdurchsuchung  bei  ihnen 
und  bei  Genossen  Ulbrich,  mit  dem  sie  in  Eeichenberg  ge- 
sprochen hatten,  beantragt.  Am  2  0.  September  wurden 
diese  Haussuchungen  auch  wirklich  vorgenommen  und  alle  drei 
wegen  „Geheimbündelei"  in  Untersuchung  gezogen.  Am 
;).  O  k  t  o  b  e  r  verfügte  das  Prager  Oberlandesgericht  die  D  e- 
1  e  g  i  e  r  u  n  g  des  P  r  a  g  e  r  L  a  n  d  e  s  g  e  r  i  c  h  t  s  für 
diese  Strafsache  „aus  Gründen  füj-  die  öffentliche  Sicherheit". 
Am  7.  Dezember  entschied  der  Oberste  Gerichtshof,  diese 
Delegierung  bestehe  zu  Unrecht,  es  habe  das  Reichen- 
berger Kreisgericht  selbst  vorzugehen.  Und  am  1  2.  J  ä  n  n  e  r 
1889  wdrd  den  Beschuldigten  mitgeteilt,  das  Verfahren  gegen 
f-ie  sei  eingestellt.  Dazwischen  spielte  eine  Reihe  von 
Verhören,  bei  welchen  die  Beschuldigten  sich  vergebens 
bemühen,    auch    nur    eine    Andeutung    darül)er    zu    erhalten. 


26  UnljHfugte  Vei-teilung  der  „Gleichheit"  an  die  Ziegelarbeiter 

welcher  Tatsachen  sie  eigentlich  beschuldigt  seien. 
Immer  hören  sie,  daß  die  Tatsachen  eben  erst  gesucht 
w  erde  n. 

Und  nun !  Der  Prozeß  hat  f  ü  n  f  M  o  n  a  t  e  gedauert,  um 
dann  resultatlos  in  den  Sand  zu  verlaufen.  Für  die  diesmal 
Betroffenen  konnte  die  Langwierigkeit  des  Prozesses  gleich- 
gültig sein.  Sie  waren  a  ti  f  freiem  Fuß  e.  Wie  aber,  wenn 
.sie  heute  fünf  Monate  Untersuchungshaft  hinter 
•sich  liätten,  wenn  sie  nach  fünf  Monaten,  die  sie  aus  ihrem 
Leben  streichen  müssen,  nach  Einbußen  an  Gesundheit  und 
Vermögen,  die  erfreuliche  Genugtuung  hätten  zu  hören,  die 
Herren  L'ntersuchungsrichter  hätten  keinen  Erfolg  gehabt 
beim  „Suchen  von  Tatsachen" '(!  Kurz,  wie  wenn  es  ihnen  so 
gegangen  wäre  wie  Hunderten  von  böhmischen  Genossen,  wie 
dem  Genossen  A  1  b  e  r,  der  seit  Monaten  in  Prag  schmachtet, 
ohne  zu  wissen,  warum  ^  Bei  Alber  soll  man  eine  Nummer  des 
„Sozialdemokrat"  gefunden  haben;  nun,  bei  Genossen  Adler 
fand  man  sämtliche  Jahrgänge  dieses  unseres  Bruderorgaus, 
bei  Genossen  Pokorny  ganze  Bündel  von  Parteiblättern  —  die 
man  freilich  vorläufig  wegtrug.  Wir  fragen:  warum  geschieht 
und  darf  geschehen  in  Böhme  n,  was  in  W  i  e  n  selbst  unter 
dem  Ausnahmezustand  ganz  undenkbar  ist '.  —  Oder  sollte  für 
die  Verhängung  oder  Nichtverhängung  der  LTntersuchungs- 
haft  der  Stand  des  Angeklagten  maßgebend  sein  ff  Sollten 
Arbeiter  wirklich  Dingen  ausgesetzt  sein,  die  Doktoren, 
sofern  sie  den  Besitzenden  zugerechnet  werden,  nicht  zu 
fürchten  habend  —  Der  Justizminister  wird  gelegentlich  der 
Budgetdebatte  Gelegenheit  haben,  diese  Frage  zu  beantworten. 

Die  Wirkung  des  Artikels  war,  daß  auch  A 1'  1)  e  r  entliaftet  und  die 
Untersuchung  gegen  ihn  eingestelh  wuide  —  nach  zwölfwöchiger  Unter- 
suchungshaft. 

Dieser  großen  Gefahr  des  Prager  Ausnalimesenats  war  A  d  1  e  r  also 
entronnen;  aber  sie  war  groß  genug  gewesen! 


Unbefugte  Verteilung  der  „Gleichheit"  an 
die  Ziegelarbeiter. 

Im  Dezembej  188S  hatte  sich  Adler  mit  zwei  Ziegelan-heitern, 
Hader  und  Raal»,  verkleidet  in  die  Ziegelwerke  am  Wienerberg  ein- 
geschlichen, um  sich  mit  eigenen  Augen  von  den  entsetzlichen  Verhältnissen 

zu    iiberzeuaen.    [lic    .\rtikel,    ilie    Adler    darüber   in    der    ..Gleichlieif    ver- 


Eine  Ehrenbeleidigimg-kJage  wegtun  der  Blechwirtsichalt 


öffentlichte,  erregten  großes  Aufsehen  und  hatten  zur  Folge,  daß  der  Grevverbe- 
inspektor  eingriff  und  das  ..Blechmarkensystem"  eingestellt  wurde.  Die 
Wienerberger  Aktiengesellschaft  rächte  sich  durch  Entlassungen  und  die 
Gendarmerie  verhaftete  die  zwei  Arbeiter  wegen  —  Verbreitung  der  be- 
treffenden Nummer  der  -Gleichheit'"  und  lieferte  sie  ans  Bezirksgericht,  wu 
sie  einige  Tage  in  Haft  saßen.  Mit  ihnen  wurde  Adler  am  30.  Dezember 
1888  vom  Bezirksgericht  Aisergrund  wegen  „unbefugter  Verbreitung"  der 
„Gleichheit"  nach  S  23  Preßgesetz  angeklagt  und  zu  je  3  0  Gulden  Geld- 
strafe veiurteilt. 


Eine  Ehrenbeleidigungsklage  wegen  der 
Blechwirtschaft. 

Von  Anfang  an  hatte  Adler  in  der  „Gleichheit"  eine  eigene  Rubrik 
„Der  G  e  w  e  r  b  e  i  n  s  p  e  k  t  0  r"  geschaffen,  wo  Beschwerden  aus  den 
Werkstätten  und  Fabriken  wegen  Übertretung  der  spärlichen  Arbeiterschulz- 
gesetze veröffentlicht,  der  k.  k.  Gewerbeinspektor  an  seine  Pflicht  des 
Schutzes  der  Arbeiter  gemahnt  wurde.  Eine  solche  Beschwerde  in  Nr.  41  vom 
10.  Oktober  1887  beschuldigte  den  Altgesellen  eines  Schmiedmeisters,  daß 
er  die  Arbeiter  zur  Abnahme  von  Blechmarken  als  Zahlungsmittel  statt 
Geld,  das  für  Bier  und  andere  Artikel  verausgabt  und  dann  vom  Lohn  ab- 
gezogen wird)  zu  zwingen  wisse;  wer  nämlich  nicht  viel  Blech  nehme,  ver- 
liere als  untauglich  die  Arbeit.  Die  Arbeiter  wurden  aufgefordert,  ihn  zu 
verachten,  er  sei  nicht  wert,  in  ihren  Reihen  zu  stehen. 

Der  also  Angegriffene  Th.  A.  stellte  zwar  die  Tatsache  der  Blechwirt- 
schaft nicht  in  Abrede,  fühlte  sich  aber  durch  die  Notiz  in  seiner  Ehre  ver- 
letzt und  brachte  die  Ehrenbeleidigungsklage  gegen  den  Einsender,  den 
Schmied  Anton  Mahr,  aber  auch  gegen  Bretschneider  als  ver- 
antwortlichen Redakteur  und  zudem  noch  gegen  Dr.  Victor  Adler  al- 
Herausgeber  ein. 

Bei  der  Verhandlung  vor  dem  Schwurgericht  am  7.  .April  1888  gab  der 
Angeklagte  Mahr  an,  die  Mißstände  seien  in  Versammlungen  der  Schmiede 
wiederholt  besprochen  worden.  A.  habe  aus  den  Blechmarken  Vorteil  gezogen 
und  zwei  Arbeiter,  welche  die  Annahme  vei-weigerten,  entlassen. 

Dr.  Victor  Adler 

g'i'bt  an,  daß  er  den  betreffenden  Artikel  selbst  /um  Druck  ge- 
geben und  seinen  Inhalt  gebilligt  hal)e.  Er  habe  sich  seli)st 
über  die  Verhältnisse  der  Stiaßnysclien  Schmiede  nicht  intVjr- 
miert,  aber  ei-  schenke  Mahr,  den  er  oft  in  Arbeiterversamm- 
Inngen  gesellen  und  gesprochen  habe,  vollständigen  Glaui)en. 
Als  Redakteur  der  Rubrik  ..dewerbeinspektor"  der  ..Grleich- 
iieit"  sei  es  ihm  übrigens  bei  der  Unzahl  von  Notizen,  welche 
einlaufen,    ganz   unmöglich,    jedem  einzelnen   Fall     persönlich 


28  Eine  Ehrenbeleidigungsklage  wegen  der  Blechwirtschaft 

nachzugeben.  Er  glaube,  sieb  auf  seine  Gewäbrsmänner  ver- 
lassen zu  können.  Scbließlich  stebe  ihm  ja  aucb  nicbt  die  Be- 
fugnis des  Gewerbeinspektors  zu,  dessen  Amtstätigkeit  er  als 
Eedakteur  nicht  zu  der  seinigen  machen  dürfe.  Als  Redakteur 
habe  er  el^en  nur  die  Pflicht,  Mißstände,  die  zu  seiner  Kennt- 
nis gelangen,  öffentlich  zu  rügen. 

Dr.  Scharf  messer  (als  Vertreter  des  Klägers):  Ist  es  bei  Ihnen 
so  üblich,  daß  Sie  ehrenrührige  Artikel  aufnehmen  und  dann  später  erst 
nachfragen,  ob  deren  Inhalt  der  Wahrheit  entspricht? 

Dr.   Victor  Adler:  Ehrenrührige   Artikel   nehmen    wir 

überhaupt  nicht  auf. 

Dr.  S  c  h  a  r  f  m  e  s  s  e  r ;  Aber  Sie  werden  doch  zugeben,  daß  Ihr 
Artikel  objektiv  ehrenrührig  ist, 

Dr.  Victor  Adler:  Ich  nehme  nur  Artikel  auf,  deren 
(Glaubwürdigkeit  mir  nicht  in  Zweifel  steht.  Wenn  die  Dinge, 
welche  ich  bringe,  ehrenrührig  sind,  so  sind  dies  eben  die  An- 
gelegenheiten jener  Leute,  welche  sie  verübt  haben,  aber  nicht 
meine. 

Dr.  S  c  li  a  r  f  m  e  s  s  e  r :  Nun,  es  wäre  Ihnen  doch  in  diesem  Falle 
leicht  gewesen,  sich  vorher  über  die  Richtigkeit  Ihrer  Mitteilungen  zu  er- 
kundigen. 

Dr.  Victor  A<ller:  Gewiß.  Aber  dann  wäre  mir  die 
Auskunft  geworden,  daß  mich  das  gar  nichts  angehe 

Dr.  S  c  h  a  r  f  m  0  s  s  e  r:  Die  großen  Wiener  Blätter  ziehen  doch  auch 
vorkommenden  Falls  Erkundigungen  ein  und   erhalten  Auskünfte. 

Dr.    Victor   Adler:    Wohl   möglich,   aber   bei   uns    geht 

das  nicht.  Ein  großes  Blatt  ist  gewöhnlich  mit  den  Leuten,  über 

welche   es   etwas   bringt,   auf  gutem   Freundscbaftsfuß  - —   wir 

aber  nicht. 

Dr.  W  u  1  f  -  E  p  p  i  n  g  e  r  zu  Dr.  Viftor  Adler):  Es  ist  Ihnen  bekannt 
geworden,  Herr  Doktor,  daß  nach  dieser  Notiz  der  Mißbrauch  abgestellt 
wurde? 

Dr.  Victor  Adler:  Jawohl.  Man  hat  dieses  Wueher- 
system  noch  eine  Woche  fortlaufen  lassen  und  hat  es,  wis  ich 
höre,  dann  gleich  eingestellt.  Es  ist  möglich,  (hiß  der  Gewerbe- 
in.-;pektor  Einfluß  genommen  hat. 

Dr.  \V  o  I  1  -  K  p  p  i  n  g  e  r:  Und  Sie  haben  die  Erfahrung,  daß  >olche 
Notizen  wiederholt  von  bestem  Erfolg  begleitet  gewesen  sind  und  daß  das 
lit'werbeuispektorat  eingegriffen  hat? 


Eine  Ehrenbeleidigiingsklage  wegen  der  Blechwirt^chaft  29 

Dr.  Victor  Adler:  Ja!  Der  Angeklagte  öcliildert 
nun  auf  Befragen  eines  Geschwornen  die  Schädigung:  e  n. 
denen  die  Arbeiter  durch  die  B  1  e  c  h  w  i  r  t  s  c  h  a  f  t  aus- 
gesetzt sind,  und  bemerkt  auf  die  Behauptung  des  klägerischen 
Vertreters,  die  Blechmarken  seien  zugunsten  der  Arbeiter  ein- 
geführt, weil  dieselben  in  der  Woche  kein  bares  Geld  haben, 
daß  diese  Entschuldigung,  welche  immer  für  das  Trucksystem 
vorgebracht  werde,  die  gesetzgebenden  Körperschaften  der 
europäischen  Staaten  nicht  habe  liewegen  können,  dieses 
System  zu  dulden. 

Redakteur  B  r  e  t  s  c  h  n  e  i  d  e  r  gibt  zunächst  Auskunfl  über  die  Ein- 
teilung der  redaktionellen  Arbeiten  im  Büro  der  „Gleichheit".  Die  Blechwirt- 
schaft nennt  er  AVucher  und  benaerkt.  daß  es  noch  verdammenswerler 
sei,  wenn  ein  Mensch  dieses  System  einführt,  der  früher  selbst  der  Arbeiter- 
schaft angehört  hat.  Dieses  System,  welches  durch  eine  vorjährige  Gerichts- 
entscheidung verboten  worden  sei,  komme  leider  noch  häufig  vor  und  habe 
auch  in  der  Stiaßnyschen  Schmiede  existiert.  Auf  Einzelheiten  könne  er 
sich  nicht  einlassen  und  müsse  in  dieser  Hinsicht  auf  die  Zeugen  ver- 
weisen. Er  betrachte  die  Blechwirlschaft  als  Wucher. 

Es  folgte  nun  die  Vernehmung  der  Zeugen.  Zeuge  Franz  K 1  e  p- 
parsch,  früher  Werkmeister  der  Stiaßnyschen  Schmiede,  gibt  an,  daß  die 
Blechwirtschaft  in  dieser  Schmiede  schon  bestanden  habe,  ehe  A. 
in  dieselbe  eingetreten  sei.  Zeuge  Heinrich  Stiaßny:  In  meiner  Schmiede 
arbeiten  zwölf  Gehilfen  und  zwei  Lehrlinge.  A.  beaufsichtigt  dieselben. 
Von  der  Blechwirtschaft,  welche  vom  Wirt  ausgeht,  wußte  ich  nichts.  Der 
Altgeselle  erhält  von  mir  allwöchentlich  das  Geld  für  die  Arbeiter  und  zahlt 
dasselbe  aus.  Welches  Übereinkommen  er  mit  den  Leuten  trifft,  weiß  ich 
nicht.  Über  Aufnahmen  und  Entlassungen  entscheide  ich  ganz  allein.  Als  ich 
durch  den  Artikel  der  ..Gleichheit"  von  der  Blechwirtschaft  in  meiner 
Schmiede  erfahren  habe,  habe  ich  sofort  den  Auftrag  gegeben,  dieselbe  ein- 
zustellen. —  Die  übrigen  Zeugen  wiederholen  im  wesentlichen  die  obigen 
Zeugenaussagen.  Schließlich  wurde  ein  Ausgleich  geschlossen,  indem 
Dr.    W  0  1  f  -  E  p  j)  i  n  g  e  1    folgende    Erklärung   abgab: 

„Der  inkriminierte  Artikel  hatte  im  wcsentliclien  den  Zweck,  gegen 
das  gesetzlich  verpönte  Blechsystem  aufzutreten.  Nachdem  die  Verhandlung 
ergeben  hat,  daß  schon  das  Erscheinen  des  Artikels  genügte,  um  diesem 
System  in  der  Stiaßnyschen  Werkstatt  ein  Ende  zu  bereiten;  nach- 
dem die  Verhandlung  ergeben  hat,  daß  der  Privatkläger  die  Blechwirtschaft 
nicht  eingeführt,  sondern  von  seinem  Vorgänger  übernommen  und  in  Un- 
kenntnis der  gesetzlichen  Vorschriften  weitergeführt  hat,  so  sehen  alle  Be- 
teiligten   die   Angelegenheit   hiemit  für  erledigt   an." 

Zufolge  dieser  Erklärung  trat  Dr.  S  c  h  a  r  f  m  e  s  s  e  r  von  der  -\nklage 
zurück,  worauf  der  Vorsitzende  das  für  alle  Geklagten  freisprechende 
Urteil  verkündete. 


30  Wegen  Beleidigung  eines  Regierungsvertreters 

Wegen  Beleidigung  eines  Regierungsvertreters. 

Während  der  Expertise  ül)er  die  Erricliiung  von  Arbeiterlcammern  im 
i'tühjahr  1889  hielt  der  politische  Verein  ..Wahrheit"'  eine  Versammlung 
flarüber  ab,  die  vom  Regierungsverlreter  durch  fortwährende  dvmime 
Unterbrechungen  der  Redner  gestört  wurde.  Abgeordneter  P  e  r  n  e  r  s  t  o  r  f  e  r 
iiat  darüber  im  Parlament  am  13.  März  1889  bei  der  Beratung  des  Budget- 
liiels  ..Auslagen  für  die  Staatspolizei"  zur  allgemeinen  Ergötzung  erzählt. 
Als  Pernerstorfer  als  letzter  Redner  den  Polizeikommissär  in  der 
Versammlung  deshalb  dem  Spott  preisgab,  löste  der  Dummkopf  die  Ver- 
.«ammlung  auf.  In  weiterer  Folge  wurde  der  Vorsitzende  Grosse  wegen 
Übertretung  des  Vereinsgesetzes  angeklagt,  weil  er  trotz  Aufforderung  des 
Regierungsvertreters  den  Redner  nicht  unterbrochen  habe,  und  Adler 
wie  Pernerstorfer  wurden  wegen  Wachebeleidigung  ( §  312)  angeklagt 
Die  Klage  gegen  Pernerstorfer  verjährte,  weil  der  Reichsrat  vertagt  wurde, 
bevor  die  Auslieferung  zur  Debatte  kam. 

Bei  der  Veihandlung  gegen  Adler  und  Grosse  am  6.  Juli  1889 
vor  dem  Bezirksgericht  Mariahilf  verwickelten  sich  die  Belastungszeugen, 
der  Polizeikommissär  Feld  m  a  n  n  und  zwei  Detektivs  durch  die  Fragen 
Adlers  in  solche  Widersprüche,  daß  Grosse  freigesprochen  werden  maßte. 

Adler  gestand  zu,  dem  Polizeikommissär  nach  der  Auf- 
lösung der  Ver.sammlung  „privatim"  gesagt  zu  haben:  „Lernen 
Sie  erst  etwas,  bevor  Sie  herkommen,  Versammlungen  zu  über- 
wachen", und  bestand  darauf,  seine  Bemerkung  sei  durch  die 
Umstände  gerechtfertigt  gewesen. 

Verteidiger  Dr.  Bondy  wies  darauf  hin,  daß  gerade  das  Voigehen 
des  Kommissärs  bei  dieser  Versammlung  Anlaß  zu  dem  Ministerialerlaß  des 
Ministerpräsidenten  T  a  a  f  f  e  war,  der  den  Regierungsvertretern  bei  Ver- 
sammlungen ein  taktvolles  und  kluges  Verhalten  vorschreibt. 

Dr.  Adler  wurde  aber  trotzdem  wegen  dieser  Wache- 
beleidigung zu  2  4  S  t  u  n  d  e  n  A  r  r  e  s  t  verurteilt.  („Arbeiter- 
Zeitung".  Xr.  1,  1889.) 

Dem  Staatsanwalt  war  die  Strafe  zu  gering,  er  appellierte  uiul  das 
Landesgericht  hatte  Verständnis  für  seine  Schmerzen:  die  Strafe  wurde 
auf  drei  Tage  Arrest  erhöht. 

Wegen  anarchistischer  Bestrebungen  vor  dem 
Ausnahmegericht. 

Im  Juni  1889  führte  die  Regierung  einen,  wie  sie  hoffte,  vernichtenden 
Streich  gegen  die  „Gleichheit"  und  gegen  ihre  Redakteure.  Im  April  war  in 
Wien  ein  Streik  der  Tramwaybediensteten  ausgebrochen,  es  war  zu  Zu- 
sammenstößen mit  Streikbrechern  gekommen,  Polizei  und  Militär  hatte  mit 
tuutalster  Gewalt  eingegriffen,  um  die  Dividenden  der  Aktionäre  vor  Ver- 
minderung zu  schützen,  und  die  .,Gleichheif'  hatte  die  Partei  der  Streikenden 


Wegen  ananhi<ti'^i-hef  Bestivbungen  M 


ergriffen.  Im  Juni  hatte  in  S  t  e  y  r  eine  Demonstration  vor  einer  Fabrik  statt- 
gefunden, deren  Besitzer  sich  durch  besondere  Ausbeutung  seiner  Arbeiter 
auszeichnete.  Die  ^Gleichheit"  hatte  kurz  vorher  in  einer  Notiz  die  Ein- 
haltung des  gesetzlichen  elfstündigen  Arbeitstages  verlangt.  Beide  Vorfälle 
boten  nun  den  Behörden  willkommenen  Anlaß,  den  Versuch  zu  untemehnaen. 
lias  gehaßte  Blatt  umzubringen  und  Adler  wie  Bretschneider 
auf  längere  Zeit  -unschädlich"  zu  machen.  Ein  zweites  Motiv  war,  da  der 
Ausnahmezustand  demnächst  ablief.  Gründe  für  seine  Erneuerung 
zu  liefern.  Die  Geschwornen  wären  darauf  nicht  eingegangen,  so  mußte  man  , 
die  „Gleichheit"  zu  einem  anarchistischen  Organ,  Adler  und  Bret- 
schneider zu  Anarchisten  stempeln.  Die  -Gleichheit"  wurde  am  21.  Juni 
von  der  Polizeidirektion  eingestellt,  Adler  und  Bretschneider,  statt 
vor  das  zuständige  Schwurgericht,  vor  den  A  u  s  n  a  h  m  e  g  e  r  i  c  h  t  s  h  o  f 
gestellt  —  der  Holzinger -Senat  war  verläßlich,  die  Verurteilung  sicher. 
Auf  einen  Rechtsbrucli  niphr  oder  weniger  kam  es  den  k.  k.  Behörden 
nicht  an. 

Die  konfiszierten  Stellen. 

Die  konfiszierten  Steilen  der  von  .V  d  1  o  r  verfaßten  Artikel  in  Nr.  17 
der  -Gleichheit"  vom  26.  April  1889,  derentwegen  Adler  und  Bret- 
schneider angeklagt  wurden,  hatten  folgenden   Wortlaut ; 

Die    Volksbewegungen,    die    ^ich    an    den    T  r  a  ni  w  a  y- 

-  t  r  f  i  k  knüpften,  haben  die  verschieden.ste  AiLslegun^  er- 
fahren. Natürlich  zittert  ..ganz  Wien",  das  heißt  die  Handvoll 
Menschen,  die  Besitz.  Ehre  und  Ansehen  hat.  kurz  die  Bour- 
geoisie, vor  den  „Krawallen".  Selbst  der  kleinere  Spießer,  der 
gerne  dem  Steinwerfen  zusieht,  wird  sehr  ungemütlich,  wenn 
zufällig  auch  seine  Fenster  eingeworfen  werden.  ..Licht- 
scheues Gesindel".  ..Pöbel",  so  werden  die  demonstrierenden 
Massen  in  der  Presse  tituliert,  und  zwar  in  derselben  Presse, 
welche  für  die  TramwaygesoUschaft  und  ihre  Blutsaugerei  kein 
hartes  Wort  findet.  Sie  fragt:  ..Wer  hat  die  Krawalle  ange- 
zettelt?" Die  Infamie  der  Presse  wird  fürwahr  nur  «lurch 
ihre  I)  u  m  m  h  e  i  t  übertroffen.  Die  liberalen  Blätter  denun- 
zieren die  Antisemiten  als  ..Krawallmacher"  und  nehmen 
Rache  für  den  ..rituellen  Mord",  den  man  den  Juden  in  die 
Schuhe  schiebt.  Für  die  Antisemiten  ihrerseits  ist  es  aus- 
gemacht, daß  die  .,J  u  d  e  n".  die  ja  liekanntlich  an  allem  t'bel 
in  der  Welt  schuld  sind,  auch  diese  ..Krawalle"  verur.^acht 
haben.  Und  da  die  ..Juden",  welche  Sozialdemokraten  sind, 
ihnen  doppelt  verhaßt  sind,  so  zeigen  sie  auf  diese  mit  Fingern. 
Nobel  ist  da.*  auch  eben  nicht,  dafür  ist  es  eben  so  dumm,  flenn 
das  weiß  doch  jeder  halbwegs  vernünftige  Mensch  mit  offenen 


32  Wegen  anarchistischer  Bestrebungen 

Augen.  Machen  kann  man  solche  Volksbewegungen  nicht, 
selbst  wenn  man  wollte.  Es  sind  einfach  die  Hungernden, 
welche  in  ihrer  Masse  gar  keiner  Partei  angehören,  deren  Mit- 
leid endlich  rege  wird,  deren  Rachegefühl  erwacht,  und  die, 
indem  sie  für  die  Tramwaysklaven  eintreten,  gegen  ihr  eigenes 
Elend  protestieren,  für  ihre  eigene  Befreiung  kämpfen.  Der 
Klasseninstinkt  steigert  sich  in  solchen  Zeiten  zum  Klassen- 
bewußtsein. Und  Mut  besitzen  die  am  meisten,  die  am  wenig- 
sten zu  verlieren  haben.  Man  gehe  doch  in  friedlichen  Zeiten 
hinaus  nach  Ottakring,  hinaus  nach  Favoriten,  man  stelle  sich 
ans  Tor  einer  Fabrik,  einer  Schule,  man  betrachte  die  hageren 
Männer,  die  welken  Weiber,  die  siech  geborenen,  elend  ver- 
kommenden Kinder,  und  dann  wird  man  nicht  fragen:  Warum 
ist  heute  Krawall'^  —  sondern  man  wird  erstaunt  ausrufen: 
Wie  ist  es  möglich,  daß  dieses  Volk  diesen  Zustand  auch  nur 
einen  Tag  verträgt^  Wie  kommt  es,  daß  der  Krawall  überhaupt 
jemals  nicht  ist?  Gewiß  werden  unter  den  Demonstrie- 
renden weder  Sozialisten  fehlen  noch  Antisemiten,  und  es  ist 
dumm  und  feig  von  den  Antisemiten,  das  für  ihr  Teil  zu 
leugnen.  Es  wäre  ja  ganz  toll,  wenn,  wo  alles  auf  den  Beinen 
ist,  Antisemiten  und  Sozialisten  fehlen  sollten.  Aber,  auch  nur 
zu  fragen,  ob  sie  als  Partei  die  Sache  „angezettelt"  haben,  ist 
erheuchelt  oder  blödsinnig. 

Die  Tapferkeit  der  Dragoner  und  Husaren    hat    in    den 

letzten  Tagen  eine  glänzende  Probe  abgelegt.  Wenn  sie  auch 
vor  dem  Steinhagel  mehrmals  weichen  mußten,  gelaug  der 
Sturm  schließlich  immer  und  sie  setzten  es  durch,  daß  nicht 
einmal  Weiber  und  Kinder  die  Grenze  des  Trottoirs  über- 
schreiten konnten.  Zahlreiche  Verwundungen  geben  von  ihrer 
Energie  Zeugnis.  Schreiber  dieses  war  Augenzeuge,  wie  ein 
berittener  Wachmann  im  Verein  mit  zwei  Dragonern,  also  drei 
Mann  zu  Pferde,  mit  geschwungenen  Säbeln  auf  zwei  alte, 
gebückte  Weiber  eindrangen,  welche  von  der  Laxenl)urger- 
straße  durch  eine  Quergasse  zum  Keplerplatz  wollten,  offen- 
bar um  zur  dort  befindlichen  Kirche  zu  gelangen.  Die  Dra-. 
goner  siegten.  Die  zwei  alten  Frauen  wurden  zwar  nicht 
gefangengenommen,  aber  endgültig  zurückgetrieben.  Die 
Infanterie  steht  nicht  zurück.  In  Hernais  verfolgte  ein  Leut- 
nant mit  gezücktem  Säbel  an  der  Spitze  seiner  Soldaten  eine 
Frau  lii?  in  den  ersten   Stock.  Ein  Mann  fragte:    „Ja,  wissen 


Wegen  anarchistischer  Bestrebungen  33 

denn  diese  Husaren  nicht,  daß  sie  in  zwei  Jahren,  wenn  sie 
ausgedient  haJDen,  selber  Tramwaykutscher  sein  Averden  oder 
Ärgeres?"  —  Geduld!  Auch  diesen  Blinden  wird  der  Star 
einst  gestochen  werden! 

Zum  Tramwaystreik.  Als  wir  in  voriger  Woche  nieder- 
schrieben, daß  die  Tramwaybediensteten  „nicht  nur  die 
klassenbewußten  Arbeiter,  sondern  den  irgend- 
wie menschlich  fühlenden  Teil  der  gesam- 
ten Bevölkerung  auf  ihrer  Seite  haben",  wußten  wir 
nicht,  bis  zu  welchem  Ausmaß  wir  recht  hatten.  Der  Verlauf  des 
Streiks  hat  gezeigt,  daß  die  Masse  der  Bevölkerung  sich  auf  die 
Seite  der  Ausgebeuteten  gegen  die  Ausbeuter,  auf  die  Seite 
der  Unterdrückten  gegen  die  Unterdrücker  geschlafen  hat 
und  daß  die  breiten  Volksschichten  von  lebendigem  Zorn 
erfaßt  sind  gegen  die  Sklavenhalter  und  ihre 
Bundesgenossen.  Wir  erinnern  uns  nicht  daran,  daß 
irgendein  Ereignis  seit  langer  Zeit  das  schlafende  Bewußtsein 
lind  Gewissen  des  Volkes  so  geweckt,  so  in  seinen  Tiefen 
aufgewühlt  hätte,  wie  der  Kampf  der  Tramwaybediensteten 
gegen  die  Tramwaygesellschaft  und  ihre 
Zuhälter. 

Selbst  die  verlogensten  Blätter  müssen  anerkennen,  daß 
die  Haltung  der  Kutscher  über  alle  Erwartung  ruhig,  diszi- 
pliniert und  würdig  ist;  während  .sich  diese  auch  nicht  der 
geringsten  „Einschüchterung  oder  Gewalt"  schuldig  machten, 
hielt  das  Publikum  ein  Volksgericht  ab,  wie  es  Wien  noch 
nicht  gesehen  hat.  Zunächst  begnügte  man  sich  damit, 
denjenigen  Bediensteten,  welche  ihre  Kollegen  feige  im  Stich 
ließen  und  Kutscherdienste  verrichteten,  seine  Verachtung 
auszudrücken.  Schimpfworte  wurden  ihnen  zugerufen,  aus- 
gespuckt wurde  vor  ihnen,  nicht  nur  in  den  Vororten,  sondern 
auch  auf  der  Ringstraße  von  „anständig  gekleideten  Per- 
sonen". Bei  den  Remisen  aber  reizte  das  starke  Polizeiaufgebot 
und  das  landesübliche  Herumkommandieren  und  Bedrohen  die 
Menge.  Dazu  kommt  natürlich,  (hiß  in  den  Fabriksvierteln 
Hernais  und  Favoriten  die  Masse  der  Arbeiter  ein  starkes 
Bewußtsein  der  Solidarität  mit  den  Leuten  verbindet,  welche 
da  um  ihr  elendes  bißchen  Existenz  kämpfen.  Die  Kutscher 
hatten  darauf  gerechnet,  daß  nur  geprüfte  Kutscher,  wie  sie 
selbst,   fahren  dürfen     und  daß   die   Polizei   im   Interesse   der 

3 


34  Wegen  anarchistischer  Bestrebungen 

Verkehrssicherheit  der  Gesellschaft  verbieten  werde,  unge- 
lernte Kutscher  zu  verwenden.  Natürlich  trat  das  Gegenteil 
ein;  die  Gesellschaft  nahm  jeden,  der  nur  immer  fahren  wollte, 
und  die  Polizei  schritt  ein  —  aber  nur  um  der  Gesellschaft 
dieses  „Recht"  zu  sichern. 

Nun  machte  das  Publikum  eine  energische  Demonstration 
zugunsten  des  Streiks,  die  ersten  Steine  flogen,  die  Wachmann- 
schaft wurde  vermehrt;  die  Leute  wichen  nicht.  Hundertmal 
trieben  berittene  Wachleute  die  Haufen  auseinander,  ebenso 
oft  sammelten  sie  sich  wieder  und  jeder  ausfahrende  Wagen 
wurde  mit  Geschrei  und  einem  Steinhagel  begrüßt. 

Was  konnten  die  Polizeidirektion,  der  Gemeinderat,  der 
Statthalter,  das  Ministerium  tun(!  Sie  konnten,  ja  sie 
m  u  ß  t  e  n,  wenn  sie  ihre  Pflicht  verstanden,  sich  den 
Schützenkopp  oder  seinen  Brotgeber  R  e  i  t  z  e  s  kommen 
lassen  und  sagen:  „Da  die  Tramway  nicht  verkehren  kann, 
ohne  daß  sie  durch  ungelernte  Kutscher  das  Leben  der 
Passanten,  durch  die  gerechte  Entrüstung  der  Bevölkerung- 
die  gesunden  Glieder  der  Kutschierenden  in  Gefahr  bringt  ■ — 
so  ist  der  Verkehr  einfach  einzustellen  auf 
so  lange,  bis  die  Gesellschaft  mit  ihren  Bediensteten  sich  ver- 
einbart hat.  Das  Recht  der  Gesellschaft,  Menschen  wie  Last- 
tiere zu  behandeln,  so  heilig  es  ist,  darf  doch  nicht  um  den 
Preis  von  Menschenleben  aufrechtgehalten  werden.  Wir 
Behörden  haben  nicht  nur  den  Coupon  der  Tramw^ayaktionäre 
zu  schützen,  sondern  auch  die  gesunden  Knochen  der  Staats- 
bürger, insbesondere  jener,  die  kein  anderes  Eigentum  haben 
als  diese  Knochen.  Die  Gesellschaft  hat  ordnungsgemäß  zu 
fahren  oder  gar  nicht.  Und  wenn  dabei  die  Tramwaykutscher 
ein  wenig  mehr  Lohn  erringen,  so  werden  wir  dieses  Unglück 
verschmerzen."  Auf  diese  höchst  einfache  Weise  wären  binnen 
einer  Stunde  sämtliche  „Krawalle"  zu  beenden  gewesen.  Aber 
die  Behörden  wählten  einen  anderen  Weg.  Sie  ließen  Mili- 
tär kommen:  Dragoner  in  Favoriten,  Husaren  in  Hernais, 
Im  angesammelten  Volk  entstand  dadurch  offenbar  die  Vor- 
stellung, Polizei  und  Militär  seien  nur  dazu  aufgeboten,  um 
die  Tramwaygesellschaft  zu  schützen,  Polizei  und  Militär  seien 
die  Bundesgenossen  des  Herrn  Reitzes.  Diese  Vorstellung  war 
es,  welche  die  Massen  in  solche  Entrüstung  versetzte,  daß  sie 
die    angeborene   Angst    und   Scheu    vor    Polizei    und    Militär 


Wegen  anarchi'stischer  Bestrebungen  35 

endlich  ganz  vergaßen  und  Dragoner  und  Husaren  ebenso  mit 
Steinwürfen  empfingen  wie  die  berittenen  Polizisten. 

Nun  erfolgten  regelrechte  Kavallerieattacken  gegen  das 
wehrlose  Publikum,  besonders  bei  Nacht  recht  wirksam. 
Hierauf  Besetzung  der  Plätze  mit  Kavallerie.  Endlich  wurde 
das  Ziel  erreicht!  Unter  polizeilichem  und  militärischem 
Schutz  verkehrten  die  Tramwaywaggons,  gelenkt  von  Leuten, 
die  nie  die  Zügel  in  der  Hand  gehabt.  Dragoner  und  Husaren 
begleiteten  die  Wagen,  den  sogenannten  ,,Kutscher" 
schützen  vier  Wachleute.  Und :  Alles  ist  gerettet! 
Die  streikenden  Kutscher  behalten  ihre  Hundeexistenz,  das 
Publikum  erhält  seine  Säbelhiebe  und,  was  die  Hauptsache 
ist,  die  Tramwayaktionäre  behalten  ihren  Coupon! 

Aber  damit  ist  nicht  alles  getan.  Die  streikenden 
Kutscher,  w^elche  durch  gar  nichts  aus  ihrer  gesetzlichen 
Haltung  herauszubringen  sind,  gehen  als  lebendige  Aufreizung 
in  ihrer  Montur  herum.  Wo  sich  eine  weiße  Kappe  sehen  läßt, 
wird  sie  vom  Volk  begrüßt.  Zudem  braucht  die  Gesellschaft 
die  Monturen  für  die  Neuangeworbenen.  Also  her  mit  der 
Montur!  Die  Sicherheitswache  vertreibt  zunächst  am  Dienstag 
die  Kutscher  aus  allen  Lokalen,  wo  sie  ganz  ruhig  sich  auf- 
gehalten hatten.  Hierauf  arretiert  sie  jeden  Kutscher,  der  in 
Uniform  sich  zeigt  und  behält  ihn  solange  im 
Arrest,  bis  er  sie  auszieht  oder  zu  fahren  erklärt.  Dabei 
wird  ihm  stets  erklärt,  daß,  wenn  der  Streik  noch  sechs  Tage 
dauert,  alle  nicht  nach  Wien  Zuständigen  als  subsistenzlos 
abgeschoben  w^erden,  worauf  ihnen  übrigens  Polizeirat 
B  r  e  i  t  e  n  f  e  1  d  schon  Samstag  sein  „Ehrenwort"  gab ! ! 
Wachmänner  packen  Kutscher  bei  der  Brust  und  fragen  sie: 
,, Wollt  Ihr  fahren  oder  nicht?"  Die  Kutscher,  welche  die 
Umgangsformen  der  Polizei  nicht  kennen  und  auch  glaubten, 
auf  die  Polizei  zu  kommen  sei  eine  große  Schande,  wissen 
heute,  daß  das  jedem  passieren  kann,  der  irgendeinem  Reitzes 
unbequem  ist.  Wenn  das  Koalitionsrecht  dabei  ver- 
liert, der  A  u  f  k  1  ä  r  u  n  g  wird  mit  diesem  Vorgehen  ernst- 
lich gedient. 

*  * 

* 

Die  Situation  der  Kutscher  ist  allerdings  eine  schwierige 
geworden.  Sie  sahen  sich  ersetzt  durch  ungelernte  Hände,  und 
wenn  heute  nur  ein  Drittel  der  Wagen  verkehrte,  so  finden 

3* 


36  Wegen  anarchistischer  Bestrebungen 

sich  in  einigen  Tagen  noch  mehr  Leute,  welche  sich  dazu  her- 
geben, die  Streikenden  zu  verdrängen,  und  die  Verhältnisse 
sind  heutzutage  so  elend,  daß  selbst  die  Tramwaysklaverei 
für  ungezählte  Tausende  ein  wünschenswertes  Ziel  ist.  Und 
wenn  die  armen  Kutscher  und  die  reiche  Gesellschaft  allein 
auf  der  Welt  wären,  würden  die  Kutscher  unterliegen.  Aber 
es  gibt  noch  Faktoren,  denen  es  unangenehm  ist,  allabendlich 
große  Militärmassen  ausrücken  zu  sehen,  die  es  peinlich  he- 
rührt,  daß  die  bewaffnete  Macht  in  den  Schein  kommt,  das 
Vaterland,  das  sie  zu  schützen  hat,  sei  in  den  Geldschränken 
der  Kapitalisten  zu  suchen.  Dabei  muß  jeder  Mensch  zugeben, 
daß  die  Forderungen  der  Kutscher  mäßige  und  gerechte  sind 
und  sie  haben  die  öffentliche  Meinung,  soweit  sie  nicht  etwa 
durch  die  „demokratische"  und  „liberale"  Presse  repräsentiert 
ist,  ganz  für  sich.  Darum  meinen  wir  auch,  daß  die  Minister 
T  a  a  f  f  e  und  B  a  c  q  u  e  h  e  m  wirklich  einiges  tun  werden, 
um  einen  Ausgleich  herbeizuführen.  Soviel  scheint  sicher, 
daß  die  Kutscher  eintreten  werden,  alle  o  d  e  r  g  a  r  k  e  i  n  e  r. 
Die  wenigen  Tage  ernsten  Kampfes,  wo  sie  lernten,  sich  auf- 
einander zu  verlassen,  haben  diese  Leute  mehr  gebildet,  als  es 
Jahre  der  eifrigsten  Agitation  zu  tun  vermocht  hätten.  Wohl 
geschieht  es,  daß  einzelne,  durch  die  Drohungen  der  Polizei 
und  der  Stallmeister  verleitet,  erklärten,  morgen  fahren  zu 
wollen,  meist  aber  nehmen  sie  sofort  diese  Erklärung  wieder 
zurück,  wenn  sie  ihre  Kameraden  gesehen  haben.  Freilich,  jene 
armen  Leute,  die  gar  keine  anderen  Kleider  als  die  Montur 
haben,  welche  ihnen  von  Wachleuten  mit  Gewalt  weggenommen 
wird,  müssen  nachgeben,  wollen  sie  nicht  b  u  c  h  s  t  ä  b  1  i  c  li 
n  a  c  k  t  dastehen.  Aber  der  Kern  steht  unerschütterlich  fest, 
fühlt  sich  getragen  von  der  Sympathie  der  ganzen  Bevölkerung 
und  wird  den  Kampf  zu  Ende  führen.  Übrigens  muß  die  Ent- 
scheidung bald  fallen.  Bald  muß  es  sich  zeigen,  ob  nicht 
schließlich  auch  in  den  ,,maßgebenden  Kreisen"  sich  die  Auf- 
fassung geltend  macht,  daß  bei  aller  Solidarität  der  Inter- 
essen, der  faktische  Belagerungszustand,  zahllose  Ver- 
wundungen, Hunderte  von  Verhaftungen,  die  steigende  Er- 
bitterung der  ganzen  Bevölkerung,  die  rasend  schnell  fort- 
schreitende Unterwühlung  der  verschiedenen  staatlicheii 
Autoritäten  und  Heiligtümer  denn  doch  ein  etwas  zu  hoher 
Preis  ist,  gezahlt  einzig  und  allein. für  den  Geldsack  einiger 


Die  Einstellung  der  „Gleichheit"  und  Adlers  Selbstanzeige  37 

Aktionäre.  —  Wir  meinen  also,  daß  die  Regierung  g  e- 
z  w  u  n  g  e  n  ist,  so  viel  Energie  zu  finden,  ein  Ende  zu  machen. 
Wenn  man  im  Interesse  der  Ruhe  und  ,,Ordnung"  Menschen- 
massen  mit  Säbeln  bearbeiten  kann,  so  muß  es  doch  auch 
möglich  sein,  im  Interesse  der  Ordnung  eine  Aktiengesell- 
schaft zu  zwingen,  ihre  Bediensteten  wenigstens  halb  so  gut 
zu  behandeln  wie  ihre  Pferde.  Da  genügt  ein  energisches 
Wort.  Und  wenn  nicht  —  wie  wir  Herrn  Keitzes  kennen, 
genügt  ein  einziger  von  jenen  Husaren,  die  in  Hernals  ganz 
überflüssig  sind,  um  ihn  recht  gefügig  zu  machen.  Man  schreit 
über  die  Steinwürfe  in  Hernals  und  den  iSchaden,  den  sie 
anrichten.  Und  die  Tramwaygesellschaft  läßt  viele  Hunderte 
langsam  elend  zugrunde  gehen  an  Hunger  und  Überarbeit. 
Man  ist  empört  über  die  paar  geplünderten  Kaffeehäuser,  und 
die  Tramwaygesellschaft  plündert  die  Arbeitskraft  ihrer  Be- 
diensteten seit  Jahren  straflos.  Nun  rufen  wir  einmal  nach 
Polizei,  al)er  nicht  wie  die  anderen:  Polizei  gegen  die  armoi 
Ausgebeuteten,  sondern  Polizei  gegen  die  reichen 
Ausbeuter!  Kann  Polizei  und  Militär  den  gerechten 
Zorn  des  ganzen  Volkes  von  Wien  niederwerfen,  so  werden 
sie  doch  den  Geiz,  die  Habsucht  und  den  Übermut  von  ein 
paar  Aktionären  und  Direktoren  beugen  können  I  Oder  ist  sie 
nur  zu   ersterem  Geschäft  bestimmt^ 

*  * 

Wie  der  Tramwaystreik  auch  ausgehen  möge,  eine 
segensreiche  Folge  wird  er  haben.  Die  500  Kutscher  treten 
anders  aus  dem  Streik,  als  sie  in  ihn  eingetreten.  Früher  naiv 
und  gläubig  vertrauend,  werden  sie  dann  Wissende  geworden 
sein.  Sie  werden  sich  klar  geworden  sein  über  das  Verhältnis 
der  staatlichen  Organe,  Polizei,  Militär  und  Behörden  zu  den 
besitzenden  Klassen  und  über  ihre  eigene  Zusammengehörig- 
keit mit  der  großen  Masse  der  Unterdrückten  und  Leidenden. 

Die  Einstellung  der  „Gleichheit"  und  Adlers 
Selbstanzeige. 

Die  Wiener  Polizoiilirektion  benutzte  die  Arbeiterunruhon  in  .Steyr,  um 
auf  Grund  der  Ausnahmeverordnung  das  weitere  Erscheinen  der  „Gleichheit" 
einzustellen.  Während  die  Herausgabe  der  „Arbeiter-Zeitung"  vor- 
bereitet wurde,  teilte  Adler  in  der  „Sozialdemokratischen  Monatsschrift'' 
mit  der  gebotenen  Vorsicht  im  -S  p  r  e  c  h  s  a  a  T  mit: 


38  Die  Einstellung  der  „Gleichhert"  und  Adlers  Selbstanzeige 

Geehrte    Redaktion!     Werter    Genosse! 

Mitten  im  Kampfe  wurde  uns  die  Waffe  aus  der  Hand 
geschlagen.  Wir  müssen  also  die  Gastfreundschaft  des  Waffen- 
bruders in  Anspruch  nehmen  und  ersuchen  um  Aufnahme 
folgender  Zeilen: 

An  der  Verfügung  der  Polizeidirektion,  welche  die  Ein- 
stellung der  „Gleichheit"  ausspricht,  wollen  wir  keine  Kritik 
üben  —  aus  naheliegenden  Gründen.  Wir  konstatieren  nur,  daß 
es  für  die  Einstellung  eines  Blattes  auf  administrativem 
Wege,  ohne  richterliches  Urteil,  nur  eine  e  i  n- 
z  i  g  e  Analogie  gibt :  die  administrative  Verschickung  nach 
Sibirien,  wie  sie  in  Rußland  geübt  wird. 

Die  Polizeimaßregel  führt,  wie  ihre  wörtliche  Wieder- 
gabe weiter  unten  zeigt,  keinen  Grund  an,  sondern  beruft 
sich  auf  einen  Gesetzes-  respektive  Verordnungsparagraphen. 
Auch  das  ist  uns  nicht  neu.  Jedoch  ergibt  der  Zusammenhang 
der  Geschehnisse  und  wurde  uns  mündlich  vom  Polizei- 
präsidenten ausdrücklich  mitgeteilt,  daß  die  „Gleichheit"  als  Ur- 
heber der  Exzesse  inSteyr  angesehen  wird,  und  daß  dies 
der  entscheidende  Grund  der  Einstellung  des  Blattes  sei. 

In  der  Tat  hat  eine  Anzahl  Wiener  Tagesblätter,  zuerst 
das  „N  e  u  e  Wiener  T  a  g  b  1  a  1 1"  und  die  ,,Ö  s  t  e  r- 
r  e  i  c  h  i  s  c  h  e  V  o  1  k  s  z  e  i  t  u  n  g",  die  sozialdemokratische 
Arbeiterpartei  und  insbesondere  die  „Gleichheit"  in  dieser 
Richtung  denunziert.  Noch  bestimmter,  noch  infamer  haben 
das  „Deutsche  Volksblatt"  und  das  „V  a  t  e  r  1  a  n  d" 
gelogen;  das  „Vaterland"  spricht  ausdrücklich  von  den  „vom 
Juden  Dr.  Adler  mittels  seiner  »G  1  e  i  c  h  h  e  i  t« 
angezettelten  Exzesse  n".  Das  „D  e  u  t  s  c  h  e 
Volksblatt"  stellt  die  Exzesse  als  lange  vorbereitet,  als 
„anarchistischen  Ursprung  s",  die  „K  e  r  1  e"  (das 
sind  nämlich  die  Arbeiter)  als  „abgerichtet"  dar.  Neben- 
bei wird  Dr.  Adler  als  Verbreiter  falscher  Gerüchte  und  zur- 
zeit in  Steju-  anwesend  genannt. 

Das  sind  die  Denunziationen,  welche  den  erwünschten 
Vorwand  gegeben  haben,  der  „Gleichheit"  das  von  den  edlen 
Seelen  längst  ersehnte  Ende  zu  bereiten.  Die  Feigheit, 
Verlogenheit  und  I  n  f  a  m  i  e  dieser  Denunziationen  zu 
beleuchten  ist  überflüssig.  Das  „Deutsche  Volksblatt"  (das 
deutsche  Volk   muß  es    sich    eben    ruhig    gefallen    lassen,  daß 


Die  Einstellung  der  „Gleichheit"  und  Adlers  öelhstanzeige  89 

dieses  Blatt  seinen  Namen  mißbraucht)  hat  zur  Zeit  der 
Tramwayexzesse  ähnliches  versucht.  Die  schallenden  Ohrfeigen, 
die  ihm  unsere  Antwort  damals  versetzte,  haben  es  zum 
Schweigen  gebracht.  Nun  der  zweite  Versuch,  und  seit  der 
Gegner  mundtot,  die  „Gleichheit"  eingestellt  ist,  hört  das  feige 
Gekläffe  nicht  mehr  auf. 

An  dem  Gesindel  liegt  uns  gar  nichts.  Wohl  aber  sind  wir 
verpflichtet,  die  sozialdemokratische  Partei  und  ihr  bisheriges 
Organ,  die  „Gleichheit",  von  dem  Vorwurf  zu  reinigen,  sie 
hätten  mitgewirkt  bei  Dingen,  welche  das  Parteiintereese  nur 
ernstlich  gefährden  können.  Ein  gerichtliches  Verfahren  über 
die  Einstellung  der  „Gleichheit",  welches  Klarheit  schaffen 
würde,  gibt  es  nicht,  wir  mußten  also  Ersatz  schaffen.  Zu  dem 
Ende  hat  unser  Vertreter  Herr  Hof-  und  Gerichtsadvokat 
Dr.  Wolf-Eppinger  in  unsererm  Namen  folgende  Ein- 
gabe an  die  k.  k.  Staatsanwaltschaft  in  Wien 
gerichtet : 

In  einigen  Wiener  Tagesblättern  wurde  die  Behauptung  aufgestellt, 
daß  die  „Gleichheit",  respektive  deren  Herausgeber  mit  den  Unruhen  in 
Sleyr  in  Verbindung  stehen,  respektive  daß  dieselben  von  dieser  Seite 
aus  „angezettelt"  worden  seien.  Da  uns  mit  einer  einfachen  Berichtigung 
solcher  denunziatorischer  und  vollständig  unwahrer  Behauptungen  nicht 
gedient  sein  kann,  wir  vielmehr  ein  berechtigtes  Interesse  daran  haben, 
unzweifelhaft  klarzustellen,  daß  diese  Behauptungen  erlogen  seien,  er- 
lauben wir  uns  hiemit  die  Aufmerksamkeit  der  k.  k.  Staatsanwaltschaft 
auf  diese  Nachrichten  zu  lenken  und  daran  die  Bitte  zu  knüpfen,  die  etwa 
gegen  uns  vorliegmidcn  Vordachtsgründe  zu  erforschen  und  zum  Anlaß 
einer  stiafgeiichtlichen  Untersuchung  gegen  uns  zu  nehmen,  deren 
Resultat  nur  die  Klarstellung  der  Wahrheit,  das  ist  des  Umstandes,  daß 
die  „Gleichheit"  und  wir  auf  Entstehen  und  Verlauf  dieser  Unruhen  nicht 
den  geringsten  Einfluß   genommen  haben,  sein   kann. 

Durch  unseren  bereits  ausgewiesenen  Vertreter  stellen  wir  sohin 
die  ergebene   Bitte: 

Die  hochlöbliche  k.  k.  Staatsanwaltschaft  wolle  über  diese  Ein- 
gabe das  Geeignete  verfügen. 

Dr.  Victor  Adler. 
L.  A.  B  r  e  t  s  c  h  n  e  i  d  e  r. 

Wir  hoffen,  daß  die  Staatsanwaltschaft,  welche  viel 
leichter  wiegende  Denunziationen  oft  zum  Anlaß  mehrmona- 
tiger Untersuchung  und  Untersuchungshaft  nimmt,  es  auch 
hier   an    der   erforderlichen   Energie   nicht  wird  fehlen    lassen. 

Entweder  die  Behörde  glaubt  die  Beschuldigungen  gegen 
uns  —  warum  verhaftet  sie  uns  nicht?   Die  „Kollusionsgefahr" 


40  Die  Einstellung  der  „Gleichheit"  und  Adlers  Selbstanzeige 

ist  dringend.  Oder  die  Behörde  weiß,  daß  alles  erlogen  ist  — ■ 
warum  wird  dann  die   „Gleichheit"   eingestellt?? 

Inzwischen  bitten  wir,  über  die  Vorgänge  in  Steyr  einige 
Daten  zur  Kenntnis  zu  nehmen : 

In  Nummer  24  der  „Gleichheit"  war  unter  der  Rubrik 
„Gewerbeinspektor"  eine  Übertretung  des  Gewerbegesetzes 
von  Seiten  des  Fabrikanten  T  e  u  f  e  I  m  a  5^  e  r  in  Steyr  be- 
richtet worden;  ein  Bericht,  wie  deren  unser  Blatt  in  seinen 
130  erschienenen  Nummern  mindestens  1000  gebracht  hat.  Auf 
diese  Weise  zur  strengeren  Durchführung  der  Arbeiterschutz- 
gesetze beizutragen,  war  unsere  Pflicht  und  hatte  Erfolg.  Die 
Notiz  forderte  die  Arbeiter  nicht  zu  irgendwelcher  Feindselig- 
keit auf;  das  einzige,  wozu  sie  aufforderte,  war  das  E  i  n- 
schreitendes  k.  k.  Gewerbeinspektors.  Das  ist 
das  Um  und  Auf  unseres  Zusammenhanges  mit  den  Exzessen. 
Wir  erfuhren  davon  erst  aus  den  Zeitungen.  Daß  Dr.  Adler 
nicht  in  Steyr,  sondern  in  Wien  war,  erwähnen  wir  aus- 
drücklich. Das  Blatt  langte  Samstag  in  Steyr  ein;  Mon- 
tag begannen  die  Unruhen  mit  einer  Katzenmusik.  Der 
Bürgermeister  hatte  sein  Wort  gegeben,  niemand  zu  verhaften. 
Dienstag  wurden  Arbeiter  verhaftet;  daher  die  Exzesse.  Die 
nicht  mehr  erschienene  Nummer  25  der  „Gleichheit"  sollte 
darüber  folgende  schon  gesetzte  Bemerkungen  enthalten : 

., —  In  unserer  letzten  Nummer  veröffentlichten  wir 
unter  der  Bubrik  »Gewerbeinspektor«  eine  Korrespondenz  aus 
Steyr,  welche  die  ganz  ungewöhnlichen  Zustände  in  einer 
»Eackerbude«  daselbst  schildert.  In  der  Schraubenfabrik 
Teufelmayer  wird  täglich  von  4  Uhr  früh  bis  10  Uhr 
abends  gearbeitet  und  selbst  an  Sonntagen  bis  Mittag  ge- 
robotet. Daß  unser  Gewährsmann  die  Wahrheit  sagte,  und  daß 
diese  Zustände  öffentliches  Ärgernis  erregten,  geht  daraus  her- 
vor, daß  seither  die  Arbeiter  dem  Herrn  Teufel  mayer  eine 
solenne  Katzenmusik  brachten.  Leider  kam  es  zu  Verhaf- 
tungen; freilich  wurde  nicht  der  Verächter  des  Gesetzes,  der 
Übertreter  der  Gewerbeordnung,  Herr  Teufelmayer,  verhaftet, 
sondern  einige  der  demonstrierenden  Arbeiter.  Die  Bourgeois- 
blätter berichten  von  darauffolgenden  Tumulten.  Da  wir  diesen 
Blättern  aus  guten  Gründen  kein  Wort  glauben  und  uns  bis 
jetzt  ein  direkter  Bericht  nicht  zugekommen  ist,  so  enthalten 
wir  uns  vorläufig  jeden  Urteils. 


Die  Einstellung  der  „Gleichheit"  und  Adlers  Selbstanzeige  41 

Jedenfalls  wären  derlei  Vorfälle  mit  großer  Sicherheit  zu 
vermeiden,  wenn  die  Behörden  ihre  Pflicht  tun  und  dem  Ge- 
werbegesetz mit  derselben  Energie  Achtung  verschaffen  wür- 
den, welche  sie  zur  Aufrechterhaltung  der  öffentlichen  Ruhe 
und  Ordnung  zur  Verfügung  haben.  Man  sollte  glauben,  daß 
die  gesetzwidrige  Ausbeutung  von  Arbeitern  ein  Vergehen  ist, 
welches  der  öffentlichen  Ordnung  mindestens  ebensoviel 
Schaden  zufügt  als  das  Einschlagen  von  Fensterscheiben  und 
eine  Katzenmusik. 

Nachtrag.  Die  Vorgänge  in  S  t  e  y  r  geben  den  Blättern 
der  Steyrermühl-Gesellschaft,  dem  „Neuen  Wiener  Tagblatt" 
und  der  „Österreichischen  Volkszeitung",  die  gerne  von  der 
,,A  r  b  e  i  t  e  r  f  r  e  u  n  d  1  i  c  h  k  e  i  t"  leben  möchte.  (Telegenheit 
zu  niederträchtigen  Denunziationen.  Es  ist  erlogen,  daß  zu 
Pfingsten  20  bis  30  junge  Leute  aus  Steyr  in  Wien  waren  und 
„von  dortigen  sozialistischen  Kreisen  die  Anregung  zu  etwas 
temperamentvollerem  Auftreten  mitgebracht"  haben.  Es  ist 
ganz  bestimmt  ebenso  erlogen,  daß  im  Schöße  des  S  t  e  y  r  e  r 
Arbeiter-Lese-  und  Gesangvereines  die  „Exzesse 
beraten  und  beschlossen"  wurden.  Ohne  dort  anzufragen, 
können  wir  das  mit  voller  Sicherheit  behaupten. 
Wahr  ist  nur,  daß  dieser  Verein  den  Steyrer  Spießern  schon 
lange  ein  Dorn  im  Auge  ist  und  daß  sie  ihm  jetzt  zu  Leibe 
wollen.  Die  Arbeiter  werden  doch  ihren  Verein  nicht  selbst 
mutwillig  gefährdet  haben. 

Wir  hoffen,  daß  die  Nachricht,  die  G  e  w  e  r  b  e- 
b  e  h  ö  r  d  e  habe  dem  Fabrikanten  T  e  u  f  e  1  m  a  y  e  r  gegen- 
über endlich  ihre  Pflicht  getan,  nicht  ebenso  unwahr  ist  wie 
die  übrigen  Angaben  der  Steyrermühl-Organe.  Wäre  dem 
Gesetze  von  vornherein  Respekt  verschafft  worden,  eo  würde 
es  gewiß  zu  Exzessen  nicht  gekommen  sein." 

Dem  fügen  wir  bei,  was  wir  seither  erfahren  haben. 
Unsere  Parteigenossen  in  Steyr  haben  sich  an  den  Exzessen  i  n 
keiner  Weise  und  nicht  ein  einziger  von  ihnen 
beteiligt.  Obwohl  man  sie  genau  kennt,  ist  nicht  ein  einziger 
von  ihnen  verhaftet  worden,  ebensowenig  irgendein  Aueschuß- 
mitglied der  beiden  Arbeitervereine.  Während  der  Exzesse  am 
Dienstag  abends  hielt  der  Ausschuß  des  Arbeiter-Lese-  und 
Gesangvereines  ahnungslos   und  ruhig  seine  gewohnte  Sitzung 


42  Die  Einstellung  der  „Gleichheit"  und  Adlers  Selbstanzeige 

ab.  Wir  erwähnen,  daß   Genosse  Friemel  zu  derselben  Zeit  zu 
Hause  war  und  schlief;  das  ist  konstatiert. 

All  das  hinderte  natürlich  nicht,  daß  die  Vereine  sistiert 
und  etwa  20  bekanntere  Genossen  von  der  Waffenfabrik  ent- 
lassen und  von  Steyr  entfernt,  nicht  ausgewiesen,  wurden.  Man 
mußte  eben  irgend  etwas  tun;  und  bequemer  lebt  sich's  ja 
unstreitig  ohne  iSozialdemokraten. 

Wir  erhielten  folgende  Korespondenzkarte  mit  dem  Post- 
etempel  St.  Valentin,  21.  Juni:  „4.  Station.  Werte  Genossen! 
Wir  sind  »gegangen  worden«.  Warum?  werdet  ihr  bereits 
wissen.  Daß  wir  mit  diesem  Unsinn  nichts  gemein  haben,  ist 
selbstverständlich.  Näheres  folgt.  Mit  Gruß:  Friemel,  Pölz, 
Kutil,  NB.  Viele  folgen,  noch.  Wir  die  ersten." 

Und  „U  n  s  i  n  n"  in  der  Tat  wäre  es  gewesen,  würden  die 
Steyrer  Genossen  ihre  Vereine,  ihre  Organisation,  ihre  Arbeits- 
gelegenheit aufs  Si^iel  gesetzt  haben  ohne  jede  Aussicht  auf 
irgendeinen  Gewinn  für  unsere  Sache,  ja  mit  der  Gewißheit,  ihr 
zu  schaden.  Daß  sie  davongejagt  wurden,  beweist  nicht,  daß  sie 
schuldig  sind.  Den  eigentlichen  Täter,  den  dumpfen  Groll  der 
unaufgeklärten  Volksmasse  über  die  Zustände,  kann  man 
nicht,  die  Zustände  will  man  nicht  abschaffen,  so  schafft  man 
einstweilen  die  Sozialisten  ab. 

Das  ist  die  Wahrheit  über  die  Sache.  Die  Bourgeoispresse 
hat  gehandelt,  wie  zu  erwarten  war,  gemein  und  perfid  gegen 
die  Sache  des  Volkes,  feig  gegen  einen  gefallenen  Vertreter 
derselben.  Die  „N  eue  Freie  Press  e",  die  Gerechtigkeit 
zwingt  uns  das  zu  sagen,  hat  eine  Ausnahme  gemacht.  In  einem 
bei  ihr  ganz  ungewohnten  Anfall  von  Ehrgefühl  brachte  sie 
einen  für  ihren  politischen  Standpunkt  recht  vernünftigen 
Artikel  über  die  Einstellung  der  „Gleichheit".  Daher  be- 
schuldigen uns  die  „Vereinigten  Christen"  einer  geheimen  Be- 
ziehung zu  diesem  Blatte. 

Und  nun  mögen  die  Hunde  weiter  heulen!  Sie  werden 
sich  des  gelungenen  Streiches  nicht  lange  zu  freuen  haben. 

Wir  aber,  im  Namen  aller  der  Genossen,  die  mit  uns  ge- 
arbeitet, die  mit  uns  die  „Gleichheit"  zu  einer  guten  Waffe  für 
die  Sache  des  arbeitenden  Volkes  geschmiedet  haben,  wir  er- 
klären :  Wir  bleiben  die  alten.  Und  allen  den  Feinden 
der  Sozialdemokratie  rufen  wir  zu: 


Die  Einstellung  der  „Gleichheit"  und  Adlers  Selbstanzeige  43 

„Ihr  hemmt  uns,  doch  ihr  zwingt  uns  nicht! 
Unser  die  Welt  trotz  alledeml'' 

Dr.  V.   Adler. 
L.  A.  B  r  e  t  s  c  h  n  0  i  d  e  r. 

An    die   Leser  und  Abonnenten 
der  polizeilich  eingestellten  sozialdemokratischen  Wochenschrift 

„Gleichheit". 

Am  21.  Juni  1.  J.  wurde  uns  folgendes  Dekret  zugestellt: 

..Auf  Grund  des  Punktes  5  der  Verordnung  des  hohen  Gesamt- 
ministeriums vom  30.  Jänner  1884,  R.-G.-Bl.  Xr.  15,  wird  in  Gemäßheit 
des  §  7,  lit.  a  des  Gesetzes  vom  5.  Mai  1869,  R.-G.-BI.  Nr.  66,  das  Er- 
scheinen des  von  Ihnen  herausgegebenen  sozialdemokratischen  Wochen- 
blattes „Gleichheit"  aus  Rücksichten  für  die  öffentliche 
Sicherheit  und  Ordnung  von  hierorts  mit  dem 
heutigen  Tag  eingestellt. 

Hievon  werden  Euer  Wohlgeboren  unter  Hinweis  auf  die  im  §  9 
des  angewendeten  Gesetzes  im  Falle  der  Nichtbeachtung  normierten 
Folgen  in  Kenntnis  gesetzt. 

Wien,    21.   Juni    1889.  Krauß." 

Wir  haben  gegen  diese  polizeiliche  Verfügung  selljst- 
verständlich  den  Rekurs  an  die  k.  k.  n.-ö.  Statthalterei  ergriffen 
und  ersuchen  unsere  Leeer,  den  Erfolg  abzuwarten. 

Da  der  Rekurs  gegen  derartige  Polizeimaßregeln  jedoch 
keine  aufschiebende  Wirkung  hat,  hört  das  sozialdemokratische 
Wochenblatt  „Gleichheit"  vorläufig  auf  zu  erscheinen.  Die 
unterzeichneten  sind  also  gegenwärtig  nicht  in  der  Lage,  ihren 
Verpflichtungen    gegenüber    den    Abonnenten    nachzukommen. 

Um  ihnen  jedoch  inzwischen  einen  teilweisen  Ersatz  /-:u 
bieten,  haben  wir  mit  der  in  Wien  erscheinenden  Sozial- 
demokratischen Monatsschrift  ein  geechäftliches  Über- 
einkommen getroffen,  wonach  denjenigen  der  Abonnenten  der 
„Gleichheit",  deren  Abonnement  noch  läuft,  für  so  lange  die 
„Sozialdemokratische  Monatsschrift"  zugesendet  werden  wird, 
als  der  für  die  „Gleichheit"  erlegte  Betrag  reicht. 

Abonnenten,  welche  diesen  Ersatz  nicht  wünschen,  können 
die  entsprechenden  Beträge  bei  uns  erheben,  sobald  die  dies- 
bezüglichen Feststellungen  gemacht  sind.  Dies  wird  spätestens 
am  1.  Juli  1889  der  Fall  sein. 

Zugleich  aber  ersuchen  wir  dringend  diejenigen  Leser  der 
„Gleichheit",   welche    mit    dem   Abonnement   im   Rück- 


44  Adler  vor  dem  Holzinger-Senat 

stand  sind,  die  restierenden  Beträge  baldmöglichst  an  uns 
gelangen  zu  lassen.  Wir  sind  überzeugt,  daß  unsere  Leser  es  als 
ihre  E  h  r  e  n  p  f  1  i  c  li  t  ansehen  werden,  den  Schlag,  der  unser 
unternehmen  gefällt  hat,  nicht  noch  schwerer  zu  machen. 

Im  übrigen  werden  die  Unterzeichneten  auch  fernerhin 
trachten,  sich  der  sozialdemokratischen  Partei,  der  Sache  des 
Volkes  nach  Kräften  nützlich  zu  machen. 

Mit  sozialdemokratis<^hem  Gruß 
Dr.  V.  Adler.         L.  A.  Bretschneider. 


Adler  vor  dem  Holzinger-Senat. 

Am  27.  Juni  1889  standen  Adler  und  Bretschneider  vor  dem 
Ausnahmegerichtshof.  Vorsitzender:  Landesgerichtsrat  Dr.  R.  v.  H  o  1  z  i  n  g  e  r. 
Der  stenographische  Bericht  über  die  Verhandlung  lautete*): 

Die  Anklageschlift. 

D.'e  k.  k.  Staatsanwaltschaft  in  Wien  erhebt  I.  gegen  Dr.  Victor 
Adler,  in  Wien  geboren,  nach  Prag  zuständig,  37  Jahre  alt,  protestantisch, 
verheiratet,  Herausgeber  der  periodischen  Druckschrift  „Gleichheit",  wegen 
§  23  P.-G.  mit  30  11.  Geldstrafe  bestraft;  II.  Ludwig  August  Bret- 
schneider, in  Wien  geboren,  dahin  zuständig,  28  Jahre  alt,  katholisch, 
ledig,  verantwortlicher  Redakteur  der  ..Gleichheit",  unbeanstandet. 

Die  Anklage: 

Dr.  Victor  Adler  und  Ludwig  August  B  r  e  t  s  c  h  n  e  i  d'  (>  r 
haben  im  April  1889,  hier  in   Wien 

Ersteier  dadurch,  daß  er  folgende,  in  der  Nr.  17  der  in  Wien 
periodisch  erscheinenden  Druckschrift:  „Gleichheit",  Sozialdemo- 
kratisches Wochenblatt,  vom  26.  April  1889  enthaltenen  Artikel, 
und  zwar:  a)  den  auf  der  1.  und  2.  Seile  unter  der  Rubrik  „Glossen"  ent- 
haltenen Auffatz,  beginnend  mit  den  Worten:  ,,Die  Volksbewegungen,  die" 
bis  „erheuchelt  oder  blödsinnig";  b)  den  auf  der  2.  und  3.  Seite  enthaltenen 
Artikel  mit  der  Aufschrift:  „Zum  Tr  am  w  ay  s  t  r  e  ik";  c)  den  auf  der 
2.  Seite  unter  der  Rubrik:  ,, Glossen"  enthaltenen  Autsatz,  beginnend  mit 
den  Worten:  ,,Die  Tapferkeit  der  Dragoner"  bis  ,, einst  gestochen  werden" 
verfaßte  und  zum,  Druck  beförderte; 

Letzterer  dadurch,  daß  er  die  genannten  Artikel  vor  der  Drucklegung 
in  seiner  Eigenschaft  als  verantwortlicher  Redakteur  las  und  zum  Drucke 
beförderte,    in    verbreiteten    Druckschriften    durch    den    ad    a    bezeichneten 


)  Sogleich  nach  dem  Prozeß  als  Broschüre  ersichienen:  Die  „Gleich- 
heit" vor  dem  Ausnahmegericht.  Stenographischer  Bericht  über  die  Schluß- 
verhandlung gegen  Dr.  V.  Adler  und  L.  A.  Bretschneider  am  27.  Juni  1889. 
Wien  1889.  (Die  Broschüre  ist  vergriffen.) 


Adler  vor  dem  Holzinger-Senat  -iS 


Artikel  durch  die  Gesetze  verbotene  Handlungen,  nämlich  die  gewalttätigen 
Ausschreitungen  im  Wiener  X.  Gemeindebezirk  und  in  Hernais  zu  recht- 
fertigen versucht;  durch  den  ad  b  bezeichneten  Artikel,  und  zwar  in  den 
Stellen  von  „Als  wir  in  voriger  Woche"  bis  „behalten  ihren  Coupon"  und 
von:  „Die  rasend  schnell"  bis  „Unterdrückten  und  Leidenden",  teils  durch 
die  Gesetze  verttotene  Handlungen,  nämlich  die  oben,  gedachten  Aus- 
schreitungen zu  rechtfertigen  versucht,  teils  durch  Schmähungen  und  Ver- 
spottungen Anordnungen  der  Behörden  herabzu\\nirdigen  gesucht,  teils 
andere  zu  Fein-dseligkeiten  gegen  einzelne  Klassen  oder  Stände  dier  bürger- 
lichen Gesellschaft  aufgefordert,  angeeifert  oder  zu  verleiten  gesucht,  durch 
den  ad  c  bezeichneten  Aufsatz  die  kaiserliche  Armee,  respektive  selbständige 
Abteilungen  derselben  ohne  Anführung  bestimmter  Tatsachen  verächtlicher 
Eigenschaften  geziehen  und  dem  öffentlichen  Spotte  ausgesetzt;  dieselben 
haben  hiedurch  'die  Vergehen  gegen  die  öffentliche  Ruhe  und  Ordnung  nach 
§§  300,  302,  305  St.-G.  und  das  Vergehen  gegen  die  Sicherheit  der  Ehre  nach 
§§  491  bis  493  St.-G.  und  Art.  V,  StrafgesetznovelLe  vom  17.  Dezember  1862, 
Nr.  8  R.-G.-Bl.  ex  1863,  strafbar  nach  §§  267  und  305  St.-G.  höherer  Straf- 
satz begangen. 

Beantragt  wird:  J.  Anordnung  der  Hauptverhandlung  vor  dem  in 
Gemäßheit  der  Verordnoing  des  Gesamtministeriums  vom  1.  August  1888, 
Nr.  130  R.-G.-Bl.,  betreffend  die  Einstellung  der  Wirksamkeit  der  Ge- 
schwornengerichte  in  Strafsachen,  welchen  anarchistische  Bestrebungen  zu- 
grunde liegen,  zu  bestellenden  Ausnahmegerichtshof  des  k.  k- 
Landesgerichtes  Wien;  2.  Vorladung  der  beiden  Beschuldigten; 
3.  Verlesung  der  inkriminierten  Stellen  aus  sub  a.ad  1  erliegenden  Xr.  17 
der  „Gleichheit'",  der  J.-Nr.  1,  der  J.-Xr.  2,  der  J.-Nr.  9,  der  bezeichneten 
Stellen  aus  Xr.  18  der  „Gleichheit'',  der  Leumundsnotcn  und  Auskunfts- 
•tabellen. 

Giünde: 

Aus  dem  Wortlaut  der  zur  Verlesung  beantragten  inkriminierten 
•Stellen  der  Xr.  17  des  sozialdemokratischen  Wochenblattes  „Gleichheit"'  vom 
26.  April  1889  ist  zu  entnehmen,  daß  dieselben  objektiv  geeignet  erscheinen, 
den  Tatbestand  d'er  im  Tenor  der  Anklage  bezeichneten  Vergehen  zu  be- 
gründen. 

Das  k.  k.  Landesgericht  Wien  als  Preßgericht  hat  dies  auch  in  dem 
Beschlagnahme-Erkenntnis  vom  27.  April  1889,  Z.  18.231,  bereits  anerkannt, 
und  möge  hier  nur  hervorgehoben  werden,  daß  damals  der  auf  der  zweiten 
Seite  enthaltene  Artikel,  beginnend  mit  den  Worten:  „Die  Tapferkeit  der 
Dragoner  und  Husaren",  nach  §  300  St.-G.  qualifiziert  wurde,  indem  ange- 
nommen wurde,  daß  dieser  Auffsatz  durch  Schmähungen  und  Verspottungen 
Anordnungen  der  Behörden,  nämlich  die  von  derselben  veranlaßte  Inter- 
vention der  Militärmacht  zur  Unterdrückung  der  Tramwaystreikexzesse 
herabzuwürdigen  suche. 

Xachdem  jedoch  in  dem  bezeichneten  Artikel  zweifellos  auch  die  k.  k. 
Armee,  respektive  selbständige  Abteilungen  derselben,  welche  behufs  Bei- 
legung der  Unruhen  zu  intervenieren  hatten,  dem  öffentlichen  Spotte  aus- 
-gesetzt  werden,  so  hat  die  Anklagebehörde  sich  anläßlich  der  subjektiven 
Strafverfolgung    an    das    hohe  k.  k.  Reichskriegsministerium    um    die    nach 


46  Adler  vor  dem  Holzinger-Senat 

Art.  V,  Strafgesetznovelle  vom  17.  Dezember  1862,  Nr.  8  R.-G.-Bl.  ex  1863, 
notwendige  Verfolgunigszustimmung  gewendet,  welche  sub  J.-Nr.  9  erliegt 
und  Z'ur  Vorlesung  beantragt  ist.  Dies  deshalb,  weil  die  Anklage  der  Meinung 
ist,  daß  auch  diese  höhnenden  Angriffe  gegen  die  k.  k.  Armee,  welche  nach 
§§  491  bis  494  St.-G.  und  Art.  V  der  Strafgesetznovelle  als  ein  von  Amts 
wegen  zu  verfolgendes  Vergehen  gegen  die  Sicherheit  der  Ehre  anzusehen  sind, 
durch  die  Strafverifoljgung  ihre  Sühne  finden  sollen. 

Nach  §§  10  und  239  St.-G.  beginnt  die  Strafbarkeit  der  Handlung  bei 
Delikten,  die  durch  Druckschriften  begangen  werden,  für  den  Verfasser  und 
Redakteur  mit  der  Ubergiabe  des  zu  vervielfältigenden  Werkes  zur  Druck- 
legung und  erscheinen  die  zum  Gegenstand  der  Anklage  gemachten  Delikte 
vollbracht,  da  nach  dem  sub  J.-Nr.  1  erliegenden,  zur  Verlesung  beantragten 
Berichte  ider  Prießpolizeibehörde  auch  die  Verbreitung  der  Drudkschrift  statt- 
gefunden hat,  da  es  nur  gelang,  einen  geringen  Teil  der  zurzeit  der  Beschlag- 
nahme gedruckten   1600  Exemplare  zustande  zu  bringen. 

Während  nun  der  Erstangeklagte  Dr.  Victor  Adler  eingesteht,  die 
sämtlichen  inkriminierten  Artikel  verfaßt  und  zum  Druck  befördert  zu  haben 
und  die  volle  Verantwortung  für  den  Inhalt  desselben  zu  übernehmen,  leugnet 
der  zweite  Angeklagte,  welcher  der  verantwortliche  Redakteur  des  Blattes  ist, 
die  Artikel  vor  der  Drucklegung  gelesen  und  zum  Druck  befördert  zu  haben. 

Er  wird  in  dieser  seiner  Verantwortung  durch  die  Angaben  des  Erst- 
angetlagten  unterstützt. 

Nichtsdestoweniger  muß  die  Anklage  sich  gegenwärtig  auf  den  Stand- 
punkt stellen,  daß  der  zweite  Angeklagte  die  strafrechtliche  Verantwortung 
für  die  Artikel  in  dem  Maße  zu  tragen  habe,  welches  die  Anklage  derzeit 
für  ihn  bemißt,  da  er  als  Redakteur  des  Blattes  bestellt  ist,  als  solcher  pflicht- 
gemäß alle  Artikel  vor  der  Drucklegung  zu  lesen  hat,  da  derselbe  seit  Grün- 
dung des  Blattes  die  verantwortliche  Redaktion  desselben  besorgt,  also  mit 
den  gesetzlichen  Verpflichtungen  der  Funktionäre  eines  Zeitungsunter- 
nehmens vollkommen  vertraut  ist,  da  er  sein  eigentliches  Metier,  das  Bild- 
hauergewerbe, aufgegeben  und  sich  lediglich  der  redaiktionellen  Tätigkeit  bei 
dem  wöchentlich  zweimal  erscheinenden  Blatte  gewidmet  hat,  also  keines- 
wegs bloß  als  Strohmann  oder  Scheinredaktcur  fungiert,  da  also  anzunehmen 
ist,  daß  er  auch  diese  Artikel  vor  der  Drucklegung  geradeso  gelesen  und  auf 
ihre  Drucklegung  Einfluß  genommen  habe,  wie  alle  anderen. 

Die  k.  k.  Staatsanwaltschaft  muß  daher  in  dem  übereinstimmenden 
Bestreben  der  beiden  Angeklagten,  die  Verantwortung  nur  auf  die  Schultern 
des  Erstangeklagten  zu  laden,  der  als  Verfasser  ohnehin  verantwortlich  ist, 
nur  den  Versuch  erblicken,  den  Zweitangeklagten,  der  einem  strengeren 
Gesetz  verfallenden  strafrechtlichen  Verantwortung  zu  entziehen,  und  muß 
es  der  Hauptverhandlung  überlassen,  inwieweit  die  Handlungsweise  Bret- 
schneiders  nur  als  Übertretung  im  Sinne  des  Art.  HI  des  Gesetzes  vom 
15.  Oktober  1F68,  Nr.  142  R.-G.-BL,  anzusehen  sei. 

Den  Antrag  auf  Anordnung  der  Hauptverhandlung  vor  dem  Ausnahme- 
gerichlshof  begründet  aber  die  Anklagebehörde  damit,  daß  aus  der 
notorischen  Haltung  des  Blattes,  insbesondere  aber  aus  dem 
Wortlaut  der  inkriminierten  Stellen  selbst  und  den  aus  der  Nr.  18  zur 
Verlesung    beantragten    nicht    beanständeten    Stellen    hervorgehe,    daß    den 


Adler  vor  dem  Holzinger-Senat  47 

Artikeln  anaichistische,  auf  den  gewaltsamen  Umsturz  der  be- 
stehenden Staats-  und  Gesellschaftsordnung  gerichtete 
Bestrebungen  zugrunde  liegen. 

Diese  Bestrebungen  erhellen  insbesondere  aus  dem  vSchlußsatz  des 
zweiten  Artikels  auf  Seite  2,  beginnend  mit  den  Worten:  „Die  Tapferkeit  der 
Dragoner",  in  welchem  ein  nicht  mißzuverstehender  Appell  an  die  Soldaten 
enthalten  und  die  —  Hoffnung  ausgesprochen  ist,  daß  auch  diese  in 
einstiger  Erkenntnis  ihrer  Lage  dem  Staate  die  Hilfe  versagen  und  so  den 
gewünschten  gewaltsamen  Umsturz  der  bestehenden  staatlichen  und  gesell- 
schaftlichen Ordnung  ermöglichen  werden. 

Sie  erhellen  aus  den  notorischen,  oftmals  znm  Gegenstand  objektiver 
Behandlung  gemachten  Angriffen  des  Blattes  gegen  Polizei 
und  Behörden,  den  Aufreizungen  d'esselben  gegen  die  bürgerlichen 
Elemente  des  Staates,  aus  der  agitatorischen  Haltung,  welche  das 
genannte  Blatt  in  der  sozialdemokratischen  Bewegung  seit  Jahren  einzu- 
nehmen bestrebt  ist. 

Die  Anklage  ist  demnach  begründet. 

Wien,  am  7.  Mai  1889. 

Der  k.  k.  Oberlandesgerichtsrat  und  I.  Staatsanwalt 

Sogs. 

Die  Schlußverhandlung  am  27.  Juni  1889. 

A'orsitzender:  Präsident  Dr.  R.  v.  H  o  1  z  i  n  g  e  r.  Votanten: 
Landesgerichtsrat  Lorenz,  Landes'gerichtsrat  S  c  h  m  i  e  d  1,  Adjunkt  Frei- 
herr V.  D  i  e  1 1  e  r.  Staatsanwalt:  Oberlandesgerichtsrat  S  o  o  s.  Ver- 
teidiger:  Dr.   Wolf-Eppinger. 

Präsident:  Die  Sitzung  ist  eröffnet.  Gegenstand  der  Verhandlung 
ist  die  .\nklage  gegen  die  Herren  Dr.  Victor  Adler  und  Ludwig  Brei- 
schneider wegen  Vergehen  nach  den  §§  300,  302,  305,  491  bis  493  und 
Art.  V  der  Strafgesetznovelle  vom  17.  Dezember  1862.  (Nach  Abnahme  des 
Nationales  zu  Dr.  Victor  Adler:)  Sie  sind  wegen  der  Übertretung  des 
§  23  des  Preßgesetzes  mit  30  fl.  bestraft? 

Dr.  Adler:  Ja,  außerdem  mit  50  fl.  Polizeistrafe  wegen 
Übertretung  der  Verordnung  vom  Jahre  1854. 

Präsident  (nach  Abnahme  der  Generalien  Bretschneiders) :  Ich 
erinnere  die  beiden  Angeklagten,  auf  den  Gang  der  Verhandlung  achten  zu 
wollen.  Zeugen  sind'  nicht  vorgeladen.  Ich  bitte  die  Verles'ung  der  Anklage- 
schrift. (Nach  Verlesung  derselben  seitens  des  Schriftführers:)  Ich  werde 
im  Zusammenhang  mit  der  Anklageschrift,  nachdem  sie  ein  Bestandteil 
derselben  sind,  sofort  die  inkriminierten  Stellen  zur  Verlesung  bringen. 
(Nach  Verlesung  derselben:)  Bekennen  Sie  sich  schuldig,  Herr  Dr.  Adler? 

Staatsanwalt  Soos:  Ich  bitte  vielleicht  noch  vorher  die  Zustimmung 
des  Reichskriegsministeriums  zur  strafgerichtlichen  Verfolgung  bekanntzu- 
geben, da  dies  eine  gesetzliche  Prämisse  ist. 

Verteidiger:  Ich  begnüge  mich  mit  der  bloßen  Konstatierung. 


48  Adler  vor  dem  Holzinger-Senat 

Präsident:  Sie  haben  das  Recht,  der  Anklage  eine  zusammen- 
hängende Darstellung  gegenüberzusetzen. 

Angeklagter  Dr.   Victor   Adler: 

Ich  werde  hievon  Gebrauch  machen.  Wir  stehen  hier  vor 
dem  Ausnahmegericht  für  anarchistische,  auf  gewaltsamen  Um- 
sturz der  bestehenden  Staats-  und  Gesellschaftsordnung  ge- 
richtete Bestrebungen.  Der  Herr  Staatsanwalt  hat  den  Antrag, 
uns  vor  dieses  Ausnahmegericht  zu  bringen,  mehrfacli  be- 
gründet. Diese  Begründung  ist  selbstverständlich  der  Leitfaden 
meiner  Darstellung.  Der  Herr  Staatsanwalt  hat  das  begründet 
mit  der  „notorischen  Haltung  des  Blatte  s",  aus 
welcher  angeblich  dieser  anarchistische,  auf  den  gewaltsamen 
Umsturz  gerichtete  Zusammenhang  hervorgeht,  er  hat  es  weiter 
begründet  mit  dem  Inhalt  der  inkriminierten 
Stellen,  respektive  mit  einer  dieser  inkriminierten  Stellen,  er 
hat  es  dann  begründet  mit  den  Angriffen  des  Blattes  gegen  die 
Polizei  und  Behörden,  die  in  demselben  seit  jeher  gemacht 
wurden,  und  schließlich  hat  er  die  „anarchistischen  Bestre- 
bungen" begründet  mit  der  „a  g  i  t  a  t  o  r  i  s  c  h  e  n  H  a  1 1  u  n  g", 
welche  die  „Gleichheit"  in  der  sozialdemo- 
kratischen Bewegung  einnimmt.  Ich  bin  also  ge- 
zwungen, auf  die  notorische  Haltung  des  Blattes  einzugehen, 
ich  bin  auch  gezwungen,  auf  die  Haltung  des  Blattes  innerhalb 
der  sozialdemokratischen  Bewegung  einzugehen,  und  will  mich 
bemühen,  möglichst  kurz  zu  sein.  Aber  bei  den  allgemainen 
Dingen,  die  uns  imputiert  werden,  müßte  ich  eigentlich  bean- 
tragen, um  die  notorische  Haltung  der  „Gleichheit"  darzu- 
stellen, daß  alle  erschienenen  Nummern  der  „Gleichheit"  vor- 
gelesen werden.  Davon  will  ich  absehen.  Ich  will  aber  in 
wenigen  Zügen  die  Haltung  der  „Gleichheit",  wie  sie  wirklich 
ist  und  wie  sie  der  Staatsanwalt,  einer  unserer  eifrigsten 
Leser,  genau  kennt,  hier  skizzieren. 

Die  „Gleichheit"  wurde  gegründet  Ende  1886  und  wandte 
sich  mit  einem  Aufruf  an  die  Arbeiter  Österreichs,  in  dem  vor 
allem  erklärt  wird:  \Yir  wollen  ein  Blatt  herausgeben,  das  auf 
dem  Standpunkt  der  sozialdemokratischen  Arbeiterpartei  steht. 
Es  wird  darin  weiter  erklärt:  Unsere  Ziele  sind  die  Erkenntnis 
der  Solidarität  der  Arbeiterklasse  aller  Nationen,  die  Ver- 
breitung und  Vertiefung  des  Klassenbewußtseins;  die  offene 
Organisation    als   politische  Partei,   der    Kampf   für   politische 


Adler  vor  dem  Holzinger-Senat  49 

Freiheit,  für  das  Recht  auf  unbeschränkte  Meinungsäußerung, 
offene  zielbewußte  Propaganda  in  Wort  und  Schrift.  Begründet 
wurden  diese  näheren  Ziele  mit  dem  Satze:  „Der  Arbeiter- 
klasse ist  die  weltgeschichtliche  Aufgabe  zugefallen,  die 
Trägerin  der  zukünftigen  Gesellschaftsordnung  zu  sein;  dazu 
muß  sie  sich  physisch  und  geistig  geeignet  machen,  und  sie  wird 
das  tun,  wenn  sie  ihrerseits  von  dem  Bewußtsein  ihrer  Aufgabe 
durchdrungen  ist  und  die  ökonomischen  und  politischen  Be- 
dingungen ihres  Sieges  klar  erkennt."  Die  Zeit,  in  welche  die 
Gründung  der  „Gleichheit"  fällt,  muß  ich  mit  wenigen  Worten 
berühren.  Seit  der  unseligen  Spaltung,  die  sich  in  der  öster- 
reichischen Arbeiterpartei  ergeben  hat  aus  inneren  Verhält- 
nissen der  Partei,  die  aber  hauptsächlich  auch  zurückzuführen 
ist  auf  äußere  Verhältnisse,  besonders  auf  die  Einmischung  der 
übrigen  politischen  Parteien  und  nicht  zuletzt  der 
Polizei,  seit  dieser  Spaltung,  die  schließlich  führte  zu  der 
gewaltsamen  Niederschlagung  der  Partei  Anfang  1884  mit 
'  dem  Ausnahmezustand,  zur  gewaltsamen  Auflösung  der  ge- 
samten Organisation,  zum  gewaltsamen  Niederschlagen  der  ge- 
samten Parteipresee  —  w^ar  die  Arbeiterpartei  in  Österreich, 
insbesondere  in  Wien,  faktisch  absolut  mundtot.  Es  ist  so  weit 
gekommen,  daß  man  absolut  nicht  mehr  wagte,  in  öffentlicher 
Weise  Agitation  zu  machen.  Dabei  hatten  natürlich  Ausnahme- 
gerichte viel  zu  tun,  und  die  Polizei  entwickelte  eine  lebhafte 
Tätigkeit.  Nun  war  aber  meine  und  meiner  Freunde  Ansicht, 
daß  in  Österreich  Stimmungen  nicht  nur  im  Volke,  sondern 
auch  oben  ziemlich  vergänglicher  Natur  seien,  daß  es  bereits  im 
Jahre  1886  möglich  sei,  in  Wien  ein  Blatt,  das  offen  auftritt, 
das   offen   sozialdemokratisch   ist,  herauszugeben. 

Wir  sind'  mit  diesem  Programm  aufgetreten  und  haben 
uns  an  beide  Parteien,  an  beide  Fraktionen  gewendet,  wir  haben 
gesagt:  Wir  bieten  euch  ein  Blatt,  das  weder  auf  dem  Stand- 
punkt der  einen  noch  der  andern  Partei,  steht,  sondern  offen 
und  ehrlich  sozialdemokratisch  ist.  Es  ist  das  notwendig  zu 
sagen,  weil  der  Zustand,  der  damals  in  Österreich  in  der  Partei 
geherrscht  hat,  vielfach  von  den  Behörden  verkannt  wird ;  eine 
Verkennung,  ein  Unverständnis  und  Mißverständnis,  das  sich 
in  unzähligen  Aussagen  der  Motivenberichte  zu  verschiedenen 
Ausnahmegesetzen  und  in  unzähligen  Beantwortungen  v'on 
Interpellationen  seitens  der  Minister   äußert.  Es  wird  in  allen 

4 


50  Adler  vor  dem  Holzinger-Senat 

diesen  Aktenstücken  —  und  ick  wäre  in  der  Lage,  einige  Belege 
dafür  zu  bringen ;  idh  glaube  aber,  daß  der  kohe  Gerickt-kof 
die  Sacken  oknedies  kennt  —  o  k  n  e  w  e  i  t  e  r  s  die  radi- 
kale Arbeiterpartei  der  anarckistiscken 
Partei  gleickgesetzt.  Dieses  Mißverständnis,  dieses 
von  gewissen  Polizeiorganen  absicktlick  kingestellte  und  zu- 
wege gekrackte  Mißverständnis  muß  ick  als  solokcÄ  kier  kenn- 
zeicknen,  denn  es  kat  gerade  für  unsere  Verkandlung  die  aller- 
größte Wicktigkeit. 

Die  radikale  Arbeiterpartei  und  die  gemäßigte  Arbeiter- 
partei, in  welcke  sick  damals  die  Arbeiterbewegung  gespalten 
kat,  solange  es  überkaupt  eine  gegeben  kat,  solange  sie  nickt 
niedergetreten  war,  katten  sekr  viele  Differenzpunkte,  aber 
Anarchisten  waren  die  Radikalen  nicht,  und  es  ist,  ick  will  es 
an  dieser  Stelle  aussprecken,  politiscli  und  recktlicli 
geradezu  einer  der  größten  Fekler  gewesen, 
daß  man  eine  große  Partei  für  Handlungen  einzelner  vor- 
antwortlick  gemackt  kat.  Wir  sind  aufgetreten  zu  einer  Zeit, 
wo  nock  jeder  Radikale  belastet  war,  nickt  von  seinen  Genossen, 
denn  diese  wußten  genau,  wie  die  Sacke  stekt,  aber  von  den 
Bekörden,  mit  dem  Makel,  er  sei  „Anarekist",  er  sei  mitsckuldig 
an  den  Morden,  die  gesckeken  sind  oder  vielleickt  auck  nicht 
gesckeken  sind,  er  sei  mitsckuldig  an  der  Gekeimpresse,  an  der 
Falsckmünzerei  usw.  Ick  war  damals  jung  in  der  Partei,  und 
als  ick  in  dieselbe  eintrat  und  mir  diese  gefäkrlicken  und 
furchtbaren  Menscken  mit  ansak,  da  sak  ick,  daß  das  v  o  n  der 
B  e  k  ö  r  d  e  d  u  r  c  k  E  n  t  z  i  e  k  u  n  g  der  B  i  1  d  u  n  g  s- 
mittel  absicktlick  inUn  wissen  lieit  gekalte  ne 
Leute  waren.  Daß  das  Menscken  waren,  die  erbittert 
waren,  ist  begreiflich.  Sie  erwarten  von  mir  nicht  eine  Dar- 
stellung der  sozialen  Not,  denn  gerade  Sie  sind  als  Richter 
in  der  Lage,  sie  zu  kenneu.  Jene  Leute  waren  erbittert  auck 
gegen  die  gemäßigte  Partei,  aber  daß  sie  sick  dem  anarckisti- 
scken Programm  anscklossen,  und  zwar  was  dessen  Ziel  und 
Taktik  anlangt,  das  muß  ick  entsckieden  verneinen.  Die 
„Gleickkeit"  katte  nur  die  Aufgabe,  beide  Fraktionen  zu  ver- 
einigen, zu  versöknen  und  iknen  klarzumacken,  daß  ihre 
Differenzpunkte,  wie  es  wirklick  der  Fall  war,  nickt  allzu 
große  waren  und  nickt  über  die  Meinungsversckiedenkeiten 
hinausgehen,    welcke    innerkalb   jeder    andern   Partei  besteken. 


Adler  vor  dem  Holzinger-Senat  51 

Es  kommt  mir  allerdings  eiu  bißchen  sonderbar  vor,  in 
dem  Moment,  wo  ich  als  Anarehist  vor  dem  Ausnahmegericht 
stehe,  nun  den  nächsten  Schritt  in  meiner  Darstellung  zu 
machen. 

Das  nächste,  was  die  ., Gleichheit'"  getan,  war  nämlich, 
daß  sie  in  Nr.  5  einen  Aufruf  erlassen  hat  zur  Unterstützung 
der  Wahlen  in  Deutschland.  Der  Staatsanwalt  wird  freilich 
sagen,  daß  das  nicht  die  Wahlen  in  Österreich  waren,  aber  dazu 
waren  wir  leider  nicht  in  der  Lage,  sonst  hätten  wir  das  ganz 
bestimmt  getan.  In  diesem  Aufruf,  in  dem  es  sich  um  <lie 
Eeichstagswahlen  in  Deutschland  handelt,  haben  wir,  und  ich 
bitte  das  zu  konstatieren,  die  sozialdemokratischen  öster- 
reichischen Arbeiter,  und  zwar  die  gemäßigten  wie  die  radikalen, 
aufgefordert,  diese  Wahlen  zu  unterstützen,  ihre  Solidarität  mit 
den  Sozialdemokraten  in  Deutschland  zu  beweisen,  und  haben 
ihnen  die  Worte  zugerufen  :  ,,1  h  r  Kampf  ist  u  n  s  e  r 
.Kampf,  Ihr  Sieg  ist  unser  Sieg!"  Es  berührt  mich 
sonderbar,  das  als  „Anarchist"  hervorheben  zu  müssen,  weil 
Sie  ja  wissen,  daß  lange  Jahre,  wenn  der  Gerichtshof  oder  der 
Untersuchungsrichter  oder  Staatsanwalt  nicht  recht  gewußt  hat. 
ob  er  wirklich  einen  Anarchisten  vor  sich  hat,  er  ein  einfaches 
Mittel  gehabt  hat,  um  dies  zu  prüfen,  ein  wahres  Schiboleth. 
Er  hat  ganz  einfach  gefragt,  wie  jener  über  das  Wahlrecht 
denke.  Wenn  er  für  das  Wahlrecht  war,  war  er  Sozialdemokrat, 
wenn  er  gegen  das  Wahlrecht  war,  wurde  er  als  Anarchist  ver- 
urteilt, wie  seine  Anschauungen  auch  sonst  gewesen  sein 
mögen.  In  dieser  Beziehung  haben  wir  den  weitestgehenden  An- 
sprüchen der  Behörden  immer  genügt.  Wir  haben  das  Pro- 
gramm, daß  die  Aufklärung  der  Massen,  der  Arbeiter,  über  den 
ökonomischen  Prozeß  jenes  Werk  ist,  das  die  sozialdemo- 
kratische Arbeiterpartei  zu  verrichten  hat^  um  die  Arbeiter- 
massen bereitzustellen  für  jenen  Moment,  wo  der  Umsturz  des 
heutigen  Systems  erfolgt  —  und  ich  bitte  gleich  hier  zu  be- 
achten, daß  das  Wort  Umsturz  transitiv,  aber  ebenso  intransitiv 
gebraucht  werden  kann.  Wenn  ein  Umsturz  erfolgt,  muß  nicht 
immer  umgestürzt  werden,  es  kann  von  selbst  zusammen- 
stürzen. Das  Wort  Umsturz  hat  in  diesem  Sinne  eine  viel 
harmlosere  Bedeutung,  als  die  Staatsanwälte  mit  Vorliebe  an- 
nehmen. 

4* 


Adler  vor  dem  Holziuffer-Senat 


Wir  haben  also  die  Arbeiter  auf  diesen  Moment  vorzu- 
bereiten; wir  'haben  sie  darauf  vorzubereiten,  daß  sie  den  weh- 
geschichtlichen  Prozeß,  der  sich  vor  unseren  Augen  vollzieht 
>ind  an  dem  wir  alle  hier  teilnehmen,  ob  wir  nun  Angeklagte 
oder  Richter  sind,  und  den  wir  alle  fühlen  bis  in  die  letzte 
Fingerspitze  — •  gehörig  würdigen. 

Ich  möchte  hinzufügen,  der  Erfolg  unsere?  Vorgehens 
war  ein  sehr  merkwürdiger. 

Es  sind  von  allen  Seiten  Arbeiter  herbeigekommen,  um 
für  die  Wahlen  zu  sammeln  und  Beiträge  zu  liefern,  und  ich 
kann  versichern,  daß  ich  oft  erstaunt  war,  als  ich  sah,  wie  Leute, 
die  man  von  oben  für  die  wütendsten  und  verbissensten 
Anarchisten  gehalten  hat.  ruhig  gesammelt  und  ihren  Beitrag 
gebracht  haben,  weil  sie  ja  nur  insofern  Anarchisten  waren, 
daß  sie  ein  lebhaftes  Gefühl  dafür  gehabt -haben,  man  müsse 
gegen  die  sozialen,  gegen  die  ökonomischen  und  gegen  die 
Rechtszustände  protestieren,  und  daß  >*ie  hier  diesen  Beitrag 
geliefert  haben,  war  dieser  Protest. 

Die  Solidarität,  die  uns  mit  der  Sozialdemokratie 
im  Reiche  immer  verknüpft,  zieht  sich  durch  alle  Jahrgänge 
des  Blattes,  soweit  wir  die  Möglichkeit  hatten,  es  erscheinen 
zu  lassen. 

Wir  dürfen  sagen  und  haben  es  wiederholt  ausgesprochen : 
Wir  bewegen  uns  genau  au  f  demselben  Boden  wie 
die  deutsche  Sozialdemokratie,  nur  mit  jenen 
höchst  unbedeutenden  Änderungen,  welche  die  politischen  und 
ethnographischen  Verhältnisse  des  Landes  nötig  machen.  Daß 
die  deutsche  Sozialdemokratie  nicht  anarchistisch  ist,  brauche 
ich  wohl  nicht  des  weiteren  auszuführen. 

Bei  der  Beurteilung  der  „notorischen  Haltung"  des 
Blattes  muß  weiter  noch  betrachtet  werden,  wie  sich  die 
Anarchisten  gegen  uns  und  wie  wir  uns  gegen  die  Anarchisten 
verhalten  haben. 

Erwarten  Sie  von  mir  nicht,  hoher  Gerichtshof,  daß  ich 
nun  eine  Pauke  der  sittlichen  Entrüstung  gegen  den  Anarchis- 
mus loslasse.  —  Wir  Sozialdemokraten  sind  eine  verfolgte 
Partei,  und  wir  würden  uns  einfach  entwürdigen  und  müßten 
uns  schämen,  gegen  irgendeine  andere  verfolgte  Partei,  heiße 
sie  nun  Anarchisten,  heiße  sie  eventuell  Antisemiten  —  ich  er- 


Adler  vor  dem  Holzinger-Senat  53 

wähne  diese,  weil  sie  vor  einiger  Zeit  verfolgt  war  —  irgend- 
eine  Beschimpfung  vorzubringen. 

Die  Anarchisten  sind  eine  Partei  wie  eine  jede  andere. 
Es  ist  nicht  unsere  Partei;  ich  stehe  den  Anarchisten  ebenso 
fremd  gegenüber  wie  den  Liberalen  oder  Feudalen.  Ich  bin  nicht 
Anarchist  genau  aus  denselben  Gründen,  ans  welchen  ich  nicht 
liberal  oder  feudal  bin :  weil  mir  weder  die  Prinzipien 
noch  die  Wege  dieser  Partei  angenehm  sind,  weil  ich  sie 
nicht  billigen  kann  und  weil  ich  meine,  daß  der  Anarchismus 
nicht  zielführend  ist.  Und  nun  will  ich  Ihnen  sagen,  was  uns 
von  den  Anarchisten  unterscheidet.  Uns  unterscheidet  von  den 
Anarchisten  ein  Punkt,  das  ist  das  Z  i  e  1  s  e  1  b  s  t.  Wir  haben 
ganz  andere  Ziele,  wir  haben  ganz  andere  Vorstellungen  vom 
Ziele  als  die  Anarchisten.  Die  Anarchisten  haben  zum  Ziele  die 
hüchstausgebildete  Autonomie  des  Individuums,  den  auf  die 
Spitze  getriebenen  I  n  d  i  v  i  d  u  a  1  i  s  m  u  s,  und  zu  den  an- 
archistischen Schriften  bildet  Stirners  ..Der  Einzelne  und  sein 
Eigentum"  noch  häufig  den  Ausgangspunkt  und  Schlüssel. 
Die  4-iiarchisten  sind  in  großer  Verlegenheit,  ihre  Ziele  aus- 
einanderzusetzen, und  weil  sie  selbst  unklar  sind,  üben  sie  eine 
kolossale  Anziehungskraft  auf  alle  Unklaren,  und  die  An- 
archisten haben  in  der  Theorie  —  ich  spreche  immer  nur  von 
der  Theorie,  obwohl  den  Ausnahmegerichtshof  diese  theoretische 
Auseinandersetzung  nicht  interessiert,  ihn  interessieren  viel 
mehr  die  Mittel,  welche  die  Anarchisten  anwenden  —  sie  haben 
nicht  jene  geschichtliche  Auffassung,  die  wir 
haben,  wir,  die  wir  einfach  sagen :  wir  befinden  uns  in  einem 
iikonomischen    Weltprozeß,   der   einerseits    den    beschleunigten 

—  wenn  Sie  wollen,  um  das  Wort  Umsturz  nicht  zu  gebrauchen 

—  Zusammenbruch  des  heutigen  Sj'stems  und  anderseits  das 
Anwachsen  und  die  sittliche  und  geistige  Paratstellung  des 
Proletariats  bedeutet.  Diesen  Prozeß  bewußt  und  beschleunigt 
durchzumachen,  das  ist  unsere  Aufgabe.  Die  Anarchisten  sind 
auf  einem  andern  Standpunkt,  sie  meinen,  das  hieße  lange 
warten.  Sie  unterschätzen  die  Schnelligkeit,  mit  der  dieser 
Prozeß  vor  sich  geht,  und  sind  ungeduldig,  eine  Ungeduld,  die 
eh.  so  wenig  ich  sie  billige,  begreife.  Denn  man  muß  unter 
Arbeitern,  Proletariern  leben,  und  man  muß  wissen,  wie  die 
Zustände  sind,  unter  welchen  sie  leben,  um  begreifen  zu 
können,  daß  die  Leute  mitunter,  wenn  sie  unklar  und  nicht  — 


54  Adler  vor  dem  Holzinger-Senat 

gerade  durch  die  Sozialdemokraten  —  aufgeklän 
sind,  eben  in  Verzweiflung  sind.  Diese  Verzweiflung,  dieses 
lieber  persönlich  Zugrundegehen,  als  den  Zustand  persönlich 
noch  länger  zu  ertragen,  ist  das  Motiv,  das  der  Anarchismus 
inmier  liebt;  das  ist  jenes  Motiv,  das  der  Anarchismus  benützt, 
um,  wie  er  meint,  durch  einzelne  Akte,  durch  einzelne  Erup- 
tionen die  Aufmerksamkeit  des  Proletariats  auf  sich  zu  lenken 
und  mit  einem  Schlage  dieses  System  zu  beseitigen.  Diese 
Gewaltsamkeiten  sind  ja  dasjenige,  was  man  gewöhnlich  unter 
Anarchismus  versteht,  es  ist  die  Propaganda  der  Tat.  Wir  sind 
nicht  der  Ansicht,  daß  diese  Dinge  zu  den  Zielen  ob  nun  des 
Anarchismus  oder  der  Sozialdemokratie  überhaupt  auch  nur 
dae  geringste  beitragen,  dem  heutigen  System  irgendwelchen 
Schaden  zufügen.  Das  heutige  System  verträgt  die  an- 
archistische Taktik  ausgezeichnet,  und  wir  haben  Beweise  dafür, 
daß  das  heutige  System  Anarchisten  züchtet,  wo  sie 
nicht  vorhanden  sind,  —  ich  brauche  nicht  von  Österreich  zu 
sprechen,  ich  kann  mich  begnügen,  auf  Deutschland  und 
Belgien  hinzuweisen.  Ja  das  heutige  System  braucht  geradezu 
notwendig  die  anarchistische  Taktik,  um  der  Bourgeoisie  jene 
gehörige  Angst  einzuflößen,  die  sie  benötigt,  um  Ausnahme- 
gesetze zu  bewilligen,  deren  Opfer  wir  zum  Beispiel  sind. 
Weil  wir  mit  dem  Anarchismus  nicht  einverstanden  sind,  be- 
kämpfen wir  ihn  und  haben  ihn  bekämpft,  und  ich  kann  sagen, 
nielit  um  denjenigen,  die  heute  im  Lande 
herrschen,  irgendeine  Gefälligkeit  zu  er- 
weisen, nicht  um  uns  irdgendwie  auf  die  Loyalen  hinaus- 
zuspielen, sondern  im  Interesse  u  'U  s  e  r  e  r  Partei 
haben  wiv  die -Anarchisten  bekämpft,  indem  wir  sie  wider- 
legten, etw^as,  was  alle  Ausnahmegerichte  und 
Staatsanwälte  ihr  Lebtag  nicht  zusammen- 
bringen   werde  n. 

Wir  haben  die  Anarchisten  widerlegt,  und  im  Interesse 
der  sozialdemokratischen  Partei,  nicht  der  heutigen 
Verhältnisse,  haben  wir  dazu  beigetragen,  den  An- 
archismus in  Österreich  zu  vermindern,  und  so  sehr  ist  uns  das 
gelungen,  daß  der  Staatsanwalt,  da  die  Gültigkeit  der  Aus- 
nahmeverordnung  in  einigen  Wochen  zu  Ende  geht,  i  n  u  n- 
end  lieber  Verlegenheit  nach  neuen  An- 
archisten    sich     befindet.       Es     sind     in     c  a  n  z 


Adler  vor  dem  Holzinger-Senat  55 

Österreich  keine  vorhanden,  es  bleibt  daher 
nichts  anderes  übrig,  als  selbst  weiche  künst- 
lich zu  erzeugen  —  wider  I)  e  s  s  e  r  e  s  W  i  s  s  e  n  .  .  . 
{Beifall  im  Publikum.) 

Präsident  (unterbrechend" :  Vor  allem  muß  ich  bemerken,  daß 
die  mindeste  Störung  im  Zuschauerravun  mich  zur  sofortigen  Räumung  des" 
Saales  veranlassen  würde.  Ich  bitte,  sich  das  zu  merken,  und  Sie  erinnere 
ich,  daß  es  nicht  angeht,  persönliche  Ausfälle  gegen  irgend  jemand  anzu- 
bringen. 

Dr.  Adler:  Ich  werde  mich  daran  halten. 

Wenn  uns  nun  die  Staatsanwälte  begreiflicherweise  nicht 
lieben,  so  lieben  uns  die  Anarchisten  auch  nicht,  und  ich  kann 
Ihnen  mitteilen  —  es  ist  dies  wahrscheinlich  der  hiesigen 
Staatsanwaltschaft  bekannt  —  daß  die  eigentlichen  an- 
archistischen Organe  sich  gegen  die  „Gleichheit"  seit  jeher 
ziemlich  ablehnend  verhalten  haben.  Das  Höchste  in  dieser 
Beziehung  hat  wohl  die  ..Autonomie'"  geleistet,  deren  Redakteur 
allerdings  zurzeit  noch  Josef  Peukert  war.  von  dem  nicht  fest- 
gestellt ist,  in  den  Diensten  welcher  Polizei  er  gerade  Anarchist 
ist.  Die  Londoner  „Autonomie"  beschuldigt  uns  gelegentlich 
der  Unterdrückung  der  „Arbeit"  in  Wien:  ..Die  echt  rote  Ge- 
sinnung ist  in  Österreich  wie  überall  den  größten  Verfolgungen 
ausgesetzt.  Allerdings  ein  solches  Blatt  wie  die  ..Gleichheit" 
duldet  man  natürlich  nicht  nur,  sondern  protegiert  es  noch  von 
gewisser  höherer  Seite."  —  Das  ist  in  den  Augen  der  „Auto- 
nomie" kein  Lob.  —  „Wir  vermuten,  daß  der  ^Matador  der 
„Gleichheit",  Dr.  Adler,  mit  der  Polizei  unter  einer  Decke 
stecke.  Für  diesen  und  manch  andere  Doktoren  existiert 
Redefreiheit,  aber  die  Arbeiter  dürfen  es  nicht  wagen,  ihre 
Ideen  zu  verbreiten,  obwohl  dies  leicht  erklärlich  ist,  denn  die 
Arbeiter  heute  sind  alle  vor  dem  Gesetze  gleich.  Welche  Ironie 
liegt  in  dem  Satze."  Sehen  Sie,  sie  lieben  uns  nicht. 

In  späterer  Zeit  hat  die  „Freiheit"  vom  Hainfelder  Kon- 
greß, der  in  unseren  Polizeinoten  eine  besondere  Rolle  spielt, 
gesagt:  ..Die  wesentlichsten  Beschlüsse  desselben  kehrten  sich 
gegen  die  Anarchisten  überhaupt  und  besonders  gegen  die  Tak- 
tik derselben.  Im  übrigen  soll  sogenannte  praktische  Politik  ge- 
trieben, das  heißt  der  Pelz  gewaschen  und  nicht  naß  gemacht 
werden.  Die  österreichische  Regierung  wird  mit  diesen  Be- 
schlüssen wohl  zufrieden  sein."  Die  „Autonomie"  hat  über  den 


56  Adler  vor  dem  Holziuger-Senat 

Hainfelder  Kongreß  einen  längeren  Artikel  gebracht,  der  die 
,, Gleichheit"  im  höchsten  Grade  beschimpft.  Ich  glaube  nicht, 
daß  es  gut  angehen  wird,  den  Artikel  hier  zu  verlesen,  aber  es 
wäre  für  mich  wesentlich,  zu  konstatieren,  daß  darin  gesagt 
wird:  „Wenn  der  Kongreß  nichts  weiter  hat  sagen  wollen,  als 
er  gesagt  hat,  so  hätte  sich  die  Regierung  die  Mühe  ersparen 
können,  die  Geschwornengerichte  für  Verbrechen,  denen 
anarchistische  Tendenzen  zugrunde  liegen,  einzustellen", 
weiter,  „wir  erleben  es,  daß  die  Arbeiter  über  den  Kopf  der 
Führer  hinweggehen  und  der  Anarchismus  lebt  in  Österreich". 
Auf  dieses  „Lebenszeiche  n",  von  welchem  die  „Auto- 
nomie" spricht,  warten  die  Behörden  vergebens,  es  wird  nicht 
eintreten,  außer  es  müßte  noch  weitergegangen 
werden  in  dem  Werke,  das  bereits  begonnen 
ist.  Weiter  liegt  mir  hier  eine  Flugschrift  vor,  von  der  ich 
nicht  recht  weiß,  wer  sie  gemacht  hat.  Ich  weiß  nicht  mit 
einem  Worte,  ob  sie  nicht  offiziös  ist,  aber  ich  vermute  es 
beinahe.  Diese  Flugschrift  schildert  Dr.  Adler,  B  r  e  t- 
schneider,  Pokorny,  Popp  —  einige  Namen  von 
Männern,  die  in  der  Partei  tätig  sind  —  als  niederträchtige 
Menschen,  als  Polizeispitzel,  als  Leute,  die  andere  korrumpiert 
haben.  Man  wirft  uns  vor,  und  das  ist  sehr  bezeichnend,  daß 
die  Exzesse  in  Belgien,  über  die  unlängst  eine  so  drastische 
Aufklärung  gegeben  wurde,  von  der  „Gleichheit"  nicht  sehr 
ernst  genommen  wurden,  daß  wir  gesagt  haben,  es  sei  ganz 
merkwürdig,  daß  alle  Dynamitattentate  in  Belgien  nur  ein 
paar  gebrochene  Fensterscheiben  zur  Folge  hatten,  und  daß  es 
den  Anschein  hat,  daß  wir  es  mit  offiziösen  Anarchisten  zu 
tun  haben.  Ich  könnte  eine  Reihe  von  Stellen  aus  der  „Auto- 
nomie" und  der  „Freiheit"  zitieren,  aber  mitunter  sind  sie  so, 
daß  die  Öffentlichkeit  der  Sitzung  aufgehoben  werden  müßte 
und  das  paßt  mir  nicht.    Ich  will  darauf  verzichten. 

Ich  habe  erörtert,  wie  die  Anarchisten  zu  uns  und  wir 
zu  den  Anarchisten  stehen.  Darüber,  wie  wir  zu  den  Anarchi- 
sten stehen,  möchte  ich  noch  aus  der  „Gleichheit"  wenige 
Belege  anführen.  In  Nummer  3  der  „Gleichheit",  I.  Jahr- 
gang, hatten  wir  Gelegenheit  zu  berichten  über  einen  Prozeß 
vor  demselben  Ausnahmegericht,  vor  dem  wir  hier  stehen.  Es 
sind  damals  Steidl,  Ondrizek  und  Schwarz  wegen 
Münzverfälschiing     und     Diebstahl     verurteilt     worden.     Die 


Adler  vor  dem  Holzinger- Senat  57 

.,Grleichheit"  hat  darüber  berichtet  und  sagt:  „Der  Versuch 
des  Staatsanwalts,  die  Angeklagten  als  Werkzeuge  irgend- 
einer dahinterstehenden  „anarchistischen  Partei"  darzustellen, 
mißlang  gänzlich.  Selbst  der  Gerichtshof  konnte  nicht  umhin, 
die  Tat  oder  vielmehr  den  Versuch,  eine  solche  zu  begehen, 
als  das  Werk  einzelner  anzusehen  und  hat  daher  „die  besondere 
Gefährlichkeit"  nicht  anerkannt. 

„Solange  nicht  die  äußere  und  innere  Möglichkeit 
gegeben  ist,  sozialistische  Ziele  in  offener  Weise  mittels 
offener  Organisation  zu  verfolgen,  werden  einzelne  Menschen 
immer  der  Selbsttäuschung  anheimfallen,  durch  einzelne  Ge- 
waltstreiche etwas  Ersprießliches  für  die  Befreiung  des  Prole- 
tariats bieten  zu  können.  Der  „A  n  a  r  c  h  i  s  m  u  s"  kann 
nur  durch  die  Sozialdemokratie  überwunden 
werden!  Sie  allein  kann  die  klare  Einsicht  in  den  Ökonom  •- 
sehen  Prozeß  und  den  aus  ihm  folgenden,  geschichtlich  not- 
wendigen Verlauf  der  Dinge  vermitteln  und  dem  Proletariat 
die  richtigen  Gesichtspunkte  und  die  allein  richtige  Kampf- 
methode vorzeichnen!" 

Die  Stellung,  die  wir  gegenüber  ilen  Anarchisten  ein- 
genommen haben,  ist  auch  bis  in  die  allerletzte  Zeit  bei- 
l)ehalten  worden.  Der  Herr  Ministerpräsident  hat  auf  Grund 
einer  falschen  Information  der  Polizei  in  einer  Interpellations- 
beantwortung —  es  hat  sich  nämlich  am  13.  März  1887  um  eine 
kleine  Demonstration  gehandelt  —  gesagt:  „Die  radikale  oder 
anarchistische  Arbeiterpartei."  Wir  haben  dies  zurückgewiesen, 
indem  wir  schrieben: 

„Wir  unserseits  halten  es  für  unsere  Pflicht,  der  Be- 
hauptung, daß  die  radikale  Fraktion  der  österreichischen 
Sozialdemokratie  anarchistisch  sei,  mit  aller  Entschiedenheit 
entgegenzutreten  —  um  einen  Ausdruck  Seiner  Exzellenz  zu 
gebrauchen.  Die  Spaltung  der  österreichischen  Arbeiterpartei 
gehört  zum  großen  Teil  bereits  der  Geschichte  an,  und  diese 
Geschichte  zu  schreiben  halten  wir  eine  hohe  Polizei,  bei 
allem  sonstigen  Respekt  vor  ihrem  Wissen  und  Können,  nicht 
für  berufen.  Wie  wenig  sie  es  ist,  hat  sie  durch  die  Informa- 
tion neuerdings  bewiesen,  die  sie  dem  Minister  gab.  In  den 
Augen  der  Polizei  sind  also  die  „Radikalen"  Anarchisten! 
Diese  Identifizierung  ist  falsch  und  gefährlich.  Sie  ist  falsch : 
das   weiß   jeder   Kenner   der   Parteiverhältnisse.     Sie   ist    aber 


58  Adler  vor  dem  Holzinger- Senat 

auch  gefährlich,  und  zwar  nicht  nur  für  diejenigen,  welche 
mit  dem  Namen  Anarchisten  bezeichnet  werden.  Sie  schafft 
eine  Gefahr,  die  noch  gar  nicht  vorhanden  ist;  sie  schafft 
Anarchisten,  wo  sie  nicht  sind.  Wer  den  Anarchismus  für  den 
Teufel  hält,  sollte  ihn  doch  nicht  an  die  Wand  malen.  Die 
radikale  Fraktion  der  österreichischen  Arbeiterpartei,  soweit 
man  überhaupt  noch  von  einer  gesonderten  Fraktion  sprechen 
kann,  zählt  Tausende  von  Mitgliedern,  und  alle  diese  Partei- 
männer nennt  man  kurzweg  „Anarchisten"!  Und  man  nennt  sie 
nicht  nur  so,  sondern  man  will  sie  auch  als  solche  behandeln. 
Nun  weiß  man  wenigstens,  was  das  Wort  „Anarchistengesetz" 
bedeutete.  Wie  wir  über  derartige  Gesetze,  auch  auf  wirkliche 
Anarchisten  angewendet,  denken,  wissen  unsere  Leser.  Daß 
man  aber  gar  Sozialdemokraten  erst  als  „Anarchisten"  hinstellt 
und  sie  dann  als  solche  behandelt,  scheint  uns  doch  gegen  den 
Geist  —  selbst  dieser  Gesetze  zu  verstoßen." 

„Wie  gesagt,  wir  müssen  uns  große  Zurückhaltung  auf- 
erlegen, wollen  wir  überhaupt,  daß  diese  Zeilen  in  die  Hände 
unserer  Leser  kommen.  Wir  erlauben  uns  aber  doch  noch  zu 
sagen,  daß  die  den  angeführten  Worten  zugrunde  liegende 
Auffassung  ebensowenig  den  Tatsachen  entspricht,  als  sie  un- 
politisch klug  erscheint,  w  e  n  n  m  a  n  den  A  n  a  r  c  h  i  s  m  u  s 
wirklich   nicht   will." 

Ich  hätte  eigentlich  schreiben  müssen,  wenn  man  e  i  n- 
zelne  Anarchisten  ernstlich  nicht  will,  denn  den  An- 
archismus will  man  nicht,  das  ist  sicher,  aber  A  n  a  r  c  h  i  s  t  e  n 
sind    mitunter    angenehm. 

„Diese  Auffassung  erschwert  die  Tätigkeit  derjenigen, 
welche  der  Überzeugung  sind  und  dafür  eintreten,  daß  eine 
große,  geschichtlich  notwendige  Umwälzung,  daß  eine  große, 
gewaltige  Idee  durch  einzelne  Gewaltakte  einzelner  ebenso- 
wenig durchzusetzen    als  zu  hemmen  ist." 

Ich  würde  den  Gerichtshof  über  Gebühr  ermüden,  wenn 
ich  alle  Stellen  anführen  würde,  um  die  es  sich  handelt.  Ich 
möchte  nur  als  bezeichnend  für  unser  Verhalten  zu  den 
Anarchisten  und  zugleich  als  bezeichnend  für  die  Solidarität, 
welche  unsere  österreichische  Arbeiterpartei  mit  der  deutschen 
Sozialdemokratie  verbindet,  konstatieren,  daß  ich  als  Heraus- 
geber der  „Gleichheit"  auf  dem  Parteitag  von  St.  Gal- 
len Ende  1887  anwesend  war,  und  daß  auf  diesem  Parteitag 


I 


Adler  vor  dem  Holzinger-Senat  59 

auch  über  die  Stelhiug  zu  den  Anarchisten  eine  Resolution  ge- 
faßt wurde,  deren  Verlesung  ich  wünschen  würde,  nachdem 
sich  auch  die  „Gleichheit"  derselben  vollinhaltlich  ange- 
schlossen hat.  Ende  des  Jahres  1887  hatten  sich  die  Partei- 
verhältnisse wesentlich  auch  durch  die  Mitwirkung  der 
„Gleichheit"  —  ich  glaube,  ich  bin  nicht  unbescheiden,  wenn 
ich  das  sage  —  in  Österreich  wesentlich  geklärt,  und  es  erschien 
damals  in  der  „Gleichheit"  eine  Überschau  unter  dem  Titel 
„Neujahr  1888".  Es  wurde  da  auseinandergesetzt,  inwieweit  wir 
eine  revolutionäre  Partei  sind,  welchen  Zusammenhang  wir 
mit  der  Revolution  haben.  Die  ökonomische  Seite  dieses  Be- 
griffes v/urde  schon  vielfach  erörtert.  ,,Diese  Seite  der  Revo- 
lution", heißt  es  in  diesem  Artikel,  „vollzieht  sich  unbewußt, 
mechanisch,  mit  eherner  Sicherheit."  „Zugleich  aber  geht  eine 
Revolution  in  dem  Bewußtsein  der  Menschheit  vor  sich;  das 
Proletariat  beginnt  seine  weltgeschichtliche  Bestimmung  nicht 
nur  zu  erkennen,  sondern  auch  als  sein  Ziel  zu  wollen.  Und  die 
Revolutionierung  der  Gehirne  ist  die  eigentliche  Aufgabe,  ist 
das  nächste  Ziel  der  proletarischen  Parteien,  der  Sozialdemo- 
kratie." „Dieser  bewußten  Seite  der  Revolution  hat  nun  frei- 
lich die  Bourgeoisie  energischer  und  aufrichtiger  gemeinte 
Mittel  entgegenzusetzen  als  der  fortschreitenden  Prole- 
tarisierung und  Massenverelendung." 

Vom  Jahre  1888  an  war  die  Tätigkeit  der  „Gleichheit'" 
hauptsächlich  darauf  gerichtet,  die  eingetretene  Vereinigung 
der  Partei  auch  äußerlich  zum  Ausdruck  zu  bringen,  diese  Tat- 
sache, die  im  Bewußtsein  einzelner  Genossen  war,  auch  der 
Gesamtheit  zum  Bewußtsein  zu  bringen;  und  die  damalige 
Situation  wird  in  einem  Aufsatz  der  Nummer  15  der  „Gleich- 
heit" vom  Jahre  1888  geschildert.  Es  heißt  dort: 

„Wir  können  uns  sogar  gestatten,  der  hohen  Regierung 
—  kostenfrei  —  ein  Parteigeheimnis  zu  verraten:  Die  „Ge- 
mäßigten" sind  im  Aussterben  begriffen;  was  aber  besteht, 
blüht  und  wächst,  ist  eine  einzige,  große  sozialdemokratische 
Arbeiterpartei,  die  sich  durch  alle  Ausnahmegesetze  der  Welt 
nicht  einschüchtern  läßt  und  ihre  Pflicht  tut  und  tun  wird!" 

Es  wird  auch  in  dieser  Stelle  eine  Polemik  mit  der 
„Autonomie"  geführt,  und  hier  muß  icli  noch  den  Grund  kon- 
statieren, warum  wir  sofort  Gelegenheit  hatten,  uns  gegen  die 
Anarchisten  polemisch  zu  wenden.   „Wenn  nämlicli".  >o  heißt 


60  Adler  vor  dem  Holzinger-Senat 

es  dort,  „wir  das  anarchistische  Programm  und  die  anarchisti- 
schen Mittel  billigen  würden,  so  würde  uns  noch  eines  an- 
halten, die  Wege  der  Anarchisten  zu  betreten,  das  ist  die  stete 
Gesellschaft,  in  der  sie  auftreten:  die  Polizei;  und  die  Ver- 
bindung der  Polizei  mit  dem  Anarchismus  —  ich  erinnere  an 
den  Fall  8  c  h  r  e  g  e  r  — -  haben  uns  wiederholt  Gelegenheit 
gegeben,  klar  auszuführen,  daß  wir  mit  dem  Anarchismus  ab- 
solut nichts  zu  tun  haben."  Wir  haben  damals  in  Nummer  15 
geschrieben:  „Es  darf  ruhig  gesagt  werden,  daß  terroristische 
Taten,  welche  im  vermeintlichen  Parteiinteresse  der  Anarchi- 
sten ausgeführt  werden,  in  absehbarer  Zeit  nicht  vorkommen 
werden,  außer  es  legt  sich  wieder  irgendein  —  Schreger  ins 
Mittel." 

Nun  kommen  die  Vorbereitungen  zu  dem  Parteitag,  die 
ich  mir  aber  aufsparen  will  für  den  letzten  Teil  meiner  Er- 
örterungen, wo  die  agitatorische  Tätigkeit  der  ..Gleichheit" 
innerhalb  der  sozialdemokratischen  Partei  zu  behandeln 
sein  wird. 

Ich  schließe  mich  dem  Gedankengmng  des  Staatsanwalls 
genau  an  und  komme  jetzt  auf  den  Inhalt  der  Artikel.  Da  ich 
nicht  weiß,  welche  inkriminierten  Stellen  ihm  besonders 
„anarchistisch  und  auf  den  gewaltsamen  Umsturz  der  bestehen- 
den Staats-  und  Gesellschaftsordnung  gerichtet"  vorkommen, 
so  muß  ich  mich  damit  begnügen,  eine,  welche  er  ausdrück- 
lich als  solche  besprochen  hat,  darzulegen.  Das  ist  jene  Stelle, 
die  von  der  „Tapferkeit  der  Dragoner  und  Husaren"  handelt, 
und  die  vorher  verlesen  wurde.  In  der  Anklage  heißt  es:  „Tu 
dem  Absatz,  beginnend  mit  den  Worten:  „die  Tapferkeit  der 
Dragoner"  wird  ein  nicht  mißzuverstehender  Appell  an  die 
Soldaten  gerichtet  und  ist  die  Hoffnung  ausgesprochen,  daß 
auch  diese  in  eiiistiger  Erkenntnis  ihrer  Lage  dem  Staate  die 
Hilfe  versagen  und  so  den  gewünschten  gewaltsamen  Umsturz 
der  bestehenden  staatlichen  und  gesellschaftlichen  Ordnung 
ermöglichen  würden."  Das  klingt  allerdings  formell  höchst 
anarchistisch.  Ich  möchte  nur-  bemerken,  daß  der  Versuch, 
jemand  anderen  aufzufordern,  er  möge  seine  Augen  öffnen, 
um  hernach,  wenn  er  sie  geöffnet  hat,  den  Versuch  zu 
machen,  irgendeine  Aktion  zu  beginnen,  eines  der  ungewöhn- 
lichsten anarchistischen  Verbrechen  ist,  die  bis  jetzt  wohl  vor- 
gekommen sind.  Aber  ich  will  auf  diese  Seite  der  Sache  gar 


Adler  vor  dem  Holzinger-Senat  61 


nicht  eingehen.  Was  ist  hier  enthaltend  —  Der  hohe  Gerichts- 
hof sieht,  daß  ich  meritorisch  auf  die  Sache  absolut  nicht  ein- 
gehe, absolut  darauf  nicht  eingehe,  ob  wir  der  Dinge,  die  man 
uns  vorwirft,  schuldig  sind  oder  nicht.  Darum  handelt  es  sich 
gar  nicht.  Hier  handelt  es  sich  darum,  den  Beweis  zu  führen, 
daß  wir  nicht  vor  dem  Gerichtshof  stehen,  vor  dem  wir  stehen 
sollen.     Wenn  wir  Gelegenheit    haben    werden,  vor  dem  uns 
nach    dem    Gesetz    gebührenden    Gerichtshof    zu     stehen,    so 
werden  wir    schon   die   meritorische    Verteidigung    führen.    — 
Es  wird  hier  in  diesem  Aufsatze  gerügt,  daß  einzelne  Dragoner 
und  Husaren  über  das  hinausgegangen  sind,  was  ihre  Pflicht 
ist.  Für  die  Roheit    und    das    exzessive  Benehmen    führe  ich, 
nachdem  ich  davon  absehe,  selbstverständlich  den  Wahrheits- 
beweis nicht.  Ich  würde,  wenn  ich  dazu  die  Gelegenheit  hätte, 
die  Wahrheit  erweisen    und    dabei    auch    die  leider  nicht  ge- 
nannte Sicherheitswache  einflechten.  Es  wird  also  gesagt  und 
gerügt:    Diese  Leute    haben    eigentlich    keinen  Grund,  neben 
dem,  daß  sie  ihre  Pflicht  tun,  wenn    sie    sie    ausführen,  auch 
noch  speziell  wütend   und   roh  zu   sein,  und  es   wird  gesagt : 
Wenn  die  Leute  die  Erkenntnis  hätten,  daß  sie  Proletarier  sind, 
so  würden  sie  das  wohl  nicht  tun.  Endlich,  hoher  Gerichtshof, 
hat  die  „Gleichheit"   und  die  Partei,  welche  sie  vertritt,  von 
jeher  sich  dadurch  ausgezeichnet,  daß  sie  nie  Personen  angriff, 
daß    sie    klar    weiß,    daß    unsere    Verhältnisse    die    Menschen 
zwingen,  so  zu  handeln,  wie  sie  handeln,  daß  sie  in  jeder  ein- 
'?;elnen  Person  nur  den  Funktionär  sieht,  der  die  Funktion  be- 
kleidet, die  ihm  das  wirtschaftliche  System  unvermeidlich  auf- 
gedrängt  hat,   und   wir  sehen   den  Funktionär  ebenso  in   dem 
reichen  Fabrikanten,  der  die  Arbeiter   ausbeutet,  als  in   dem 
Beamten    und  Soldaten.  Jeder    ist    in    irgendeiner  Weise    ent- 
weder Lohnsklave  oder  aber  wenigstens   ein  Sklave  der  Ver- 
hältnisse,  in  denen   er  lebt.   Darum  greifen  wir  nie  den  ein- 
zelnen   an,    solange    dieser    einzelne    innerhalb    der    Grenzen 
seiner  ihm  aufgedrungenen  Funktion  sich  bewegt.  Wir  greifen 
nicht    einmal  den    armseligsten  Spitzel    an,  solange    er    seine 
Pflicht  als   Spitzel   ruhig   erfüllt,   denn  er  muß  dies,   weil  er 
sonst     verhungert.     Wenn     aber     von     irgendeiner 
Seit  e,  ob  es  nun  ein  Fabrikant.  Beamter  oder  Sol- 
dat ist,  über  das  hinausgegangen  wird,  was  die  Situation  er- 
fordert,   was    seine    persönliche    Situation    fordert,    wenn    der 


62  Adler  vor  dem  Holzinger-Senat 

Fabrikant  etwas  mehr  ausbeutet,  der  Beamte  oder  Soldat  oder 
ein  anderer  derartiger  Funktionär,  u  m  Ka  r  r  i  e  r  e  zu 
machen,  einen  außertour  liehen  Eifer  ent- 
wickelt, wenn  es  sich  ihm  vi  m  eine  S  t  r  e  1)  e  r  e  i 
handelt,  über  das  Maß  dessen,  was  ihm  die 
Situation  aufdrängt,  dann  allerdings  sind  wir  immer 
dagegen  aufgetreten,  und  um  die  Analogie  dieses  Vorganges 
liat  es  sich  hier  gehandelt. 

Wir  wundern  uns  nur  billig,  daß  man  uns  bei  dieser  Auf- 
fassung der  Stelle  nicht  einfach  vor  das  Militärgericht  geladen 
hat,  denn  ich  glaube,  nach  der  Auffassung  des  Staatsanwalts 
liegt  eme  Verleitung  zum  Treubruch  nach  §  222  St.-G.  vor, 
und  ich  glaube,  der  Staatsanwalt  würde  seine  Stellung  vor  dem 
Militärgerichte  noch  um  einen  Grad  weniger  bedenklich  halten 
als  vor  dem  Ausnahmegerichtshof.  Wenn  diese  Auffassung 
auch  vom  hohen  Gerichtshof  gebilligt  wird,  so  gehöre  ich  vor 
das  Militärgericht,  vor  den  Ausnahmegerichtshof  unter  gar 
keinen  Umständen. 

In  der  inkriminierten  Stelle  kommt  der  Passus  vor:  „Auch 
diesen  Blinden  wird  der  Star  gestochen  werden."  In  der 
., Gleichheit"  wiederholt  sich  oft  die  Redensart:  „Augen  auf- 
gehen, Blinden  den  Star  stechen."  Ich  speziell  habe  eine 
persönliche  Vorliebe  dafür,  daß  die  Leute  sehen  lernen.  Aller- 
dings scheint  das  etwas  zu  sein,  was  besonders  gefährlich  ist. 
Ich  hatte  einmal  ganz  denselben  Ausdruck  gebraucht,  und 
zwar  nicht  vor  Soldaten,  sondern  vor  Arbeitern  bei  einem 
Feste.  Nach  der  Meinung  des  Polizeikommissärs  Fraukl  hat 
das  damals  bedeutet  „eine  demonstrative  Mißachtung  der  Re- 
gierung". Ich  mußte  das  mit  50  fl.  bezahlen.  Auf  jeden  Fall 
ist  es  unangenehm,  wenn  den  Leuten  die  Augen  aufgehen.  Nur 
weiß  man  nicht,  unter  welchen  Paragraphen  man  das  jedesmal 
zu  bringen  hat.  Wie  man  aber  darin  etwas  Anarchistisches 
finden  kann,  ist  mir  unbegreiflich.  Ich  glaube,  es  ist  nichts 
Anarchistisches,  wenn  man  meint,  daß  Soldaten,  wenn  sie  sich 
als  Proletarier  fühlen,  hernaöh  nicht  mehr  roh  seien. 

Auf  die  übrigen  Stellen  will  ich  nicht  eingehen,  und 
dafür  nur  sagen,  wie  wir  uns  zu  der  ganzen  Tramwaygeschichte 
überhaupt  gestellt  haben.  Ich  erwarte,  daß  der  Staatsanwalt 
a  posteriori  aus  Ereignissen,  die  sich  erst,  nachdem  die  Anklage 
geschrieben    war,    zugetragen    haben,    Schlüsse    ziehen    wird. 


Adler  vor  dem  Holzinger-Senat  öJ 

Trannvaystreiks  und  Exzesse  wie  in  Steyr.  das  sind  Dinge,  die 
überall  mit  und  ohne  „Gleichheit"  vorkommen,  und  ich  möchte 
konstatieren,  daß  nach  Kladno,  wo  es  am  ärgsten  zugegangen 
ist,  merkwürdigerweise  zu  meinem  Bedauern  nicht  ein  einziges 
Exemplar  der  „Gleichheit"  hinkommt,  weil  die  Bevölkerung 
tschechisöh  ist,  und  nur  drei  Exemplare  von  tschechischen 
sozialistischen  Blättern,  was  noch  mehr  zu  bedauern  ist,  hin- 
kommen, und  Sie  sehen,  es  hat  doch  dort  Unruhen  gegeben: 
ein  Fingerzeig  dafür,  daß  wir  recht  haben,  die  wir  nicht  eine 
<o  unglaubliche  Überschätzung  unserer  Person  und  "Wirksam- 
keit haben  wie  der  Herr  Staatsanwalt,  der  glaubt :  Wir  seien  in 
der  Lage,  den  gewaltsamen  Umsturz  der  Gesellschaft  herbei- 
zuführen. Ich  weiß  nicht,  wie  wir  uns  verhalten  würden,  wenn 
die  Möglichkeit  dazu  wäre.  Ich  bin  nicht  verpflichtet,  darüber 
Auskunft  zu  geben,  vor  allem  darum  nicht,  weil  ich  es  selbst 
nicht  weiß.  Tatsache  ist  aber,  daß  ich  heute  das  klare  Be- 
wußtsein habe,  daß  ein  solches  Bestreben  eines  gewaltsamen 
Umsturzes  ein  Unsinn  ist.  und  aus  diesem  Grunde  habe  ich 
CS  nicht. 

Das  ist  dasjenige,  was  wiederholt  ausgesprochen  wurde. 
Etwas  anderes  aber  ist  es,  wenn  man  uns,  die  wir  den  Zu- 
sammenhang der  Dinge  klar  einsehen,  daraus  einen  Vorwurf 
machte,  wenn  die  Arbeitermassen  gereizt  sind  durch  die  jahre- 
lange Schinderei,  gereizt  sind  dadurch,  daß  sie  in  der  ganzen 
Welt  nirgends  Hilfe  finden,  wenn  sie  gereizt  sind  dadurch,  daß 
alle  jene  Faktoren,  die  berufen  wären,  im  Interesse  der  Gesamt- 
heit aufzutreten,  diese  Pflicht  verabsäumen  oder  viel  später  er- 
füllen, wenn  es  für  ihre  Bedürfnisse  zu  spät  ist.  Wir  tun  nur 
unsere  Pflicht,  wenn  wir  den  Zusammenhang  klar  aufdecken, 
daß  an  diesen  Unruhen  nicht  schuld  ist  die  Gesetzwidrigkeit 
der  Massen,  sondern  die  Ausbeutung,  welche  wir  bekämpfen, 
daß  diese  sie  in  jene  Situation  bringt;  und  vor  allem  ihre  Un- 
wissenheit, eine  Unwissenheit,  welche  die  Massen  nicht 
verschuldet  haben,  und  welche  wir  nicht  verschuldet  haben, 
-ondern  welche  Sie  verschuldet  haben.  Wir  tun 
also  in  dieser  Beziehung  stets  unsere  Pflicht,  wir  haben  in 
allen  Fällen  angedeutet,  worin  die  Ursachen  der  Dinge  liegen, 
und  wir  haben  ebenso  den  Kutschern  als  den  Bergarbeitern 
unsere  Hilfe  zur  Verfügung  gestellt,  soweit  es  nur  irgend  mög- 
lich ist.  Ich  spreche  nochmals  mein  Bedauern  darüber  aus,  daß 


64  Adler  vor  dem  Holzinger-Senat 

wir  nicht  haben  mehr  leisten  können,  als  wir  geleistet  haben, 
und  wenn  den  hohen  Behörden  —  diese  Bemerkung'  erlaulie  icli 
mir  denn  doch  zu  machen  —  es,  wie  ich  begreife,  sehr  unange- 
nehm war,  daß  die  Sozialdemokraten  die  einzigen  waren,  die 
sich  im  Tramwaystreik  die  Sympathien  erworben  haben,  so 
hätten  sie  ein  einfaches  Mittel  gehabt,  nämlich  von  vornherein 
die  ganze  Bewegung  in  ihre  Hände  zu  nehmen.  Die  Bedien- 
steten der  Tramway  haben  mit  abgöttischem  Vertrauen  zu  der 
Polizei  hinaufgesehen,  die  sie  retten  sollte.  Wir  haben  dieses 
Vertrauen  nicht  gestört,  denn  wir  haben  gewußt,  das  werden 
schon  andere  Leute  besorgen.  Wenn  damals  die  Polizei  und  die 
Kreise,  um  die  es  sich  handelt,  das  getan  hätten,  wofür  wir 
jetzt  konfisziert  sind,  und  jenen  Rat  befolgt  hätten,  wofür 
wir  hier  angeklagt  sind,  wenn  die  Behörden  das  getan  hätten, 
was  wir  verlangen  und  was  hier  ,,anarchistiscli"  heißt,  wenn 
sie  gesagt  hätten,  wir  werden  im  Interesse  der  öffentlichen 
Enhe  und  Ordnung  nicht  Polizei  und  Militär  ausrücken  und 
die  Leute  einsperren,  sondern  vor  allem  den  Tramwayverkehr 
so  lange  nicht  aufnehmen  lassen,  bis  geprüfte  Kutscher  da 
sind  und  die  Gresellschaft  mit  den  Kutschern  in  Ordnung  ist, 
dann  wäre  es  zu  den  Skandalen  nicht  gekommen,  dann  hätten 
Sie  Ihr  Militär  nicht  gebraucht,  und  die  Statthalterei  und  da? 
Ministerium  bätten  nicht  vollständig  umsonst  hernach  ihre 
ganze  Arbeiterfreundlichkeit  in  die  leere  Luft  verhauchc-n 
lassen  müssen.  Aber  das  ist  nicht  geschehen.  Statt  dessen  hat 
Polizeikommissär  Breitenfeld  den  Kutschern,  die  sich  an 
die  Behörde  gewendet  haben,  gesagt:  „Ich  gebe  euch  mein 
Ehrenwort,  wer  sich  rührt,  wird  nach  einer  Woche  abge- 
schoben. Nicht  einer  bleibt  in  Wien."  Das  war  v  o  r  dem  "Streik. 
Sie  begreifen,  die  Rede  wurde  vor  Reitzes  oder  einem  Verwal- 
tungsrat nicht  gehalten,  und  da  ging  erst  -den  Kutschern,  die 
harmlose  Leute  waren,  etwas  wie  eine  Ahnung  der  tatsäch- 
lichen Verhältnisse,  eine  Ahnung  darüber  auf,  welche  Stellung 
die  Behörden  in  dieser  Affäre,  wie  in  allen  anderen  ähnlichen, 
eingenommen  haben. 

Ich  verlasse  dieses  Kapitel,  das  ohnehin  schon  so  oft  l^e- 
sprochen  und  ausgeführt  worden  ist. 

Die  Anklageschrift  eagt  weiter,  die  auf  den  gewalt- 
samen Umsturz  der  bestehenden  Staats-  und  Gesellschafts- 
ordnung   gerichteten    Bestrebungen     erhellen     auch     aus    den 


Adler  vor  dem  Holzjuger-Senat  65 

„notorischen,  oftmals  zum  Gegenstand  objektiver  Behandlung 
gemachten  Angriffen  des  Blattes  gegen  Polizei  und  Behörden". 
Nun,  ich  weiß  es  allerdings  nicht  genau,  aber  ich  glaube,  von 
130  Nummern  der  ..Gleichheit"  sind  35  oder  40  konfisziert 
worden.  Es  wurde  also  fast  jede  dritte  oder  vierte  Nummer 
konfisziert,  aber  das  ist  kein  Grund,  uns  zu  beschuldigen,  denn 
wir  sind  nicht  sehuld  daran,  sondern  der  Staatsanwalt.  Ich 
sage  es  ausdrücklich  —  es  ist  dies  kein  Witz  —  der  Staats- 
anwalt ist  schuld  daran  und  die  Praxis,  die  hier  geübt  wird. 
Allerdings  waren  die  Angriffe  gegen  die  Polizei  und  die  Bf- 
hörden  schuld  daran,  daß  die  „Gleichheit"  meistens  konfisziert 
wurde.  Warum?  Weil  wir  jede  Ungesetzlichkeit  der  Polizei 
und  anderer  Behörden  stets  auf  das  energischeste  gerügt  und 
speziell  die  Wiener  Polizei  stets  angenagelt  haben.  Wenn  wir 
hernach  konfisziert  wurden,  so  sind  nicht  wir  daran  schuld. 
Ich  könnte  Ihnen  aus  diesen  beiden  Bänden  beweisen,  daß  wir 
nie  die  Absicht  gehabt  haben,  unter  die  Staat  und  Gesellschaft 
erhaltenden  Parteien  gerechnet  zu  werden.  Das  ist  nicht  unsere 
Funktion!  Aber  ich  könnte  auch  beweisen,  daß  die  Polizei  und 
die  Behörden  sämtliche  Gesetze,  bürgerlichen  Rechte  und  ver- 
fassungsmäßigen Freiheiten,  insofern  sie  der  Arbeiterschaft 
zugute  kommen,  in  der  unverantwortlichsten  Weise  miß- 
brauchen. Das  weiß  der  Herr  Staatsanwalt,  und  daß  wir  das 
fortwährend  angenagelt  haben,  war  die  llauptursache  der  Kon- 
fiskationen. Nun  frage  ich:  Ist  das  anarchistisch?  Die  Herren 
Richter  müssen  sich  denn  doch  klarmachen:  Wie  soll  denn  diese 
Gesellschaftsordnung,  wenn  sie  einem  gewaltsamen  Umsturz, 
überhaupt  einem  Umsturz  nicht  zugeführt  werden  soll,  wie  es 
gewiß  gewünscht  wird,  gehalten  werden?  Das  ist  doch  nur 
dadurch  möglich,  daß  diese  Gesellschaftsordnung  es  dem  arbei- 
tenden Volk  möglich  macht,  zu  existieren,  und  dazu  gehören 
nicht  nur  soziale  Reformen,  die  nichts  heißen,  sondern  auch  die 
Anerkennung  gleicher  Rechte  für  alle  nicht  nur  mit  dem 
Munde,  sondern  in  Taten,  Fall  für  Fall,  und  heute  hat  die 
österreichische  Arbeiterschaft  das  Bewußtsein,  daß  Fall  für 
Fall  das  Gegenteil  eintritt. 

Schließlich  erhellen  nach  der  Anklage  die  anarchi- 
stischen, auf  den  gewaltsamen  Umsturz  der  Staats-  und  Gesoll- 
sdiaftsordnung  gerichteten  Bestrebungen  der  „Gleichheit"  aus 
der    „agitatorischen   Haltung,   welche   das   genannte 


66  Adler  vor  dem  Holzinger-Senat 

Blatt  in  der  sozialdemokratischen  Bewegung  seit  Jähren  ein- 
zunehmen bestrebt  ist".  Die  geehrte  Anklage  hat  offenbar  am 
Schlüsse  vergessen,  was  sie  anfangs  sagte,  und  kommt  auf  ein- 
mal mit  der  sozialdemokratischen  Bewegung.  Oder  ist  das  etwa 
so  zu  erklären,  daß  wir  inneriialb  der  sozialdemokratischen 
Bewegung  eine  Eichtung  vertreten,  die  nicht  sozialdemokra- 
tisch ist;  ist  das  so  zu  verstehen,  daß  wir  unsere  eigene  Partei 
verraten,  nicht  im  Rahmen  unserer  eigenen  Partei  stehen'^ 
Dann  müßten  wir,  wenn  unsere  Parteigenossen  dem  Glauben 
schenken  würden,  was  die  heutige  Anklage  sagt,  aus  unserer 
Partei  ausgeschlossen  werden,  denn  in  der  sozialdemokratischen 
Partei  haben  anarchistische  Bestrebungen  nicht  Platz.  Die 
agitatorische  Haltung  in  der  sozialdemokratischen  Bewegung! 
Es  ist  w^ahr,  wir  'haben  in  der  Sozialdemokratie  „agitatorisch" 
gewirkt,  denn  wir  wollen  nic'ht  nur  unsere  Überzeugungen 
haben,  sondern  als  Sozialdemokraten  auch  für  sie  einstehen. 

Wir  haben  auf  diese  Weise  den  Hainfelder  Kongreß  zu- 
stande gebracht  und  dort  eine  ganz  erhebliche  „agitatorische 
Tätigkeit"  entwickelt,  aber,  hoher  Gerichtshof,  es  ist  denn 
doch  nicht  möglich,  wenn  Sozialdemokratie  und  Anarchismus 
sich  nicht  decken,  daß  in  dem  Moment  auch  der  Sozialdemokrat 
anfängt  ein  Anarchist  zu  sein,  wenn  er  „agitatorisch"  ist;  mit 
anderen  Worten,  es  würde  das  nichts  anderes  heißen  als:  Gegen 
die  Sozialdemokraten  haben  wir  nichts.  Sobald  sie  sich  aber 
rühren,  erklären  wir  sie  als  Anarchisten  und  stellen  sie  vor 
einen  Ausnahmegerichtshof.  Das  ist  der  Sinn  dieses  Satzes. 
Auf  dem  Parteitag  zu  Hainfeld  wurde  —  und  ich  bedaure  bei 
dieser  Gelegenheit,  daß  der  Bezirkshauptmann  von  Lilienfeld, 
der  unseren  Verhandlungen  mit  bemerkenswerter  Aufmerk- 
samkeit und  Ausdauer  gefolgt,  nicht  vorgeladen  wurde,  wie 
es  die  Verteidigung  gewünscht  hat  —  ausdrücklich  mit  den 
letzten  Resten  des  Anarchismus  —  nicht  anarchistisch  in  Ihrem 
Sinne,  aber  anarchistisch  in  theoretischem  Sinne,  ein  Sinn,  der 
—  der  hohe  Gerichtshof  wird  mir  verzeihen  —  denselben 
absolut  nicht  interessiert  —  sich  auseinandergesetzt.  Auf 
diesem  Parteitag  wurde  mit  übergroßer  Majorität  jener  Satz 
beschlossen,  der  heute  die  Grundlage  unserer  Partei  bildet: 
Die  Sozialdemokratie  ist  eine  politisclie 
Partei,  und  der  hohe  Staatsanwalt  weiß  sehr  genau,  daß  die 
Tätigkeit  der   „Gleichheit"  hauptsächlich  darauf  gerichtet  ist. 


Adler  vor  dem  Holzinger-Senat  6< 

diesen  Begriff  der  Sozialdemokratie  reinlich  herauszuschälen^ 
und  daß  das  gleichzeitig  ein  Prinzip  ist,  das  dem  des  Anarchis- 
mus am  meisten  theoretisch  entgegengesetzt  ist.  Das  ist  unsere 
agitatorische  Tätig-keit  in  der  Partei.  Daß  wir  Vereine  nach 
Hunderten  gegründet  und  sie  als  Personen  —  nicht  die 
„Gleichheit"  —  gefördert  und  unterstützt  haben,  ist  selbstver- 
ständlich. Anarchistisch  ist  das  vielleicht  nicht.  Daß  wir  Ver- 
sammlungen abgehalten  haben  und  überall  dabei  waren,  wo 
wir  geglaubt  haben,  für  die  Aufklärung  des  Volkes  etwas  tun 
zu  können,  war  unsere  Pflicht.  Wenn  aber  die  Staatsanwalt- 
schaft die  Sache  so  darstellen  würde,  als  ob  der  Anarchismus 
ein  höherer  Grad,  eine  höhere  Konzentrierung  der  Sozialdemo- 
kratie wäre,  daß  eine  komprimierte  Sozialdemokratie  zuletzt 
xVnarchismus  wird,  daß  etwa  die  Quantität  in  die  Qualität  um- 
schlägt, so  müßte  ich  gegen  eine  derartige  Auffassung  wohl 
meine  wissenschaftliche  Verwahrung  einlegen.  Und  die  An- 
klage, die  genau  weiß,  was  die  „Gleichheit"  ist,  was  Anarchis- 
mus, was  Sozialdemokratie  ist,  bringt  solche  Motive.  Nun,  ich 
erwarte,  daß  von  der  geehrten  Anklage  oder  von  irgendeiner 
anderen  Seite  —  da  ich  möglicherweise  nicht  mehr  ausführlich 
zum  Worte  komme,  möchte  ich  auch  darüber  sprechen  —  daß 
über  den  Ton,  der  in  der  „Gleichheit"  herrscht,  gesprochen 
werden  und  der  Vorwurf  gemacht  werden  wird,  daß,  wxnn 
schon  ihr  Inhalt  nicht  anarchistisch  ist,  doch  ihr  Ton  sehr 
anarchistisch  ist.  Ich  will  abwarten,  was  für  Stilproben  man 
uns  diesbezüglich  vorlegen  wird.  Ich  bin  mir  bewußt,  daß  icli. 
soweit  ich  die  Feder  geführt  habe,  gesucht  habe,  den  Groll,  die 
Unzufriedenheit,  die  Erbitterung,  die  herrscht  und  herrseben 
muß,  möglichst  getreu  zum  Ausdruck  zu  bringen,  denn  ich  war 
ein  Organ  dieses  Grolles,  das  war  meine  Pflicht.  Ich  war  ver- 
pflichtet, nicht  nur  weil  ich  ein  Organ  dieses  Grolles  war,  son- 
dern weil  ich,  indem  ich  dem  Groll  auf  diese  Weise  Ausdruck 
geliehen  habe,  ein  Werk  gestört  habe,  das  der  Staatsanwalt  mit 
seinem  Rotstift  so  eifrig  gefördert  hat,  nämlich,  daß  dieser 
Groll,  wenn  er  nicht  einen  vernünftigen  Ausdruck  findet,  einen 
unvernünftigen  Ausdruck  sucht.  Wir  waren  also  doppelt  ge- 
zwungen, so  scharf,  so  präzis  die  ]\Iassen  zu  Worte  kommen  zu 
lassen,  als  es  nur  irgendeine  Staatsanwaltschaft  jemals  ge- 
statten würde.  Daß  wir  uns  über  den  Staatsanwalt  mitunter 
geirrt  haben,    ist  wahr.     Wir  sind  über  die   Grenzen   hinaus- 


6S  Adler  vor  liera  Holzinger-Senat 

ge,trang"en,  der  Staatsanwalt  hat  ums  stets  wieder  herein- 
gebracht. Wir  haben  auch  gar  nicht  das  Gefühl  dabei  gehabt, 
etwas  Unrechtes  zu  tun.  wir  haben  das  Bewußtsein,  daß  wir  die 
Wahrheit  vertreten,  und  schon  Goethe  sagt  —  diesen  Aus- 
>;pruch  'hätte  ich  der  „Gleichheit"  als  Motto  vorangeschrieben, 
wenn  er  mir  seinerzeit  eingefallen  wäre:  ,,Wer  «das  Falsche 
verteidigen  will,  hat  alle  ü^gache,  leise  aufzutreten  und  sicli 
zu  feiner  Lebensart  zu  bekennen.  Wer  das  Recht  auf  seiner 
Seite  hat,  muß  derb  auftreten.  Ein  höfliches  Recht  will  ^ar 
nichts  heißen."  Und  darum  war  die  „Gleichheit''  allerdinüs 
stets  unhöflich  und  legte  W^ert  darauf,  es  zu  sein. 

Ich  bin  fertig.  Was  icih  gesagt  habe,  ist  einfach  darauf 
gerichtet,  daß  wir  nicht  vor  dem  Gerichtshof  stehen,  vor  den 
wir  zu  stellen  sind,  und  daß  wir  daher  meritorisch  auf  die 
Sache  absolut  nidlit  eingehen;  und  der  geehrten  Anklage 
möchte  ich  sagen,  sie  m  ö  g  e  doch  den  M  u  t  haben,  uns 
vor  jenen  Gerichtshof  zu  stellen,  vor  den  wir  gehören.  Wir 
haben  nic'ht  die  Absicht,  uns  pseudonym  als  Anarchisten  ver- 
urteilen zu  lassen,  das  wollen  wir  nicht.  Wenn  die  öffentliche 
Anklage  meint,  daß  das,  was  sie  beantragt,  berechtigt  i«t,  so 
bin  ich  überzeugt,  daß  die  Geschwornen  uns  genau  so  ver- 
urteilen. Nicht  um  unser  Los  zu  erleichtern,  wünschen  wir  vor 
die  Geschwornen  gestellt  zu  werden;  wir  sind  überzeugt,  daß 
derjenige  Effekt,  der  hier  vor  dem  Ausnahmegerichtshof  dur^li 
eine  langjährige  Tradition  dieses  Gerichts- 
hofes bewirkt  wird,  vor  Geschwornen  bei  einer  einigermaßen 
geschickten  Behandlung  von  selten  des  Staatsanwaltes  durch 
die  Hervorrufung  des  Bewußtseins  ihres  Klasseninteresöi^s 
vollständig  ebenso  bewerkstelligt  werden  kann.  Also  nicht  um 
das  Strafausmaß  handelt  es  sich,  aber  wir  haben  die  Verpflich- 
tung, zu  protestieren  gegen  den  Rechtsbruch, 
der  darin  liegt,  daß  wir  nicht  vor  jenes  Gericht  gestellt  werden, 
vor  das  wir  gehören,  und  die  Anklage  und  der  Gerichtsliof 
weiß,  daß  wir  dahin  gehören. 

Präsident:  Sie  haben  die  Hauptfrage  zu  beantwuiten  untoi- 
la^sen,  ob  Sie  die  inkriminierten  Artikel  selbst  verfaßt  haben. 

Angeklagter  Dr.  Adler:  Ich  habe  bereits  in  der  Vor- 
untersuchung angegeben,  daß  ich  sie  verfaßt  und  zum  Druck 
befördert  habe. 


Adler  vor  ilem  Holzinger-Senat  ßy 

Präsident  (nach  Abnahme  der  GeneialienV  Herr  B  r  e  t- 
Schneider,   bekennen    Sie   sich   schuldig? 

Angeklagter  Bretsch  neide  r:   Xein ! 

Präsident:  Was  haben  Sie  auf  die  Anklage  zu  erwidern? 

Angeklagter  Bretschneider;  Ich  werde  nur  einiges  erwähnen. 
Viel  werde  ich  nicht  sprechen,  denn  Parteigenosse  Dr.  Adler  hat  bereits 
ausführlich  die  Sache  erörtert.  Ich  bedaure,  daß  ich  die  inkriminierten 
Stellen  vor  der  Drucklegung  nicht  gelesen  habe.  Es  war  mir,  wie  ich  be- 
reits in  der  Untersuchung  sagte,  nicht  möglich,  die  inkriminierten  Stellen 
vor  der  Drucklegung  zu  lesen,  weil  sie,  der  Situation  entsprechend,  zur 
Nachtzeit  geschrieben  wurden.  Jedoch  unterschreibe  ich  von 
A  bis  Z  die  inkriminierten  Stellen  deshalb,  weil  ich  darin  eine  Über- 
tretung des  Gesetzes  bisher  nicht  finden  konnte  uml  heute  noch  diese 
Überzeugung  habe. 

Präsident:  Sie  bleiben  bei  Ihrer  Aussage  in  der  Voruntersuchung, 
daß  die  Artikel  zum  Drucke  befördert  wurden,  ohne  daß  Sie  sie  gelesen 
haben  ? 

Angeklagter    Bretschneider:    Bichlig  I 

Staatsanwalt  Soos:  Ist  das  an  diesem  Tage  nur  zufällig  unter- 
blieben, denn  sonst  pflegt  das  bei  verantwortlichen  Redakteuren  nicht 
immer  vorzukommen? 

Angeklagter  Bretschneider:  Ich  habe  bereits  erwähnt,  daß  d;e 
Artikel  anläßlich  des  Tramwaystreiks  von  Dr.  Adler  geschrieben  und  in 
die  Druckerei  befördert  wurden.  Ich  hätte  zum  Durchlesen  nicht  die 
physische  Zeit  gehabt.  Außerdem  hätte  ich  noch  zu  bemerken:  Wir  stehen 
auf  dem  sozialdemokratischen  Standpimkt  und  werden  immer  auf  dem 
Standpunkt  stehen,  daß  es  gewisse  Tatsachen  gibt,  die  u  n  t  e  r  a  1 1  e  n  Um- 
ständen ausgesprochen  und  geschrieben  werden 
müssen.  Wenn  wir  dabei  mit  der  löblichen  Staatsanwaltschaft  in  Kolli - 
:sion  geraten,  so  ist  das  nicht  unsere  Schuld.  Wenn  wir  auch  konfisziert 
worden,  haben  wir  trotzdem  die  Wahrheit  gesprochen  und  recht  gehabt. 
Aber  wenn  ich  die  heutige  Anklage  zur  Hand  nehme,  befremdet  sie  mich 
auf  das  höchlichste.  Wenn  irgendein  ganz  bescheidener  Bezirksrichter  in 
dem  Winkel  eines  versteckten  Städtchen  Österreichs,  der  niemals  Gelegen- 
heit hat  und  sie  auch  nicht  sucht  und  findet,  sich  mit  zwei  epoche- 
machenden Fragen,  wie  Sozialismus  und  Anarchismus,  beschäftigen  zu 
können,  in  die  Lage  kommt,  auf  einmal  über  diese  zwei  Fragen  ein  Urteil 
abzugeben,  so  will  ich  gerne  zugeben,  daß  dieser  gute  Bezirksrichter  die 
Anklage  sich  zurechtlegen  wird,  wie  es  ihm  bequem  ist,  und  dabei  nicht 
beweist,  daß  er  ein  Verständnis  für  beide  Fragen  hat.  Etwas  anderes  ist 
es  hier.  Wir  haben,  ich  gestehe  es  offen,  in  dem  Staatsanwalt  einen  geist- 
vollen Mann  vor  uns,  und  es  ist  undenkbar,  daß  er  in  diesen  beiden  Fragen 
eine  Unklarheit  haben  sollte,  wie  er  sie  in  der  Anklage  zum  Ausdruck 
bringt.  Er  bewegt  sich  mitten  im  geistigen  Zentrum,  mitten  in  der  Großstadt, 
wo  der  Staatsanwalt  sozusagen  in  die  Lage  versetzt  wird,  daß  er  mit  allen 
politischen  Parteien  verkehrt  und  ihre  Tätigkeit  Revue  passieren  lassen 
kann,  und  der  Gerichtshof  wie  der  Staatsanwalt  haben  längere  Zeit  meine 


70  Adlei-  vor  dem  Holzinger-Senat 

und  Dr.  Adlers  Tätigkeit  verfolgen  können,  und  sie  können  daraus  auf 
nie  Unmöglichkeit  dessen  schließen,  was  die  Anklage  behauptet.  Dieser 
Widerspruch  ist  in  mir  aufgestiegen  und  ich  kann  ihn  heute  nicht  unter- 
drücken. Erwarten  Sie  nicht  von  mir,  hoher  Gerichtshof  und  Herr  Staats- 
anwalt, daß  ich  meritorisch  auf  die  Anklage  eingehe.  Ich  habe  das  Gefühl 
und  die  vollste  Überzeugung,  daß  ich  nicht  vor  dem  rechten  Richter  stehe. 
Ich  habe  das  volle  Recht  zu  verlangen,  daß  ich  infolge  der  inkriminierten 
Stellen,  infolge  des  Preßvergehens  vor  die  Geschwornen  komme,  und  weil 
ich  vor  die  Geschwornen  gehöre,  werde  ich  mich  nur  vor  den  Geschwornen 
verantworten  und  verteidigen,  aber  vor  diesem  Gerichtshof  nicht. 
Ich  erwarte  daher  von  der  Verteidigung,  daß  sie  bezüglich  der  Kompetenz- 
tiage  einen  Antrag  stellen  werde. 

Präsident:  Es  ist  vorzulesen,  und  ich  werde  mich  diesfalls  mit  der 
Konstatierung  begnügen,  der  Bericht  der  Polizeidirektion  über  die  Beschlag- 
nahme, aus  dem  hervorgeht,  daß  zirka  IGOO  Exemplare  von  dieser  Nummei- 
gedruckt  wurden,  von  denen  nur  ein  geringer  Teil  saisiert  worden  ist,  so  daß 
ein  Teil  der  Auflage  verbreitet  worden  ist.  Das  objektive  Erkenntnis  vom 
27.  April  1889,  aus  dem  hervorgeht,  daß  das  Landesgericht  in  Wien  erkannt 
hat,  es  begründe  der  Inhalt  der  Nummer  17  der  „Gleichheit"  des  Aufsatzes 
auf  der  1.  und  2.  Seite  das  Vergehen  nach  §  305,  auf  der  2.  Seite  nach  §  300 
und  der  letzte  Aufsatz  das  Vergehen  nach  §§  302  und  305  St.-G.;  dann 
ist  beantragt  die  Veilesung  der  Nummer  18  der  „Gleichheit". 

Staatsanwalt:  Ich  habe  im  Laufe  des  gestrigen  und  vorgestrigen 
Tages  einige  wenige  Nummern  der  „Gleichheit"  herausgesucht  und  ich  stelle 
an  den  hohen  Gerichtshof  die  Bitte  —  ich  glaube,  es  wird  seitens  des  Ver- 
teidigers dagegen  keine  Einwendung  erhoben  werden  —  daß  die  von  mir 
rot  bezeichneten  Stellen  zur  Kenntnis  des  Gerichtshofes  gebracht  werden. 
Es  sind  das  Stellen,  die  nach  meiner  Meinung  für  meinen  Schlußappell  an 
den  hohen  Gerichtshof  Anhaltspunkte  bieten  könnten,  daß  das,  was 
Dr.  Adler  bezüglich  der  Haltung  der  „Gleichheit"  gesagt,  nicht  immer  ganz 
richtig  ist,  sondern  daß  Stellen  vorkommen,  die  über  den  Rahmen  des  Pro- 
gramms, auch  des  Hainfelder  Programms  hinausgehen,  daß  Stellen  vor- 
kommen, die  gewiß  die  Deutung  zulassen,  daß  selbst  die  „Gleichheit"  die 
gewaltsame  Lösung  der  sozialen  Frage  in  den  Bereich  ihrer  Erwägung  ge- 
zogen hat,  ja  daß  sogar  Stellen  vorkommen,  welche  einer  Drohung  mit  Ge- 
walt so  gleichsehen,  wie  ein  Ei  dem  andern.  Es  sind  das  die  Stellen  aus 
Nr.  2  vom  12.  Jänner  1889,  Seite  5,  dann  aus  der  Nummer  vom  7.  Juni  1889 
Nr.  28,  dann  eine  Stelle  aus  Nr.  46  vom  17.  November  1888,  Seite  1.  Ich 
hätte  noch  mehr  solche  drohende  Stellen  herausfinden  können,  ich  habe 
mich  aber  mit  diesen  wenigen  begnügt,  und  endlich  muß  ich  zur  Kenntnis 
des  hohen  Gerichtshofes  bringen,  weil  ich  genötigt  bin,  in  meinem  Schluß- 
appell daran  Folgerungen  zu  knüpfen,  Nr.  24  der  „Gleichheit"  vom  24.  Juni 
1889,  Seite  6,  und  zwar  die  Stelle  über  „Steyr",  wo  von  der  Teufelmayer- 
schen  Fabrik  die  Rede  ist. 

Verteidiger:  Ich  erlaube  mir  die  Erklärung  abzugeben,  daß  ich 
gegen  die  Anträge  des  geehrten  Herrn  Staatsanwaltes  absolut  nichts  ein- 
zuwenden habe,  daß  ich  mir  aber  vorbehalte,  gegen  deren  Begründung  später 


Adler  vor  dem  Holzinger-Senat  71 

Stellung  zu  nehmen.  Ich  erlaube  mii  nur  die  Frage:  Sind  das  durchweg 
konfiszierte  Nummern?  Es  wäre  mir  interessant,  das  in  jedem  einzelnen 
Falle  feststellen   zu  lassen. 

Staatsanwalt:  Ich  glaube,  nur  die  Nummer  23  vom  7.  Juni 
ist  konfisziert. 

Dr.  Adler:  Xr.  46  vom  Jahre  1888  ist  auch  mit 
Besehlag  belegt. 

(Präsident  verliest  hierauf  die  zitierten  Stellen.) 

Verteidiger:  Ich  würde  Gewicht  darauf  legen,  nach  dem  Gesetz 
bin  ich  auch  berechtigt,  dies  zu  begehren,  daß  auch  noch  einige  andere 
Stellen  verlesen  werden,  um  zu  zeigen,  woraus  die  hohe  Staatsanwaltschaft 
auf  den  Anarchismus  schließt,  und  zwar  bitte  ich  die  Notiz,  betitelt  „Eine 
juristische  Frage",  und  aus  Nr.  18  auf  Seite  3  das  Ende  des  Artikels  über 
den  Tramwaystreik,  beginnend  mit  den  Worten:  ..wir  wollen,  daß  die  nun- 
mehr erwachte  Energie  der  Regierung  usw."   zu   verlesen. 

Präsident  (verliest  hierauf  diese  Stellen  sowie  die  Leumundsnoten 
und  Auskunftstabellen  über  die  beiden  Angeklagten). 

Verteidiger:  Den  Intentionen  meiner  Klienten  Rechnung  tragend, 
im  Interesse  der  Vereinfachung  der  Verhandlung  und  im  Interesse  meines 
eigenen  Rechtsstandpunktes  möchte  ich  den  geehrten  Vorsitzenden,  even- 
tuell den  hohen  Gerichtshof  bitten,  nachdem  bisher  ausschließlich  die  Kom- 
petenzfrage erörtert  worden  ist  und  das  Meritum  nur  insoweit,  als  es  zur 
Beurteilung  und  Begründung  der  Kompetenzfrage  notwendig  war,  zu  ver- 
fügen, daß  vorerst  über  die  Kompetenzfrage  verhandelt  und  die  Parteien- 
vorträge angehört  werden,  bevor  in  eine  Erörterung  der  Schuldfrage  ein- 
gegangen wird. 

Was  die  Vorführung  des  Beweismaterials  anbetrifft,  so  steht  dies 
in  der  Macht  des  Vorsitzenden,  eventuell  des  hohen  Gerichtshofes,  und  was 
die  Parteienvorträge  betrifft,  sind  sie  durch  die  Strafprozeßordnung  keine.s- 
wegs  veiboten,  jin  Gegenteil  sie  sind  auf  Grund  analoger  Bestimmungv;'! 
als  zulässig  anzusehen.  Auf  die  Kompetenzfrage  bezieht  sich  auch  eine 
Reihe  von  anderen  Anträgen  betreffend  die  Vorlesungen  und  Einver- 
nelmiung  ^'on  Zeugen,  die  ich  mir  zu  stellen  erlauben  werde.  Was  die  Vor- 
lesimgen  betrifft,  setze  ich  voraus,  daß  die  Verteidigung,  nachdem  ja  .ius  der 
notorischen  Kailuna  der  „Gleichheit"  Schlüsse  gezogen  werden,  auch  nach 
Ansicht  des  hohen  Gerichtshofes  sich  wird  freier  l.iewegen  dürfen. 

Es  ist  nicht  gerade  nötig,  alle  Nummern  der  ^-Gleichheit"  zu  verlesen, 
aber  ich  beantrage  jedenfalls  die  A^'erlesung  der  den  Akten  bo'.Iicgemlen 
Haip.feider  Bcs;'h!üs&e.  nachdem  die  Tätigkeit  der  Angeklagten  in  der  ejid- 
lichen  Herbeiführung  dieser  Beschlüsse  gipfelt.  Mein  Antrag  ist  um  so  be- 
gründeter, als  auch  in  den  Leumundsnoten  über  die  beiden  Angeklagten  v^.er 
Tätigkeit  derselben  auf  dem  Hainfelder  Parteitag  gedacht  wird.  Das  bringt 
mich  v.eiters  dazu,  die  Vernehmung  von  Zeugen  neuerlich  zu  beantragen, 
deren  Vorladung  ich  bereits  in  der  Voruntersuchung  beantragt  habe, 
weichem  Wunsqhe  jedoch  von  der  Ratskammer  nicht  stattgegeben  wurde. 
Ich  beantrage  vor  allem  die  Vorladung  des  Polizeipräsidenten 
Baron  K  r  a  u  ß  und   des  Bezirkshauptmannes  Grafen   Auersperg.   Nach- 


72  Adler  vor  tlem  Holziuger-8eaat 

dem  die  Anklage  behauptet,  daß  die  Angeklagten  eine  Tätigkeit  im  anarchi- 
stischen Sinne  entfaltet  haben,  wobei  man  sich  auf  die  Leumundsnoten 
beruft,  so  glaube  ich  berechtigt  zu  sein  zu  verlangen,  daß  derjenige,  der  als 
Vorstand  der  Wiener  Polizeibehörde  diese  Noten  zeichnet,  als  Zeuge,  nicht 
über  seine  Meinung,  sondern  über  die  Tatsache  zitiert  werde,  daß  die  An- 
geklagten stets  nur  eine  Tätigkeit  in  allem  und  jedem  im  sozialdemo- 
kratischen, nie  aber  im  anarchistischen  Sinne  entfaltet  haben,  und  daß 
dies  dem  betreffenden  Zeugen  aus  seiner  amtlichen  Tätigkeit  bekannt  ge- 
worden ist.  Nachdem  es  sich  hier  nicht  um  einen  inneren  amtlichen  Vor- 
gang handelt,  sondern  um  etwas,  was  durch  die  Leumundsnoten  und  die 
Berufung  der  Anklage  auf  die  Haltung  der  ,. Gleichheit"  in  die  Außenwelt  ge- 
bracht wurde,  so  kann  hier  selbstverständlich  von  einem  Amtsgeheimnis 
keine  Rede  sein,  abgesehen  davon,  daß  es  einem  jeden  höheren  Beamten  vor 
illem.  selbst  überlassen  sein  muß,  ob  er  es  angezeigt  findet,  im  anderen 
Falle  sich  von  der  Verpflichtung  zur  Wahrung  des  Amtsgeheimnisses  ent- 
binden zu  lassen.  Dieselben  Argumente  sprechen  für  die  Vorladung  des 
Grafen  Auersperg,  der  bei  den  Hainfelder  Verhandlungen  als  Gast  zwei 
Tage  hindurch  anwesend  war,  so  daß  er  am  besten  in  der  Lage  ist,  fest- 
zustellen, daß  die  Tätigkeit  speziell  der  beiden  Angeklagten  auf  diesem 
Parteitag  eine  eminent  sozialdemokratische  und  nicht  anarchistische  ge- 
wesen ist.  Ich  knüpfe  daran  den  Antrag,  um  nicht  allein  Beamte,  sondern 
auch  solche  Zeugen  kennenzulernen  und  vorzuführen,  welche  selbst  in 
der  Arbeiterbewegung  tätig  sind,  es  mögen  als  Zeugen  vorgeladen  werden: 
Karl  Kautsky,   Heinrich  Gehrke  und  Julius  Popp. 

Herr  Kauisky  —  ich  will  an  seine  Tätigkeit  keine  weiteren  Elogen 
knüpfen  —  ist  ein  bekannter  ökonomischer  Schriftsteller,  der  eine  vor 
allen  berufene  Person  ist,  um  ein  Urteil  darüber  abzugeben,  ob  die  Tätig- 
keit der  Angeklagten,  die  er  genau  kennt,  unter  den  Begriff  der  sozialdemo- 
kratischen oder  anarchistischen  Agitation  zu  fassen  ist.  Die  Herren  Gehrke 
und  Popp  sind  seit  vielen  Jahren,  seitdem  es  überhaupt  eine  Arbeiter- 
bewegung m  Österreich  gibt,  in  der  Arbeiterbewegung  praktisch  tätig,  sie 
kennen  gleichfalls  die  Tätigkeit  der  Angeklagten  und  sind  in  der  Lage, 
darüber  Au.skunft  zu  geben,  ob  die  Tätigkeit  der  Angeklagten  wirklich  eine 
solche  ist,  wie  sie  die  Anklage  schildert;  ich  habe  noch  einen  weiteren 
Antrag  zu  stellen,  der  mir  einigermaßen  unangenehm  ist,  insofern  als, 
v.-enn  man  demselben  stattgeben  würde,  ich  der  Anwesenheit  meines  sehr 
geschätzten  Gegners  in  dieser  Verhandlung  entbehren  müßte,  was  mich  um 
so  mehr  schmerzen  müßte,  als  die  Anwesenheit  des  Chefs  der  Staatsanwalt- 
schaft dazu  dient,  um  die  Verhandlung  auf  ein  höheres  Niveau  zu  heben. 
Ich  muß  die  Vorladung  des  k.  k.  Oberlandesgerichts  rates 
•and  Staatsanwaltes  Soos  als  Zeuge  zur  Verhandlung  beantragen, 
und  zv.^ar  aus  folgendem  Motiv: 

Herr  Dr.  Adler  hat  behauptet  und  ist  diesbezüglich  von  dem  Herrn 
Vorsitzenden  zurechtgewiesen  worden,  daß  der  Staatsanw'alt  Soos  die 
heutige  Anklage  wider  besseres  Wissen  vorgebracht  habe.  Eine 
solche  Behauptung  ohne  eine  gründliche  Erörterung,  ohne  eine  mögliche 
Widerlegung  könnte  den  Anlaß  zu  einem  Mißton,  zu  einem  Mißverständnis 


Adlei-  vor  dem  Holzinger-Senat  T8 

geben.  Das  ist  ein  Anlaß  i  n  der  Verhandlung.  Außer  der  Verhandlung 
besteht  noch  ein  weiterer  Anlaß.  Tn  der  parlamentarischen  Debatte,  die  im 
Dezember  18S8  im  Abgeordnelennause  über  die  Verlängerung  des  Aus- 
nahmegesetzes respektive  die  Regierungsvorlage  über  die  Verordnung  des 
Gesamtministeriums,  die  heute  als  gesetzliche  Basis  dient,  slaltgelunden 
hat,  hat  sich  der  Regierungsvertreter  Ministerialrat  Dr.  Krall  ausdrücklich 
auf  die  Berichte  der  Wiener  Staatsanwaltschaft  bezogen  und  gesagt:  daß 
es  diese  Behörde  war,  welche  einen  offenen  Blick  für  solche  Verhält- 
nisse hat  und  konstatieren  konnte,  daß  die  rückläufige  Bewegung  unter 
den  Anarchisten  in  erster  Linie  auf  den  Abscheu  und  das  Entsetzen  der 
Arbeiterschaft  vor  solchen  Taten  zurückzuführen  ist.  Durch  diese  parla- 
mentarische Bemerkung  sind  jedenfalls  auch  diese  Berichte,  die  sonst  im 
Interesse  des  Amtsgeheimnisses  verschlossen  zu  sein  pflegen,  in  die  Öffent- 
lichkeit gebracht  worden.  Dazu  kommt,  daß  ich  von  so  glaubwürdiger 
Seite,  daß  mir  ein  Zweifel  darüber  nicht  übrigbleibt,  in  Kenntnis  des  Um- 
standes  bin,  daß  die  geehrte  Wiener  Staatsanwaltschaft  in 
ihren  Berichten  selbst  wiederholt  erklärt  liat,  daß  die  Haltimg 
der  „Gleichheit"  keine  anarchistische  sei  und  daß  daher  dieses  Blatt  kein 
anarchistisches  sei.  Es  mag  mir  vielleicht  eingewendet  werden,  daß  auch 
in  dieser  Hinsicht  die  Wahrung  des  Amtsgeheimnisses  obliegt.  Aber  icli 
»laube,  daß  in  dem  Augenblick,  wo  überhaupt  ein  Zweifel  darüber  angeregt 
V.  ird,  ob  die  offene  Hallung  einer  Behörde  mit  der  Haltung  ihrer  Berichte 
an  vorgesetzte  Behörden  in  Übereinstimmung  zu  bringen  ist,  ein  eminent 
öffentliches  Interesse  es  verlangt,  daß  dieser  Umstand  vor  dem  Gerichtshof 
und  der  Öffentlichkeit  klargestellt  werde.  Ich  bin  überzeugt,  daß  in  diesem 
Falle  der  hohe  Chef  des  Staatsanwaltes,  Seine  Exzellenz  Dr.  Graf  S  c  h  ö  n- 
b  o  r  n,  viel  zu  loyal  sein  wird,  um  den  geehrten  Staatsanwalt  nicht  von 
der  Verpflichtung  zur  Wahrung  des  Amtsgeheimnisses  zu  entbinden.  Sollte 
iler  Gerichtshof  diesbezüglich  Skrupel  haben,  so  bleibt  mir  nichts  anderes 
iibri&,  als  zu  verlangen,  daß  der  Chef  der  Behörde,  Seine  E.xzellenz  Dr.  Graf 
Schönborn,  als  Zeuge  darüber  vernommen  werde,  daß  die  Wiener 
Staatsanwaltschaft  über  die  Haltung  der  „Gleichheit"  wiederholt  in  dem 
Sinne  berichtet  hat,  daß  die  „Gleichheit"  kein  anarchistisches  Blatt  ist, 
und   daß   ihre  Bestrebungen   nicht  anarchistisch  sind. 

Präsident:  Was  den  ersten  Antrag  anbelangt,  Trennung  der  Vor- 
träge bezüglich  Kompetenz-  und  Schuldfrage,  so  glaube  ich,  daß  darüber 
ein  Gerichtsbeschluß  nicht  einzuholen  ist,  sondern,  daß  ich  darüber  selbst 
zu  entscheiden  habe,  und  ich  erkläre,  daß  ich  eine  solche  Trennung  nicht 
vornehmen  werde,  weil  nach  der  Strafprozeßordnung  nur  eine  Trennung 
der  Vorträge  über  Schuld  und  Strafe,  nicht  aber  über  andere  Fragen  zu- 
lässig ist.  Was  das  Hainfelder  Programm  anbelangt,  werde  ich  es  zur  Ver- 
lesung bringen.  Was  die  Zeugenvorladungen  "anbelangt,  werde  ich  einen 
(ierichtsbeschluß  einholen  und  ich  bitte  daher  den  Staatsanwalt,  sich  dar- 
über zu  äußern. 

Staatsanwalt  S  o  o  s :  Ich  bin  durch  die  geehrte  Verteidigung 
in  eine  gewisse  Zwangslage  versetzt  worden,  jetzt  eine  Äußerung  abzu- 
geben, weil  meine  Person  unter  den  Zeugen  figuriert.  Ich  glaube  aber  doch, 


Adler  vor  dem  Hoizing;er-Senat 


daß  ich  diesen  Antrag  zu  beantworten  berechtigt  bin,  weil  ich  hier  nicht  als 
Privatperson,  als  Zeuge,  sondern  als  Vertreter  der  Anklage  stehe,  und  ich 
kann  diesbezüglich  die  Bemerkung  machen:  Meine  eigene  Vernehmung  ist 
aus  dem  Gmnde  unzulässig,  weil  das,  worüber  ich  vernommen  werden  soll, 
Gegenstand  des  internen  Amtsverkehrs  ist,  dem  Ausdruck  zu  geben  ich 
niemals  in  der  Lage  bin,  weil  es  mir  nach  dem  Gesetz  nicht  gestattet  ist. 
Ich  werde  über  das,  was  in  einem  Amtsbericht  gesagt  wird,  in  einer 
öffentlichen  Verhandlung  nicht  sprechen,  ich  kann  dem  keinen  Ausdruck 
geben,  hoher  Gerichtshof,  wie  meine  Äußerungen  über  die  „Gleichheit"  in 
meinem  Amtsbericht  ausgefallen  sind,  und  daher  ist  die  Sache  gegenstands- 
los. Ich  glaube  aber  auch,  daß  Seine  Exzellenz  der  Herr  Justizminister  sich 
kaum  veranlaßt  sehen  würde,  über  Auskünfte,  welche  die  Staatsanwalt- 
schaft gegeben  hat,  hier  als  Zeuge  zu  sprechen,  aus  demselben  Grunde,  aus 
dem  ich  schweigen  muß,  und  ich  halte  daher  auch  die  Vorladung  dieses 
Zeugen  für  überflüssig.  Ich  könnte  diese  Bemerkung  gleich  ausdehnen  auf 
die  anderen  Zeugen,  deren  Vorladung  beantragt  wurde,  nämlich  den 
Polizeipräsidenten  Baron  Krauß  und  den  Bezirkshauptmann  von  Lilien- 
ield,  Grafen  A  u  e  r  s  p  e  r  g,  nachdem  auch  diese  Zeugen  unter  dem  Banne 
ihrer  Amtstätigkeit  gestanden  sind,  wobei  ich  die  Berufung  der  Verteidigung 
auf  die  Polizeinoten  für  keine  besonders  glückliche  Wendung  halte,  nach- 
dem der  Polizeipräsident  derjenige  gewesen  ist,  der  die  „Gleichheit"  in 
letzter  Zeit  eingestellt  hat,  weil  ihm  die  Haltung  des  Blattes  in  letzter 
Zeit  so  gefahrdrohend  erschienen  ist,  daß  er  von  dem  Ausnahmegesetz  ge- 
rade gegen  dieses  Blatt  Gebrauch  gemacht  hat.  Was  die  übrigen  Zeugen 
anbelangt,  die  der  Verteidiger  wünscht,  so  sind  das  keine  Zeugen,  sondern 
es  wären  dies  Sachverständige;  und  ob  jemand  Sozialdemokrat  oder 
Anarchist  sei,  oder,  wenn  ich  richtiger  sagen  soll,  ob  anarchistische  Be- 
strebungen irgendeiner  Richtung  zugrunde  liegen,  kann  nie  Gegenstand 
eines  Zeugenbeweises  sein. 

Einen  solchen  Sachverständigenbeweis  kennt  unsere  Strafprozeß- 
ordnung nicht,  Sachverständige  können  über  einen  Leichenfund  gehört 
werden,  über  Stimmungen  und  subjektive  Gefühlsmomente  gibt  es  aber 
keinen  Sachversländigenbeweis.  Ich  stelle  daher,  nachdem  die  anderen  .Vn- 
gelegenheitcn  seitens  des  Herrn  Vorsitzenden  bereits  erledigt  wurden,  dio 
Bitte  auf  Abweisung  der  gestellten  Anträge. 

Angeklagter  Dr.  Adler: 

Ich  möchte  gleich  bezüglich  des  Polizeipräsidenten  eine 
Bemerkung  machen.  Der  Herr  Staatsanwalt  findet,  daß  wir  mit 
dem  Polizeipräsidenten  keine  glückliche  Wahl  eines  Ent- 
lastungszeugen getroffen  haben.  Möge  uns  das  der  geehrte  Herr 
Ankläger  ruhig  überlassen.  Wir  wissen  genau,  was  wir  den 
Polizeipräsidenten  fragen  werden.  Er  hat  die  „Gleichheit" 
nicht  unterdrückt  —  er  hat  es  auch  mit  keinem  Worte  gesagt 
—  weil  anarchistische,  auf  den  gewaltsamen  Umsturz  gerichtete 
Bestrebungen  in  der  „Gleichheit"  zutage  getreten  sind,  sondern 


Adler  vor  dem  Holziuger-Senat  75 

er  hat  sie  unterdrückt  im  „Interesse  der  öffentlichen  Sicher- 
heit und  Ordnung",  das  heißt,  weil  sie  ihm  unbequem  ist.  Man 
hat  eben  nicht  gewußt,  soll  man  uns  erst  einsperren  und  dann 
das  Blatt  umbringen,  oder  soll  man  erst  das  Blatt  umbringen, 
lim  uns  dann  besser  einsperren  zu  können.  Die  Vorgänge  der 
letzten  Zeit  haben  es  gemacht,  daß  ein  Wechsel  in  dem  Plane' 
erfolgt  ist,  und  die  Denunziationen  der  Blätter  gegen  uns 
haben  dazu  beigetragen.  Was  den  Sachverständigenbeweis  an- 
langt, von  dem  der  Herr  Staatsanwalt  spricht,  so  konstatiere 
ich  hier  nur,  daß  er  ausdrücklich  gesagt  hat,  es  handelt  sich 
um  Stimmungen,  subjektive  Erwägungen  und  derlei.  Diese 
Stimmungen  und  subjektiven  Erwägungen  —  ich  bitte,  das  im 
Auge  zu  behalten  —  sind  es,  die  den  einen  vor  den  ordentlicnen 
Richter,  den  anderen  vor  den  Ausnahmerichter  bringen.  Das 
i.st  die  eherne  Praxis,  auf  welcher  sich  die  Motivierung  der  An- 
klage erhebt.  Ich  bin  überzeugt,  daß  der  Polizeipräsident,  wenn 
er  hier  die  Wahrheit  sagte,  ruhig  sagen  würde:  Die  „Gleich- 
heit" ist  kein  anarchistisches  Blatt.  Und  daß  sie  auf  Grund  der 
Ausnahmeverfügung,  nicht  des  Ausnahmegesetzes  —  der 
Staatsanwalt  weiß,  daß  ein  Unterschied  ist  —  eingestellt  wurde, 
beweist  nichts.  Auf  Grund  der  Ausnahmeverfügung  könnte 
morgen  irgendein  sonstiges  unbequemes  Blatt  eingestellt 
werden,  und  wenn  es  sich  die  „Neue  Freie  Presse"  einfallen 
ließe,  unbequem  zu  werden,  so  könnte  sie  aus  Rücksichten  für 
die  „öffentliche  Sicherheit  und  Ordnung"  eingestellt  werden, 
lind  niemand  wird  behaupten,  daß  dieses  Blatt  anarchistisch  ist. 
1  )as  stimmt  absolut  nicht.  W^enn  wir  anarchistische  Be- 
-trebungen  hätten,  so  würden  wir  von  unserer  eigenen  Partei 
ausgeschlossen  werden.  Darum  wollen  wir  Männer  von  unserer 
eigenen  Partei  als  Zeugen  darüber,  daß  wir  nichts  getan  haben. 
was  dem  Parteiprogramm  widerspricht.  Wenn  das  der  Staats- 
anwalt für  seine  Sache  nicht  geeignet  findet,  so  begreife  ich  das. 

Der   Gerichtshof    zieht    sich    hierauf    zur  Beschlußfassung    zurück.; 

Präsident  (nach  "Wiederaufnahme  der  Sitziung):  Der  Gerichtshof 
hat  beschlossen,  den  Aiilras  der  Verteidigung  auif  Vorladung  der  genannten 
Zeugen  zurückzuweisen,  weil  es  sich  dabei  nicht  uan  die  Bestätigung 
von  Tatsachen,  sondern  um  die  Abgabe  von  Meinungen  und  Gutachten  handeln 
würde,  worüber  Zeugen  nicht  zu  vernehmen  sind,  ferner  weil  auch  ühev 
die  frühere  Haltung  der  ..Gleichheit"  eine  Beweisaufnahme  nicht  notwendig 
ist  un'ct  der  Gerichtshof  sich  darüber  seine  Meinung  selbst  bilden  wird,  ol' 
den    inkriminierten    Artikeln     anarchistische,     auf     den    Umsturz    gerichtete 


76  Adler  vor  dem  Holzinger-Seiiat 

Bestrebungen  zugrunde  liegen.  (Der  Präsident  verliest  hierauf  die  Beichlü-se 
des  Hainfelder  Parteitag«?.) 

Dr.  Adler: 

Ich  möchte  mir  erlauben,  einige  Bemerknng-en  über  die 
von  dem  Staatsanwalt  beantra.i^ten  Verlesungen  zu  machen,  da 
ja  diese  offenbar  als  Beweismittel  herangezogen  wurden.  Ich 
habe  gleich  anfangs  bemerkt,  daß  ich  es  im  Interesse  der  An- 
geklagten halten  würde,  wenn  nicht  nur  einzelne  Xummevn, 
sondern  die  ganze  .,Gleichheit"  zur  Kenntnis  des  hohen 
Gerichtshofes  gebracht  würde,  und  ich  l)in  selbstverständlich 
dafür  dankbar,  wenn  auch  nur  etwas  verlesen  wird.  Die  Stellen, 
um  die  es  sich  handelt  und  die  uns  zum  Vorwurfe  gemacht 
werden,  welche,  wie  der  Staatsanwalt  ausgeführt  hat,  beweisen 
sollen,  daß  wdr  uns  nicht  innerhalb  des  Programms  gehalten 
haben,  daß  wir  nicht  auf  sozialdemokratischem,  sondern  auf 
anarchistischem  Standpunkt  in  einzelnen  Fällen  gestanden 
sind,  haben  alle  etwas  Gemeinsames.  Alle  diese  Stelleu,  sagt 
der  Staatsanwalt,  sprechen  eine  D  r  o  h  u  n  g  aus.  Das  ist  alicr 
keine  Drohung,  sondern  eine  Prophezeiung.  Das  ist  ein  großer 
Unterschied.  Wenn  die  „Gleichheit"  vom  „B  1  i  t  z  e"  spricJit, 
so  hält  sich  die  sozialdemokratische  Partei  nicht  für  den  I>litz 
selbst.  Aber  sie  weiß,  daß  der  Blitz  kommen  wird,  und  sie  sagt 
von  diesem  Blitze,  durch  den  die  heutige  Gesellschaftsordnung 
zusammenbrechen  wird,  um  einer  neuen  Gesell^^chaftsordnuiig 
Platz  zu  machen,  daß  sie  ihn  nicht  nur  voraussieht,  sondcM-n 
auch  wünscht,  und  daß  sie  ihn  wünscht,  i>^t  begreiflich,  denn 
sie  spricht  im  Namen  jenei-,  die  unter  den  heutigen  Gesell- 
schaftszuständen  leiden.  Es  wird  al)er  hiei-  nicht  gesagt,  daß  die 
„Gleichheit"  bestrebt  ist,  mittels  Gewalt  diesen  Zustand  ni:t- 
hcrbeizuführen,  und  darauf  kommt  es  an.  Gerade  der  Umstand, 
daß  immer  im  Zusammenhang  die  Rede  war  von  einem  Blitze, 
der  mit  den  meteorologischen  Verhältnissen,  wir  wiir(h,'u  sagen 
geschichtlichen  Verhältnir>sen,  zusamnumhängt,  zeigt,  daß  wir 
es  für  unmöglich  halten,  daß  eine  so  kleine  Partei  wie  die 
sozialdemokratische  heute  in  der  Lage  wäre,  einen  gewaltsamen 
Umsturz  herbeizuführen.  Das  ist  vollständig  im  Rahmen 
unseres  Programms,  und  ich  möchte  den  hohen  Staatsanwalt 
ersuchen,  die  Obsorge  darüber,  ob  wir  im  Rahmen  unseres 
Programms  bleiben,  ruhig  uns  zu  überlassen.  An  einer  weiteren 
Stelle,   und    auch     dai-auf    wni'dc    hingewiesen,  sagen    wir    i]rn 


Adier  vor  dem  Holzingor-Senal 


Finanzwächteiii  :  „Sie  haben  so  viele  Petitionen  an  das  Ah- 
oeordnetenhaus,  an  den  Budgetausschiiß  gerichtet,  alle  sind  in 
den  Papierkorb  gewandert."  Das  ist  wahr.  Wir  sagen:  .,Si»' 
sind  sehr  höflich  nnd  demütig."  Das  ist  wahr.  Wir 
sagen  ihnen:  „Das  ist  nicht  der  richtige  Weg,  iin\ 
dem  man  zum  Ziele  kommt,  zum  Ziele  kommt  man,  ■ 
wenn  man  sich  auf  den  proletarischen  Klassenstandpunkt 
stellt,  und  von  diesem  Standpunkt  kann  man  auch 
heute  noch  etwas  erreichen",  den  Beweis  liefert  die  Geschichte 
der  letzten  Zeit.  Niemals  hätten  die  Kutscher  und  Angestellten 
der  Tramway  in  Wien  die  kleine  Verbesserung  erreicht,  die  sie 
heute  erreicht  haben,  wenn  sie  sich  mit  einer  Petition  ans  Ab- 
geordnetenhaus gewendet  hätten.  Wir  sagen  ako:  Aufklärung 
ist  für  die  Leute  notwendig,  sie  müssen  sich  als  Proletarier 
fühlen.  Ebenso  verhält  es  sich  mit  der  konfiszierten  Stelle  in 
der  Korrespondenz  aus  Norddeutschland,  die  sich  auf  den 
Streik  in  Österreich-Ungarn  und  die  Rheinprovinzen  bezieht, 
und  wo  es  am  Schluß  heißt :  „Die  Rechnung  wird  auf  einmal 
beglichen  werden."  Gewiß!  und  das  wird  sie  auch,  aber  nicht 
von  uns!  Wir  sind  nicht  diejenigen,  die  unten  das  Saldo  ab- 
schließen werden.  Das  wird  jemand  anderer  sein,  das  ist  die 
Weltgeschichte.  Das  ist  unser  Standpunkt.  Eigentüm- 
lich muß  es  mich  berühren,  daß  gerade  uns,  Genossen  B  r  e  t- 
schneider  und  mir,  das  vorgeworfen  wird;  in  einem 
anarchistischen  Blatt  wird  von  uns  als  von  der  „Wassersuppen- 
])artei"  gesprochen,  eigentümlich,  weil  ich  mich  daran  erinnere, 
daß  es  historisch  ist,  daß  genau  derselbe  Ausdruck  „Wasser- 
suppensozialisten" im  österreichischen  Gerichtssaal  gefallen  ist 
von  dem  damaligen  Staatsanwalt,  vom  Grafen  L  a  m  e  z  a  n;  die- 
selbe Partei  steht  heute  vor  Ihnen  als  „anarchistiöche". 

Ich  komme  auf  die  letzte  und  wahrscheinlich  jene  Ver- 
lesung, auf  die,  so  harmlos  sie  aussieht,  der  Herr  Staatsanwalt 
den  meisten  Wert  legt,  das  ist  die  kleine  Notiz  über  den  Fabri- 
kanten Teufelmayer  und  die  Zustände  in  seiner  Fabrik  in 
S  t  e  y  r.  Die  „Gleichheit"  ist  immer  auf  dem  Standpunkt  ge- 
standen: Wir  verlangen  nicht  von  euch,  das  heißt  von  der  heuti- 
gen Gesellschaft,  daß  ihr  eure  Gesetze  nach  unseren  Prin- 
zipien einrichtet.  Wir  sind  weder  so  unbescheiden  noch  so  un- 
klug, wir  verlangen  von  euch  nur,  daß  ihr  eure  eigenen 
Gesetze    ausführt,    und    das    scheint    uns  ein   ziemlich 


78  Adler  vor  dem  Holzinger-Senat 

hilliges  Verlangen  zu  sein.  Die  „Gleichheit"  hat  darum  von 
jeher,  ebenso  wie  sie  die  strikte  Einhaltung  der  politischen 
Gesetze  gefordert,  im  Interesse  der  Arbeiterklasse  auch  der 
Arbeiterschutzgesetzgebung  die  größte  Aufmerksamkeit  ge- 
widmet. Über  die  Hälfte  des  Blattes  ist  dieser  Arbeit  gewidmet 
worden.  Das  ist  dasjenige,  was  wir  in  unserem  Programm  unter 
physischer  Erhaltung,  unter  Kampfbereitschaft  des  Proletariats 
verstehen.  In  dieser  Eigenschaft,  in  Erfüllung  dieser  Aufgabe 
haben  wir  ungezählte  Hunderte  von  Übertretungen  der 
Arbeiterschutzgesetze  zur  Kenntnis  der  Behörde  gebracht;  wir 
haben  das  getan,  und  es  kann  allerdings  sehr  leicht  vorkommen, 
und  das  wird  man  uns  nicht  übelnehmen,  daß  wir,  da  wir  nicht 
selbst  Gewerbeinspektoren  sind,  das  eine  oder  das  andere  Mal 
unrichtig  berichtet  wurden  und  demgemäß  eine  unrichtige 
Notiz  gebracht  haben.  Die  Notiz  über  Steyr  aber  war  ebenso 
richtig  wie  die  ausführlichen  Darlegungen,  die  wir  seinerzeit 
über  die  Lage  der  Ziegelarbeiter  und  welche  wir  über  die  Lage 
der  Bediensteten  der  Wiener  Pferdebahn-Gesellschaft  gebracht 
haben.  Richtig  waren  alle  diese  Berichte,  und  wenn  sich  an 
derlei  Dinge  Erregungen  geknüpft  haben,  während  das  in 
bezug  auf  alle  anderen  Notizen  nicht  erfolgt  ist,  so  ist  das  nicht 
unsere  Schuld.  Die  Wahrheit  der  Notiz  über  Steyr  ist  vom 
Bürgermeister  in  Steyr  selbst  bestätigt  worden.  Er  hat  näm- 
lich an  dem  Tage  nach  der  Katzenmusik  plakatieren  lassen, 
daß  die  Ordnung,  nämlich  die  Ordnung  in  der  Fabrik  Teufcl- 
mayer,  und  die  Arbeitszeit  nach  der  Gewerbeordnung  von  nun 
dort  eingeführt  wird.  Das  ist  zugestanden  worden.  Wenn  dann 
Unruhen  entstanden  sind,  so  sind  sie  nicht  infolge  der  Notiz  ge- 
kommen, sondern  darum  —  und  diesbezüglich  werde  ich  mir 
erlauben,  eine  Verlesung  zu  beantragen  —  weil  der  Bürger- 
meister von  Steyr  etwas  voreilig  das  Ehrenwort  gegeben  hat, 
es  werde  niemand  arretiert  werden,  und  am  nächsten  Tage  es 
entweder  nicht  in  seiner  Macht  oder  Absicht  gelegen  war,  Wort 
zn  halten  und  infolgedessen  diejenigen,  die  es  ernst  genommen 
hatten,  Demonstrationen  gemacht  haben,  um  die  Leute  zu  be- 
freien, und  dann  ist  das  Übliche  gefolgt,  der  Aufwand  von 
Militär,  was  die  Leute  noch  mehr  .gereizt  hat.  Es  ist  das  so 
bekannt,  daß  icli  darüber  nicht  mehr  zu  reden  brauche.  Wir 
stehen  zu  diesen  Dingen  in  keiner  weiteren  Beziehung,  als  daß 
wir    die  Zustände    in    der  Fabrik    wahrheitsgemäß    geschildert 


Adler  vor  dem  Holzinger-Senat 


haben,  wie  wir  es  in  hunderten  und  Hunderten  anderen  Fällen 
getan  haben  und  immer  tun  mußten.  Selbstverständlich  ist,  daß 
diese  Beziehung  eines  nicht  nur  der  hohen  Staatsanwaltschaft, 
sondern  allen  Bourgeoisparteien  unbequemen  Blattes,  der 
.,Gleichheit",  daß  dieser  Faden,  der  da  hinübergeführt  hat,  so- 
fort von  der  gesamten  Bourgeoispresse  aufgenommen  wurde 
und  die  liberalen,  antisemitischen  und  feudalen  Blätter  gewett- 
eifert haben,  um  die  „Gleichheit"  zu  denunzieren,  sie  habe  die 
Exzesse  angezettelt.  Ich  hoffe,  ich  würde  dem  Staatsanwalt  zu 
sehr  Unrecht  tun,  wenn  ich  glauben  würde,  daß  er  die  Ver- 
lesungen beantragt  hat,  um  dieser  Aus-drucksweise  und  Denun- 
ziation irgendeine  Stütze  abzugeben.  Weil  ich  aber  nach  dem. 
was  ich  bis  jetzt  von  selten  der  Staatsanwaltschaft  in  bezug  auf 
die  Motivierung  der  Anklage  erlebt  habe,  auf  alles  von  dieser 
Seite  gefaßt  sein  muß,  möchte  ich  doch  die  Verlesung  jener 
Antwort  beantragen,  die  wir  gegeben  haben,  nachdem  uns  unser 
Blatt  dafür  nicht  mehr  zur  Verfügung  stand.  In  der  Nummer  ."> 
der  „Sozialdemokratischen  Monatsschrift"  haben  wir  ge- 
antwortet, und  wir  haben  auch  selbst  beantragt,  es  möge  eine 
strafrechtliche  Verfolgung  gegen  uns  eingeleitet  werden,  um  zv 
untersuchen,  inwiefern  wir  mit  diesen  oder  jenenExzessen  in  Be- 
ziehung stehen.  Ich  bitte  um  Verlesung  der  betreffenden  Stelle. 

Der  Präsident  verliest  hierauf  den  Artikel,  beginnend  mit  den 
Worten:  „Mitten  im  Kampfe",  Seite  11,  r,Sozialdemokratische  Monatsschrift'" 
vom  31.  Mai   1899.   (Siehe  Seite  38  ff.  dieses  Bandes.) 

Präsident:  Ich  erkläre  nunmehr  d<as  Beweisverfahren 
für  geschlossen.  Der  Herr  Staatsanwalt  hat  das  Schlußwort. 

Staatsanwalt  S  o  o  s : 

Hoher  Gerichtshof!  Nachdem  ich  annehmen  muß,  daß  der  geehrte 
Herr  Verteidiger  in  seinen  Auseinandersetzungen  an  die  Verantwortung  seines 
Klienten  Dr.  Adler  sich  halten  wird,  so  muß  ich  annehmen,  daß  in  erster 
Linie  die  Ausführungen  des  Verteidigers  sich  auf  die  Kompetenzfrage  des 
Ausnahmegerichtshofes  beziehen  werden,  und  ich  muß  annehmen,  daß 
eigentlich  gar  kein  anderes  Thema  wichtigerer  Art  Gegenstand  dieser  Aus- 
einandersetzung sein  wird,  denn  der  Herr  Angeklagte  Dr.  Victor  Adler 
hat  sich  auf  das  Meritorische  der  heutigen  Anklage  nicht  eingelassen,  und 
es  dürfte  daher  auch  für  seinen  Vertreter  wenig  Anlaß  sein,  in  dieser  Be- 
ziehung auf  die  Anklage  zu  reagieren.  In  erster  Linie  erlaube  ich  mir,  hoher 
Gerichtshof,  die  Bemerkung  zu  machen,  daß  eigentlich  diese  Auseinander- 
setzung des  Herrn  Dr.  Victor  Adler  sowie  auch  die  künftigen  Auseinander- 
setz'ungen  des  Herrn  Verteidigers  eigentlich  nur  akademischer  Natur  &ein 
können,  denn  §  219  St.-P.-O.  sagt  bekanntlich,  daß  "d'ann,  wenn  der  Be- 
schuldigte  rechtskräftig  in  den   Anklagezustand  versetzt  ist,  die  Zuständig- 


SU  Adler  vor  dem  Holzinger-Senat 


keit  jenes  Gerichtes,  welche?  nach  der  Anklageschrift  oder  dem  durch  dvn 
Einspruch  gegen  dieselbe  veranlaßten  Erkenntnis  zur  Hauplverhandlunp: 
berufen  ist,  nicht  mehr  angefochten  werden  kann. 

Wenn  sich  also  die  Auseinandersetzungen  der  geehrten  Verteidigun;: 
auf  die  Anfechtung  der  Kompetenz  beziehen  würden,  so  wäre  diese  An- 
fechtung als  gesetzlich  verboten  ausgeschlossen.  Allein  ich  weiß  es,  ich  habe 
es  mit  einem  gewiegten  Juristen  zu  tun,  der  diese  Klippe  umschiffen  wird, 
■denn  der  Verteidiger,  dem  die  Vorschrift  des  §  219  el>enso  bekannt  ist  als 
mir,  wird  nicht  sagen,  daß  er  die  Kompetenz  anfechte,  sondern  er  wird  sagen : 
Es  müssen  dem  Gerichtshof  Talsachen  und  Anhaltspunkte  während  der 
Hauptverhandlung  gegeben  werden,  um  den  Gerichtshof  selbst  zu  veranlassen, 
über  die  Kompetenzfrage  nachzudenken  und  darüber  schlüssig  zu  werden, 
denn  das  Gesetz  vom  25.  Juni  1886,  welches  auch  nach  der  Verordnung  des 
Ge?amtministeriiims  vom  1.  August  1888  seine  Gültigkeit  behalten  hat,  sagt 
im  letzten  .\bsatz:  ,.Erachtet  der  Gerichtshof  (nämlich  der  Ausnahmegerichts- 
hof) bei  der  nach  Schluß  der  Verhandlung  stattgefundenen  Beratung,  es  sei 
nicht  erwiesen,  daß  der  strafbaren  Handlung  anarchistische,  auf  den  gewalt- 
samen Umsturz  der  bestehenden  Staate-  und  Gesellschaftsordnung  gerichtete 
Bestrebungen  zugrunde  liegen,  so  spricht  er  seine  Nichtzuständigkeit  aus."  Es 
ist  also  speziell  nn  vorliegenden  Falle  mit  Rücksicht  auf  die  Bestimmung  des 
§  219  St.-P.-O.,  streng  genommen,  überflüssig  gewesen,  an  das  zu  erinnern, 
was  nach  dem  Gesetz  vom  25.  Juni  1886  ohnehin  'der  Gerichtshof  von  Amt.« 
wegen  zu  tun  hat,  und  bei  dieser  Gelegenheit  muß  ich  gleich,  bevor  ich  mich 
auf  eine  Besprechung  der  Sachlage  einlasse,  einen  kleinen,  bei  einem  Laioa 
—  denn  Dr.  Victor  Adler  ist  nicht  Jurist  —  leicht  begreiflichen  Irrluni 
zu  rektifizieren,  indem  derselbe  sagt:  Ich  wundere  mich,  wanim  ich  nicht 
nach  §  222  St.-G.  vor  das  Militärgericht  gestellt  wurde.  Allerdings  steht  im 
Strafgesetz,  daß  über  die  Delikte  des  §  222  und  des  §  67  das  Militärgericht  zu 
entscheiden  hat,  allein  es  ist  dem  Dr.  Adler  unbekannt,  daß  es  einen 
§  7  des  Gesetzes  vom  20.  Mai  1869,  Nr.  68  R.-G.-Bl.,  gibt,  in  welchem  aus- 
drücklich die  Kompetenz  der  Militärgerichte  in  Ansehung  der  der  Zivilgerichts- 
barkeit unterliegenden  Personen  aufgehoben  wird,  die  Strafe  des  Ver- 
brechens mit  schwerem  Kerker  von  1  bis  5  Jahren  festgesetzt  wird  und  nur 
im  Falle  einer  erfolgten  Kriegserklärung  oder  eines  ausgebrochenen  Krieges 
durch  eine  besondere  Verordnung  die  Kompetenz  der  Militärgerichte  bei- 
behalten wird.  Es  kann  also  Herr  Dr.  Adler  niemals  in  die  Lage  kommen, 
weil  M'ir  jetzt  keinen  Krieg  haben,  vor  das  Militärgericht  zu  kommen.  So- 
weit über  diesen  Irrtum  des  Herrn  Dr.  Adler. 

Der  Herr  Angeklagte  hat  statt  seines  Verhörs,  denn  ein  Verhör  waren 
seine  Auseinandersetzungen  nicht,  konnten  es  auch  nicht  sein,  weil  der 
Angeklagte  die  Stellung  einnimmt,  überhaupt  nicht  vor  dem  zuständigen 
Richter  zu  stehen,  sondern  vor  das  Geschwornengericht  zu  gehören,  heute 
in  erster  Linie  eine  Auseinandersetzung  des  Unterschiedes  zwischen 
Anarchismus   und   Sozialdemokratie   zum   besten  gegeben. 

Die  beiden  Angeklagten  haben,  glaube  ich,  wiederholt  während  des 
Beweisverfahren  anerkannt,  daß  ich  von  dieser  Angelegenheit  ein  bißchen 
etwas  verstehe,  und  gerade  auf  dieses  mein  Verständnis  werde  ich  mich 
jetzt  berufen,  weil  ich  an  der  Hand  des  Gesetzes  in  dem  heute  mir  zu  Ge- 


Adler  vor  dem  Hol/inffer-Sfnat  81 


böte  stehenden  Prozeßmaterial  genügende  Anhaltspunkte  zu  finden  glaube, 
•ilaß  talsächlich  nach  dem  Gesetz  der  Ausnahmegerichtshof  zu  judizieren 
■geradezu  berufen  und  der  Schwurgerichtshof  geradezu  ausgeschlossen  ist. 
TJ^m  diesem  diesbezüglichen  Irrtum  der  beiden  Angeklagten  von  vornherein 
TU  begegnen,  als  habe  ich  dieselben  in  ihrer  Person  für  Anarchisten  ge- 
halten, so  gebe  ich  gleich  jetzt  die  Erklärung  ab,  daß  mir  das  heute  eben- 
sowenig einfällt,  als  es  mir  in  früherer  Zeit  eingefallen  ist.  Der  Privat- 
mann Dr.  Adler  und  der  verantwortliche  Redakteur  der  „Gleichheit". 
Herr  ßretschneider,  sind  nicht  das,  was  man  gemeinplätzlich 
Anarchisten  zu  nennen  pflegt.  Ich  habe,  um  die  Kompetenz  des  hohen  Aus- 
nahmegerichtshofes zu  begründen,  auch  nicht  den  Nachweis  zu  erbringen, 
<iaß  beide  Angeklagte  Anarchisten  im  gemeinplätzlichen  Sinne  des  Wortes 
^ind.  Ich  habe  nur  den  Nachweis  zu  liefern,  wie  es  in  der  Ausnahme- 
verordnung und  im  Gesetz  vom  25.  Juni  1886  steht,  daß  heute,  im  gegen- 
wärtigen Fall,  es  sich  handelt  um  eine  strafbare  Handlung,  welcher  anarchi- 
stische —  und  jetzt  kommt  gleich  die  Definition,  die  der  Gesetzgeber  gibt  ■ — 
-auf  den  gewaltsamen  Umsturz  der  bestehenden  Staats-  und  Gesellschafts- 
ordnung gerichtete  Bestrebungen'"  zugrunde  liegen.  Solche  Bestrebungen 
kann  in  einem  einzelnen  Fall  auch  irgend  jemand  an  den  Tag  legen,  der 
»lis  zu  dem  Tag  der  Handlung,  die  er  gesetzt  hat,  frei  von  dem  Vorwurf  ge- 
Avesen   ist,   anarchistische  Bestrebungen  gehabt  zu   haben. 

Er  begeht  sie  eben  durch  die  Tat,  und  es  wäre  ein  Irrtum  von  selten 
der  Angeklagten,  wenn  sie  von  mir  fordern  würden,  daß  ich  den  Nachweis 
liefere:  Yv'ir  haben  es  bei  der  «Gleichheit"  mit  einem  Katechismus  eines 
iinarchistischen  Organes,  and  in  der  Person  der  Angeklagten  mit  Anarchisten 
xu  tmi.  Gerade  ich  zähle  zu  jenen  Persönlichkeiten,  nicht  bloß  ich,  sondern 
•es  hat  die  Regierung  diesen  Standpunkt  eingenommen:  es  ist  der  Unter- 
schied zwischen  Sozialdemokratie  imd  Anarchismus  aufs  ängstlichste  zu 
beobachten.  Es  fällt  mir  auch  heute  noch  nicht  ein,  und  ich  betone  das  aus- 
<!rücklich,  damit  über  die  Auffassung,  welche  ich  der  Sache  entgegenbringe, 
kein  Zweifel  oder  Irrtum  entstehe,  es  kann  mir  nie  und  nimmer  einfallen, 
die  Bestrebungen  der  sozialdemokratischen  Arbeiterpartei,  ja  selbst  diu 
Bestrebungen  der  radikalen  Arbeiterpartei  mit  dem  Schlagwort  Aaarchismu.^ 
zu  bezeichnen.  Ich  selbst  gebe  zu,  was  der  Angeklagte  Dr.  Victor  Adler 
behauptet  hat,  daß  zwischen  den  Bestrebungen  der  Personen,  die  wir 
Anarchisten  schlechtweg  zu  nennen  pflegen,  und  den  Bestrebungen  der  sozial- 
liemokratischen  Partei  ein  bedeutender,  ich  sage  sogar  ein  himmelweiter 
Unterschied  ist.  Um  das  handelt  es  sich  im  vorliegenden  Falle  nicht,  es 
handelt  sich  um  die  Beurteilung  jener  inkriminierten  Artikel,  welche  Gegen- 
.■;tand  der  Anklage  geworden  sind,  und  um  die  Beurteilung  der  Frage,  ob  jetzt, 
im  gegenwärtigen  Moment,  bei  den  gegenwärtigen  Zeitläuften,  abgesehen 
von  der  früheren  Haltung  des  Blattes  ^Gleichheit",  unter  demselben 
Programm  Umstände  zu  suchen  sind  und  gefunden  werden  können,  von 
<lenen  man  sagen  kann,  daß  sie  auf  anarchistischen,  das  heißt  auf  den 
gewaltsamen  Umsturz  der  Staats-  und  Gesellschaftsordnung  gerichteten 
Bestrebungen  beruhen. 

Ich  bemerke  gleich,  daß  ich  den  Nachweis  zu  erbringen  hoffe,  daf.*> 
•das   keine   juristische    Haarspalterei   oder   ein   Spintisieren   sei,   sondern   an 

6 


82  Adler  vor  dem  Holzinger-Senat 

der  Hand  der  Artikel  selbst,  an  der  Hand  der  Tatsachen,  die  mir  zur  Ver- 
fügung stehen,  werde  ich  es  nachweisen.  Es  handelt  sich  nämlich  im  vor- 
liegenden   Falle   um   einen   anderen   Standpunkt,   den   die    Angeklagten   ein- 
nehmen.    Während    Herr    Dr.   A  d  1  e  r    und    der    Zweitangeklagte    B  r  e  t- 
schneider,   der  übrigens   in   dieser  Verhandlung   nur  die   zweite   Violine 
zu  spielen  hat,  den  Standpunkt  einnehmen,  wir  weisen  dir,  hoher  Gerichts- 
hof, an  der  Hand  der  ,. Gleichheit'"  von  Nummer  1  bis  zur  letzten  Nummer  - — 
und    es    sind    diesbezüglich  Proben    vom  Herrn    Dr.  A  d  1  e  r    zum    besten 
gegeben  worden  —  nach,     daß  wir    nie    und    nimmer    anarchistische   Be- 
strebungen gehabt  und  uns   lediglich  im  Rahmen   der  sozialdemokratischen 
Bestrebungen   bewegt    haben,     während   der  Angeklagte    Dr.   Adler    sogar 
ausdrücklich  betont,  ein  Antagonist  der  Anarchisten  bezüglich  ihrer  Theorien 
und  Ziele  im  gewissen  Sinne  zu  sein  und  diese  Behauptung  abermals,  sowohl 
durch  Stellen  seines  Blattes,  als  durch  die  Haltung,  welche  erwiesenermaßen 
anarchistische     Schriften     gegen    ihn    einnehmen,     nachzuweisen     bemülii 
gewesen  ist,  sage  ich :   Es  kommt  nur  auf   den   Standpunkt  an, 
von  dem  man  die  Sache  ansieht,  und  jetzt  bin  ich  an  dem  Punkt 
angelangt,    der,    wie    ich  glaube,     den   Ivern  meiner  Auseinandersetzungen 
bildet.     Ich  sage  nämlich:     Jeder  denkende   Mensch  —  und  der  Angeklagte- 
Herr  Dr.  Adler  hat  mir  zu  wiederholten  Malen  bewiesen,  daß  er  ein  geist- 
voller Mann   ist  —  weiß,  was  für  Zwecke  irgend  etwas  hat,   er  weiß,  was 
für   Mittel  man   anwendet,   um    irgendeinen    Zweck    zu    erreichen,   er   weiT. 
auch,  was  für  Erfolge  gewisse  Mittel  im  Leben  haben  können,  ja  sogar  halx'i 
müssen.  Wenn  ich  nun  in  erster  Linie  den  Zweck  der  inkriminierten  Artikel 
und  vielleicht  noch  einiger  anderer  weniger,  die  vorgelesen  wurden,  und  »li^- 
ich  als  Drohung  bezeichnet  habe,  ins  Auge  fasse,  so  frage  ich  mich:  „Kann 
der  Angeklagte  Dr.  Adler  auch  nur  einen  Moment  im  Zweifel  darüber  sein. 
daß  die  ordnungsgemäße,  durch  Jahrzehnte  ruhig  verlaufende  Bewegung  ilci 
sozialdemokratischen  Partei   innerhalb   der  wirtschaftlichen  und  staatlichen 
Ordnung  in  solcher  Weise  sich  entwickeln  kann,  daß  der  Weg  des  gewalt- 
samen Umsturzes  überhaupt  nicht  betreten  wird?" 

Wenn  sich  der  Angeklagte  Dr.  Adler  in  diesem  Glauben  bewegt 
hätte,  obwohl  er  die  Frage  viel  zu  genau  studiert  und  viel  zu  genau  kennt, 
so  würde  er  gerade  im  letzten  Moment  jetzt  eines  Besseren  belehrt  worden 
sein,  denn  er  hat  gesehen  und  die  Erfahrung  machen  können,  was  daraus 
entsteht,  wenn  in  einem  Blatt,  wie  es  die  „Gleichheit"  ist,  immer  und  immer 
wieder  den  Lesern  vorgeführt  wird  ihr  soziales  Elend,  ihr  Unglück,  ihre 
Armut,  ihre  Unterdrückung  durch  die  Bourgeoisie,  und  ich  sage:  Derjenige, 
der  an  einem  feuergefälilichen  Ort  herumgeht,  kann  sich  nicht  nachträglich, 
wenn  das  Feuer  auskommt,  damit  ausreden,  wenn  er  sagt:  Ich  habe  kein 
Feuer  anzünden  wollen,  das  ist  mir  nicht  im  mindesten  eingefallen,  ich  lege 
Veto  gegen  die  Ansicht  ein,  daß  ich  jemals  habe  anzünden  wollen,  ich  kann 
nichts  dafür,  wenn  die  Fackel,  die  ich  in  der  Hand  führe,  mit 
dem  Zündstoff,  der  da  ist,  in  eine  solche  Berührung  gekommen  ist, 
ich  bin  ganz  unschuldig  daran. 

Sehen  Sie,  meine  Herren,  in  diesem  Eontakt  zwischen  den  aufreizen- 
den Artikeln  der  „Gleichheit",  welche  manchmal  inkriminiert,  manchmal 
nicht  inkriminiert  worden   sind,  und  den  in  letzterer  Zeit  zutage  getretenen 


Adler  vor  dem  Holzinger-Senat  83 

p- 

Tatsaclioii  liegt  die  Xotwondigkoit  zu  dem  Schlüsse:  Konnte  der  Angeklagte 
jemals  »lauhon,  daß  die  infolge  seiner  Artikel  entstandene  Aufreizung  der 
armen  Klassen  zu  einer  friedlichen  Lösung  führen  könne,  oder  moiBte  er 
als  ein  loglsth  denkender  Mensch  nicht  vielmehr  mit  dem  Faktor  rechnen, 
daß,  wenn  in  einem  Blatte  immer  und  immer  wieder  in  der  angedeuteten 
Richtung  gcschriehen  und  agitiert  wird,  die  Sache  einen  anderen  Vorlauf 
nehmen  kann  undi  muß,  als  denjenigen,  den  er  sich  vielleicht  bei  Beginn 
seines  Blattes  zum  Programm  gesetzt  hat?  Und  dann  muß  ich  sagen,  es 
ist  mir  zweifellos,  und  ich  glaube,  auch  Herr  Dr.  Adler  muß  das  wissen, 
ilaß  derlei  agitatorische  Artikel,  wenn  durch  dieselben  dem  armen  Volike, 
d.a>  ja  gewiß  jeder  bedauert,  auch  ich,  denn  ich  besitze  kein  Vermögen  — 
ich  weiß,  wie  das  ist  —  ein  Zündstoff  gegeben  wird,  dahin  führen,  daß  der 
gesetzliche  Rahmen  verlassen  'und  nicht  mehr. als  politische  Partei  agitiert, 
als  p.jlilische  Partei  gelebt  und'  gehandeil  wird,  sondern  daß  es  zu  gewali- 
-amen  Eruptionen  kommt,  die  alles  vor  sich  niedertretend,  verheereTid,  ein- 
lach den  Brand  erzeugen,  vor  dem  wir  beben.  Herr  Dr.  Adler  hat  mir 
während  seines  Verhörs  oder  während  seiner  Auseinandersetzungen  soga:- 
'■inen  Anhaltspunkt  in  der  Richtung  gegeben,  daß  er  mit  diesem  Faktor  zu 
lechneu  scheint,  denn  er  hat  durchleuchten  lassen:  „Was  wir  dann  täten" 
^ —  so  ungefähr  hat  es  gelautet  —  ..wenn  wir  die  Gewalt  hätten,  das  weiß  ich 
jetzt  nicht."  Was  dann  geschehen  würde,  wenn  der  Angeklagte  die  Gewall 
hätte,  das  kann  ich  mir  ungefähr  denken,  es  gehört  dazu  keine  lebhafte 
riianla-ie.  Vielleicht  würde,  wenn  er  die  Gewalt  hätte,  ein  unblutiger 
1 1  m  s  t  u  1-  V.  d  e  r  g  e  g  e  n  w  artig  e  n  G  e  s  c  1 1  s  c  h  a  f  t  s  o  r  d  n  u  n  g  statt- 
ünden,  und  das  wäre  vielleicht  für  alle  Teile  sehr  gut,  allein  es  wird  an 
den  Faktor  vergessen,  daß  derzeit  nicht  nur  die  sozialdemokratische  Partei, 
sondern  a  u  c  h  a  n  d  e  ]•  e  Fakte  i-  <■  n  i  m  Staate  exislieren,  d'  i  e  kaum 
i'.e  neigt  sein  dürften,  alle  iluv  lleclite,  die  sie  haben,  unblutig- 
und  ohne  Zwang  herzugeben,  und  nachdem  der  Angeklagte  Doktor 
Adler  als  vernünftiger  Mann  das  ganz  gut  weiß,  so  kann  er  mit  keinem 
anderen  Faklijr  rechnen,  er  muß  wissen,  daß  Gewaltakte  inszeniert  werden 
und'  eintreten  müssen,  um  das  Ziel,  das  er  hat,  zu  verwirklichen.  Gerade' 
deshalb,  weil  ein  Mann  von  den  Kenntnissen  des  Dr.  Adler  und'  von  seiner 
sozialen  Bildung  €s  wissen  muß,  daß  die  Sache  nicht  wie  er  es  sich  in 
seinen  Idealen  vorstellt,  sondern  wahrscheinlich  anders  verlaufen  wird, 
gerade  weil  Dr.  Ad' 1er  die  Kenntnis  davon  hat,  daß  an  den  verschiedensten 
Orten  Europas  gewaltsadm»  Eruptionen  stattgefunden  haben  und  immer  statt- 
linden —  man  braucht  nur  nach  Sleyr,  Kladno  und  Belgien  hinzusehen  — 
gerade  darum  muß  Dr.  .V  d  1  e  r  wissen,  daß  die  Haltung  der  Artikel,  die 
irikriminierl  wurlen  sind,  niclit  als  das  angesehen  werden  kann,  als  was 
er  sie  hinzuslelleti  bemüiit  ist,  sondern  faktisch  als-  eine  solche  bezeichnet 
werden  kann,  der  anarchistische  Bestrebungen  zugrunde  liegen.  Ich  habe 
diesbezüglich  absichllich  einige  wenige  Blätter  dem  hohen  Gerichtshof  unter- 
l)reitet,  auf  die  Hcii-  Dr.  Adler  reagiert  hat.  Er  bezeichnet  die  darin  ent- 
haltenen Worte,  wo  die  Rede  davon  ist  „nur  fort  so,  bald  wird  ein  Ende 
kommen,  bald  wird  die  Erlösung  kommen,  der  Blitz  usw."  —  ich  brauche  das 
nicht  abermals  zu  wiederholen  —  lediglich  als  Prophezeiungen.  Ich  kann 
von   meinem   Standpunkt   sagen:    ich  erljlicke  darin  eine   Drohung. 


81  Adler  vor  dem  Holzintrer-Senat 


Es  hat  das  eine  geradeso  viel  für  sich  als  das  andere,  und  gerade  weil 
Herr  Dr.  Adler  ein  Zitat  aus   Goethe  vorgebracht  hat,  fällt  mir  jetzt  ein 
—  ich  habe  während  des  Beweisverfahrens  keinen  Gebrauch  davon  gemacht, 
weil  mir  die  betreffenden  Nummern  der  „Gleichheit"  nicht  eingefallen  sind, 
aber  ich  kann  dies  doch  wohl  jetzt  berühren  —  daß  es  gerade  der  Heraus- 
geber der    „Gleichheit"   liebt,  in   solchen   Fällen,  wenn  konfisziert   wird,  in 
Jie   konfiszierten,    leer   zu   lassenden    Stellen   Zitate   aus    Klassikern   einzu- 
T^chieben.  Solche  Zitate  sind  für  ihn  ungemein  dankbar,  denn   der  Staats- 
■anwalt  kommt  leicht  in  die  Gefahr,  wenn  er  Schiller  konfisziert,  und  so  ist 
es  geschehen,  daß  der  Herausgeber  der  „Gleichheit"  in  eine  leer  gewordene 
Stelle  einmal  ein  Zitat  aus  .,  Wilhelm  Teil'"  von  Schiller  eingeschlossen  hal ; 
-,Nein,   eine  Grenze  hat  Tyrannenmacht"  usw.  Da  ist  von  den  unveräußer- 
lichen Rechten  die  Rede,  die  man  herunterholt  vom  Himmel,  wo  „sie  fest- 
stehen wie  die  Sterne".     Aber  dieses  Zitat  klingt  in  die  Worte  aus:    „Und 
^\■enn  kein  anderes  Mittel  mehr  verfängt,  das  eine  bleibt  ihm,  das  iSchwert", 
und  wenn  dieses  Zitat  in  der  „Gleichheit"  steht,  so  hat  das  einen  anderen 
Sinn,  als  der  ist,  welchen  der  Dichter  in   „Wilhelm  Teil"  hineinlegt.  Wenn 
in   der   „Gleichheit"   vom  Schwert  die  Rede    ist,    zu  dem  wir  bald   greifen 
müssen,  um  die  unveräußerlichen  Rechte  herabzuholen,  so  ist  das  eine  nicht 
Tidßzii verstehende  Anspielung  gerade  auf  diejenige  Gewalt,  welche  der  An- 
geklagte heute  als  in  seinem  Blatte  inicht  existierend  bezeichnet.  Im  Gegen- 
teil, gerade   in   der  letzten  Zeit    und    gerade    auch    in    den    inkriminierten 
Artikeln,  «um  auf  dieselben  speziell  zu  kommen,   kamen  Momente  vor,  welche 
geradezu  darauf  hinweisen,  daß  die  „Gleichheit"  ein  Feld  betreten  hat,  von 
dem  sie  behauptet,  d'aß  es  von  ihr  stets  aufs  sorgfältigste  gemieden  worden 
sei.  Wenn  in  dem  ersten  inkriminierten  Artikel  davon  die  Rede   ist,  „man 
gehe  in  ■friedlichen  Zeiten  hinaus  nach   Ottakring  und  Favoriten  und  stelle 
sich  vor  die  Tore   einer  Fabrik,  einer  Schule    und    betrachte    die    hagere;i 
Männer,  die  welken  Weiber,  die   siech   gewordenen,  elenden,  verkomimen!''n 
Kinder",  lauter  Darstellungen,  die   faktisch   geeignet  sind,  Bitterkeit  in  drii 
Herzen  der   Leser   zu   erregen,     und  wenn  der  Schluß  gezogen   wird,   „wie 
kommt   es,  daß  ein  Krawall  jemals   überhaupt   nicht  ist",  so   beweist  mir 
"gerade  diese   hier   aufgeworfene   Frage,  daß   in    dem   Artikel    jene    Tendenz 
liegt,  welche   der  Angeklagte   als   nicht   vorhanden  bezeichnet.     Dergleichen 
Artikel,  die  so  geschrieben  sind,  können  kein  anderes  Ziel  haben  und  sind 
kein   anderes  Mittel  als  Agitationsmittel   zum  gewaltsamen   Umsturz;   denn 
liier  ist  ja  von  Krawallen  die  Rede,  und  was  unter  einem  Krawall  zu  ver- 
stehen  ist  und   wie   derselbe  uns  angeschlagen  hat.   das   wissen  alle,   auch 
der  Angeklagte  Dr.  Adler.  Es  handelt  sich  im  vorliegenden  Falle  um  ein 
Delikt  gegen  die   öffentliche  Ruhe  und  Ordnung,  und  in  dem  Moment,  wo 
tlas  gesprochene  oder  geschriebene  Wort,  das  in  den  Zeitungen  steht,  in  die 
Aktion  übertritt,  sieht  die   Sache  ganz  anders  aus    als   an  dem   friedlichen 
j-Münen  Tisch.   In  dem  ^Moment,  wo  die  ersten  Steine  geworfen  wiirden,  wn 
in   den   Vororten   die   ersten   TraiTLwaywaggons   umgestürzt  und   die  Fenster 
-eingeschlagen  wurden,  in  dem  Moment,  wo  Dinge  geschehen,  wie  sie  sich  in 
?^teyr  und  Kladno  ereignet  haben,  hört  sich,  wie  der  Wiener  zu  sagen  pflegt, 
ti  i  e  Gemütlichkeit  der  Sache  auf.  Da  ist  eine  akademische  Be- 
sprechung der  sozialen  Frage  ausgeschlossen,  da  ist  die  Handhmg  eingetreten. 


Adler  vor  dem  Hülzinger-Senai  85 

vrA  ich  behaupte  ganz  ruhig,  daß  in  dem  Moment  der  Staatsanwalt  die 
Verpflichtung  hat,  allen  Elementen  entgegenzutreten,  welche  ein  Mittel  sind, 
daß  derlei  Dinge  geschehen.  Jetzt,  hoher  Gerichtshof,  bin  ich  bei  dem  Teil 
angelangt,  wo  der  Angeklagte  oder  der  Vertei'diger  mir  den  Vorwurf  machen 
kann,  ich  hajje  ja  den  Zusammenhang  zwischen  den  Steyrer  und  Kladnoer 
Exzessen  mit  der  «Gleichheit"  zu  beweisen.  Diesen  Zusammenhang  habe 
ich  nicht  zu  beweisen,  das  ist  ganz  und  gar  nicht  notwendig;  denn  wenn 
seitens  der  Partei  'der  „Gleichheit"  irgendeine  strafbare  Handlung  gesetzt 
worden  wäre  und  nach  §  5  Str.-G.  ihre  Mitschuld  an  den  Elxzcssen  in  Steyr 
oder  Kladno  sich  als  erweisbar  darstellen  würde,  so  wäre  esi  Sache  der 
dortigen  Staatsanwaltschaft  und  des  dortigen  Gerichts,  von  Amts  wegen 
gegen  die  Mitschuldigen  einzuschreiten.  Es  gibt  aber  auch  eine  andere 
Ciatti;ng  von  Mitschuld  in  der  Welt,  die  nicht  strafre<-htlich  imputiert  wird 
und  unter  den  §  5  zu  subsumieren  ist,  und  deren  Vorhandensein  doch  niclit 
abgeifiignet  werden  kann. 

Es  gibt  auch  eine  indirekte  Mitschuld  an  Handlungen,  und  wenn  in  Steyr 
Exzesse  geschehen  sind,  bei  welchen  die  Leute  zusammengeschossen  wurden, 
und  infolge  der  unerquicklichen   Zustände  in  der  Teufelmayerschen    Fabrik 
Krawalle  entstanden   sind,  die  der   Angeklagte   als    Katzenmusik   bezeichnet 
liat,  die  aber  in  Wirklichkeit   weit   ernster  gewesen  sind   als   eine  Katzen- 
musik, so  kann  ich  die  Behauptung  aufstellen,  daß  die  :,Gleichheit",  die  von 
der    „Schinderbude"     der    Teufelmayerschen    Fabrik    gesprochen    hat,    den 
immittelbaren  Anstoß   zu  den  Krawallen   gegeben  hat,  die   dort   entstanden 
jiind.    Es   ist   nicht  notwendig,  daß   irgendein    Genosse   hinaufgeroist   ist,   es 
genügt,  wenn  ein  Blatt  erscheint,  das  die  Leute  auf  ein  Objekt  aufmerksam 
macht,  um  deren  Zorn  zu  erregen,  und  wenn  infolgedessen  das  geschah,  wa? 
geschehen  ist.  Ich  bin  also  der  Meinung,  daß  ich  allerdings  an  der  Hand 
der  vorgelesenen  Stelleu    und  dessen,  was  ich  zu  bemerken  die  Ehre  hatte, 
die  Behauptung  aufstellen  kann,  daß  'die  Anklage  berechtigt  ist,  den  Richter - 
Spruch  vor  dem  Ausnahmegerichlshof  zu  verlangen,  weil  ich  behaupte,  daU 
die   Angeklagten    abgezielt   und   gewußt   haben,   daß   dasjenige,   was   in   dei* 
iakriminierten  Artikeln  steht  —  hierin  ist  namentlich  der  Passus  bezüglicU 
des  Militärs   inbegriffen   —  unter  das  Ausnahmegesetz   paßt,   daß   die  An- 
geklagten  wissen  mußten  und  auch  gewußt  haben,   daß    es    sich    hier  mn 
Handlungen  handelt,  die  bereits  auf  den  gewaltsamen  Umsturz  der  bestehen- 
ilen   staatlichen  und  gesellschaftlichen   Ordnung  abzielen.  Herr  Dr.   A'd'ler 
hat  uns  bezüglich  des  Artikels,  der  das  Militär  betrifft,  eine  harmlose  Erklärung 
gegeben;  er  weiß  aber  genau   so  wie  ich,  daß,  wenn  einmal  ein  Flugblatt 
an   die    Soldaten   gerichtet    wurde,   und   der   Zusammenhang   zwischen    dem 
Flugblatt  und    dieser   Stelle   ein   nicht   mißzuverstehender   ist,   es    klar    isi. 
was  der  letzte   Satz  bedeutet:    „Auch  diesen  Blinden  wird  der  Star  einmal 
gestochen  werden."  Das  ist  eine  so  unendlich  leicht  begreifliche  Darstellung, 
«■in  so  klarer  Satz,  daß  es  gar  keiner  Erklärung  im  gegenteiligen  Sinne  aus 
dem    Munde   des   Angeklagten    bedarf,    und'  nachdem   dem    Gerichtshaf   die 
Artikel  selbst  vorliegen    und  ich  über  den  Tatbestandi  nichts  zu  sprechen 
brauche,  weil  dem  Gerichtshof  die  Subsumtion  der  zur  Verlesung  gebrachten 
Stellen  unter  die  Gesetze.sstollen,   die  ich  eingangs  zitierte,  von  vornherein 
klar  ist,  so  bin  icii  eigentlich  mit  meinen  .Auseinandersetzungen  fertig.  Auch 


8(3  Adler  vor  dem  Holzinger-Senat 

ich  als  Vertreter  id'cr  Anklage  habe  es  heute  nicht  notwendig,  mich  in  das 
Mcritorisehe  einzulassen,  denn  das  Meritorische  liegt  dem  hohen  (jcrichtshof 
in  den  Artikeln  vor,  und  es  ist  seine  Sache,  zu  prüfen,  ob  die  verlesenen 
Artikel  nach  der  Anklagebehauptung  den  objektiven  Talbestand  begründi^n 
oder  nicht.  Es  bleibt  mir  nunmehr  nichts  übrig,  als  an  den  hohen  Gerichtshof 
den  Schlußantrag  zu  stellen.  Ich  muß  zunächst  an  'den  hohen  (lerichtshof 
die  Bitte  richten,  Dr.  Adler  als  geständigen  Verfasser  der  inkriminierten 
Artikel  im  Sinne  der  Anklageschrift  nach  den  §§  300,  302,  305,  lOO  bis  m\ 
und  Artikel  V  der  Strafgesetznovelle  vom  17.  Dezember  1862,  R.-G.-Bl.  Nr.  8;-'. 
zu  verurteilen.  Bei  dieser  Verurteilung  wird  im  Sinne  der  §§  267  und  30"» 
.Str.-G.  vorzugehen  sein,  und  für  den  Fall  der  Verurteilung  Iritl  auch  ein 
Kautionsverlust  für  die  „Gleichheit"  in  der  Höhe  von  60  ]iis  300  f!.  ein,  weil 
OS  sich  im  vorliegenden  Falle  um  ein  Preßvergehen  liandclt.  Beim  Strafa\js- 
maß  wird  bezüglich  des  Erstangeklagten  als  mildernd  in  Betracht  koimnen, 
daß  derselbe  für  eine  Familie  zu  sorgen  hat  und  des  Tatsächlichen  geständiii 
ist;  als  erschwerend  der  vorangegangene  Konflikt  nach  §  23  P.-G.,  rcspektiv'' 
nach   der   Kaiserlichen    Verordnung   vom    Jahre    1851. 

Was  dien  Z  w  e  i  t  a  n  g  e  k  1  a  g  t  e  n  betrifft,  verantwortet  sich  derselbe 
dahin,  daß  er  die  inkriminierten  Artikel  nicht  gelesen  habe.  Ich  habe  in  der 
.\nklago  für  die  Verfassung  den  strikteji  Nachweis  nicht  erbringen  können 
und  ausdrüc'klich  bemerkt,  daß  ich  es  ider  Hauptvnrhandlung  überlasse,  o1i 
ein  Preßvergehen  oder  nur  eine  Übertretung  der  pflichtgemäßen  Obsorge  vor- 
liegt, und  ich  glaube,  daß  der  Gerichtshoif  kaium  die  für  eine  Verurteilung 
notwendige  Überzeugung  gewonnen  hat,  daß  der  Angeklagte  vor  der  Druck- 
legung die  Artikel  gelesen,  geprüft  und  znam  Druck  befördert  hat.  Wenn  der 
hohe  Gerichtshof  dies  annimmt,  dann  kann  er  den  Angeklagten  B  r  e  I  - 
-Schneider  nicht  wegen  der  Vergehen,  die  die  Artikel  begrünilen,  sonderii 
nur  wegen  Übertretung  der  pflichtgemäßen  Obsorgo  im  Siime  des  Gesetzes 
vom  15.  Oktober  1868  verurteilen,  und  ich  stelle  sohin  l>ezüglich  beider  An- 
geklagten den  Antrag  auf  Zuweisung  einer  angemessenen  Strafe. 

Verteidiger  Dr.  W  o  1  f  f  -  E  p  p  i  ng  e  r:  Der  geehrte  Herr  Vertreter  der 
•Staatsanwaltschaft  hat  ganz  richtig  vorhergesehen,  daß  die  Verteidigung  sicli 
in  eine  Erörterung  der  Schoildfrage  in  merito  nicht  einlassen  wird.  Die  Ver- 
teidigung steht  auf  dem  Standpunkt,  daß  in  der  vorliegenden  Anlvlagc  e  i  n 
unerhörter  und  durch  nichts  gerechtfertigter  Versuch 
liegt,  zwei  angeklagte  österreichische  Staatsbürger  ihrem  gesetzlichen  Richter, 
der  ihnen  durch  das  Staatsgrundgesetz  gewährleistet  ist,  zu  entzieiien,  ein 
Versuch,  der  in  seinem  etwaigen  Erfolg,  den  ich  nie  voraussetzen  kann, 
dahin  'führen  würde,  eines  der  wichtigsten  Rechte  eines  Staatsbürgers  zu  ge- 
fährden und  zu  konfiszieren,  ja  geradezu  in  die  Grundlagen  der  heutigen 
Staats-  und  Gesellschaftsordnung  in  hohem  Maße  einzugreifen.  Die'  Ver- 
teidigung hat  nicht  unter  allen-  Umständen  die  Pflicht,  auf  das  Gebiet  sicli 
zu  begeben,  das  ihr  durch  die  Anklage  vorgezeichnet  ist.  Es  kann  vorkommen, 
und  der  vorliegende  Fall  ist  ein  solcher,  daß  eine  Anklage  abgewehrt  werden 
muß,  vielleicht,  um  einen  Dichter  zu  zitieren,  „von  einer  höheren  Warte 
als  von  der  Zinne  der  Partei",  denn  nicht  um  Sozialdemokraten  handelt  es 
sich  in  erster  Linie,  sondern  darum,  ob  unsere  Frciheits-  un'd  'verfassungs- 
n'äßi^'i'n   Rechte    von    der    k.    k.    Staatsanwaltschaft    Wien     oder    von    einer 


Adler  vor  dem  Holzinger-Senat  87 

anderen  Staatsanwallschaft  konfisziert  werden  können.  Es  ist  sehr  bedauer- 
lich, und    es    wurde    dies   im    Laufe    der  Verhandlung    von    selten    meines 
Klienten  Dr.  Adler  hervorgehoben,  daß  in  diesem  Falle  nicht  alle  Parteien 
das  Einsehen  haben,  daß  sie  selbst  ebenso  angefochten,  angegriffen  und  ge- 
troffen werden  wie  die  Sozialdemokratie,  und  kaum  hat  sich  eine  vereinzelte 
Stimme,   allerdings   die    eines   sehr  bedeutenden  Blattes,   gefunden,   um   die 
Anklage  als  das  zu  bezeichnen,  was  sie  tatsächlich  ist.  Der  verehrte  Staats- 
anwalt   will   mir  die  Berechtigung  zur   Erörterung    der  Kompetenzfrage   auf 
(irund  des  §  219  Str.-P -0.  wegnehmen.  Ich  muß  sagen,  daß  ich  seinen  dies- 
Itezüglichen    Erörterungen,    obwohl    mit   Aufmerksamkeit   folgend,   doch    das 
lichtige  Verständnis  und  die  richtige  Würdigung  nicht  abgewinnen  konnte, 
denn  einerseits  bestreitet  der  Herr  Staatsanwalt  dieses  Recht,  und  anderseits 
gibt  er  es  wieder  zu  auf  Grund  der  Bestimmung  des  Ausnahmegesetzes,  die 
■er  zur  Verlesung  gebracht  hat.  Diese  Bestimmung  ist  übrigens  nicht  ziufällig. 
Es    ist   in  der   parlamentarischen     Verhandlung     wiederholt    hervorgehoben 
v%- Orden,  insbesondere  seitens  der  Regierung,  daß  nach  der  Bestimmung  des 
S  261  Str.-P.-O.  der  Gerichtshof  selbst  immer  in  der  Lage  ist,  seine  Kompetenz 
festzustellen.  Der  Gerichtshof  kann  also  über  jede  Anklage,  also  auch  über 
■die  vorliegende,  sich  für  inkompetent  erklären,  und  das  Erkenntnis,  das  der 
'Cierichtshof  überhaupt  fällen  könnte,  ist   in  jedem  Falle   der  Erörterung  in 
den  Parteianträgen  unterzogen.  Daraus  folgt,  daß   die  Kompetenz  in  jedem 
Falle,  also  auch  die  des  Ausnahmegerichtshofes,  einer  Erörterung  zu  unter- 
ziehen ist.  Es  'hat  sich  übrigens  gezeigt,  daß  die  Redner  der  Linken  des  Ab- 
geordnetenhauses, Avelche  eine  besondere  Feststellung  dieses  Rechtes  in  das 
Ausnahmegesetz  hineinnehmen  wollten,  doch  mit  einiger  Vorsicht  zu  Werk»^ 
'^:egangen  sind,  indem,  wenn  dies  nicht  geschehen   wäre,  die   Staatsanwalt- 
-chaft   sich   auf   den   Standpunkt   stellen  könnte,    daß    die    Kompetenzfrage 
überhaupt  nicht  zu  erörtern  ist.  Es  ist  mir  einigermaßen  schwierig,  den  Aus- 
fühiungen  des  Herrn  Staatsanwalts  sachlich  zu  begegnen,  denn   diese  Aus- 
iührungen  und  Begründungen  sind  so  wechselnd,  so  in  sich  widersprechend, 
daß  ich  den   Staatsanwalt   am  besten    mit     seinen    eigenen    Ausführungen 
■schlage.  Die   Anklage   sagt,  die   anarchistischen   Bestrebungen    der    «Gleich- 
heit" erhellen  aus  den  oftmals   zum  Gegenstand  objektiver  Behandlung  ge- 
machten Angriftfen  des  Blattes  gegen  die  Polizei  und  die  Behörden,  aus  der 
-Vufreizung  gegen  die  bürgerlichen  Elemente  des  Staates,  aus  der  agitatori- 
schen Haltung,  welche  seit  Jahren  das  genannte  Blatt  in  der  sozialdemokrati- 
-ehen  Bewegung  einzunehmen  bestrebt  ist.  Daraus  erhellen  nach  der  Anklagi 
die  anarchistischen,  auf  den  gewaltsamen  Umsturz  der  bestehenden  Staats- 
und   Gesellschaftsordnung    gerichteten    Bestrebungen    der    „Gleichheit",    re- 
spektive, da  ein  Blatt  nur  durch  seinen  Redakteur  verantwortlich  gemachl 
werden  kann,  der  Redakteure  Dr.  Adler  und  B  r  e  t  s  c  h  n  e  i  d  e  r.  In  der 
heutigen    Verhandlung    hat  die    Staatsanwaltschaft   diesen    Standpunkt   ent- 
schieden   aufgegeben,   ja  demselben    entschieden    widersprochen,    indem    sie 
!?esagt  hat:  Es  fällt  mir  nicht  ein,  zu  behaupten,  daß  die  Angeklagten  An- 
archisten sind  und  die  „Gleichheit"  ein  anarchistisches  Blatt  ist.  Nun,  ent 
we^der  hat  der  Staatsanwalt  in  der  Anklage  oder  heute  die  Wahrheit  nicht 
gesagt,   natürlich  objektiv,   denn,  daß  er  subjektiv  das  Bestreben   hat,  aucli 


88  Adler  vor  dem  Holzinger-Senat 

l>ei  der  widersprechendsten  Darstellung  die  Wahrheit  zu  sagen,  daran  kann, 
ich  natürlich  nicht  im  geringsten  zweifeln. 

Die  „Gleichheit"  ist  nach  seinen  heutigen  Ausführungen  im  Gegensatz, 
zu  den  Ausführungen  der  Anklage  kein  anarchistisches  Blatt,  und  die  Tätig- 
keit der  „Gleichheit"  unid  der  Angeklagten  ist  keine  anarchistische.  Wo  be- 
ginnt aber  die  anarchistische  Tätigkeit?  Sie  beginnt  nach  den  Ausführungea 
der  Staatsanwaltschaft  dann,  wenn  direkt  an  dem  Umsturz  gearbeitet  wird,, 
und:  hier  verfällt  die  Staatsanwaltschaft  in  einen  Widerspruch  mit  dem,. 
was  sie  vor  zwei  Minuten  selbst  vorgebracht  hat,  indöm  sie  gesagt  hat:  Es 
fällt  mir  nicht  ein,  zu  behaupten,  idiaß  die  sozialdemokratische  Bewegung,  ja 
selbst  die  radikale  Partei  anarchistisch  sei,  und  gleich  darauf  sagt  der  Staats- 
anwalt: Die  Endziele,  die  ihr  erreichen  wollt,  sind  nur  auf  gewalt- 
samem Wege  zu  erreichen,  und  es  wird  daher  zur  Gewalt  kommen.  Die 
Staatsanwaltschaft  also,  die  sagt,  die  Angeklag-ten  sin^d  keine  Anarchisten.. 
sie  sind  nur  Sozialdemokraten,  folgert  weiter:  Weil  ihr  auf  Gewalt  losgeht, 
seid  ihr  Anarchisten.  Das  ist  doch  ein  Spiel  mit  Worten  und  Begriffen,  das 
dahin  führt,  daß  die  Anklage  ebensogut  alles  mögliche  verteidigen  kann, 
was  aber  vor  dem  Gerichtshof  der  Logik  und  der  Öffentlichkeit  gewiß  auch 
seine  richtige  Würdigung  finden  wird.  Nun  möchte  ich  der  geehrten  Staats- 
anwaltschaft noch  einiges  sagen:  Wenn  wir  Politiker  sind,  die  für  die  Gegen- 
wart leben,  haben  wir  sehr  viel  zu  tun,  um  eine  zweckmäßige  Stellung  zu  den 
Fragen  zu  nehmen,  die  in  der  Gegenwart  auftauchen;  über  die  Zukunft  sich 
den  Kopf  zu  zerbrechen  ist  ein  Gebiet,  auf  'das  sich  kein  vernünftiger 
Politiker  begeben  wird  und  daher  auch  nicht  die  Herren  Dr.  Adle  r  und 
B  r  e  t  s  c  h  n  e  i  d  e  r,  überhaupt  nicht  die  gesamte  Sozialdemokratie.  Was 
künftig  nach  Jahrhunderten  sein  wird,  bleibt  Sorge  der  Zukunft,  wir  leben 
der  Gegenwart  und  haben  es  mit  den  gegenwärtigen  Bestrebungen  der  An- 
geklagten zu  tun,  und  diese  sind  —  abgesehen  von  allem  anderen,  was  be- 
reits erörtert  wurde  und  noch  zu  erörtern  sein  wird,  ich  berufe  mich  auf  das 
Zeugnis  des  Herrn  Staatsanwalts  —  keine  solchen,  welche  auf  einen  ge- 
waltsamen Umsturz  der  Staats-  und  Gesellschaftsordnung,  insbesondere  zum 
.Vnarchismus  hinführen.  Glaubt  ider  hohe  Gerichtshoif  und  der  verehrte  Herr 
Staatsanwalt,  daß  alle  Leute,  die  auf  dem  Hainfelder  Kongreß  oder  auf  dem 
Kongreß  zu  St.  Gallen  waren,  sich  wirklich  soviel  Zeit  nehmen  würden,  um 
lagelang  zu  diskutieren  und  ein  Programm  aufzustellen  über  die  Erfüllung 
von  Wünschen,  die  sie  bei  der  heutigen  Staats-  und  Gesellschaftsordnung 
in  ihrem  Sinne  berücksichtigt  haben  wollen,  wenn  sie  auf  dem  Standpunkt 
.-stünden,  daß  mit  dieser  Staats-  und  Gesellschaftsordnung  gar  nicht  zu  rech- 
nen sei,  und  daß  sie  einfach  umgeworfen  werden  kann?  Für  so  zeitver- 
-chwenderisch  und  beschränkt  dürfte  man  denn  weder  die  deutsche  noch 
die  österreichische  Sozialdemokratie  und  gewiß  auch  nicht  die  heuligen 
.Angeklagten  halten. 

Es  ist  seitens  der  Staatsanwaltschalt  die  Theorie  zwischen  direkter 
und  indirekter  Mitschuld  aufgestellt  worden.  Über  die  juristische  Seite  dieser 
Theorie  habe  ich  wohl  nicht  nötig,  viel  Worte  zu  verlieren.  Bisher  war  es 
allgemeine  Ansicht,  daß  etwas  verboten  oder  erlaubt  ist,  daß  aber  g  1  e  i  c  h- 
zeitig  etwas  erlaubt  und  verboten  sein  könne,  daß  etwas  an- 
standslos   in.  einem   Blatt   erscheinen   könne   und   nicht   einmal   den   Anlaßt 


Adler  vor  dem  Holzinger-Senat  89 

zu  der  so"?lst  so  üblichen  und  leicht  hantierlkhen  Konliskation  gibt,  und  daß. 
dasselbe  dann  zugleich  den  Anlaß  geben  könne  zu  den  allerfürchterlichstea 
Bestrebungen,  zu  dem  gewaltsamen  Umsturz  der  Staats-  und  Gesellschafts- 
ordnung, das  ist  mir  neu.  Wenn  ich  ein  Staatsanwalt  wäre  und  nicht  eine 
so  geschätzte  Person  wie  der  Vertreter  der  Staatsanwaltschaft  mein  Gegner 
wäre,  sondern  ein  junger,  simpler  Verteidiger,  demgegenüber  ich  weniger 
Rücksicht  zu  beobachten  hätte  von  meinem  Standpunkt  als  gegenüber  denn. 
.Staatsanwalt,  so  würde  ich  nach  bewährtem  Muster  sagen,  daß  die  Exzesse 
nicht  in  einem  ursächlichen,  sondern  in  einem  zeitlichen  Zusammenhang; 
mit  dem  waren,  was  in  der  „Gleichheit"  stand.  Ich  würde  sagen,  daß- 
niemals  behauptet  werden  kann,  daß  auch  nur  der  geringste  Zusammen- 
~  hang  zwischen  Exzessen  stattgefunden  hat,  ich  würde  eine  ähnliche  Be- 
hauptung als  „Tratsch  und  Erdichtung  und  als  eine  frivole  Behauptung"  be- 
zeichnen. Da  ich  aber  nicht  in  der  Stelle  eines  Staatsanwalts,  sondern  des- 
Verteidigers bin,  so  möchte  ich  mir  die  Bemerkung  gestatten,  daß  auch  nicht 
ein  Funke  eines  Anhaltspunktes,  geschweige  denn  eines  Beweises  dafür  vor- 
gebracht wurde,  daß  zwischen  diesen  Artikeln  der  „Gleichheit"  und  den. 
Exzessen  ein  ursächlicher  Zusammenhang  besteht.  Wieviel  Nummern  der 
..Gleichheit"  sind'  nach  Kladno  oder  nach  Steyr  gekommen?  Das  wissen  wir 
nicht.  Wir  wissen  nur,  daß  die  Arbeiter  in  Kladno  durchweg  Nichtdeutsche 
sind  und  daher  die  „Gleichheit"  nicht  lesen.  Dann  kommt  ein  Fehlschluß-, 
vor,  die  Verwechslung  zwischen  einem  Zustand  und  demjenigen,  der  diesen 
Zustand  erkennt  und  schildert.  Nach  der  Theorie  des  Staatsanwalts  ist  nicht 
der  Dieb  strafbar,  sondern  der  Staatsanwalt,  weil  er  den  Umstand  ans- 
Tageslicht  bringt  und  klarlegt,  daß  der  Mann  gestohlen  hat.  Die  Krankheit 
ist  nicht  in  der  Person  des  Kranken  zu  suchen,  sondern  die  Ursache  ist  iev 
Arzt,  der  die  Krankheit  konstatiert.  Mit  diesem  logischen  Sprung  ist  es  vi  e  1- 
leicht  möglich,  ein  gerichtliches  Erkenntnis  zu  er- 
zielen, aber  es  ist  nicht  möglich,  sein  Auftreten  zu  recht- 
fertigen vor  einem  R  i  ch  t  e  r  s  t  u  h  1,  der  heute  in  der  Welt 
die  größte  Rolle  spielt,  das  ist  die  öffentliche  und  g  v- 
k-1  arte  Meinung  allerZeiten. 

Es  ist  möglich,  daß,  wenn  eine  Angelegenheit  nur  drei  Leuten  bekannt 
ist,  ein  Gerichtshof  aus  den  besten  Motiven  zu  irgendeiner  tatsächlichen 
Feststellung  kommen  kann,  die  nach  dem  Gesetz  unanfechtbar  ist.  Das  bleibt 
der  Öffentlichkeit  ziemlich  verborgen,  denn  nur  drei  Leute  wissen  davon 
und  Hunderte  und  Tausende  Tcönnen  sich  darüber  kein  Urteil  bilden.  AJjer 
in  diesem  Falle  ist  es  anders.  Was  die  Sozialdemokratie,  was  Anarchismus,, 
was  die  Tätigkeit  der  „Gleichheit"  und  der  Angeklagten  ist,  ist  kein  Geheimnis. 
Es  liegt  der  Erkenntnis  von  Hunderttausenden  offen,  und  wenn  der  Staats- 
anwalt vom  Gerichtshof  begehrt,  daß  er  feststelle,  daß  eine  Handlung  aus- 
anarchistischen Motiven  begangen  wurde,  so  kann  diese  tatsächliche  Fest- 
stellung, abgesehen  davon,  daß  sie  im  vorliegenden  Falle  nie  und  nimmer 
erfolgen  kann,  nie  dahin  führen,  daß  die  Behauptung  in  Wahrheit  erw^ächst. 
sondern  nur  dahin,  daß  die  A  u  t  o  r  i  t  ä  t,  d  i  e  der  Wahrheit  ins  G  c- 
sicht  schlägt,  leidet  für  künftige  und  vergangene  Urteilssprüche.  Ich 
habe  mich  nach  den  Ausführungen  des  Herrn  Dr.  Adler  nicht  viel  mit 
der  Theorie  des  Anarchismus  und  Sozialismus  zu  besc-häftigen.  Daß  zwischcj^ 


90  Adler  vor  dem  Holzinger-Senat 

^Sozialismus  und  Anarchism<us  ein  großer  Unterschied  ist,  nat  Herr 
Dr.  Adler  entwickelt  und  die  Staatsanwaltschaft  durch  ihren  geschätzten 
Vertreter  zugegeben.  Ich  möchte  mir  erlauben,  ein  paar  Bemerkungen  eines 
hervorragenden  sozialistischen  Schriftstellers,  Gabriel  Deville,  in  seiner 
Schrift  über  den  Anarchismus,  selbstverständlich  gegen  den  Anarchismus, 
zu  zitieren:  r,Der  Anarchisimus  lenkt  ifortwährcnd  durch  neue  Dummen- 
jungenstreiche die  allgemeine  Aufmei'ksamkeit  auf  sich;  es  mag  deshalb  an 
•cler  Zeit  sein,  den  rückschrittlichen  Charakter  dieser  Strömung  d'arzulegen." 
-Der  Anarchismus  wurzelt  in  ökonomischen  Voraussetzungen,  die  längst  der 
Vergangenheit  angehören."  „Die  wenigen  Anarchisten,  von  denen  wir  eben 
■sprechen,  denken  unrichtig;  die  meisten  der  Anarchisten  überhaupt  denken 
•gar  nicht.  Der  Anarchismus  ist,  weil  sein  Grundgedanke  in  jener  Willkür 
lind  Freiheit  besteht,  ganz  natürlicherweise  -idie  Lehre,  für  die  sich  alle  un- 
Idaren  Köpfe,  alle  diejenigen,  deren  Grundsatz  es  ist,  keinen  Gmndsatz  zu 
haben,  alle  diejenigen  begeistern,  die  nach  Worten  jagen,  weil  ihnen  die 
(iedanken  fehlen."  „Die  Anarchisten  wollen  d;as  individuelle,  unvermittelte 
Vorgehen,  das  stets  mit  der  radikalen  Unterdrückung  dieser  einzelnen  Re- 
gung endet  und  somit  eine  fortwährende  Schwächung  der  Kräfte  des  Sozia- 
lismus bedeutet"  usw. 

Auf  dem  St.  Gallener  Kongreß  hat  der  deutsche  Reichstagsabgeordnete 
und  Sozialdemokrat  Liebknecht  zu  Punkt  6  der  Tagesordnung  einen 
Bericht  erstattet  über  das  Verhältnis  der  Sozialdemokratie  zu  den 
Anarchisten.  Zunächst  setzt  er  den  theoretischen  Unterschied  auseinander, 
lind  wie  mir  scheint,  in  viel  zu  weitgehender  Weise,  weil  es  mit  der 
AVahrheit  nicht  vollständig  im  Einklang  ist.  Er  sagte:  „Die  Elemente,  welche 
\ins  noch  als  Anarchisten  entgegentreten,  sind  in  drei  Kategorien  zu  teilen- 
1.  Die  Spitzel  und  Agents  provocateurs,  welche  den  A^erhältnissen  ent 
sprechend  sehr  zahlreich  sind.  2.  Die  Verbrecher;  Menschen,  die  Raubmord 
und  Brandstiftung  begehen,  sind  gemeine  Verbrecher,  auch  wenn  sie  ihrem 
A'erbrechen  ein  anarchistisches  Mäntelchen  umhängen."  Er  erklärt  sicii 
tntschieden  gegen  die  Propaganda  der  Tat  und  sagt  weiter:  „Die  Gewali 
macht  keine  Revolution  und  ist  überhaupt  nicht  revolutionär.  Im  Gegenteil, 
die  Feinde  der  Revolution  haben  sich  stets  auf  die  Gewalt  gestützt.  „Gewalt 
■geht  vor  Recht"  ist  kein  revolutionärer  Satz,  und  „Blut  und  Eisen"  ist  kein 
revolutionäres  System.  Verzweiflungstaten  einzelner  sind  keine  revolutio- 
näre Taktik.  Wer  ohne  Macht  an  die  Gewalt  appelliert,  nützt  nur  den 
Gewalthabern."  Sein  Programm  geht  nur  dahin,  die  moralische  Eroberung 
<ler  Massen  herbeizuführen  und  die  Volksseele  zu  wecken.  Wenn  wir  das 
llainfelder  Programm  betrachten,  das  zur  Verlesung  gelangt  ist,  so  folgt  aus 
demselben,  daß  das  Hauptziel  der  Sozialdemokratie  darin  besteht,  das 
J^roletariat  politisch  zu  organisieren,  es  mit  dem  Bewußtsein  seiner  Lage 
■und  Aufgabe  zu  erfüllen.  Es  wurde  eine  Reihe  von  Forderungen  erhoben 
und  eingehend  diskutiert,  lauter  Forderungen,  die  sich  selbstverständlich 
<iuf  die  heutigen   Staats-  und  Gesellschaftszustände   beziehen. 

Nun  kann  auch  gar  kein  Zweifel  darüber  bestehen,  daß  auch  nach 
der  Beratung  der  Gesetze  im  Parlament  eine  Vermengung  der  Sozial- 
demokratie mit  dem  Anarchismus  nicht  zugegeben  werden  kann.  Es  ist 
bekannt,  daß   die   ursi)rüngliche   Regierungsvorlage,  aus   welcher   das   Gesetz 


Adler  vor  dem  Holzinger-Senat  91 

von  1886  entstanden  i<t,  den  Passus  hatte:  „sozialistische,  auf  den  Umsturz 
der  bestehenden  Staats-  und  Gesellschaftsordnung  hinzielende  Bestrebungen". 
Das  Wort  •,sozialistisch"  in  dieser  Textierung  hat  nicht  die  Majorität  be- 
kommen, sondern  das  Gesetz  ist  im  Kompromißweg  dadurch  zustande  ge- 
kommen, daß  das  Wort  „sozialistisch"  eliminiert  und  an  dessen  Stelle 
-anarchistisch"  gesetzt  wurde.  Der  Antrag  wurde,  wenn  ich  nicht  irre,  von 
«lern  A!)geordneten  N  e  u  w  i  r  t  h  gestellt  und  von  der  gesamten  Linken 
unterstützt  und  vom  Abgeordneten  Herbst  ^in  merito  begründet.  Maß- 
sebend  ist,  was  der  Abgeordnete  Dr.  Herbst  diesbezüglich  in  der  77.  Sitzung 
der  10.  Session  ausführte.  Er  sagte:  „Man  mag  streiten,  ob  die  Worte 
."Sozialismus  und  Anarchismus,  wenn  man  bloß  die  Grammatik  dabei  berück- 
sichtigt, so  wesentlich  verschieden  sind,  aber  das  kann  man  nicht  leugnen, 
daß  zwischen  Sozialismus  und  /Anarchismus  ein  wesentlicher,  im  allgemeinen 
Sprachgebrauch  feststehender  begrifflicher  Unterschied  besteht,  und  daß  von 
drn  Sozialdemokraten,  welche  wirklich  Sozialisten  sind,  der  Anarchismus 
ebenso  perhorrcsziert  wird  wie  von  der  Bourgeoisie  und  der  gesamten  Be- 
völkerung." Dieses  Gesetz  ist  in  seiner  Gültigkeitsdauer  abgelaufen,  und  e.« 
kam  eine  neue  Gesetzosvorlage  vor  das  Parlament.  Diese  kam  mit  Rücksicht 
auf  die  A'ertagung  des  Parlaments  nicht  zustande.  Infolgedessen  wurde  die 
Verordnung  des  Gesamtministeriums  erlassen,  welche  heute  zum  Gesetz 
geworden  ist,  und  ist  —  der  geehrte  Staatsanwalt  wird  da  mit  mir  überein- 
stimmen —  nichts  anderes  als  die  Verlängerung  des  früher  bestandenen 
Anarc.histengesetze.s  im  Verordnungswego.  Bei  der  Verhandlung  über  die 
Kenntnisnahme  dieser  Verordnung  wurden  folgende  Erklärungen  abgegeben. 
Der  Berichterstatter  Lienbacher  sagte:  „Ich  glaube  nicht,  die  soziak' 
oder  sozialistische  Seite  berühren,  sondern  lediglich  die  anarchistische 
Bewegung  betrachten  zu  sollen,  weil  auch  nur  diese  Umtriebe  beziehungs- 
weise Tendenzen  es  sind,  welche  die  Suspendierung  der  Geschwornengerichte 
zur  Folge  haben."  Und  an  einer  anderen  Stelle  sagt  er:  „Die  sozialen  Be- 
strebungen werden  in  keiner  Weise  einzuschränken  sein."'  Er  beruft  sich  auf 
die  Verhandlungen  vom  Jahre  188G  und  sagt:  „Sie  werden  daraus  ersehen, 
•laß  man  sich  zwar  sehr  zugunsten  der  sozialistischen  Bestrebungen  ein- 
setzte, aber  in  bezug  auf  die  Aufhebung  der  Geschwornengerichte  bei 
Delikten  der  Anarchisten  außerordentlich  nachgiebig  war."  Weiter  sagt  er: 
..Der  Ausschuß  hat  alle  diese  Amendements,  welche  von  der  Linken  gestellt 
worden  sind,  angenommen:  anarchistisch  statt  sozialistisch."  Er  beruft  sich 
auf  die  Rede  des  Dr.  Herbst  und  sagt,  es  könne  kein  Zweifel  sein,  wi<' 
'lie  Sache  aufgefaßt  wurde.  Am  wertvollsten  und  wichtigsten  sind  die  Aus- 
führungen des  Regieiungsvertreters  Dr.  Krall.  Er  sagte:  „Die  Staatsanwalt- 
schaft von  Wien,  die  einen  freien,  offenen  Blick  für  diese  Verhältnisse  hat. 
konnte  es  bald  nach  Verlauf  der  Ereignisse  vom  .lahre  1883  bis  1884  be- 
lichten, daß  die  Wiener  Arbeiterbevölkerung  durch  die  Bluttaten  des 
Kammerer,  des  Stellmacher  in  ihren  Rechtsgefühlen  so  verletzt  war,  daß 
die  rückläufige  Bewegung  der  anarchistischen  Umtriebe  zurückzuführen  sei 
auf  den  Wideisprurh,  wt !•;}.": n  solche  Taten  in  der  Arbeiterschaft  gefunden 
haben."  „Das  Jahr  1887  ist,  was  die  anarchistische  Bewegung  betrifft, 
wirklich  charakteristisch  dadurch,  daß  die  anarchistische  Partei  eingesehen 
liat.  wie  viel  Boden  sie   in  der  Wiener  Arbeiterbevölkerung   verloren   hatte. 


02  Adler  vor  dem  Holzinger-Senat 

und  daß  sie  bestrebt  war,  dieses  eingebüßte  Terrain,  diesen  verlorenen 
Einfluß  in  Österreich  wieder  zurückzugewinnen.  Es  sind  Anarchisten  auf- 
getreten, welche  ihre  Hand  bei  allen  Vorgängen  im  Spiele  hatten  und  sicli 
immer  verwirrend  und  agitierend  für  ihre  Parteizwecke  bemerkbar  machten. 
Es  ist  natürlich,  daß  die  sozialistische  Partei  —  ich  bitte,  es  ist  ein  großer 
Unterschied  zwischen  dieser  und  der  anarchistischen  —  ein  offenes  Aug.:; 
haben  mußte  für  alle  Ereignisse  im  politischen  Leben.  Sie  bemächtigte  sich 
daher  der  Frage  der  Errichtung  von  Arbeiterkammern,  der  Regierungsvorlag.^ 
bezüglich  der  Unfallversichetung,  der  Krankenversicherung  usw." 

Der  Regierungsvertreter  spricht  hierauf  von  der  „Freiheit",  der  „Auto- 
nomie" und  dem  „Rebell"  und  sagt:  „Diese  Druckschriften  begnügen  sich 
nicht  vielleicht  damit,  das  überschwenglichste  sozialistische  Programm  in 
volkswirtschaftlicher  Beziehung  aufzustellen  oder  zu  verfolgen;  ja  es  i^t 
eine  bedeutsame  Tatsache,  in  allen  diesen  Zeitungen  findet  man  beinahe 
gar  nichts  von  volkswirtschaftlichen  Fragen;  das  scheinen  Fragen  zu  sein. 
welche  die  Herren  Anarchisten  schon  nicht  mehr  interessieren." 

Und  zum  Schluß  sagt  der  Regieiungsvertreter:  „Das  darf  man  wolil 
sagen,  die  Verordnung  des  Gesamtministeriums  ist  gewiß  nicht  gegen  die 
Arbeiterschaft  im  ganzen  gerichtet,  sondern  gegen  diejenigen  Personer., 
welche  sich  dieser  anarchistischen  Bestrebungen  schuldig  machen.  Die— 
bezüglich  erlaube  ich  mir  darauf  hinzuweisen,  die  Anarchistenpartei  i^t 
wirklich  eine  für  sich  bestehende  Partei,  die  sich  von  der  anderen  Arbeiter- 
schaft losgelöst  und  ihre  eigene  bestimmte  Organisation  hat,  und  insofern 
kann  man  mit  gutem  Gewissen  sagen,  wenn  diese  Regierungsvorlage  von  den. 
anarchistischen  Bestrebungen  spricht  und  sich  gegen  die  Anarchisten  richteU 
daß  hier  eine  Trennung  der  Grenzen  zwischen  Anarchismus  und  Arbeiter- 
schaft wohl  eingehalten  wurde." 

Aus  dieser  parlamentarischen  Lage,  insbesondere  aus  den  Erklämngcii 
des  Regierungsvertreters  geht  evident  hervor,  daß  von  vornherein  die  Gesetz- 
gebung sicji  des  Unterschiedes  zwischen  Anarchismus  und  Sozialismu-. 
respektive  Sozialdemokratie  auch  in  der  praktischen  Betätigung  vollständj'/ 
klar  bewußt  war,  und  die  Verwechslung  beider  Begriffe  daher  absolut  logisch 
ausgeschlossen  ist.  Zu  diesem  Schluß  gelange  ich  auch  durch  die  mir  al- 
Staatsbürger  notwendig  auferlegte  Achtung  von  der  Regierung  und  ihnii 
Worten,  denn  würde  ich  glauben,  daß  die  Regierung  das  gesagt  hat,  um  dann 
auch  die  sozialistischen  Bestrebungen  auf  Grund  des  Gesetzes  zu  inkrimi- 
nieren und  zu  verfolgen,  so  müßte  ich  logischerweise  dahin  kommen,  wohin 
ich  nicht  kommen  darf,  das  ist,  die  Regierung  der  Irreführung  des  Parlamenl- 
und  der  Doppelzüngigkeit   zu  beschuldigen. 

Wenn  die  „Gleichheit"  bis  zum  Dezember  1S88  irgendeine 
anarchistische  Tendenz  entfaltet  hätte,  so  glaube  ich,  hoher  Gerichtshof,  daU 
irgend  jemand  bei  der  Verhandlung,  wenn  auch  nicht  die  Regierung,  darauf 
hingev.'iesen  hätte.  Mit  keinem  Wort  war  davon  die  Rede,  weder  im  Aus- 
schuß noch  im  Plenum.  Man  hat  an  ganz  etwas  anderes  gedacht,  an  den 
wirklichen  Anarchismus,  nicht  an  die  „Gleichheit"  und  an  die  anderen 
.sozialistischen  Blätter,  sondern  es  wurde  nur  vom  „Rebell",  von  der  „Auto- 
nomie" und  von  der  „Freiheit"  gesprochen.  Die  Anklage  der  geehrten  Staats 
anwaltschaft,  wie  sie  vorliegt,  enthält,  wenn  ich  auf  den  heutigen  Kommentar 


Adler  vor  dem  Holzinger-Senat  93 

und  die  heutigen  Erklärungen  keine  Rücksicht  nehme,  weniger  eine  Anklage 
gegen  die  Angeklagten  als  gegen  die  Staatsanwaltschaft  Wien,  die  Polizei- 
direktion und  noch  gegen  eine  Reihe  von  Behörden. 

Wie,  meine  Herren,  die  „Gleichheit"  wäre  ihrer  ganzen  Tendenz  nach 
i-in  anarchistisches  Blatt  gewesen,  und  die  geehrte  Staatsanwaltschaft  Wien 
wäre  in  diesem  Falle  —  verzeihen  Sie,  es  ist  ja  nicht  eingetreten,  die  Vor- 
aussetzung stimmt  nicht  —  so  pflichtvergessen,  die  „Gleichheit"  nich: 
subjektiv  verfolgt  zu  haben,  und  die  Polizei,  bei  der  die  geringste  Regung 
genügt,  um  gemaßregelt  zu  werden,  hätte  nie  gegen  die  „Gleichheit"  etwas 
einzuwenden  gehabt?  Warum  ist  das  nicht  geschehen?  Weil  kein  Anlaß 
dazu  war.  Ob  es  Sache  eines  Juristen  ist,  eine  solche  Beweisführung  vor- 
zunehmen, wie  es  der  Herr  Staatsanwalt  heute  und  in  der  Anklage  getan  hat, 
überlasse  ich  getrost  der  Beurteilung  der  ganzen  juristischen  Welt.  Um  zu 
beweisen,  daß  die  Xummer  17  der  „Gleichheit"  anarchistischen  Bestrebimgen 
huldigt,  wird  nicht  nach  einem  Beweismaterial  gesucht.  Um  den  Beweis  zu 
liefern,  wird  eine  Reihe  von  Nummern  zitiert,  die  zum  Teil,  insbesondere 
Xummer  15,  überhaupt  gar  nicht  inkriminiert,  gar  nicht  konfisziert  wurden. 
Warum  hat  die  geehrte  Staatsanwaltschaft  in  diesem  Falle  nicht  ihre  Pflicht 
?etan,  wenn  sie  der  Ansicht  war,  daß  jene  Artikel  anarchistisch  waren? 
Aus  dem  einfachen  Grunde,  weil  die  Staatsanwaltschaft  damals  dieser 
Ansicht  nicht  war  und  diese  Ansicht  herzuleiten  eine  andere  Auffassung  der 
Sache  ist,  die,  ich  weiß  nicht  aus  welcher  höheren  Inspiration  erfolgt  ist. 
Es  ist  merkwürdig,  daß  die  Staatsanwaltschaft  heute  von  ihren  Beweis- 
mitteln zum  Teil  nicht  Gebrauch  machen  will  und  in  der  Zwischenzeit 
mühsam  andere  Xumniern  der  „Gleichheit"  zusamrnengesucht  hat,  um  die 
anarchistische  Tendenz  herzuleiten.  Ist  es  Sache  eines  Juristen,  nachträglich 
mühsam  einige  Xmnmcrn  zu  suchen,  um  einen  Tatbestand  festzustellen,  der 
zur  Zeit,  als  die  Anklage  erhoben  wurde,  bereits  feststehend  sein  sollte? 
Wir  haben  gesehen,  daß  Morde,  Münzverfälschungen,  Diebstähle  iti 
;jnarchistischer  Tendenz  begangen  wurden,  um  eben  mit  dem  Erfolg  des 
\'erbrecliens  andere  Tendenzen  zu  verfolgen.  Es  ist  aber  logisch  aus- 
geschlossen, daß  ein  Artikel  anarchistisch  oder  mindestens  hochverräterisch 
ist  —  gewaltsame,  auf  den  Umsturz  der  Staats-  und  Gesellschaftsordnunü 
zielende  Bestrebungen  sind  doch  hochverräterisch  —  wenn  die  betreffend.' 
Notiz,  das  betreffende  Schriftstück  überhaupt  nicht  einmal  den  Tatbestand 
eines  Vergehens,  geschweige  denn  den  Tatbestand  eines  Verbrechens  enthält. 
Tatsächlich  ist  die  -Gleiciheit",  soweit  mir  bekannt  ist,  und  der  Herr  Staats- 
anwalt wird  kaum  in  der  Lage  sein,  mir  zu  widersprechen  —  stets  wegen 
der  A'ergchen  nach  den  §§  300.  302  und  305,  in  einem  einzigen  Falle  wegen 
des  Verbrechens  der  Störung  der  öffentlichen  Ruhe,  niemals  aber  wegen 
Hochverrats  inhibiert  worden,  und  daraus,  daß  in  einer  Reihe  von  Fällen  n  i  e 
ein  Hochverrat  begangen  wurde,  schließt  die  Staatsanwaltschaft,  daß  von 
vornhereiji  die  Absicht  auf  hochverräterische  Unternehmungen  gerichtet 
war.  Das  ist  ein  Schluß,  um  den  den  Herrn  Staatsanwalt  —  allen  Respekt 
^  or  seiner  Person  und  Bedeutung  —  kein  Jurist  beneiden  wird.  Die  „Gleich- 
heit" ist,  wie  wir  gehört  haben,  nicht  von  vornherein  anarchistisch  gewesen, 
sondern  sie  ist  es  erst  in  letzter  Zeit  geworden.  Wenn  die  „Gleichheit" 
anarchistisch  ist,     dann  ist  es  ja  nicht  wahr,     daß   die  anarchistische  Be- 


94  Adler  vor  dem  Holzinger-Senat 

wegung  eine  rückläufige  Bewegung  genommen  hat.  Die  „Gleichheil"  entliiilt 
nichts  anderes  als  das  Parteiprogramm,  und  was  in  der  „Gleichheit'"  stellt, 
ist  heute,  man  kann  dies  mit  Recht  sagen,  nur  das  Programm  der  sozia- 
listischen, auf  dem  Hainfelder  Kongreß  geeinigten  Partei  Österreichs.  Ist  die 
-, Gleichheit"  anarchistisch,  dann  haben  wir  es  mit  einigen  Tausenden  von 
Anarchisten  in  Wien  zu  tun.  Das  ist  vielleicht  etwas,  was  gewünscht  wird; 
Wozu  ein  A  n  a  r  c  Ji  i  s  t  e  n  g  e  s  e  t  z,  wenn  wir  keine 
Anarchisten  haben?  Das  Gesetz  läuft  ab,  infolge- 
dessen müssen  wir  Anarchisten  ans  Tageslicht  bringen. 
Der  Schlußpassus,  betreffend  die  „Tapferkeit  der  Dragoner  und 
Husaren"  —  ich  lasse  mich  aus  Gründen,  die  ich  später  erörtern  werde, 
darauf  nicht  ein  —  soll  ebenfalls  die  anarchistische  Tendenz  kennzeichnen. 
Ich  wiederhole,  wenn  etwas  Anarchistisches  darin  gelegen  wäre,  so  müßl.^ 
auch  etwas  Hochverräterisches  darin  gelegen  sein,  es  müßte  den  Tatbestand 
des  Hochverrats  enthalten,  denn  insofern  die  Bestreitungen  im  Innersten 
des  Herzens  verschlossen  sind,  hat  niemand  darüber  Rechenschaft  zu  geljcn. 
Der  §  11  des  Strafgesetzes  ist  auch  durch  das  Ausnahmegesetz  über  die 
Anarchisten  nicht  aufgehoben  worden.  In  diesem  Artikel  wird  einfach  gesagt: 
Es  hat  eine  Reihe  von  Dragonern  —  über  die  Berechtigung  oder  Xichl- 
J)erechtigung  will  ich  kein  Urteil  abgeben  —  Handlungen  verübt,  die  über 
ihre  Pflicht  hinausgehen.  „Geduld,  auch  diesen  Blinden  wird  der  Star 
gestochen  werden."  Es  ist  eine  Unterlegung,  daß  die  Pflicht  und  der  Dienst 
der  Dragoner  Gegenstand  einer  Erörterung  gewesen  sind.  So  gescheit  sind 
schon  die  Sozialdemokraten  und  es  bedurfte  nicht  der  heutigen  weiteren 
Begründung  dessen,  daß  sie  in  jedem  Menschen,  auch  in  dem  Dragoner, 
«•in  soziales  Produkt  sehen,  das  für  das,  was  es  tut,  nicht  verantwortlich  ist. 
Es  wird  nur  behauptet,  wenn  diese  Leute  einst  klarer  sehen  werden,  su 
vrerden  sie  den  Zusammenhang  mit  dem  Volke  besser  würdigen  und  nicht 
Handlungen  begehen,  die  über  ihre  Pflicht  und  über  ihren  Dienst  hinaus- 
gehen. Das  ist  in  dem  Artikel  gesagt  und  nichts  anderes.  Und  wie  man  eine 
andere  Auffassung  haben  kann,  ist  mir  bei  einer  ruhigen  und  objektiven 
Erwägung  nicht  recht  klar.  Oder  glauben  denn  die  Herren,  daß  Dr.  Adle  r 
die  Meinung  hatte,  daß  er  und  die  Sozialdemokratie  im  Verein  mit  den 
durch  die  Artikel  gewonnenen  Dragonern  den  gewaltsamen  Umsturz  dcv 
.Staats-  und  Gesellschaftsordnung  herbeiführen  werden!  Ich  glaube,  niemand, 
der  die  Sache  ernst  nimmt,  kann  solcher  Meinung  sein.  Das  gilt  für  alle 
Artikel  und  auch  für  die  Notiz  über  die  Tätigkeit  Teufelmayrs  in  Sleyr. 
Worüber  wird  fortwährend  in  derber  oder  in  höflicher  Form  geschrieben 
und  gesprochen?  Darüber,  daß  gewaltsam  andere  Gesetze  eingeführt  werden 
sollen?  Nein,  darüber,  daß  die  heute  bestehenden  Gesetze  gehandhabt 
werden,  respektive  daß  solchen  Wünschen  wie  Lohnerhöhung,  Normieriinjr 
der  Arbeitszeit,  Einhaltung  der  Gewerbeordnung,  die  innerhalb  der  heutigen 
Staats-  und  Gesellschaftsordnung  ganz  gut  erfüllt  werden  können,  nach- 
gegeben wird.  In  dieser  Hinsicht  wird  agitiert,  in  keiner  anderen.  Es  wäre 
die  größte  Torheit,  den  Angeklagten  zuzumuten,  daß  sie  Handlungen  unter- 
nehmen, die  für  sie,  für  die  ganze  Partei,  für  die  Richtung  und  die  Ziele, 
tue  sie  anstreben,  in  höchstem  Grade  schädlich  und  verderblich  wären 
Wenn   ich  schon    einmal    im  Sinne    der  Staatsanwaltschaft    zu    der    merk- 


Adler  vor  dem  Holzinger-Senat  95 

würdigen  Annahme  gelangen  würde,  daß  T  e  u  f  e  1  m  a  y  r  in  S  t  e  y  r  und 
Reitzes   in    Wien    identisch   sind   mit   der   herrschenden 
Staats-   und    Gesellschaftsordnung,   so    frage    ich:    Wird   etwa, 
verlangt,  daß  diese  umgebracht  oder  ihre  Güter  konfisziert  werden  sollen? 
Nein!    Es   wird   nur   verlangt,   daß    Teufelmayr  die    Gesetze   beobachte  und 
daß  die  Leute  dort  nicht  so  geschunden  werden,  wie  sie  tatsächlich  zuletzt 
-reschunden   wurden,   und   da   habe    ich  in   dem   Herrn   Staatsanwalt   einen 
klassischen   Zeugen.   Ein   Artikel    der   „Gleichheit",   in   welchem   davon    ge- 
sprochen  wird,  daß  gegen  jene,  welche  gesetzwidrig  in  Haft  behalten,  mit 
Recht  losgeschlagen  wurde,  war  Gegenstand  der  Einspruchsverhandlung,  und 
da  hatte  ich   die   Befriedigung,  aus  dem  Munde  der  Staatsanwaltschaft  zu 
hören,  daß  infolge  der  Artikel  der   „Gleichheit"   ungesetzliche  Ziistände   in 
Wiener  Fabriken  oft  abgestellt  wurden.  Was  hat  stets  die  „Gleichheit"  ge- 
wollt? Daß  Recht  und  Gesetz  beobachtet  ward,  nicht  daß  dasselbe  in  scham- 
loser Weise  unter  den  Augen  der  Behörde  gekränkt  wird.  Daß  man  davoi^ 
spricht,  daß  die  „Gleichheit"   einen  gewaltsamen  Umsturz,  eine  Revolution 
der  Gesellschaftsordnung  herbeiführen  wolle,  ist  weder  juristisch  noch  tat- 
sächlich zu  rechtfertigen.    Ich    berufe    mich    auf    die    Leumundsnoten    der 
Polizei.  Wir  haben  heute  gesehen,  daß  man  nie  Voreiliges  über  etwas  sagen 
soll.  In  der  Polizeinote  ist  nämlich  am  Schlüsse  eine  vielleicht  ungeschickte 
Stilisierung  enthalten,  die   im  Genchtssal  auch  heiter  gewirkt  hat,  nämlich 
die  Folgerung  der  Polizei:  Weil  Dr.  Adler  die  „Gleichheit"  herausgibt,  ist 
er  sozialdemokratisch  gesinnt.    Darüber  ist   von    heute    an    nicht    mehr   zu 
lochen,    denn    die   Staatsanwallschaft    hat    selbst   den    Schluß   gezogen,    si> 
finde  sich  durch  den  Umstand,  daß  Dr.  Adler  die  „Gleichheit"  herausgibt 
und  Sozialist  sei,  zu  dem  Schlüsse  berechtigt,  daß   er  anarchistischen  Be- 
strebungen huldige,  also  dem  Gegenteil  dessen,  was  die  Sozialdemokratie  will. 
Ich  brauche  auf  den  theoretischen  Unterschied  zwischen  Anarchismus 
und  Sozialismus  nicht    näher    einzugehen,     aber    folgendes    kann    keinem 
Zweifel    unterliegen.    Was    will    der    Anarchismus?    Die    uneingeschränkte 
Herrschaft  des  Individuums,  die  Freiheit  von  jeder  Beschränkung,  die  vollste 
Individualität.  Der  Anarchismus  ist  nichts  anderes  als  ein  potenzierter  In- 
dividualismus, der  im  Liberalism.us,  im  Freihandelsprinzip  in  anderer  Hin- 
sicht  seinen  politischen   oder   ökonomischen   Ausdruck   gefunden   hat.    Wa* 
will  der  Sozialismus?   Das  gerade  Gegenteil!   Er  will  eine  Organisation  der 
Gesellschaftsordnung,    in    der   der   einzelne   zurücksteht   gegenüber   der    Ge- 
samtheit und  ihren  jierechtiglen  Interessen,  und  wenn  man  bis  heute  den 
Sozialismus,    respektive    seine    theoretische    Gesellschaftsvorstellung     ange- 
griffen hat,  so  hat  man   das  rnit  Vorliebe  von  dem  Standpunkt  getan,  daß 
man  gesagt  hat:   In  dem  sozialen    Staate   wird  eine   furchtbare   Knechtun;! 
des   Individuums,    eine   bürokratische   Wirtschaft    herrschen,     von   der   wir 
keine  Ahnung  haben,  und  eniste  Schriftsteller,  wie  Schäffle,  haben  den 
Beweis   unternommen,   darzulegen,   daß  das   nicht  notwendig   mit   dem  Be- 
griff des   Sozialismus   verbunden   sei,   daß   Individuum  und   Freiheit  so  ge- 
knechtet werden.  Also  in  den  Zielen  ist  zwischen  Anarchismus  und  Sozia- 
lismus der  offenbarste  Gegensatz,  der  überhaupt  existieren  kann,  und  der- 
selbe   Gegensalz    ist    in    den   Mitteln.    Der   Anarchismus    bedient    sich    in- 
dividueller  Mittel,   die   jeder   einzelne    setzen    kann,   und   vor   allem   terro- 


IK)  Adler  vor  dem  Holzinger-Sonat 

ijstischer  jMittel.  Den  Terrorismus  hat  aber  nicht  der  Anarchismus  erfunden, 
•ev  ist  eigen  einer  Reihe  anderer  Parteien,  die  ganz  anderes  bezielen.  Ich 
•erinnere  teilweise  an  die  irischen  Dynamitattentate  usw.  Der  Staatsanwalt 
^'äre  leicht  geneigt,  nach  seiner  Anschauung  der  Sachlage,  auch  hier  von 
Anarchisten  zu  sprechen,  obwohl  es  sich  hier  um  ganz  andere  Personen 
liandelt  als  um  Anarchisten.  Sie  wollen  in  Irland  das  gerade  Gegenteil, 
sie  wollen  die  Befestigung  des  Privateigentums  an  Produktionsmittehi. 
•dessen  theoretische  Vernichtung  das  Ziel  des  wissenschaftlichen  Sozia- 
lismus ist.  Und  welches  sind  die  Mittel,  welche  die  Sozialdemokratie  an- 
v.-endet?  Nichts  anderes  als  eine  Revolutionierung  der  Geister  gegenüber 
der  läppischen  Propaganda  der  Tat.  Sie  werden  gefunden  haben,  daß  nichts 
•die  Sozialdemokratie  so  empfindlich  berührt  wie  die  Schulfrage  und  daß  nie 
■ein  solcher  Protest  wachgerufen  wurde  wie  in  dem  Augenblick,  wo  es  eine 
gegnerische  Partei  versucht  hat,  die  Schule  in  bezug  auf  das  Bildungsniveau 
herabzudrücken.  Damit  ist  ein  Berührungsmittel  zwischen  der  Sozialdemo- 
kratie und  den  meisten  anderen  Parteien  gegeben.  Daraus  folgt,  daß  jeder  ver- 
nünftige Sozialdemokrat  sich  klar  ist,  um  mit  Lassalle  zu  sprechen,  der 
gesellschaftlichen  Zusammenhänge  und  an  alles  eher  denkt  als  an  einen 
■gewaltsamen  Umsturz  der  bestehenden  Verhältnisse,  und  nachdem  in 
jüngster  Zeit  zugunsten  der  Machthaber  gegen  jene  Bestrebungen  auf- 
:getreten  wird,  welche  die  Sozialdemokratie  propagiert,  so  erlaube  ich  mir  in 
dieser  Beziehung  auf  eine  Rede  hinzuweisen,  welche  in  der  jüngsten  Zeil 
B  e  b  e  1  im  deutschen  Reichstag  gehalten  hat.  Durch  das  Zitat  wird  klar- 
J legender,  als  es  in  der  Regel  zugestanden  wird,  erwiesen,  daß  die  öster- 
reichische Sozialdemokratie  und  ihre  Vertretung  auf  demselben  Stand- 
liunkt  stehen  wie  die  deutsche  Sozialdemokratie.  B  e  b  e  1  sagt  gegenüber 
<iem  deutschen   Reichskanzler: 

„Endlich,  meine  Herren,  sind  wir  auch  »Revolutionäre«,  wir  wollen 
'f.en  Umsturz  der  bestehenden  Staats-  und  Gesellschaftsordnung,  wir  sind  wie 
■tUe  Franzosen,  die  .nur  auf  die  Gelegenheit  warten,  um  über  das  Deutsche 
Reich  herzufallen  oind  es  zugrunde  zu  richten.  Ich  weiß  nicht,  wo  der  Herr 
Reichskanzler  diese  Ansicht  her  hat.  —  Es  kann  sein,  daß  einige  seiner 
Lockspitzel,  die  bekanntermaßen  aus  der  preußischen  Staatskasse  bezahlt 
Averden,  ihm  das  beigebracht  haben.  Im  Programm  der  Sozialdemokratie  ist 
■das  nicht  enthalten;  auf  unseren  Konferenzen  und  Kongressen  ist  der- 
aleichen  auch  nicht  beschlossen  wor^den." 

„Wir  -sind  als  Partei  nur  einig  über  das,  was  wir  wollen;  aber  über 
•das  "Wie  sind  wir  nicht  einig,  und  zwar  aus  dem  einfachen  Grunde,  weil  die 
Verwirklichung  unseres  Programms  sich  nicht  im  Handumdrehen  machen 
läßt,  weil  dies  eine  längere  Entwicklung  erheischt  und  es  Wahnwitz  wäre, 
■aegen  diese  Entwicklung  ankämpfen  zu  wollen  und  zu  glauben,  iman  könnte 
•^egen  die  Überzeugung  und  gegen  die  wirklichen  oder  vermeintlichen  Inter- 
■cssen  der  großen  Mehrheit  eines  Volkes  x-beliebige  Zustände  herbeiführen. 
Nein,  dadurch  unterscheidet  sich  die  moderne  Sozialdemokratie  von  der 
politischen  Bewegung  früherer  Epochen,  daß  sie  vollständig  auf  dem  Boden 
■der  Entwicklung  steht,  denselben  vollkommen  anerkennt.  Man  kann  nicht 
in  einem  beliebigen  Moment  einen  beliebigen  Staats-  und  Gesellschafts- 
izustand  herbeiführen,  sondern  es  ist  notwendig,  daß  die  Gesellschaft  selbst 


Adler  vor  dem  Holzinger-Senat  97 

als  solche  das  Bedürfnis  dazu  anerkennt,  und  dieses  Bedürfnis  suchen  wir 
allerdings  in  der  Gesellschaft  hervorzurufen.  Das  ist  richtig,  dafür  arbeiten 
wir;  das  ist  aber  kein  Verbrechen,  das  ist  ein  Recht,  welches  jeder  Staats- 
bürger haben  niuß  oder  wenigstens  haben  soll;  halten  wir  uns  dabei  innerhalb 
der  Schranken  der  für  alle  gültigen  Gesetze,  dann  hat  niemand  ein  Recht, 
uns  dafür  zur  Verantwortung  zu  ziehen  oder  gar  uns  Vorwürfe  zu  machen. 
Aber  das  Revolutionmachen  oder  das  Verlocken  zur  Revolution  überlassen 
wir  den  königlich  preußischen  Lo<^kspitzeln.  Es  fällt  uns  also  nicht  ein, 
Revolutionen,  das  heißt  einen  gewaltsamen  Umsturz  hervorzurufen.  Ich  gehe 
weiter,  zu  sagen:  Es  wäre  die  größte  Torheit,  wenn  wir  das  tun  wollen.  Ja 
ich  gehe  noch  weiter  und  erkläre:  Ich  habe  die  Überzeugung,  daß  —  ich 
habe  das  schon  früher  ausgesprochen  —  wir  den  Zeitpunkt  erleben  werden, 
wo  in  Europa  angesichts  der  großartig  gesteigerten  Kultur  auf  der  einen 
Seite  und  der  ungeheuren  Vernichtungsmittel  auf  der  anderen  Seite  Kriege 
unmöglich  werden,  auch  die  Revolution  im  alten  Stil  unmöglich  wird.  Meine 
Herren,  es  ist  heute  nicht  mehr  möglich,  daß  man  Revolutionen  durch  Barri- 
kaden und  Straßenkämpfe  noch  durchführen  könnte.'" 

So  spricht  einer  der  vorgeschrittensten  Vertreter  der  Sozialdemokratie, 
der  sehr  wohl  weiß,  wie  jeder  vernünftige  Sozialdemokrat,  daß  heute  ein  jeder 
Aufstand  oder  Putsch  nicht  niedergeschossen,  sondern  von  den  Dragonern  und 
Husaren  niedergeritten  wird,  und  da  will  man  vernünftigen  Männern  impu- 
tieren, daß  sie  auf  eine  gewaltsame  Änderung  der  Gesellschaftsordnung  aus- 
gehen und  in  diesem  Sinne  schreiben! 

Sehr  interessant  ist  eine  Stelle  aus  Nr.  18  der  „Gleichheit",  welche 
bis  heute  der  Hauptbeweis  für  den  Anarchismus  der  „Gleichheit"  ist  und  der 
Hauptbeweis  'für  die  Toleranz  der  Staatsanwaltschaft  Wien,  welche  so  gütig 
war,  anarchistische  Druckschriften  nicht  einmal  objektiv  zu  behandeln. 

In  Nr.  13  der  „Gleichheit"  wird  darauf  hingewiesen,  daß  ein  Wucherer 
infolge  eines  Exzesses,  den  er  durch  sein  Vorgehen  veranlaßte,  wegen  des 
Verbrechens  der  öffentlichen  Gewalttätigkeit  verurteilt  wurde;  ein  Jurist 
—  ich  war  selbst  derjenige,  der  so  anarchistisch  gehandelt  hat  —  hat  den 
Herrn  Dr.  Ad'ler  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  eine  frappante  Analogie 
zwischen  diesem  Fall  und  den  Tramwaystreiks  bestehe,  und  daß  man  nach 
derselben  Auffassung  ebenso  die  Herren  Aktionäre  der  Tramway  und  den 
Verwaltungsrat  zur  Verantwortung  ziehen  könne  w^ie  den  Herrn  Trebitsch. 
Das  wurde  gebracht.  Die  verehrte  Staatsanwaltschaft,  in  Verlegenheit,  etwas 
Anarchistisches  zu  suchen,  hat  es  als  ein  anarchistisches  Bestreben  erklärt, 
daß  in  der  „Gleichheit"  ein  Artikel  erschienen  sei,  in  welchem  die  gleiche 
Handhabung  des  Gesetzes  verlangt  wird.  In  der  Anklage  ist  das  enthalten, 
denn  der  Artikel  ist  als  solcher  rot  angestrichen  und  wurde  in  der  Anklage- 
schrift dessen  Verlesung  beantragt.  Ich  führe  das  nur  an,  um  zu  zeigen, 
wohin  man  kommt,  wenn  man  mit  so  unimöglichen  Argumenten  eine  so  un- 
mögliche und  —  es  sei  mir  der  Ausdruck  gestattet  —  horrende  An- 
klage, was  die  Kompetenz  betrifft,  erhebt,  wie  die  vorliegende  es  ist.  Die 
Exzesse  in  Steyr  und  Kladno  wurden  bereits  behandelt,  und  ich  habe  mir 
zu  bemerken  erlaubt,  daß  nicht  der  geringste  Anlaß  dafür  zu  finden  sei,  daß 
zwischen  den  Artikeln  der  „Gleichheit"  und  den  Exzessen  ein  Zusammen- 
hang sei.   Es  wurde  von  einer  Brandfackel  gesprochen.   Aber   wo   liegt  der 


98  Adler  vor  dem  Holzinger-Senat 

Beweis  für  den  Zusammenhang,  den  die  Anklage  der  „Gleichheit"  imputiert? 
In  Steyr  waren  Übelstände,  die  in  ganz  Steyr  und  unter  der  Arbeiterschaft, 
bekannt  waren.  Das  hat  nicht  genügt.  In  der  ^Gleichheit"  ist  eine  Notiz  er- 
schienen, auf  die  wahrscheinlich  die  durch  die  Übelstände  aufgeregten  Steyrer 
gewartet  haben,  und  erst  als  in  der  „Gleichheit"  das  Vorgehen  Teufelmayrs 
■gerügt  wurde,  erhoben  sie  sich,  um  die  herrschende  Staats-  und  Gesellschafts- 
ordnung umzustürzen.  Ich  muß  erklären,  daß  ich  mich  zu  einer  solchen 
Schlußfolgerung  mit  meiner  Logik  nicht  aufzuschwingen  vermag.  Es  ist 
seitens  des  Dr.  Adler  bereits  hervorgehoben  worden,  'daß  die  anarchistische 
Partei  auf  ein  Minimum  reduziert  wurde,  und  daß  kaum  anzunehmen  ist, 
daß  es  in  Österreich  Anarchisten  in  dem  Sinne,  wie  wir  sie  kennengelernt 
haben,  heute  gibt. 

Die  Maßregel  der  Unterdrückung  der  „Gleichheil",  an  die  ich  hier 
keine  Kritik  knüpfen  will,  ist  im  Lauife  ider  Verhandlung  besprochen  worden, 
und  es  gehört  keine  große  Sehergabe  dazu  —  wenn  d'er  hohe  Gerichtshof  sich 
die  Mühe  nehmen  würde,  den  abgewiesenen  Einspruch  zu  lesen,  so  würde  er 
es  finden  —  um  zu  wissen,  warum  gerade  jetzt  die  ,.Gleiichheit"  sistiert 
wurde.  Es  ist  richtig,  was  Dr.  Adler  sagte:  Ursprünglich  sollte  zuerst  die 
Verurteilung  (der  Angeklagten  Platz  greifen,  um  d'ann  auf  Grund  des  Aus- 
nahmegesetzes gegen  die  „Gleichheit"  vorzugehen;  dann  aber  hat  man  sich 
gedacht,  es  ist  doch  besser,  wenn  man  zuerst  die  „Gleichheit"  unterdrückt. 
Ich  weiß,  daß  diese  Maßregel  auf  Sie  nicht  den  geringsten  Eindruck  machen 
darf,  aber  da  so  viel  vom  Anarchismus  und'  Terrorismus  die  Rede  war,  frage 
ich,  welches  ist  von  allen  terroristischen  Mitteln,  die  im  Laufe  der  Verhand- 
lung vorgekommen  sind,  jenes  Mittel,  das  am  meisten  geeignet 
ist,  den  Terrorismus  zu  erregen?  Ich  würde  der  Meinung  zuneigen, 
daß  die  U  n  t  e  r  d  r  ü  c  k  u  n  g  d'  e  r  „Gleichheit"  unmittelbar  vor 
der  gerichtlichen  Verhandlung  gegen  die  Herren  Dr.  Adler 
und  B  r  e  t  3  c  h  n  e  i  d  c  r  den  größten  Anspioich  darauf  machen  kann,  solchen 
Mitteln  beigezählt  zu  werden. 

Der  Herr  Staatsanwalt  hat  von  gewaltsamen  Eruptionen  gesprochen. 
In  Belgien  waren  solche  Eruptionen,  und  es  'hat  sich  gezeigt,  d'aß  die  Eruptio- 
nen hervorgerufen  wurden  durch  die  Verhältnisse  und  die  belgischen  Lock- 
spitzel. In  Deutschland  waren  solche  Eruptionen  bei  den  Streikbewegungen, 
wobei  sich  gezeigt  hat,  daß  die  Sozialdemokratie  mit  diesen  Eruptionen 
überhaupt  nicht  das  mindeste  zu  tun  hat,  weil  sonst  die  Führer  der  Bewegung 
nicht  an  höchster  Stelle  empfangen  worden  wären.  Der  geehrte  Herr  Staats- 
anwalt hat  die  Bemerkung  gemacht,  die  ich  mir  für  die  Zukunft  merken 
werde,  daß  die  Staatsanwaltschaft  sich  gewiss-ermaßen  lächerlich  miachen 
würde,  wenn  sie  Schiller  oder  andere  Dichter  konfiszieren  würde.  Nun,  ich 
glaube,  daß  fast  d'er  ganze  deutsche  Parnaß  der  Konfiskation  in  einzelnen 
Fällen  verfallen  ist.  Die  Auffassung,  daß  die  Leser  der  „Gleichheit",  wenn 
Teil  zitiert  würde,  sofort  zum  Schwert  greifen  werden,  um  gegen  die  Unter- 
drücker loszugehen,  ist  gegenüber  den  Lesern  der  „Gleichheit"  eine  so  sangui- 
nische, daß  ich  mich  ihr  auch  nicht  beigesellen  kann. 

In  packenJcr  und  wirkungsvoller  Weise  hat  der  Herr  Staatsanwalt 
den  Passus,  bezüglich  der  „hungernden  Weiber  und  Kinder"  vorgelesen,  und 
ich  muß  sagen,  daß  ich  bei  seinem  Vortrag  einen   größeren   Eindruck  emp- 


Adler  vor  dem  Holzinger-Senat  99 

fand  als  bei  der  Lektüre  der  „Gleichheil",  aber  ich  komme  nicht  zu  der 
-Schlußfolgerung,  daß  das  Lesen  und  Hören  den  größten  Eindruck  macht. 
So  oft  ich  im  Leben  eine  solche  traurige  Gestalt  gesehen  habe,  hat  es  mich 
mehr  ergri'ffen,  als  wenn  der  bedeutendste  Deklamator,  und  sei  es  auch  dej 
Herr  Staatsanwalt,  vorträgt.  Darin  liegt  wieder  eine  Verwechslung  mit  einer 
Aufreizung  zu  Handlungen.  Darin  liegt  aber  keine  Billigung  der  Handlung, 
sondern  nur  eine  Verurteilung  der  jetzigen  Zustände,  in  welchen  diese 
elenden,  hungernden  Weiber  und  Kinder  nur  ein  notwendiges  Glied  in  der 
Gliederung  der  Gesellschaft  sind.  i 

Die  Bemerkungen  des  Herrn  Staatsanwalts  bezüglich  des  Trainway- 
streiks  kann  ich  nicht  recht  in  Zusammenhang  bringen  mit  dem,  was  ein 
Vertreter  dieser  Behörde  früher  einmal  gesagt  hat.  Damals  hieß  es,  T,Niemand 
ist  mitschuldig,  es  ist  eine  frivole  Lüge  und  Verdächtigung,  das  zu  be- 
haupten", und  auf  einmal  ist  nun  die  „Gleichheit"  an  diesen  Exzessen 
schuld;  auch  der  fernerliegenden  in  Steyr  und  Kladno.  Ich  bitte  d'cn  Herrn 
Staatsanwalt,  zu  tun,  was  seines  Amtes  ist,  und  mit  den  gesetzlichen  Mitteln 
vorzugehen.  Findet  er  keinen  Tatbestand,  dann  ist  er  ebensowenig  berechtigt 
wie  ein  anderer  Mensch,  jemand  einen  Vorwurf  zu  machen  und  eineri 
Zusammenhang  sich  zu  konstruieren,  der  nicht  existiert.  Eine  solche  bloße 
Behauptung  beweist  im  vorliegenden  Fall  gar  nichts.  Der  geehrte  Staats- 
anwalt hat  sich  bemüßigt  gesehen,  zu  behaupten,  daß  etwas  sozialdemo- 
kratisch und  zugleich  anarchistisch  sein  könne.  Das  ist  ein  logischer  Wider- 
spruch, den  ich  auch  nicht  verstehen  kann,  aber  wenn  es  dahin  käme,  daß 
für  die  österreichischen  und'  Wiener  Verhältnisse  ein  solcher  feststehen'äer 
Begriff  vom  Anarchismus  konstruiert  wird,  daß  die  Handlungen,  wekhe  die 
Angeklagten  begangen  haben  sollen,  unter  diesen  Begriff  gebracht  werden, 
dann  muß  der  Schluß  gestattet  sein,  daß  von  nun  an  in  ö  s' t -c  r  i*  e  j^«;]^! 
oder  Wien  unter  Recht  und  Gesetz  etwas  anderes  ver- 
standen werden  muß,  als  man  bisher  unter  Recht  u^,d 
Gesetz  in  der  ganzen  vernünftigen,  gebildeten  W  feit 
V  e  r  s  t  a  n  d  e  n  h  a  t.  :  : !  't 

Nachdem  die  Kompetenz  meinerseits  bestritten  wird,  habe  kh  keinieii 
Anlaß,  auf  das>  Gebiet  der  merilorischen  Erörterung  mich  zu  begeben.  EJs 
gibt  Fälle,  wo  man  nicht  allein  durch  die  Interessen  seines  Klienten  geleitet, 
sondern  durch  die  Verhältnisse  auf  einen  höheren  Standpunkt  gehoben  wir(^, 
und  ich  glaube,  daß  ich  meiner  Pflicht  im  hohen  Grade  vergeberi  würde, 
wenn  ich  mich  auf  den  Weg  begeben  würde,  auf  den  die  Anklage  die  Ver- 
teidigung drängen  will.  Ich  halte  es  für  meine  Pflicht,  vor  einem  Gerkhtphof, 
dessen  Kompetenz  zweifellos  nicht  gegeben  ist,  die  Verantwortung  in  merito 
nicht  zu  führen,  ich  will  in  dieser  Richtung  nicht  als  erster  ein  Präjudiz 
schaffen  und  Konsequenzen  hervori-ufen,  die  in  hohem  Grade  ge^fährlich  sind 
für  die  persönliche  Freiheit  eines  jeden  unabhängigen  Mannes.  Das  wxir<ie 
ich  nicht  tun,  selbst  wenn  meine  Klienten  die  höchste  Strafe  bekommen 
sollten.  Es  gibt  etwas,  was  mir  höher  steht  als  selbst  das  Interesse  meiner 
Klienten,  ja  auch  der  sozialdemokratischen  Partei.  Ich  bringe  dem  hohen 
Gerichtshof  gerne  und'  jederzeit  die  schuldige  Achtung  r-ntgegen,  daß  icTi 
un'bedingt  annehme,  daß  der  hohe  Gerichtshof  'das  tun  wird,  was  seines 
Amtes   ist.    Er   wird   nur  dadurch   das   durch   eine   solche  Anklagte 


'100  Adler  vor  dem  Holzinger-Senat 

lief  geschädigte  Ansehen  der  Justiz  wiederherstellen,  das 
Vertrauen  in  die  Rechtssicherheit  unserer  Zustände  wieder  hervorrufen, 
wenn  er  das  einzig  richtige  Erkenntnis  fällt:  Das  k.  k.  Landesgericht  Wien 
erklärt  sich  zur  Erledigung  der  vorliegenden  Strafsache  als  nicht  kompetent. 

Angeklagter  Dr.  Adler: 

Ich  würde  nach  den  ausgezeichneten  und  umfassenden 
Erörterungen  meines  Vertreters  und  Freundes  nicht  mehr  das 
Wort  ergriffen  haben,  wenn  ich  nicht  verpflichtet  wäre,  die 
Gelegenheit  zu  benützen,  um  ein  paar  Bemerkungen  der  ge- 
ehrten Staatsanwaltschaft  für  künftige  Zeiten  fest- 
zunageln. Ich  habe  von  vornherein  es  für  sehr  schwer  ge- 
halteti,  die  allgemeinen,  verschwommenen  Wendungen  der 
Anklageschrift  in  mein  geliebtes  Deutsch  zu  übertragen,  wie 
es  für  die  mündliche  Behandlung  notwendig  ist,  aber  darauf 
war  ich  nicht  gefaßt,  daß  das  Plädoyer  des  Staatsanwalts  so 
direkt  nur  für  den  Angeklagten  und  indirekt  gegen  den  Staats- 
anwalt selbst  gehalten  sein  wird,  wie  es  geschehen  ist.  Ich  will 
nicht  darauf  eingehen,  daß  der  Herr  Staatsanwalt  meine 
mangelhaften  juristischen  Kenntnisse  konstatiert  und  sich  ent- 
schuldigt hat,  daß  er  nicht  ein  höheres  Strafausmaß  verlangt  — 
er  sei  entschuldigt.  Aber  der  Staatsanwalt  hat.  vor  allem  einen 
Punkt  nicht  konstatiert.  Hier  handelt  es  sich  darum,  daß  wir 
vor  einem  Gerichtshof  stehen,  für  „anarchistische,  auf  den 
Umsturz  der  bestehenden  Staats-  und  Gesellschaftsordnungen" 
hinzielenden  Delikte.  Das  ist  nicht,  wie  der  Staatsanwalt  sagt, 
eine  Definition,  das  ist  eine  Apposition.  Nicht  jeder 
gewaltsame  Umsturz  gehört  vor  das  Ausnahmegericht,  sondern 
nur  speziell  ein  anarchistischer. 

Noch  eines.  Er  hat  mich  persönlich  angeredet  und  geagt: 
„Dr.  Adler  will  gewiß  nicht  einen  gewaltsamen  Umsturz,  aber 
er  überlegt  nicht,  was  geschieht,  wenn  in  der  Weise  geschrieben 
und  gesprochen  wird,  wie  er  es  tut.  Er  müsse  voraussetzen,  daß, 
wenn  an  einem  feuergefährlichen  Ort  die  Brandfackel  er- 
hoben wird,  ein  Feuer  entsteht."  Darauf  habe  ich  zu  sagen : 
Das  Beispiel  mit  der  Fackel  stimmt.  Allerdings  wird  die  Fackel 
erhoben,  um  die  Zustände  zu  beleuchten,  und  wenn  es  wahr  sein 
sollte,  daß  von  dieser  brennenden,  zur  Erleuchtung  geschaffe- 
nen Fackel  einmal  ein  Funke  auf  ein  Pulverfaß  fällt,  dann 
möchte  ich  den  Gerichtshof  fragen :  „W  er  ist  denn  dann 


Adler  vor  dem  Holzinger  Senat  101 


schuld,  ist  die  Fackel  schuld  oder  sind  es  die 
Pulverfässer?"  Wenn  Sie  die  Explosionen,  die  der  Herr 
vStaatsanwalt  so  beweglich  geschildert  hat,  nicht  haben  wollen, 
dann  schaffen  Sie  gefälligst  die  Pulver- 
fässer w  e  g.  Nicht  wir  sind  diejenigen,  die  diese  hinstellen, 
wir  zeigen  nur  mit  der  Fackel,  daß  sie  da  sind,  wir  wollen  Ge- 
legenheit geben,  sie  wegzuschaffen.  Der  Herr  Staatsanwalt 
hat  in  einer  überschwenglichen  Freundlichkeit  mir  gegenüber 
gesagt:  er  sei  überzeugt,  wenn  mir  —  er  meint  die  Sozialdemo- 
kraten —  die  Macht  gegeben  wäre,  die  sozialen  Verhältnisse 
zu  ordnen,  so  würde  ich  es  in  friedlicher  Weise  tun.  Gewiß, 
er  hat  recht,  und  darum  suchen  wir  uns  d  reMacht 
zu  verschaffen.  Der  Herr  Staatsanwalt  sagt:  „Es. sind 
a  n  d  e  r  e  F  a  k  t  0  r  e  n  da,  die  es  nicht  gestatten  werden,  daß 
ihnen  alle  ihre  Vorrechte  in  friedlicher  Weise  weggenommen 
werden."  Das  sind  diejenigen,  die  heute  besitzen  und  regieren. 
Gewiß  werden  sie  es  nicht  gestatten,  und  weil  sie  es  in 
friedlicher  Entwicklung  nicht  gestatten, 
darum  klagen  wir  sie  der  Gewaltsamkeit  an,  und  anstatt  daß 
der  Herr  Staatsanwalt  den  natürlichen  Schluß  zieht  und  d  i  e 
heute  Herrschenden  und  Besitzenden  des  An- 
archismus und  der  gewaltsamen  Aufrechthaltung  der  bestehen- 
den Zustände  anklagt,  bringt  er  u  n  s  hieher.  In  schärferer, 
präziserer  Weise  ist  noch  nie  von  einem  Staatsanwalt  unsere 
prinzipielle  Haltung  festgestellt  worden,  wie  es  ja  auch  von 
ihm  nicht  anders  zu  erwarten  war.  Denn  man  würde  ihn 
schlecht  beurteilen,  wenn  man  ihn  nur  nach  dieser  Anklage 
l)eurteilen  wollte,  und  natürlich  müßten  seine  heutigen  Reden 
—  ich  bin  ihm  dafür  nur  dankbar  —  seiner  Anklage?  den 
letzten  Stoß  geben.  Ich  habe  schon  gesagt:  Wir  kämpfen  nicht 
meritorisch  gegen  die  Anklage,  uns  handelt  es  sich  nur  darum, 
daß  wir  vor  den  Richtern,  vor  der  öffentlichen  Meinung  und 
vor  unseren  Parteigenossen  als  das  dastehen,  was  wir  sind; 
als  Sozialdemokraten.  Wenn  Sie  uns  als  Sozialdemo- 
kraten einsperren  wollen  —  immerhin,  wir  können  es  nicht 
hindern,  aber  wir  verwahren  uns  dagegen,  daß  man  uns  unter 
einem  falschen  Namen  einsperrt,  und  wir  verwahren  uns  da- 
gegen, daß  man  uns,  um  die  Sache  vielleicht  weniger  agitato- 
risch und  unter  vier  Augen  abzumachen,  vor  einen  anderen 
Gerichtshof  bringt    als  vor  jenen,  der  uns  gebührt.  Das  ist 


102  Adler  vor  dem  Holzinger-Senat 

ein  Rechtsbruch,  gegen  den  wir  protestieren. 
(Bravorufe  im  Auditorium.) 

Präsident:  Der  Saal  ist  mit  Ausnahme  des  Barreaus  unki'  der 
Journalistenbank  zu  räumen  und  niemand  anderer  zur  Urteilsverkündung 
hereinzulassen.  Der  Gerichtshof  wird  das  Urteil  fällen.  (Der  Gerichtshof 
zieht  sich  zur  Beratung  zurück.)  Nach  Wiederaufnahme  der  Sitzung:  Ver- 
nehmen Sie  das  Urteil!  Im  Namen  Seiner  Majestät  des  Kaisers: 

Das  k.  k.  Landesgericht  hat  über  die  Anklage  der  Staatsanwaltschaft 
gegen  Dr.  Victor  Adler  und  Ludwig  Bretschneider  nach  der  heute 
durchgeführten  Hauptverhandlung  zu  Recht  erkannt: 

Dr.  Victor  Adler  wird  von  der  wegen  des  Vergehens 
nach  §  302  St.-G.  erhobenen  Anklage  gemäß  §  259,  Z.  3 
St.-P.-O.,  freigesprochen,  ist  dagegen  schuldig  der  Ver- 
gehen nach  §§  300,  305,  491  und  Artikel  I  des  Gesetzes  vom 
17.  Dezember  18G2  und  wird  deshalb  nach  §  305  St.-G.  unter 
Anwendung  des  §  260  lit.  b)  zu  einer  strengen  Arreststrafe 
in  der  Dauer  von  vier  Monaten,  verschärft  mit  einem 
Fasttag  vemiteilt,  und  hat  die  Kosten  des  Strafver- 
fahrens zu  tragen  und  wird  ein  Kautions  Verlust  von  100 
Gulden   gegen    die    „Gleichheit"    ausgesprochen. 

Ludwig  Bretschneider  wird  von  den  Vergehen  nach 
§§  300,  302,  305  u  n  d  491  g  e  m  ä  ß  §  259,  Z.  3  St.-P.-O.  freigesprochen, 
ist  dagegen  schuldig  der  Übertretung  der  Vernach- 
lässigung der  pflichtmäßigen  Obsorge  im  Sinne  des 
Artikels  III  des  Gesetzes  vom  15.  Oktober  1868  und  wird 
deshalb  unter  Anwendung  des  §  260  lit.  b)  zu  einer  Geld- 
strafe von  30  Gulden,  eventuell  zu  sechs  Tagen  und  zum 
Ersatz   der  Strafkosten   verurteilt. 

Die  Gründe  des  Erkenntnisses  sind  in  Kürze  zusammengefaßt  fol- 
gende: Der  Gerichtshof  mußte  vor  allem  die  Frage  in  Erwägung  ziehen,  ob 
er  zur  Beurteilung  dieser  durch  den  Druck  veröffentlichten  Aufsätze  kom- 
petent sei,  das  heißt  ob  der  Veröffentlichung  der  inkriminierten  Aufsätze 
anarchistische,  auf  den  gewaltsamen  Umsturz  der  staatlichen  und  gesell- 
schaftlichen Ordnung  hinzielende  Tendenzen  zugrunde  liegen.  Der  Ge- 
richtshof ist  dabei  von  der  Erwägung  ausgegangen,  daß  es  ganz  gleichgültig 
ist,  als  zu  welcher  Partei  gehörig  die  Angeklagten  sich  selbst  bezeichnen, 
daß  es  gleichgültig  ist,  ob  das  Journal  ».Gleichheit'"  in  früherer  Zeit  und  bei 
einem  anderen  Anlaß  solche  Tendenzen  gezeigt  hat  oder  nicht,  sondern  daß 
OS  hauptsächlich  darauf  ankommt,  ob  gerade  die  inkriminierten  Artikel  und 
lierade  zu  der  Zeit  der  Veröffentlichung  derselben  solche  auf  den  Umsturz 
hinzielende  Bestrebungen  gezeigt  haben.  Maßgebend  zur  Beurteilung  dieser 
Frage  ist  in  erster  Linie  jener  Artikel,  der  unter  der  Aufschrift  „Glossen" 
in  der  inkriminierten  Nummer  enthalten  ist,  und  wenn  man  berücksichtigt, 
daß  dieser  Artikel  zu  einer  Zeit  erschien,  als  eine  große  Masse  der  Be- 
völkerung im  10.  Bezirk  und  in  Hernais  in  großer  Erregung  war  und  ein 
großer  Teil  der  Aibciterschaft  an  den  dort  entstandenen  Krawallen  sich 
beteiligt  hat,  und  daß  der  Angeklagte  voraussehen  mußte,  daß  dieser  Artikel 


Adler  vor  dem  Holzinger-Senat  103 


die  Leidenschaften  dieser  Leute  noch  mehr  zu  reizen  geeignet  ist,  und 
daß  er  trotzdem  den  Artikel  veröflentlicht  hat,  so  muß  man  ihm  zumuten, 
daß  es  ihm  um  die  Herbeiführung  solcher  gewaltsamen  auf  sozialistischem 
Hintergrund  beruhenden  Störungen  zu  tun  gewesen  ist.  In  diesem  Artikel 
wird  in  den  grellsten  färben  das  angebliche  Elend  der  Arbeiterschaft  ge- 
schildert und  gefragt:  Wie  kommt  es,  daß  dort  solche  Krawalle  nicht  sind? 
Dieser  Artikel  rechtfertigt  mit  Rücksicht  auf  die  Unruhen,  Ruhestörungen 
und  Gewalttätigkeiten,  die  damals  aufgetreten  sind,  entschieden  die  Stel- 
lung der  Angeklagten  vor  den  Ausnahmegerichtshof.  In  dem  weiteren  Ar- 
tikel in  Nr.  iC)  vom  November  1888,  der  überschrieben  ist;  „Die  Furcht  vor 
dem  Blitz"  wird  dem  Leserkreis  der  „Gleichheil"'  ein  herankommender,  ge- 
w-altsamer  Umsturz  als  geradezu  höchst  wahrscheinlich  und  in  der  nächsten 
Zeit  zu  erwarten,  hingestellt,  pl)enso  im  dritten  Artikel,  in  welchem  die 
Arbeiterschaft  wieder  in  greller  Weise  aufgeregt  und  gegen  die  besitzenden 
Klassen  aufgereizt  wird.  Das  ist  nämlich  im  Schlußsatz  des  inkriminierten 
Artikels  in  Nr.  18,  wo  es  heißt:  „Wir  sehen  überall,  wohin  sich  der  Blick 
richtet"  usw.  Nachdem  der  Gerichtshof  gefunden  hatte,  daß  diese  Ver- 
öffentlichungen in  jenem  Sinne  geschehen  sind,  der  die  Stellung  der  „Gleich- 
heit' vor  den  Ausnahmsgerichtshof  rechtfertigt,  so  mußte  dann  erwogen 
werden,  welche  strafbare  Handlung  durch  die  inkriminierten  Artikel  be- 
gründet wird.  Bezüglich  des  ersten  Artikels  ist  es  ganz  gewiß,  daß,  wenn 
die  Verwunderung  darüber  ausgesprochen  wird,  daß  zuzeiten  gewaltsame 
Ruhestörungen  überhaupt  nicht  stattfinden,  dies  eine  Gutheißung  einer 
ungesetzlichen  Handlung  ist  und  daher  den  Talbestand  des  §  305  St.-G. 
begründet.  In  dem  zweiten  Artikel  über  den  Tramwaystreik  hat  die  Staats- 
anwaltschaft das  Vergehen  nach  §  302  St.-G.  erblickt.  Von  dieser  Anklage 
mußte  der  Angeklagte  freigesprochen  werden,  weil  die  Aufreizung  aller- 
dings gegen  die  Besitzenden,  aber  nur  gewisse  Kreise  der  Besitzenden, 
nämlich  eine  Aktiengesellschaft,  gerichtet  wird.  Eine  einzelne  Aktiengesell- 
schaft ist  aber  mit  einem  ganzen  Stand  nicht  zu  identifizieren  und  steht 
nicht  unter  dem  Schutze  dieser  Gesetzesstelle,  und  nachdem  der  Angriff 
nur  gegen  die  Tramway  und  deren  Verwaltungsrat  gerichtet  war,  mußte 
der  Angeklagte  von  diesem  Teil  der  Anklage  freigesprochen  werden.  Ander- 
seits liegt  in  dem  Artikel  der  Tatbestand  des  §  305,  und  zwar  namentlich 
im  Anfang,  wo  davon  gesprochen  wird,  daß  die  Kutscher,  welche  gefahren 
sind,  mit  Verachtung  und  Beschimpfung  belegt  worden  sind  usw.,  eine 
Gutheißung  einer  ungesetzlichen  Handlungsweise  und  außerdem  der  Tat- 
bestand des  §  300,  indem  von  der  Polizeidirektion,  dem  Gemeinderat  und 
Ministerium  gesagt  wird,  daß,  wenn  sie  ihre  Pflicht  verständen,  sie  gewisse 
Aktionen  in  Szene  setzen  müßten,  die  sie  nicht  in  Szene  gesetzt  haben. 
Es  ist  darin  der  Vorwurf  gelegen,  daß  die  Behörde  ihrer  Pflicht  nicht  nach- 
kommt. Der  dritte  Artikel  mit  der  Aufschrift:  „Die  Tapferkeit  der  Dragoner 
und  Husaren"  begründet  den  Tatbestand  nach  §  491  St.-G.,  weil  darin  in 
verspottender  Weise  die  Tätigkeit  einzelner  Soldaten  dargestellt  und  gesagt 
wird,  daß  sie  mit  einem  besonderen  Aufwand  an  Gewalt  gegen  alte  Weiber 
gegangen  sind,  daher  sie  dem  öffentlichen  Spott  ausgesetzt  wurden.  Darin 
liegt  der  Tatbestand  des  §  491  und  des  Artikels  V  der  zitierten  Strafgesetz- 
novelle.  Als  erschwerend  mußte  bei  dem  Angeklagten  angenommen  werden 


104  Anklagen  infolge  der  Kandidatur  in  Nordböhmen 

die  Konkurrenz,  als  mildernd  das  Geständnis  des  Faktischen.  Auch  wurde 
auf  seine  Familie  Rücksicht  genommen  und  daher  §  260  b)  in  Anwendung 
gebracht. 

Bezüglich  des  Zweitangeklagten  ist  ein  Beweis  darüber,  daß  er  in 
Kenntnis  des  Inhalts  die  inkriminierten  Artikel  zum  Druck  beförderte,  nicht 
erbracht  worden.  Er  gesteht  nur  zu,  daß  er  dieselben  trotz  seiner  Pflicht  als 
verantwortlicher  Redakteur  nicht  gelesen  hat.  Er  mußte  daher  der  Ver- 
nachlässigung der  pflichtmäßigen  Obsorge  schuldig  erkannt  werden.  Als 
erschwerend  wurde  angenommen,  daß  durch  diese  Vernachlässigung  eine 
Reihe  strafbarer  Handlungen  begangen  wurden  und  die  Artikel  Publizität 
erlangt  haben,  als  mildernd  seine  Unbescholtenheit,  sein  Geständnis,  die 
Rücksicht  auf  die  Familie,  da  er  nach  der  Polizeinote  für  seine  Eltern  zu 
sorgen  hat.  Es  wurde  daher  auf  eine  Geldstrafe  erkannt.  Die  Rechtsmittel 
sind  ihnen  bekannt. 

Verteidiger:  Bezüglich  des  Dr.  Adler  melde  ich  sofort  die 
Nichtigkeitsbeschwerde  und  auch  die  Berufung  an  und  bitte  um  Zu- 
stellung des  Urteils.  Bezüglich  des  Herrn  Bretschneider  behalte  ich 
mir  Bedenkzeit  vor. 

Präsident:  Die  Verhandlung  ist  geschlossen.  (Schluß  der  Ver- 
handlung 3  Uhr  nachmittags.) 

Die  Nichtigkeitsbeschwerde  abgelehnt. 

In  nichtöffentlicher  Sitzung  wurde  im  November  vom  k.  k.  Obersten 
Gerichts-  und  Kassationshof  ein  Teil  der  Nichtigkeitsbeschwerde  (wegen 
Nichtkompetenz  des  Ausnahmegerichtshofes)  sofort  verworfen,  der  andere 
Teil  (wegen  falscher  Anwendung  des  Gesetzes)  in  öffentlicher  Sitzung  am 
7.  Dezember  1889  und  ebenso  die  Berufung  gegen  das  Strafausmaß 
zurückgewiesen*).   („Arbeiter-Zeitung"   Nr.  16  vom  13.  Dezember   1889.) 

Damit  war  das  Unrecht  „in  Rechtskraft"   erwachsen. 


Anklagen   infolge    der    Kandidatur   in    Nord- 
böhmen. 

Die  Aufstellung  Adlers  als  Kandidat  für  die  Nachwahl  im  privile- 
gierten Städtewahlkreis  Reichenberg  im  Jahre  1891  hatte  den  Zweck,  durch 
die  Ausnützung  der  verhältnismäßigen  Versammlungsfreiheit  während  der 
Wahlbewegung  die  Idee  des  Sozialismus  zu  verbreiten.  Irgendeine  Aus- 
sicht, gewählt  zu  werden,  bestand  bei  dem  damaligen  "Wahlrecht  nicht. 
Adler  hielt  zahlreiche  Versammlungen  ab,  wobei  die  Regierungsvertreter 
soviel  als  möglich  störten.  Auf  Geheiß  der  Gablonzer  Bezirkshauptmann- 
schaft wurde  den  Nichtwahlberechtigten  auch  der  Zutritt  zu  den  Wähler- 
versammlungen    verwehrt,     und     die     Gendarmen     holten     aus     den 


*)  Siehe  Heft   1    „Victor    Adler    und    Friedrich    Engels", 
S.  3,  Adlers  Brief  vom  21.  Jänner  1890  und  Fußnote  dazu. 


Anklagen  infolge  der  Kandidatur  in  Nordböhmen  105 

Wohnungen  die  von  den  Sozialdemokraten  verteilten  Exemplare  des 
Wahlaufrufes.  Diese  Willkürakte  geißelte  Adler  in  den  folgenden  Versamm- 
lungen und  verteilte  selbst  Wahlaufrufe  an  die  Versammelten.  Die  Folge 
war  eine  strafgerichtliche  Untersuchung,  die  zuerst  wegen  Verbrechens  der 
„Störung  der  öffentlichen  Ruhe  und  Ordnung"  geführt  wurde,  also  vor 
das  Schwurgericht  gekommen  wäre.  Offenbar  weil  es  nicht  verläßlich 
eine  Verurteilung  besorgt  und  die  Verhandlung  zu  viel  Aufsehen  erregt 
hätte,  wurde  die  Anklage  auf  Beleidigung  der  k.  k.  Bezirkshaupt- 
mannschaft Gablonz  und  der  k.  k.  Gendarmerie  beschränkt,  begangen  durch 
die  Reden  in  den  am  21.  und  22.  Februar  1891  in  Johannesberg  und 
Aforchenstern  abgehaltenen  Wählerversammlungen  und  durch  die  unbefugte 
Verteilung  von  Druckschriften  in  den  Wählerversammlungen  in  Kratzau 
und  Neastadtl:  Aus  den  Verbrechen  waren  Übertretungen  geworden,  für  die 
der  einfache  verläßliche  k.  k.  Bezirksrichter  von  Reichenberg  genügte. 
Am  19.  September  1891  fand  die  Verhandlung  statt.  Die  Verteidigung 
fühlte  in  glänzender  Weise  Dr.  J  e  n  n  e  1,  welcher  nachwies,  daß  das  Delikt 
der  Beleidigung  der  Gendarmen  und  der  Bezirkshauptmannschaft,  wenn 
es  vorhanden  wäre,  längst  verjährt  sei.  Die  Staatsanwaltschaft  habe  die  An- 
klage zunächst  auf  ein  schwereres  Delikt:  Störung  der  öffentlichen  Ruhe- 
geführt und  als  sie  sich  entschloß,  auf  eine  Verhandlung  vor  den  Ge- 
schwornen  doch  lieber  zu  verzichten,  war  es  zu  spät.  Tatsächlich  wurde 
die  notwendige  Zustimmung  des  Landesverteidigungsministeriums  zur  Er- 
hebung der  Anklage  erst  im  nachhinein  eingeholt.  In  der  Sache 
selbst  erklärte  („Arbeiter-Zeitung''  Xr.  39  vom  25.  September  1891) 

Dr.  Adler: 

Meine  Äußerungen:  „Die  Ausschließung  der  Nichtwähler 
von  den  Wählerversammlungen  ist  gegen  Gesetz  und  Recht"^ 
und  „Man  muß  der  brutalen  Gewalt  weichen,  kann  aber  keine 
Achtung  vor  einer  solchen  Behörde  haben",  ist  einfach  eine 
berechtigte  Kritik  der  Verletzungen  des  Versammlungs- 
gesetzes und  des  Eigentumsrechtes  gewesen.  Die  Tatsache,, 
daß  einzelne  Exemplare  des  sozialdemokratischen  Wahl- 
aufrufes aus  den  Häusern  geholt  wurden,  nachdem  sie  bereits 
Privateigentum  geworden  waren,  ist  durch  Zeugen  bewiesen 
und  wird  nicht  einmal  von  den  Behörden  bestritten.  Die  Ver- 
teilung der  Wahlaufrufe  durch  mich  ist  zum  Ersatz  der  von  den 
Behörden  weggenommenen  erfolgt. 

Dr.  Jennel  charakterisierte  in  scharfen  Zügen  die  Beschränkungen 
der  Wahlfreiheit,  welchen  die  Sozialdemokraten  ganz  allein  von  allen  Par- 
teien ausgesetzt  waren,  welche  ihn,  obwohl  er  keineswegs  der  Partei  des 
Angeklagten  angehöre,  veranlassen,  seine  Sache  zu  vertreten.  Was  heute 
der  Sozialdemokratie  und  etwa  den  Jungtschechen  zustoße,  könne  morgen 
einer  anderen  mißliebigen  Partei  zustoßen. 


106  Singt's  nur  weiter 

Dr.  Adler  wurde  von  der  Anklage  wegen  Beleidigung 
der  Gendarmerie  freigesprochen,  und  zwar  wegen  ein- 
getretener Verjährung,  dagegen  wegen  der  anderen  Delikte  zu 
acht  Tagen  Arrest  sowie  zu  einer  Gr  eidstrafe  von 
5  0  fl.  -verurteilt. 


Singt's  nur  weiter! 


Am  3.  Dezember  1S92  nahm  Adler  in  Bartsch'  Saallokalitäten  in 
yioridsdorf  an  einer  Arbeiterversammlung  teil,  die  den  Zweck  hatte, 
Delegierte  zum  Parteitag  nach  Linz  zu  wählen.  Der  Regierungsvertreter, 
k.  k.  Polizeikonzipist  Dr.  Wilhelm  Kaiser,  lösle  deshalb  die  Versamm- 
lung auf,  und  als  die  Anwesenden  wie  gewöhnlich  vor  dem  Weggehen  das 
„Lied  der  Arbeit"  anstimmten,  verbot  er  das  Singen.  Adler  aber  sagte 
zu  den  ihn  umgebenden  Arbeitern:  „Singt's  nur  weiter!"  Deshalb 
wurde  Adler  beim  Bezirksgericht  Korneuburg  (dahin  gehörte  damals  noch 
Floridsdorf)  wegen  Ein  meng  ung  in  eine  Amtshandlung  (§  314 
St.-G.)  angeklagt. 

Bei  der  Verhandlung  am  11.  Mai  1892  verantwortete  yich  (laut  Akt 
i72/l892) 

Adler: 

Er  hai)e  nicht  „Singt's  nur  weiter!",  eondern  „Singen 
wir  weiter!"  gesagt  und  habe  selbst  mitgesungen,  er  habe 
daher  in  eigener  Angelegenheit  gehandelt  und 
daher  keine  Einmengung  im  Sinne  des  §  314  begehen  können; 
er  müsse  ferner  das  vom  Regierungsvertreter  erlassene  Verbot 
•der  Absingung  des  Liedes  der  Arbeit  als  eine  den  bestehenden 
Geeetzen  widersprechende  Amtshandlung  ansehen,  der  daher 
nicht  Folge  zu  leisten  war;  er  sei  schließlich  in  jener  Versamm- 
lung bloß  ein  Besucher  ohne  jede  Funktion  oder  Autorität  ge- 
wesen und  konnte  daher  weder  erwarten,  noch  die  Absicht 
haben,  auf  die  Arbeiter  einen  bestimmenden  Einfluß  auszu- 
üben. 

Der  k.   k.   Bezirksrichter  Dr.   W  i  e  s  e  r  veroiteilte  Adler   im  Sinne 

der  Anklage  zu  4  8  Stunden  Arrest.  In  der  Begründung  heißt  es  unter 
anderem : 

„Die  letzte  Behauptung  des  Angeklagten  (daß  er  auf  die  Arbeiter 
keinen  bestimmenden  Einfluß  auszuüben  erwarten  oder  beabsichtigen 
konnte)  widerspricht  sowohl  den  allgemein  bekannten  Talsachen,  daß  der 
Angeklagte  in  Arbeiterkreisen  stets  großen  Einfluß  besitzt,  als  auch  der  hier 
speziell  durch  die  Zeugenaussage  des  Dr.  Kaiser  festgestellten  Wahr- 
nehmung, daß  nach  den  inkriminierten  Worten  des  Angeklagten  das 
verbotene  Singen  an  Kraft  und  umfang  bedeutend 
z  u  n  a  h  m." 


Die  Auflösung  einer  Versammlung  in  Warnsdorf  107 

Die  Berufungsverhandlung. 

Gegen  das  Urteil  appellierte  Adler.  Bei  der  Berufungsverhandluns 
-am  27.  Juni   1892  (Vorsitzender  Dr.   Marfen)   wurdo  das   Urteil  bestätiot. 

In  der  Begründung  hieß  es:  Die  Volksversanunlung  war  (nach  der 
Anzeige)  von  zirka  300  Personen  besucht.  Grund  der  Auflösung:  Versuchte 
Abstimmung  über  die  Nominierung  eines  Delegierten  zum 
Parteitag  der  Sozialdemokratie  in  Linz.  Victor  Adler  soll  gesagt 
haben:  „Singt's  nur  zu,  und  wenn  man  uns  hier  nicht  singen  läßt,  werden 
wir  draußen  singen!"  Adler  verantwortet  sich  dahin:  Es  ist  in  ganz 
Österreich  üblich,  daß  die  Arbeiter  nach  Schluß  der  Versammlung  unter 
Absingung  des  Liedes  der  Arbeit  auseinandergehen.  Dies  ist  behördlich 
nirgends,  außer  in  Floridsdorf,  verboten.  Vorsitzender  war  Franz  Poppen- 
wimmer. 

Ein  sechstägiger  Strafaufschub  wurde  gewährt,  jedoch  das  Ansuchen, 
«die  Strafe  in  Wien,  Mariahilf,  absitzen  zu  dürfen,  w-urde  abgewiesen. 


Die  Auflösung  einer  Versammlung  in 
Warnsdorf. 

Zur  Agitation  für  die  Maifeier  hatte  Adler  nn  April  1893  in  Nord- 
böhmen eine  Reihe  Versammlungen  abgehalten.  In  Warnsdorf  war  es  am 
■9.  April  zu  einer  Debatte  über  die  üblichen  Verleumdungen  des  klerikalen 
Lokalblattes  des  Pater  Opitz  über  Adler  gekommen.  Ein  Redakteur  dieses 
ßlättchens  war  nämlich  anwesend  und  der  Vorsitzende  forderte  ihn  auf, 
da  Adler  jetzt  hier  sei,  ihm  vor  den  mehreren  lausend  versammelten 
Arbeitern  und  Arbeiterinnen  zu  beweisen,  was  das  Blatt  geschrieben  hatte, 
•daß  „sich  Adler  von  Arbeiterkreuzern  mäste,  obwohl  er  Millionär  sei  und 
vierspännig  über  die  Ringstraße  fahre'".  Der  Redakteur  erklärte  de-  und 
wehmütig,  er  könne  nichts  dafür,  die  Leute  in  der  Redaktion  hätten  nicht 
gewußt,  daß  das  nicht  wahr  sei;  sobald  sie  erführen,  daß  es  nicht  wahr  sei. 
würden  sie  das  nicht  schreiben. 

Adler 

erwiderte  ^anz  kurz,  daß  e.s  üblich  .sei,  sich  zu  erkundif^cn. 
bevor  man  solche  Ge.schichten  veröffentliche;  daß  es  überliaupt 
unwürdig  sei,  das  Privatleben  der  Gegner  in  die  Öffentlichkeit 
zu  zerren;  daß  aber  alle  Versuche  der  Gegner,  das  Vertrauen 
■der  Parteigenossen  zueinander  zu  erschüttern,  abprallen. 

Schon  während  dieser  Bemerkung  wurde  der  Regierungsvertretor 
Schmidt  unruhig.  Als  der  klerikale  Redakteur  nochmals  das  Wort  verlangte, 
■erklärte  er  plötzlich,  er  könne  eine  Debatte  nicht  zulassen,  die 
nach  dem  dritten  Punkt  der  Tagesordnung  zulässig  sei.  Vergeblich  suchte 
ihm  der  Vorsitzende  Sieber  begreiflich  zu  machen,  daß  ja  schon  drei  Redner 
gesprochen  und  daß  eine  Debatte  über  einen  Punkt  der  Tagesordnung  nicht 


108  Die  Auflösung  einer  Versammlung  in  Warnsdorf 

besonders  angezeigt  werden  brauche.  Alles  war  umsonst,  der  Kommissär 
drohte  die  Versammlung  aufzulösen.  Da  nach  dieser  Probe  und  bei  der 
bekannten  Dummheit  dieses  Regierungsvertreters  die  Auflösung  beim  zweiten 
Punkt  „Die  Maifeier"  sicher  zu  erwarten  war  und  so  der  klerikale 
Redakteur  verhindert  sein  würde,  nochmals  zu  reden,  beantragte  zur 
Geschäftsordnung 

Adler: 

Die  Versammlung  möge  beschließen,  die  Eeihenfolge  :1er 
einzelnen  Punkte  der  Tagesordnung  zu  ändern  und  Punkt  !> 
(Debatte)  v  o  r  Punkt  2  (Maifeier)  zu  erledigen,  um  so  dem 
Herrn  Gegner  Gelegenheit  zu  geben,  sich  zu  äußern. 

Dieser  Antrag  wurde  einstimmig  angenommen.  Und  nun  geschah  das 
Unglaubliche :  Der  k.  k.  Bezirkskommissär  Schmidt  erhob  sich  und 
sprach :  „Da  dieser  Beschluß  gesetzwidrig  ist,  löse  ich  d  i  i 
Versammlung  auf  und  fordere  die  Anwesenden  auf,  sich  zu  ent- 
fernen." Erst  war  alles  sprachlos  vor  Verblüffung  über  dieses  Vorgehen. 
dann  sagte 

Adler: 

Ich  verlange  die  sofortige  Aufnahme  eines  P  r  o  t  o- 
k  0 1 1  s  über  die  Auflösung  im  Sinne  der  Ihnen  bekannten 
Ministerialverordnung. 

Als  Schmidt  auch  dies  verweigerte,  rief  ihm  Adle  i- 
zu:    „Sie   müssen    sich    an   das    Gesetz    und   Ihre  Vorschriften 
halten  und  werden  sich  zu  verantworten  haben!" 
(„Arbeiter-Zeitung"  Nr.  15  vom   14.  April  1893.) 

Angeklagt  wurde  aber  nicht  der  Regierungskommissär,  sondern  Doktor 
Adler.  Am  9.  November  1893  fand  in  Warnsdorf  die  Verhandlung  vor 
dem  Bezirksgericht  statt.  Die  Anklage  behauptete,  er  habe  in  der  Versammlung 
nach  erfolgter  Auflösung  in  aufgeregtem  Ton  zum  Bezirkskommissär  Schmidt 
gesagt,  er  müsse  über  die  Gründe  der  Auflösung  ein  Protokoll  aufnehmen ; 
er  habe  ihm  zugerufen:  „Sie  bleiben  hier,  Herr  Kommissär",  und  dabei  dii^ 
Hand  nach  ihm  ausgestreckt,  um  ihn  auf  dem  Podium  zurückzuhalten  und 
ihm  schließlich  nachgerufen  zu  haben :  „Die  Folgen  werden  Sie  sich  zuzu- 
schreiben haben;  die  Verantwortung  fällt  auf  Sie!"  Die  Anklage  ging  auf 
§  312  des  Strafgesetzes,  wörtliche  und  tätliche  Beleidigung  einer  Amts- 
person und  auf  §  14  des  Versammlungsgesetzes. 

Adler 

verantwortete  sich:  Erstens  war  die  Auflösung  der  Versamm- 
lung eine  vollständig  ungesetzliche;  zweitens  hat  sich  der 
Bezirkskommissär  als  Eegierungsvertreter  nicht  an  die 
Ministerialverordnung  gehalten,  welche  ihm  die  Aufnahmc^ 
eines  Protokolls    vorschreibt;    daher  habe    er    nur    sein  gutes 


Eine  Portion  Hirn  für  Taaffe  109 

Recht  geltend  gemacht.  Die  Beschuldigung,  er  habe  die  Hand 
irgendwie  beleidigend  ausgestreckt,  sei  einfach  unwahr.  Über- 
dies sei  er  in  bezug  auf  dieselbe  Sache  von  der  Bezirkshaupt- 
mannschaft Bumburg,  respektive  vom  B  e  z  i  r  k  s  k  o  m  m  i  s- 
•s  ä  r  S  c  h  m  idt  selbst  bereits  zu  einer  Geldstrafe  von  30 
Gulden  nach  §  12  der  kaiserlichen  Verordnung 
vom  ,T  a  h  r  c  1854  verurteilt  worden,  wobei  nur  das  auf- 
fallend sei,  daß  die  tätliche  Beleidigung  weder  in  der  Belation 
des  Herrn  Bezirkskommissärs  an  die  Bezirkshauptmannschaft, 
noch  auch  im  Urteil  dieser  Bezirkshauptmannschaft  erwähnt 
sei,  sondern  zum  erstenmal  in  dieser  neuen  An- 
klage auftauche. 

Nach  Einvernahme  einer  Anzahl  Belastungs-  und  Ent- 
lastungszeugen und  einer  mehrstündigen  Verhandlung  wurde 
der  Angeklagte  von  der  Übertretung  der  wörtlichen  und  tät- 
lichen Beleidigung  freigesprochen,  hingegen  wegen 
Übertretung  des  Versammlungsgesetzes  zu 
10  Gulden  Geldstrafe  verurteilt. 

Der  Ricliter,  Adjunkt  Dr.  Pauli,  erwähnte  in  seiner  Begründung, 
daß  sich  das  Gericht  auf  die  Frage,  ob  die  Auflösung  der  Ver- 
sammlung ungesetzlich  gewesen  sei,  nicht  einlassen,  ebensowenig 
fine  Entscheidung  über  die  Verpflichtung  des  Regierungsverlreters  zur  Ab- 
fassung eines  Protokolls  treffen  könne,  daß  aber  der  Verlauf  der  Verhandlung 
ergeben  habe,  daß  eine  Beleidigung  weder  wörtlich  noch  tätlich  vorliege. 
Was  natürlich  nicht  hinderte,  daß  die  von  der  Bezirkshauptmannschaft  selbst 
in  eigener  Regie  verhängte  Strafe  längst  rechtskräftig  und  bezahlt  war. 
(„Arbeiter-Zeitung"  Nr.  49  vom  17.  November  1893.) 

Bei  der  Eemfnngsverhandlimg  verurteilt. 

Gegen  den  teilweisen  Freispruch  rekurrierte  aber  der  Slaalsanwalt  und 
<las  Kreisgericht  Böhmisch-Leipa  verurteilte  am  28.  Dezember  *1893  tat- 
sächlich Adler  wegen  Beleidigung  des  Polizeikommissärs  zu  vierzehn 
Tagen  Arrest.  Als  erschwerend  wurde  angenommen :  die  wiederholten 
Vorstrafen  und  daß  „eine  Gefahr  für  die  Sicherheit  vorhanden  gewesen". 


Eine  Portion  Hirn  für  Taaffe. 

Die  Regierungen,  besonders  nach  dem  Sturz  Taaffes  die  Koalitions- 
\figierung  Windischgrätz-Plener,  suchten  durch  gerichtliche  Verfolgungen  die 
Bewegung  für  das  Wahlrecht  zu  unterdrücken.  Wenige  der  Redner  der  sozial- 
demokratischen Partei,  die  nicht  vor  Gericht  gekommen  wären!  In  erster 
Linie   stand  auch   hier  Adler. 


110  Eine  Portion  Hirn  für  Taaflfe 

In  einer  Versammlung  des  Vereines  „Gleichheit"  am  12.  Juni  1893  hatte 
Pernerstorfer  einen  Vortrag  über  das  allgemeine  Wahlrecht  gehalten, 
und  nach  ihm  hatte  Adler  das  Wort  ergriffen  und  unter  anderem  eine 
Parallele  zwischen  den  Umständen,  unter  welchen  Bismarck  gezwungen 
war,  das  allgemeine  Wahlrecht  zu  oktroyieren,  und  der  Lage  in  Österreich 
gezogen.  Er  hatte  die  Politik  Bismarcks  als  eine  gewalttätige  und  brutale 
nach  Gebühr  gewürdigt  und  dann  hinzugefügt:  .-Un'd  obwohl  Bismarck 
unmer  unser  Gegner  war,  politische  Klugheit  wird  ihm  niemand  abstreiten, 
und  ich  wünsche  dem  Grafen  Taaffe  nur  eine  Portion  von 
dem  Hirn  Bismarcks,  dann  würde  auch  Graf  Taaffe  veranlaßt  sein, 
das  allgemeine  Wahlrecht  einzuführen.  Über  alle  nationalen  Konflikte  und 
Staatsrechtsstreitigkeiten  kann  man  nur  hiedurch  hinwegkommen,  aber 
freilich,  dazu  darf  man  kein  Wurstler  und  kein  Fretter,  sondern 
ein  Staatsmann  sein." 

Diese  Ausführungen  wurden  als  Übertretung  des  §  491  und  Art.  V 
als  Amtsehrenbeleidigung  angesehen.  In  derselben  Versammlung  hatte 
R  e  u  m  a  n  n  die  politischen  Zustände  gesdiildert,  hatte  gesagt,  hinter  dem 
Vereins-,  Versammlungs-  und  Preßrecht  stehe  immer  der  Polizeibüttel,  und 
hatte  hierauf  eine  Reihe  von  Gesetzesübertretungen  von  Beamten  aufgeführt 
und  im  Anschluß  daran  konstatiert,  daß  diese  Beamten  den  Arbeitern^  gegen- 
über ohne  Rücksicht  auf  das  Gesetz  vorgehen. 

Der  Regierungsvertreter  Polizeikonzipist  Dr.  v.  Eichberg  hatte  in 
diesen  letzten  Worten  die  Wiener  Polizei  getroffen  gefühlt,  und  so  wurde  auch 
R  e  u  m  a  n  n  wegen  derselben  Paragraphen  angeklagt.  Die  Aufschreibungen 
des  Konzipislen,  der  angeblich  stenographieren  kann,  wurden  von  einem 
beeideten  Sachverständigen  übertragen,  wobei  sich  zeigte,  daß  sie  gänzlich 
i:nzusammenhängend,  konfus  und  fehlerhaft  waren. 

Am  12.  Dezember  1893  fand  die  Verhandlung  vor  dem  Bezirksgericht 
Mariahilf   statt.   („Arbeiter-Zeitung"   Nr.  57  vom   15.  Dezember  1893.) 

Der  als  Zeuge  vorgeladene  Abgeordlnete  Pernerstorfer  wurde 
darüber  vernommen,  ob  Reumann  alle  Beamten  überhaupt  oder  nur  die 
gemeint  habe,  von  welchen  ungesetzliche  Handlungen  erzählt  worden  seien. 
Der  Zeuge  'erklärte,  daß  die  erste  Auslegung  absolut  unmöglich  sei,  da  R  e  u- 
mann  ^in  ruhiger,  überlegter  Redner  sei  und  eine  solcüie  Behauptung  nicht 
aufstellen  werde,  -,d'a  es  ja  doch  bisweilen  vorkommt,  daß  d!as  Gesetz  auch 
eingehalten  werde". 

Adler 

verteidigte  sich  daJiin,  daß  es  keine  Beleidigung-  sei,  jeniiuul 
eine  Portion  Hirn  zu  wünschen;  den  Grafen  Taaffe  als  duniin 
hinzustellen,  wie  die  Anklage  behaupte,  sei  ihm  nicht  ein- 
gefallen, da  er  ihn  zwar  für  einen  keineswegs  bedeutendou 
Staatsmann,  aber  für  einen  durchaus  geriebenen  Politiker  stets 
betrachtet  habe. 


Die  verkleinerten  Delikte  111 

Richter:  Steht  es  Ihnen  zu,  die  Fähigkeiten  des  Grafeji  Taaffe 
zu  beurteilen? 

Adler:    Allerdings,  wie    jedem    anderen  Staatsbürger. 

Richter:  Und  glauben  Sie,  diese  staatsmännische  Weisheit  zu 
besitzen? 

Adler:  Meine  politische  Intelligenz  steht  nicht  auf  der 
Tagesordnung. 

Der  Verteidiger  Dr.  Ulbing  führt  in  längerer,  sehr  interessanter  Aus- 
führung die  historische  Parallele,  die  Adler  angedeutet,  durch  und  kon- 
statiert in  bezug  auf  die  Äußerungen  R  e  u  m  a  n  n  s,  daß  sie  'durcha-us  nur 
den  Tatsachen  entsprechen.  Jede  Nummer  der  „Arbeiter-Zeitung"  veröffentlicht 
eine  so  große  Anzahl  von  ungesetzlichen  Handlungen  von  Beamten,  daß 
an  dem  Vorkommen  solcher  niemand  zweifeln  kann.  In  seinem  Schluß- 
plaidoyer  führt  Reumann  selbst  eine  Anzahl  solcher  Dinge  an  und  stellt 
ebenso  wie  Adler  ifest,  'daß  der  Konzipist  Dr.  v.  Eichberg  die  Aus- 
führungen der  beiden  Redner  nicht  einmal  verstanden,  geschweige  sie  richtig 
wiedergegeben  habe. 

Der  Richter  Adjunkt  Dr.  F  a  s  c  h  i  n  g  b  au  e  r  spricht  beide 
Angeklagte  fiei,  da  Adler  höchstens  eine  persönliche  Ehrenbeleidigung 
begangen  habe,  die  zu  verfolgen  aber  die  Zustimmung  der  Beleidigten  not- 
wendig wäre.  In  bezug  auf  R  e  u  m  a  n  n  erklärt  er,  das  Wort  „Polizeibüttel" 
sei  ein  allerdings  veraltetes,  aber  durchaus)  nicht  beleidigendes  deutsches. 
Wort,  die  übrigen  inkriminierten  Äußerungen  aber  seien  nicht  genügend 
erwiesen. 

Die  verkleinerten  Delikte. 

Am  30.  Dezember  1893  stand  Adler  vor  dem  Bezirksgericht  Rudolf:s- 
heim  wegen  einer  Rede  beim  Schwender  am  30.  Oktober.  Die  Verhandlung 
wurde  vertagt  und  am  18.  Jänner  1894  fortgesetzt.  Die  Anklage  lautete  auf 
Amtsehrenbeleidigung  (§491  und  Artikel  V  des  Gesetzes  vom 
.lahre  1862).  Zwei  Stellen  seiner  Rede  über  das  allgemeine  Wahlrecht  und 
das  Parlament  waren  beanstandet.  '„Arbeiter-Zeitung"  Nr.  7  vom 
23.  Jänner  1894.) 

In  der  ersten  Stelle  soll,  behauptet  die  Anklage,  Dr.  Adler 
gesagt  haben:  „Graf  Taaffe  soll  al)gedankt  haben.  Wir  weinen 
ihm  keine  Träne  nach;  wir  haben  keinen  Grund  dazu.  Während 
der  vierzehnjährigen  Dauer  der  Ära  Taaffe  gab  es  keincjn 
Tag  und  keine  Stunde,  in  welcher  sich  die  Regierung  nicht 
mit  Hohn  über  Gesetz  und  Recht  hinweggesetzt  hat."  Darin 
sollte  die  Übertretung  der  Ehrenbelcidigung  gegen  eine  öffent- 
liche Behörde  liegen.  In  der  zweiten  Stelle  erkannte  die  An- 
klage eine  Ehrenbeleidigung  gegen  das  Abgeordnetenhau.>. 
Der  Angeklagte  soll  gesagt  haben:  „Wenn  man  die  Leute  da 
drinnen  debattieren  hört,  wie  groß  das  Stück  Recht  sein  dürfe, 


112  Die  verkleinerten  Delikte 

das  man  dem  Volke  geben  soll,  erfaßt  jeden  Erbitterung.  "Wer 
sind  denn  diese  Leute,  daß  sie  über  das  Volk,  über  seine  Reife 
und  über  sein  Hecht  abzuurteilen  haben?  (Ein  Zuhörer  ruft: 
Gauner!)  Nein,  sie  sind  keine  Gauner,  sie  sind  Vertreter  ihrer 
Klasseninteressen.  Die  einzige  Gaunerei  besteht  darin,  daß  sie, 
die  Vertreter  der  engherzigsten  Cliqueninteressen,  sich  für 
Volksvertreter  ausgeben." 

Weiters  soll  der  Angeklagte  in  einer  am  5.  November 
bei  der  „Weintraube"  in  Margareten  abgehaltenen  Versamm- 
lung bei  der  Besprechung  der  Eonacher-Affäre,  wo  sich  die 
Polizei  den  Liberalen  zuliebe  brutal  gegen  die  Arbeiter  be- 
nommen hatte,  gesagt  haben:  „Die  Liberalen  haben  die  Polizei 
gekauft."  Hierin  erblickt  die  Anklage  eine  Ehrenbeleidigung 
gegen  die  Polizeibehörde. 

Adler 

verantwortet  sich  dahin,  daß  die  erste  Stelle  wohl  nicht  wört- 
lich so  gelautet  habe,  wie  der  Regierungsvertreter  R  o  h  a  c  e  k 
"berichtete,  daß  er  aber  zugebe,  eine  sehr  abfällige  Kritik  über 
das  Ministerium  T  a  a  f  f  e  ausgesprochen  zu  haben.  Die  zweite 
Stelle  sei  wörtlich  so  gesprochen  worden,  betreffe  aber  nicht 
das  Parlament  als  solches,  sondern  einzelne  Mitglieder  des- 
selben. Auf  die  Frage  des  Richters  Schöbe  r,  wer  gemeint 
gewesen  sei,  antwortete  der  Angeklagte:  „Vor  allem  Herr  von 
P  1  e  n  e  r,  Führer  der  Vereinigten  Linken,  Graf  J  a  w  o  r  s  k  i, 
als  Obmann  des  Polenklubs,  und  Graf  H  o  h  e  n  w  a  r  t,  als 
Führer  der  Klerikalen,  und  so  weiter,  lauter  Leute,  die  sich 
an  der  Wahlrechtsdebatte  beteiligt  haben,  die  in  Frage  stellt." 
Bezüglich  des  dritten  Punktes  hatte  der  Angeklagte  schon  bei 
der  ersten  Verhandlung  erklärt,  er  habe  diese  Äußerung  nicht 
gemacht,  sie  wäre  auch  unsinnig  gewesen,  denn  die  Lil)eralon 
hätten  es  gewiß  nicht  notwendig,  die  Polizei  zu  kaufen,  sie 
stehe  ihnen  ganz!  umsonst  zur  Verfügung.  Bei  diesen 
Worten  hatte  sich  der  staatsanwaltschaftliche  Funktionär  er- 
hoben und  erklärte,  er  dehne  die  Anklage  auf  diese 
Äußerung  aus,  denn  „die  Polizei  stehe  nur  der  Regierung 
zur  Verfügung". 

Es  wurde  nun  bei  der  zweiten  Verhandlung  eine  Anzahl  von 
Zeugen  vernommen,  die  Vorsitzende  bei  jenen  Versammlungen  gewesen 
waren.      Die    Zeueen    H  u  e  b  e  r,    K  1  c  e  d  o  r  1  c  r,    L  c  i  ß  n  c  r,    Popp    und 


Die  verkleinerten  L>elikte  ll.'J 

-N  e  w  0  1  e  bestätigten  die  Aussagen  des  Angeklagten.  Der  Poiizeikonzipist 
Kitter  von  D  a  h  m  o  n  hielt  aber  an  seiner  Angabe  fest  und  brachte  als 
Belastungszeugen  zwei  Detektivs  mit,  die  unter  „Amtseid"  erklärten. 
dat'>  der  Ausdruck  über  den  Kauf  der  Polizei  gefallen  sei. 

Dr.  A  d  1  c  r  fragte  sie.  ob  sie  sonst  noch  etwas  aus  der 
über  eine  Stunde  dauernden  Rede  angeben  kcinnten.  Dazu  er- 
klärten .sie  sich  außerstande,  mit  der  Begründung,  daß  sie  zu 
weit  vom  Redner  entfernt  gewesen  seien.  Der  Angeklaüite 
konstatierte,  daß  die  beiden  Ehrenmänner  absolut  nichts  ge- 
hört  hatten     als    diesen   einen    Satz,   den   sie   bezeugen   sollten. 

-Nach  .Schluß  des  Beweisverfahrens  hielt  de-r  staatsanwaltschaftlichc 
Kunktionär  in  seinem  Plädoyer  die  Anklage  aufrecht.  Er  nannte  die  an  dei 
Regierung  Taaff  e  geübte  Kritik  eine  „frivole".  Es  sei  weilers  wirklich  das 
Parlament  als  solches  gemeint  gewesen,  da  ja  die  Tagesordnung  gelautet 
habe:  „Wahlrocht  und  Parlament".  Auch  die  dritte  Äußerung  halte  er 
für  erwiesen. 

Adler 

bespricht  zunächst  die  Äußerung  über  die  Polizei.  Er  habe  in 
aller  Schärfe  darüber  gesprochen,  daß  sich  Sicherheitswacii- 
leute  und  Polizisten  dem  Verein  der  Fortschrittsfreunde  als 
Ordner  zur  Verfügung  gestellt  hätten.  Er  gestehe  zu,  das  Pje- 
nehmen  der  Wachorgane  in  den  stärksten  Ausdrücken  ge- 
geißelt zu  haben,  aber  jene  Äußerung  habe  er  nicht  gemaclit. 
Das  Argument  des  Staatsanwalts  bezüglich  der  Parlaments- 
beleidigung sei  so  schwach,  daß  man  sich  damit  gar  nicht  be- 
schäftigen könne.  In  einem  anderthalbstündigen  Referat  hal)e 
er  über  die  Stellung  des  Parlaments  als  solches,  der  Tagesord- 
nung entsprechend,  manches  gesagt.  Bei  dem  inkriminierten 
'ieil  aber  liabe  er  ausdrücklich  von  der  Wahlreformdebatte 
und  den  an  ihr  beteiligten  Rednern  gesprochen.  Bezüglich  der 
dritten  Stelle  wiederholt  der  Angeklagte  die  Erklärung,  daß  er 
sie  in  dem  inkriminierten  Wortlaut  nicht  gebracht  habe.  Er 
verwahre  sich  übrigens  entschiedenst  dagegen,  daß  sich  der 
Herr  staatsanwaltschaftliche  Funktionär  herausnehme,  sieine 
Kritik  der  Regierung  eine  frivole  zu  nennen.  Das  lasse  er  sich 
nie  und  nirgends  und  von  niemand  gefallen.  Der  Herr  Staats- 
anwalt möge  überlegen,  was  frivoler  sei,  Gesetzesverletzungen 
zu  begehen  oder  an  den  Verletzungen  Kritik  zu  iil)en.  Diese 
Äußerung  beantwortete  der  Richter  mit  dem  Ordnungsruf,  den 
der  Angeklagte  hinnahm,  aber  bedauerte,  daß  der  Angeklagte 


114  Die  verkleinerten  Delikte 

nicht  denselben  Schutz  genieße  wie  der  Staatsanwalt.  Die 
Sache  selbst  habe  noch  eine  ganz  andere  und  prinzipielle  Be- 
deutung. Wenn  er  nämlich  die  inkriminierten  Äußerungen 
getan  h  ä  1 1  e,  müßte  sich  das  Bezirksgericht  als  inkompe- 
tent erklären,  denn  es  würde  sich  dann  nicht  um  die  Über- 
tretung der  Ehrenbeleidigung,  sondern  klar  und  deutlich  um 
das  Vergehen  nach  §  300  des  Strafgesetzes  handeln.  Wenn  der 
Eedner  die  Eegierung  des  Grafen  T  a  a  f  f  e  beschuldigt  hätte, 
daß  sie  sich  tagtäglich  mit  Hohn  über  die  Gr€setze  hinweg- 
gesetzt hätte,  so  wäre  sie  damit  nicht  dem  öffentlichen  Spott 
ausgesetzt,  sondern  er  hätte  ganz  bestimmt  im  Sinne  des  §  300 
zum  „Haß"  gegen  eine  Staatsbehörde  in  bezug  auf  ihre  Amts- 
führung „aufgereizt".  Wenn  bei  einer  solchen  Äußerung  der 
§  300  nicht  begründet  sein  soll,  dann  wäre  absolut  nicht  ab- 
zusehen, wie  man  eigentlich  „aufreizen"  kann,  falls  man  wirk- 
lich Tatsachen  entstellt  hat,  um  diese  Wirkung  herbei- 
zufübren.  Zum  §  491  werde  gefordert,  daß  die  Schmähung 
ohne  Anführung  bestimmter  Tatsachen  ge- 
schehe. In  jener  Rede  aber  sei  eine  ganze  Reihe  von  sehr  be- 
stimmten und  konkreten  Tatsachen  angeführt  worden.  Der 
Angeklagte  verlang-e  also,  daß  er  seinem  staatsbürgerlichen 
Rechte  gemäß  vor  seinen  ordentlichen  Richter  gestellt  werde» 
und  das  sei  freilich  in  diesem  Falle  das  Geschwornen- 
g  e  r  i  c  h  t,  welches  für  Vergehen  nach  §  300  allein  nach  dem 
Gesetz  kompetent  ist.  Das  sei  aber  auch  der  Grund,  warum 
es  immer  mehr  Übung  werde,  daß  man  „V  ergehen"  zu 
,,Ü  b  e  r  t  r  e  t  u  n  g  e  n"  herabdrücke,  um  auf  diese  Weise  eine 
Verurteilung  beim  Bezirksgericht  zu  erzielen. '  Er  er- 
warte, daß  sich  das  löbliche  Bezirksgericht  nicht  dazu  hergeben 
werde,  jener  merkwürdigen  Handhabung  des  Gesetzes  Vor- 
schub zu  leisten. 

Der  Richter  veiniteilte  Adler  zu  einem  Monat  Arrest,  und 
zwar  wegen  aller  drei  ihm  ursprünglich  zur  Last  gelegten  Äußerungen.  Nur 
in  bezug  auf  die  Äußerung,  auf  welche  die  Anklage  ausgedehnt  worden  war, 
>prach  er  ihn  frei.  In  der  Begründung  erklärte  er  unter  anderem,  es  sei 
nicht  möglich,  die  Sache  wieder  ans  Landesgericht  zurückzuleiten,  weil 
sich  der  Staatsanwalt  darüber  schon  geäußert  und  den 
Akt  vom  Landesgericht  ans  Bezirksgericht  abgesendet  habe. 

Adler  meldete  die  Berufung  an. 


Die  verkleinerten  Delikte  115 

Die  Berufungsverhandlung. 

Die  Appellverhancllung  über  die  eingebraciite  Berufung  fand  am 
'2't.  Februar  1894  vor  dem  Appellgerich l  unter  dem  Vorsitz  des  Landesgerichts- 
rates Grohmann  statt.  Als  Verteidiger  fungierte  Herr  Dr.  Richard  U  1  b  i  ng. 
.er  zunächst  den  Antrag  stellte,  bezüglich  des  einen  Punktes  der  Anklage, 
11  ach  welcher  Adler  sich  in  einer  Versammlung  geäußert  hätte,  „gelegentlich 
'Ter  Ronacher-Affäre  haben  die  Liberalen  die  Polizei  gekauift'",  die  Zeugen 
noch  einmal  vorzuladen  und  den  Wert  der  Aussage  des  Kommissurs  und 
der  zwei  Polizeiagenten,  welch  letztere  von  dem  anderlhalbstündigen  Vor- 
trag absolut  nichts  anderes  gemerkt  hatten  als  den  einen  inkriminierten 
Satz,  noch  einmal  zu  prüfen.  Diesem  Antrag  wurde  vom  Gerichtshof  nicht 
stattgegeben.  Der  Verteidiger  führte  dann  aus,  daß  jener  Ausspruch  vom  An- 
geklagten überhaupt  nicht  gebraucht  wxirde.  Anders  sei  es  mit  den  folgenden 
.Stellen.  Diese  Stellen  seien,  wenn  auch  nicht  wörtlich,  so  doch  dem  Sinne 
nach  allerdings  gesprochen  wurden.  Sie  enthalten  aber  nichts  als  eine  be- 
rechtigte Kritik  der  Regierung,  respektive  einzelner  Parteien  des  Abgeordneten- 
hauses. Daß  das  Parlament  als  solches  nicht  gemeint  sei,  sei  aus  dem  Zu- 
sammenhang der  Rede  klar.  Wenn  der  Gerichtshof  aber  doch  annehmen 
sollte,  daß  es  sich  hier  um  ein  Delikt  handle,  so  könne  keineswegs  der  im 
'erstrichterlichen  Urteil  angewendete  Paragraph,  sondern  nur  der  §  300, 
respektive  Artikel  III  angewendet  werden.  Dann  aber  müsse  sich  das  Gericht 
inkompetent  erklären,  weil  dieses  Dehkt  vor  das  Schwurgericht 
gehöre.  Er  erwarte  aber  den  Freispruch.    , 

Der  Staatsanwalt  erklärte,  die  Zeugen  bezüglich  des  Punktes  der  Be- 
leidigung der  Polizei  seien  trotz  alledem  glaubwürdig.  Bezüglich  der  Be- 
leidigung der  Regierung  und  des  Parlaments  erklärte  er,  daß  die  oben  zitierten 
-iußerungen  nicht  so  weit  gehen,  daß  man  sie  als  eine  Aufreizung  zu  Haß 
und  Verachtung  bezeichnen  könTie.  Hingegen  sei  die  beleidigende  Absicht 
insbesondere  dem  Parlament  gegenüber  klar,  da  aus  der  politischen  Stellung 
des  Angeklagten  mit  Sicherheit  zu  entnehmen  sei,  daß  er  mit  keiner  der 
Parteien  des  Abgeordnetenhauses  sympathisiere.  Er  verlange  die  Bestätigung 
des  Urteils. 

Adler 

meldet  sich  zur  Replik,  obwohl  sic]i  der  Vorsitzende  bereits 
/zurückziehen  will,  und  meint:  .,Sie  haben  ja  schon  gesprochen", 
worauf  der  An;n-eklagte  sagt:  .,Ich  habe  das  Eocht  zur  Replik 
und  bedaure,  die  Ungeduld  des  hohen  Gerichtshofes  hervor- 
zurufen, aber  es  handelt  sich  immerhin  um  einen  ^[onat 
.\rrest." 

Adler  führt  dann  aus,  daß  er  unschuldig  verurteilt 
würde,  wenn  er  bezüglich  des  Punktes  der  Ronacher-Affäre 
verurteilt  werde.  Jene  ihm  in  den  Mund  gelegte  Äußerung  sei 
eine  unsinnige,  die  er  niemals  machen  konnte.  Bezüglich  der 
anderen  Punkte  aber  beharre  er  auf  seinem  staatsgrundgesetz- 


llfi  Die  verkleinerten  Delikte 

lieb  gewährleisteteu  Kechte,  vor  seinen  ordentlichen  Richter 
gestellt  zu  werden,  und  der  sei  in  diesem  Falle  das  S  c  li  w  u  r 
g"  e  r  i  c  h  t.  Es  gehe  nicht  an,  „Vergehen"  zu  „Übertretungen" 
zu  degradieren  und  sie  den  Bezirksgerichten  zur  Ab- 
urteilung zu  überweisen,  nur  uin  einem  Freispruch  vor  den 
Geschwornen  auszuweichen. 

An  dieser  Stelle  unterbricht  der  Vorsitzende  den  Heiner  und  bezeichnet 
diese  Äußerung  als  unzulässig. 

Dr.  Adler:  F)aß  aber  die  hier  in  Frage  kommenden 
Äußerungen,  wenn  überhaupt  ein  Delikt,  n  u  r  das  des  §  300 
begründen  können,  dafür  habe  ich  einen  klassische»  Zeugen  in 
dem  Staatsanwalt  und  dem  1'  r  e  ß  g  e  r  i  c  h  t  v  o  n 
Wien,  welche  diese  Stellen,  als  sie  in  der  „Arbeiter-Zeitung" 
abgedruckt  waren,  nach  Paragraph  300  konfiszierten 
und  in  der  „Begründung"  ausdrücklich  erklärten,  daß  damit 
zu  Haß  und  V  e  r  a  c  h  t  u  n  g  aufgereizt  werde.  Wenn  der 
Herr  Staatsanwalt  vorhin  bemerkte,  es  seien  diese  Äußerungen 
nicht  weitgehend  genug,  um  Haß  und  Verachtung  hervor- 
rufen zu  können,  so  muß  ich  erklären,  daß  ich  dann  absolut 
nicht  weiß,  wie  man  eigentlich  zu  Haß  und  Verachtung  gegen 
die  Regierung  aufreizen  kann,  als  wenn  man  darlegt,  daß  sie 
sirli  mit  Hohn  über  Recht  und  Gesetz  hinwegsetzt.  Ich  habe  in 
diesem  Paragraphen  eine  ziemliche  Praxis,  die  „Arbeiter- 
Zeitung"  wird  zweimal  wöchentlich  konfisziert,  gewöhnlich 
wegen  des  §  300  nnd  wegen  Stellen,  die  weit  weniger  scharf 
siud  als  die  inkriminierten.  Bezüglich  des  Punktes,  das  Parla- 
ment betreffend,  erkläre  ich  noch  einmal,  daß  ich  nicht  das 
Parlament  als  Korporation,  sondern  die  Redner  in  der  Wahl- 
i'eformdel)atte  als  Vertreter  von  Oliqueninteressen  bezeichnete, 
insbesondere  die  Abgeordneten  P  1  e  n  e  r,  -T  a  w  o  r  s  k  i, 
W  u  r  m  b  r  ;)  n  d.  Hohen  w  a  r  t.  Wenn  der  Staatsanwalt 
meinte,  daß  ich  mit  keiner  Partei  im  Parlament  sympathisiere, 
so  ist  das  allerdings  richtig;  hingegen  kenu(>  ich  im  ParlaiiuMit 
einige  anständige  Leute,  allerdings  leider  nicht  viele  .  .  . 
(Unterbrechung  durch  den  Vorsitzenden.)  Ich  bin  freizu- 
si)rechen :  wenn  alx'r  nicht,  dann  xor  das  Schwurgericht  zu 
stellen. 

Der  Gerichtshof  gibt  d  e  r  B  c  )■  u  1  u  n  g  im  Punkte  das  Parlament 
betreffend  statt  und  Dr.  A  d  I  e  i-  wird  in  diesem  Punkte  frei- 
gesprochen.   In    liezug   au'f  die  beiden   anderen    Punkte   wird   das   Urteil 


Der  große  Sdnvurgerichtsprozeß  in  Reiche iibers;-  117 

bestätigt:     für    die    nunmehr    bestätigten  "  zwei    Delikte     wird    d  e  r  s  e  11)  e 

S  t  r  a  f  ri  a  t  z  wie  vorher  für  drei  Delikte,  nämlich  ein  Monat  Arrest, 
als  entsprechende  „Sühne"  angenommen.  ^Arbeiter-Zeitung"  Xr.  18  vom 
■2.  März  1894;) 

Dunkel  sind  die  Wege  der  Staatsanwaltschaft. 

Am  lU.  Oktober  ISüH  halle  die  Wiener  SlaaL-^anwallschall  gegen 
Adler  und  Bretschn  eider  wegen  zweier  Artikel  der  „Arbeiter- 
Zeitung'"  Nr.  36  vom  8.  September  1893)  die  Anklage  wegen  Vergehens  der 
.,Aufreizung'"  gegen  Behörden  und  einzelne  Stände  und  Klassen  der  bürger- 
lichen Gesellschaft  erhoben.   In  der   Anklageschrift   hielj    es  wörtlich: 

«Das  Hauptorgan  der  hiesigen  sozialdemokratischen  Partei,  die 
.,  Arbeiter-Zeitung'",  welches  wöchentlich  einmal  in  einer  Auflage  von 
zirka  20.000  Exemplaren  erscheint  und  wegen  seiner  ungemein 
fi  e  f  t  i  g  e  n,  a  u  f  r  e  i  z  e  n  d  e  n  S  p  r  a  c  h  e  fast  jedesmal  d  e  r  K  o  n- 
n  s  k  a  t  i  o  n  verfällt,  brachte  in  der  Nummer  36  vom  8.  September  1.  J. 
zwei  Artikel,  welche  den  Gegenstand  der  vorliegenden  Anklage  bilden. 

Die  k.  k.  Staatsanwaltschaft  konnte  sich  im  vorliegenden  Falle  mit 
der  bloßen  Objektivierung,  abgesehen  davon,  daß  die  L  e  i  t  u  a 'J' 
\l  e  s  B  1  a  l  t  e  s  das  sogenannte  ,.o  b  j  e  k  t  i  v  e  ^'  e  r  f  a  h  r  e  n'  voll- 
kommen wirkungslos  zu  machen  versteht,  im  Hinblick  auf  den  ganz  un- 
/.weide'utigen.  die  F  u  ii  d  a  in  e  n  t  e  der  Sicherheit  des  Staates 
gefährdenden  strafbaren  Tatbestand  nicht  begnügen,  sondern 
muß  die  Schuldtragenden  zur  persönlichen   Verantwortung  ziehen." 

Vier  Monate  warteten  die  Angeklagten  auf  den  Tag,  wo  sie  vor  den 
Geschwornen  stehen  sollten;  aber  die  Staatsanwaltschaft  überlegte  sich's 
und  zog  die  Anklage  zurück  —  trotzdem  sich  an  der  Tatsache  nichts 
geändert  hatte,  daß  die  „Ajbeiter-Zeitung"  jede  Konfiskation  durch  Ver- 
breitung der  ganzen  Auflage  wirkungslos  machte  und  so  ununterbiovlieu 
-die  Fundamente  der  Sicherheit  des  Staatswesens"  gefährdete. 

Der  große  Schwurgerichtsprozeß  in 
Reichenberg. 

Der  stenographische  Bericht  über  diese  Schwurgerichtsverhandluug 
vom  17.  bis  20.  November  1893,  den  wir  hier  wiedergeben,  ist  in  erster  Auf- 
lage in  einer  Broschüre*)  gleich  nach  dem  Prozeß  erschienen,  im  Jahre  1919 
in  zweiter  Auflag  e  als  Heft  10  der  Sozialistischen  Bücherei  im 
Verlag  der  Wiener  \olksbuchhandlung  unter  dem  Titel  „Die  Arbeiter- 
bewegung im  Kampfe  gegen  den  allen  Klassenstaat".  Die  Vorgeschichte  des 
Prozesses  ist  au^*  der  Einleitung  zur  zweiten  .\uflage  der  Broschüre  zu 
entnehmen: 


*)  Schwurgerichlsverhandlung  gegen  Dr.  Victor  Arller  ülier  die  Anklage 
der  Verbrechen  der  Störung  der  öffentlichen  Ruhe,  der  Religionsstöi-ung. 
der  Vergehen  der  Aufwiegelung  usw.  usw..  begangen  durch  Reden  im 
(!ablonzer  Bezirk,  durchgeführt  vor  dem  Reichenberger  Schwurgericht  vöni 
17.  bis  20.   November  1893.  Verlag  der  -Ari)eiler-Zeitung".     Veiffriffen. 


118  Der  große  Schwurgerichtsprozeß  in  Reichenberg 

Ein  Bläitlein  Liebe  auf  das  Grab  Victor  Adlers. 

In  dem  Wirbel  der  Ereignisse  seit  dem  Zusammenbruch  des  alten 
Österreich  haben  wir,  deine  alten  Weggefährten,  Freunde  und  Jünger, 
noch  keine  Zeit  gefunden,  dich  zu  beweinen,  der  Welt  zu  sagen,  was  du 
uns  warst,  den  Jungen  in  der  Partei  begreiflich  zu  nuachen,  wie  du  es 
verstanden  hast,  die  Liebe  der  Arbeiter  zu  erobern,  wie  es  nicht  einmal 
Bebel  und  Jaur^s  vermochten.  Auch  heute,  wo  ich  den  Auftrag  habo, 
nin  Vorwort  zur  zweiten  Auflage  dieses  Büchleins  zu  schreiben,  dessen 
erste  Auflage  ich  vor  25  Jahren  nach  meiner  stenographischen  Aufnahmt' 
des  Schwurgerichtsprozesses  von  Reichenberg  fertiggestellt  habe,  kann 
ich  nicht  mehr  tun,  als  mit  einigen  wenigen  Strichen  die  Zeit  von 
damals  zu  zeichnen,  jene  ersten  Jahre  nach  dem  Hainfelder  Einigungs- 
kongreß, mit  dem  du  deinen  ^'amen  in  der  Geschichte  der  Arbeiter- 
bewegung selbst  dann  unsterblich  gemacht  hättest,  wenn  du  nicht  noch 
dieses  Vierteljahrhundert  an  dem  unaufhaltsamen  Aufstieg  der  Sozial- 
demokratie gearbeitet,  den  Sieg  der  Demokratie  tätig  miterlebt  und 
mit  brechendem  Auge  noch  das  verheißene  Land  des  Sozialismus  er- 
blickt hättest.  Du  selbst  sollst  in  diesem  Buche  reden,  und  ich  will  nur 
erinnern,  daß  damals  gerade  die  verruchte  Koalition  der  Deutsch- 
liberalen, Konservativen  und  Polen  im  Kurienparlament  den  Wahl- 
rechtsentwurf des  Grafen  T  a  a  f  f  e  verworfen  hatte,  daß  damals  Graf 
S  tadnick  i  das  freche  Wort  gebraucht  hatte,  die  Arbeiter  wollten 
vBrol  ohne  Arbeit'',  daß  unter  dem  Motto  „Offenheit  und  Wahrheit  im 
öffentlichen  Leben'"  das  Wahlrecht  den  Arbeitern  weiter  vorenthalten 
bleiben  sollte.  Der  Helmbuschritter  P 1  e  n  e  r  war  damals  Finanz- 
minister  im  Wahlrechtsverhinderungs-Koalitionsministerium  W  i  n  d  i  s  c  h- 
g  r  ä  t  z,  und  sein  erster  Besuch  hatte  dem  —  Baron  Rothschild 
gegolten,  wie  es  sich  für  den  Kominis  gegenüber  dem  Chef  schickt. 

Das  war  die  Zeit,  wo  die  Arbeiter  kein  Wahlrecht  für  das  Parlament, 
für  die  Landtage,  für  die  Gemeinden  hatten,  wo  ihre  notdürftig  durch  Preß- 
fonds und  Sammlungen  über  Wasser  gehaltene  Presse  Nummer  für 
Nummer  konfisziert  wurde,  wo  fast  jede  politische  Versammlung  ver- 
boten oder  aufgelöst  wurde  .  .  .  und  weshalb  aufgelöst?  In  dem  Schwur- 
gerich Isprozeß  gegen  Victor  Adler  wurde  es  festgestellt:  Weil  er  „gegen 
die  liberale  Partei  loszog",  wurde  ihm  vom  Regierungsver- 
Ireter  das  Wort  entzogen  und  die  Versammlung  aufgelöst  .  .  .  Als  er 
über  Rothschild  sagte,  er  könne,  wenn  er  hundert  Jahre  lebe,  auf 
die  Tasche  klopfen  und  fragen,  was  kostet  die  Welt?  wurde  er  vom 
Regierungsvertreter  unterbrochen.  In  einer  der  Versammlungen,  wo 
die  Wähler  über  die  witzigen  Worte  Adlers  lachten,  wurde  vom  Regie- 
rungsvertreter das  Lachen  verboten  —  und  um  der  Auf- 
lösung zu  entgehen,  wurde  nicht  mehr  gelacht  ...  In  einer  Versamm- 
lung in  Schumburg,  von  welcher  der  Regierungsvertreter  bei  Gericht 
aussagte,  daß  er  dort  am  wenigsten  Ursache  hatte,  einzugreifen, 
war  Adler  —  siebzehnmal  unterbrochen  worden  .  .  .  Das  war  die 
Zeit,  wo  .\jdler  in  Nordböhmen  für  ein  durch  den  Tod  eines  bürger- 
lichen    Abgeordneten     erledigtes    Mandat     kandidierte,     ohne    jede    Aussicht 


Der  große  Schwurgerichtsprozeß  in  Reichenberg  119 


auf  Erfolg,  wie  sich  zwei  Jahre  früher  (1891;  bereits  gezeigt  hatte,  nur 
lun  Anhänger  für  die  Partei  zu  werben.  Hundert  Wahlmänncr  ("die  Wahlen 
waren  ja  noch  indirekt!)  stimmten  damals  für  Adler. 

Das  Mandat  erhielt  er  also  nicht,  aber  dafür  eine  Anklage  wegen 
der  Reden  in  dreißig  Versammlungen,  eine  Anklage  wegen  Ver- 
brechens der  Störung  der  öffentlichen  Ruhe,  wegen  Verbrechens  der 
Religionsstörung,  wegen  Vergehens  gegen  die  öffentliche  Ruhe  und 
Ordnung  durch  Beleidigung  des  Abgeordneten-  und  Herrenhauses,  durch 
Aufreizung  gegen  einzelne  Klassen  und  Stände  der  bürgerlichen  Gesell- 
schaft und  gegen  die  Rechtsbegriffe  über  das  Eigentum,  schließlich 
wegen  Beleidigung  der  k.  u.  k.  Armee  .  .  .  Die  Gablonzer  Bezirkshaupt- 
mannschaft hatte  die  Anzeige  erstattet,  und  die  k.  k.  böhmische  Statt- 
halterei  in  Prag  hatte  ihr  Gutachten  abgegeben,  daß  die  Anklage 
vor  dem  Schwurgericht  zu  erheben  sei  —  und  den  Staatsanwalt  er- 
mächtigt, den  Geschwornen  bei  der  Verhandlung  mit  der  Aufhebung  der 
Schwurgerichte  zu  drohen,  falls  sie  „versagen"  sollten  .  .  . 

So  fuhr  denn  Victor  Adler  an  einem  kalten  Novembertag  von 
Wien  nach  Reichenberg,  dem  Sitz  der  deutschböhmischen  Liberalen,  um 
sich  vor  den  bürgerlichen  Geschwornen  für  seine  Kandidatenreden  zu 
verantworten.  Das  Interesse  war  sehr  groß,  der  Saal  stets  gedrängt 
voll  —  von  bürgerlichen  Zuhörern,  da  ja  die  Arbeiter  keine  Zeit  hatten. 
Der  Vorsitzende  benahm  sich  sehr  anständig,  nur  einige  Male  w\irde  er 
ungeduldig,  worauf  Adler  witzig  erwiderte  und  weiterrcKien  konnte.  Der 
Staatsanwalt  gab  sich  große  Mühe  und  suchte  Adler  sogar  durch  große 
—  Komplimente  für  seinen  Geist  und  sein  Wissen  in  den  Kerker 
zu  bringen,  aber  er  war  diesem  Geist  und  Wissen  bei  weitem  nicht 
gewachsen.  Der  Verteidiger  Herr  Dr.  J  e  n  n  e  1  war  ein  Deutschnationaler, 
aber  er  übernahm  die  Verteidigung  Adlers  und  führte  sie  vortrefflich. 

Drei  Tage  lang  dauerte  der  Prozeß,  und  drei  Tage  lang  führte 
Adler  seine  Klinge,  daß  es  nur  so  blitzte  und  funkelte.  Sein  Witz  wie 
sein  sittlicher  Ernst  waren  gleich  unwiderstehlich.  Gleich  zu  Beginn  seiner 
Verantwortung  sagte  er  gegenüber  der  bedrohlichen  Häufung  von  Para- 
graphen, die  ihn  den  Geschwornen  besonders  gefährlich  erscheinen 
lassen  sollten,  ganz  ruhig:  „Es  sind  mir  so  viel  Verbrechen,  Vergehen 
und  Übertretungen  zur  Last  gelegt,  als  man  überhaupt  anständiger- 
weise begehen  kann  .  .  .''  Man  lächelt  und  der  Staatsanwalt  ärgert 
sich  .  .  Der  Präsident  unterbricht  den  Angeklagten  bei  seinen  Aus- 
führungen über  das  Parlament,  die  ihm  zu  lang  dauern;  darauf  Adler 
seelenruhig:  „Ich  bedaure  sehr,  wenn  es  länger  dauert,  aber  es  würde 
vielleicht  für  mich  persönlich  viel  länger  dauern,  wenn  ich 
verurteilt  würde . .  ."  Ein  Zeuge  sagte,  es  hätte  nach  der  Rede  Adlers 
in  Wiesenthal  zu  etwas  kommen  können.  Adler:  „Ist  es  zu  etwas 
gekommen?"  Zeuge:  „Nein  .  .  ."  .\dler:  „Doch,  es  ist  zu  etwas 
gekommen!  In  Wiesenthal  wurden  sechs  sozialdemokratische  Wahl- 
männer gewählt!"  Die  Geschwornen  lachen,  das  Auditorium  laciit,  der 
Belastungszeuge  ärgert  sich  .  .  .  Der  Staatsanwalt  hatte  gesagt,  daß  Adler 
ab.sichtlich  im  Gablonzer  Bezirk  kandidiert  habe,  weil  dort  die  Gegensätze 
sehr      entwickelt      und      die     Leute      der      Sozialdemokratie      zugänglich 


120  Der  i^roB»^  Schwurgt'richtsprozeß  in  Roichenlx-rg 

sind.  „Das  ist  wahr,"  sagte  Adler,  „das  stimmt  vollständig  - —  i  m 
böhmischen  Großgrundbesitz  würde  ich  keine  .Aussichten  gehabt 
liaben  .  .  ."  Der  Staatsanwall  macht  ihm  Komplimente,  lobt  seine 
Phantasie,  seinen  Reichtum  von  Gedanken,  seinen  kaustischen  Humtr, 
seine  Macht  über  die  Gemüter  der  Yolksmassen,  seine  Begeisterung,  die 
Macht  seines  Wortes.  Darauf  dankt  Adler  für  die  Reihe  von  ausgesuchten 
Komplimenten.  „Er  hat  auch  gesagt,  daß  ich  politisch  sehr  gebildet  sei. 
Feh  bedaure  aufrichtig,  daß  ich  nicht  in  d  e  r  L  a  g  e  b  i  n,  d  e  m 
H  e  !■  r  n  .Staatsanwalt  dieses  Kompliment  z  u  r  ü  (>  k- 
zu  geben."  Alles   lächelt,  nur  der  StaatsanM'alt   nicht. 

Seinem  funkelnden  Witz  steht  sein  tiefes  Wissen  zur  Seite.  Er 
bringt  den  armen  Provinzstaatsanwalt  mit  seinen  Zitaten  aus  den 
Werken  der  deutschen  Nationalökonomen  in  Verlegenheil,  und  ich  it- 
mnere  mich  noch  der  Bewegung  und  der  Heiterkeil,  die  durch  die 
Geschwornenbank  und  den  Saal  ging,  als  er  auf  die  Anklage,  den  f'igen- 
lumsbegriff  herabgewürdigt  zu  haben,  die  eigentumsfeindlichen  Aussprüche 
der  katholischen  Kirchenväter  zitierte,  den  heiligen  Basilius,  den  heiligen 
.Johannes  Chrysoslomus,  die  eben  zwei  Christen,  aber  keine  Christlich- 
sozialen waren.  Sein  Witz  und  sein  Wissen  aber  wurden  erst  in  die 
wahre  Höhe  gehoben  durcli  die  Wärme  seiner  innersten  Überzeugung 
und  durch  den  sittlichen  Ernst,  mit  dem  er  sein  Amt,  Vorkämpfer 
und  Berater  des  arbeitenden  Volkes  zu  sein,  auffaßte.  Wer  könnte  ohne 
tiefste  Rührung  den  Schluß  seiner  Verteidigungsrede  lesen,  wo  er  an  die 
Eidesformel  der  Zeugen  erinnert,  die  ihrer  dreißig  gelobt  hatten,  die 
reine  und  volle  Wahrheit  zu  sagen  und  nichts  als  die  Wahrheit. 
„Nun,  meine  Herren  Geschwornen,  wenn  wir  Sozialdemokralen  auf 
die  Tribüne  steigen,  so  liaben  wir  das  Gefühl,  unter  dem  Eide  zu 
stehen,  daß  wir  verpflichtet  sind,  die  rein<^  Wahriieil  zu  sagen  und  nichts 
als  die  Wahrheit,  aber  aucli,  und  das  wiid  luii'  zum  Verbrechen  gemacht, 
die  volle  Wahrheit  .  .  ."  Der  Demagogie,  die  nur  Augenblicks- 
i'rlolge  erzielen  will,  indem  sie  den  Arbeitern  nach  dem  Vluude  re'iet, 
:d)hold  bist  du,  Victor  .Adler,  in  diesen  26  Jahren  gelilieben,  und  wer  dich 
reden  hörte,  in  der  Volksversammlung  wie  in  der  Parteikonferenz,  wußte,  daß 
ilu  wirklich  wie  unter  Eid  aussagtest. 

Der  l'rozel.)  m  Reichenberg  war  m  der  damaligen  Zeit  keine 
Kleinigkeit,  die  deutschnationalen  Fabrikanten,  di(^  die  flungerpeitsche 
über  ihre  Sklaven  schwangen,  verstanden  keinen  Sinil.!  und  die  Zeit  der 
Ausnahmezustände  lag  noch  nahe  —  war  doch  Adler  wegen  eines 
.Vrtikels  in  der  ,,(ileichheit"  über  den  Tiamwaystreik  vom  Ausnahme- 
senat des  Landesgerichtsrates  II  o  1  z  i  n  g  e  r  vei'urteilt  worilen.  .Vber 
so  groß  war  die  Macht  der  Persönlichkeil,  di(>  (Überzeugung,  die  aus 
ihm  sprach,  so  lest,  dal.',  iiiii-  l)ei  der  für  bürgerliche  Gefühle  kitzlichsten 
Krage  („Verleitung  zu  Keindseligkeileii  gegen  einzelne  Klassen'")  sieben 
Ja  gegen  fünf  Nein  standen,  was  aber  trotzdem  den  Freispruch  au-ch  in 
diesen  Punkten  bedeutete.  Victor  .\dler  verließ  unter  dem  lebhaften 
Ueifall  des  Publikujns  den  Gerichtssaal,  um  seine  Tätigkeit  als  Agitator 
und  als  Organisator,  als  Redner  und  als  .SchriftslelUn-  [orlzusetz-en. 
mit   ätzendem    Witz,    mit     dem    Rüstzeug    der    Wissenschaft,    mit    leichtem 


Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg  121 


Humor  und  sittiichein  Pathas,  wie  es  eben  das  tiebot  der  Stunde,  dii- 
t,'enia]e  Eingebung  des  Augenblicks  war.  So  haben  wir  ihn  gekannt,  so 
liaben  wir  ihn  geliebt,  so  wie  er  vor  26  Jahren  als  Angeklagter  im 
Heichenberger  Gerichtssaai  stand.  Als  Angeklagter?  >.'ein,  als  Anklä&^r 
der  kapitalistischen  Gesellschaft,  die  er  gehaßt  hat  mit  der  Glul  des 
Jüngiinos  und  'die  er  bekämpft  hat  mit  der  Weisheit  d'es  Greises. 

Graz,  im  Juni  1919. 

Dl .  M  1  c  li  a  e  1  Schach  e  r  1. 

Die  Schwurgerichtsverhandlung. 

Erster  Verhandlanostag.  ^ 

(Freitag,  17.  November  1893.) 

Auf  der  Geschwornenbank  die  Herren:  Kahl  Josef,  l.euliner 
Wenzel,  Kirchhof  Adolf,  Dr.  jur.  Her  gel  Hugo,  Hohn  Adolf. 
K  i  e  d  1  e  r  Anton,  Schär  Anton ,  Keil  J.  G.,  Model  Anton.  Sitte 
i''ranz,  S  a  1  o  m  o  n  Josef,  Kon  de  Karl.  Ersatzgeschworne;  (ieling 
Gustav  und  Haus  m  a  n  n. 

Der  Gerichtshof  besteht  aus  den  Herren:  L.-Ci.-R.  Dr.  Salaschek 
als  Vorsitzender,  R.-Sekr.  Fischer,  L.-G.-Adjunkt  M  a  y  e  r,  Schriftführer 
Dr.  Capek,  Staatsanwalt  Dr.  Schöb(>l,  Verteidiger  A(h()kat  Doktor 
J  e  n  n  e  I. 

Nach  Eröffnung  der  Vt-rhandlung  gegen  Dr.  Victor  Adler  ergreift  der 
Staatsanw-alt  das  Wort. 

Staatsanwalt:  Ich  stelle  den  Antrag  auf  Ausschluß  il  e  r 
Offen  1 1  i  c  h  k  e  i  t  dieser  Verhandlung,  und  zwar  aus  Gründen  dei'  öffent- 
lichen Ordnung,  da  des  näheren  erörtert  werden  wird,  was  den  Gegenstand 
iler  inkriminierten  Reden  bildete. 

Verteidiger:  Ich  muß  mich  entschieden  gegen  diesen  Antrag 
ausspreehen  und  zugleich  nifuier  Verwunderung  Ausdruck  geben,  daß  dir' 
löbliclie  Staatsanwallscluift  zu  diesem  Antrag  gelangt  ist.  Das  Gesetz  be- 
stimmt, und  zwar  als  G;tranlie  für  die  unparteiische  und  richtige  Ausübung 
der  Rechtspflege,  daß  die  Hauptverhandlung  stets,  und  zwar  unter  sonstiger 
Nichtigkeit,  öffentlich  abzuhalten  ist,  und  läßt  nach  §  229  St.-Pr.-O.  den 
Vusschluß  der  Öffentlichkeit  durch  Beschluß  des  Gerichtshofes  nur  zu  aus 
Gründen  der  öffentlichen  .Sittlichkeit  und  öffentlichen  Ordnung.  Gründe  der 
öffentliclien  Sittlichkeit  liegen  nicht  vor;  was  können  aber  solche  Gründe 
der  „öffentlichen  Ordnung"  sein?  Doch  nur  die  Befürchtung,  daß 
ilurcli  die  öffentliche  Abhaltung  der  Hauptverhandlung,  durch  daselbst  vor- 
kommende Vorfälle  die  Ruhe  und  Ordnung  gestört  werden  konnte.  Die 
löbliche  Staatsanwaltschaft  hat  es  aber  ganz  unterlassen,  für  diese  un- 
bedingte Voraussetzung  ii(!s  Ausschlu.sses  der  üffentliclikeit  irgemleiiieii 
Grund  anzugeben,  (ierade  bei  dieser  Verhandlung  ist  eine  .Störung  der 
öffentliclien  Ruhe  am  allerwenigsten  zu  fürchten,  (iegensland  der  Verhand- 
lung bilden  Reden,  welche  Di-.  .\dler  vor  .Monaten,  und  zwar  zu  einer  Zeil 
hielt,  wo  die  Wahlagitation  im  Zuge,  die  Bevölkerung  im  erregtesten  Zu- 
stand sich  befand,    und  wo  ein   Publikum    von   Tausenden     im   Bezirk    von 


122  Die  Schwiii'fjerielit^verhaudlung  in  Reichenberg 

ITeichenberg  und  Gablonz  zuhörte.  Die  Versammlungen  liefen  m  Ruhe  und 
Ordnung  ab,  und  wenn  auch  einzelne  dieser  Reden,  merkwürdigerweise 
sämtliche  im  Gablonzer  Hezirk,  Gegenstand  einer  Straf  anklage  wurden,  so 
wurden  auch  diese  Reden  vor  einem  zahlreichen  Publikum  gehalten,  nie- 
mals aber  hat  eine  Ruhestörung,  niemals  eine  Stönmg  der  öffentlichen 
Ordnung  stattgefunden.  Wenn  der  unmittelbare  Eindruck  der  Rede  vor 
einem  zahlreichen  Publikum  eine  Störung  nicht  herbeigeführt  hat,  so  ist  es 
doch  ganz  ausgesclilossen,  daß  die  Wiederholung  einzelner  Stellen  dieser 
Rede,  die  juristische  Beleuchtung  derselben  bei  einem  Publikum,  welches 
sie]  weniger  zahlreich  ist,  zu  einer  Störung  der  Ruhe  führt.  Das  Publikum 
hier  ist  ja  aus  allen  Kategorien  der  Bevölkenmg  zusammengesetzt,  nicht 
aus  lauter  Parteigenossen  des  Angeklagten.  Wenn  es  aber  selbst  lauter 
Parteigenossen  wären,  so  wäre  von  ihnen  am  allerwenigsten  eine  Störung 
der  öffentlichen  Ruhe  und  Ordnung  zu  erwarten.  Denn  das  muß  man  den 
."■Sozialdemokraten  lassen,  man  mag  mit  ihnen  übereinstimmen  oder  nicht, 
daß  sie  bei  ihren  Versammlungen  immer  die  musterhafteste  Ordnung  auf- 
lechtzuerhalten  wissen,  und  sie  wissen,  wie  sie  sich  in  Situationen,  wie 
die  heutige  ist,  zu  benehmen  haben.  Derartige  Verhandlungen  werden  in 
Wien,  wo  das  Publikum  viel  zahlreicher,  im  Sinne  des  Staatsanwalts  viel 
gefährlicher  ist,  wie  es  eine  Großstadt  mit  sich  bringt,  als  bei  uns,  öffent- 
lich abgehalten,  und  niemals  ist  es  einem  Staatsanwalt  eingefallen,  einen 
Antrag  auf  Ausschluß  der  Öffentlichkeit  zu  stellen.  Ich  vertraue  daraul, 
daß  der  hohe  Gerichtshof  diesen  Antrag  der  Staatsanwaltschaft  als  voll- 
kommen unbegründet  und  unberechtigt,  als  das  Recht  der  Verteidigimg 
empfindlich  schädigend   zurückweist. 

Staatsanwalt:  Der  Begriff  der  öffentlichen  Ordnung  erstreckt 
.sich  nicht  bloß  dahin,  daß  die  Ruhe  in  diesem  Saale  oder  in  der  Umgebung 
desselben  gestört  werde,  sondern  durch  Zulassung  der  Öffentlichkeit  erlangen 
die  Verhandlungen  eine  solche  Publizität,  daß  sie  in  allen  Blättern 
verbreitet  werden  können.  Es  ist  das  ganz  analog  der  Verhand- 
lung über  eine  Majestätsbeleidigung. 

Verteidiger:  Der  Vergleich  mit  der  Majestätsbeleidigung  ist  un- 
>;ulässig.  Die  Majestätsbeleidigung  wird  gewöhnlich  durch  derartig  un- 
flätige Äußerungen  gegen  den  höchsten  Repräsentanten  der  Staatsgewalt  be- 
gangen, daß  allerdings  die  Reproduktion  solcher  Äußerungen  das  patriotische 
Gefühl  verletzt,  ja  oft  einen  gewissen  Ekel  erregt.  Die  Reproduktion  solchei 
Äußerungen  verbietet  nach  meiner  Ansicht  mehr  der  Anstand  als  Rück- 
sichten auf  die  öffentliche  Ordnung.  Aber  nach  meiner  Überzeugung  kann 
«las  Gesetz  unter  Gründen  der  öffentlichen  Ordnung  nichts  anderes  ver- 
slanden haben,  als  was  ich  sagte.  Aber  angenommen,  es  würde  sich  darum 
handeln,  die  Verbreitung  derartiger  Sachen  in  weiteren  Kreisen  zu  hindern, 
da  ist  ja  die  Staatsanwaltschaft  mit  ihrer  Konfiskation  sofort  bei  der  Hand, 
wenn  sich  etwas  Staatsgefährliches  und  Aufreizendes  in  einem  Zeitungs- 
hlatt  finden  sollte.  Ich  sehe  nicht  ein,  daß  die  Staatsanwaltschaft,  welche 
so  mächtig  in  der  Unterdrückung  des  Gedankens,  soweit  er  gedruckt  zum 
Ausdruck  kommt,  auf  einmal  die  jVnwendung  ihrer  Macht  gegenüber  der 
\'erbreitung  in   den    Zeitungen  scheut. 


Die  Schwurgerichteverhaudlung  in  Reichenberg  123 

Der  G  e  r  i  c  ii  t  s  li  0  f  zieht  sich  zurück  und  beschHeßt,  daß  die 
Öffentlichkeit  der  Verhandlung  nicht  auszuschließen 
sei,  da  keine  Gründe  vorliegen;  würden  sich  solche  Gründe  ergeben,  so 
stehe    ihm  noch   immer  das  Recht   des   Ausschlusses  der   Öffentlichkeit  zu. 

Es  folgt  die 

Verlesung  der  Anklageschrift. 

Die  k.  k.  Staatsanwaltschaft  Reichenberfi  erhei)t  gegen  Med.  Dr.  Victor 
Adler  aus  Wien,  wegen  Vergehen  nach  §§  300,  305  und  491  St.-G.  usw 
bestraft,  die  Anklage. 

l.a)  Er  habe  durch  die  am  2.  Jänner  in  Dessendorf  in  der 
Wanderversammluns  de^  politischen  Vereines  -Vorwärts'"  gehaltenen  Rede, 
insbesondere  durch  die  Äußerungen: 

-. . .  Spitzbuben  fehlen  bei  uns  zwar  auch  nicht,  nur  daß  sie  bei  un~ 
nicht  eingesperrt  werden  ..." 

-,Derselbe  Staat,  der  den  Bürgern  das  .Mark  aus  den  Knochen  nimm! 
für  die  Armee,  für  Militär  . .  .'" 

„Alle  bürgerlichen  Freiheiten  sind  für  die  Besitzenden  vorhanden,  für 
die  Arbeiterklassen  existieren  sie  nicht  . . ." 

„Das  Vaterland,  behaupten  wir,  ist  nicht  das  Land,  wo  ich  aus- 
^rebeutet  und  unterdrückt  werde,  das  Vaterland  ist  nicht  das  Land,  wo  icli 
rechtlos  herumirre,  das  Vaterland  ist  nicht  das  Land,  wo  bei  scfiwerster 
Arbeitslosigkeit  der  Arbeitslose  verrecken  wird  auf  jedem  Misthaufen,  das 
Vaterland  ist  das  Land,  wo  ich  mit  Brüdern  die  Frucht  meiner  Arbeit 
genieße,  wo  ich  Frucht  in  jahrzehntelanger  Arbeit,  wo  sie  mir  zugänglich 
sind,  mir  wie  jedem  anderen,  das  ist  das  Vaterland,  das  liebe  ich,  füi 
(tieses  Vaterland  zu  kämpfen,  wenn  es  angegriffen  werden  sollte,  wird  jeder- 
mann bereit  sein,  denn  er  hat  den  Ruf  dazu;  aber  das  heutige  Militär  ist 
ganz  anders.  Sehen  Sie  recht,  Sie  alle  bis  hoch  hinauf  in  den  mittleren 
Stand,  selbstverständlich  Arbeiterklassen.  Was  tun  Sie  fortwährend?  Womit 
beschäftigen  Sie  sich  jeder  einzelne  von  Ihnen?  Wenn  er  begraben  wird. 
Iiinterläßt  er  eine  ganze  Menge  von  Arbeit,  die  er  geleistet.  Es  ist  mehr 
Produkt  vorhanden,  wenn  er  stirbt,  als  wie  er  geboren.  Er  hat  eine  Menge 
Schätze  produziert,  aufgehäuft.  Wo  sind  diese  Schätze?  Haben  sie  sie?  Nein, 
sie  starben  arm,  vielleicht  noch  ärmer,  als  sie  angefangen  haben  zu  arbeiten ; 
was  haben  sie  getan  mit  diesen  Schätzen?  Sie  haben  Produkte  zusammen- 
gescharrt in  wenigen  Kassen,  in  wenigen  Geldkisten,  in  wenigen  Schatz- 
kammern, dort  haben  sie  mit  Bienenfleiß  alles  mögliche  aufgehäuft  unfl 
deponiert  in  den  Besitz  von  ein  paar  Leuten.  Nun  sehen  diese  die  Gefahi-. 
Die  Besitzenden  haben  sich  das  überlegt,  wie  es  dann  wäre,  wenn  die 
Leute,  welche  eifrig  herbringen,  eifrig  sammeln  wie  Hamster,  wenn  die 
einmal  auf  die  Idee  kämen,  das  wieder  herauszunehmen,  was  sie  selbst 
hineingelegt.  Das  wäre  eine  gefährliche  Sache,  darum  müssen  diese  Schatz- 
kammern beschützt  werden.  Darum  müssen  Leute,  dieselben  Leute,  die 
diese  Schatzkammern  gefüllt  haben,  müssen  dazu  verwendet  werden,  Gewehre 
zu  verfertigen,  Bajonette  und  Säbel,  Kanonen  zu  gießen  und  die  Gewehr«' 
selbst  auf  die  Schulter  zu  nehmen,  vor  den  Schatzkammern,  vor  dei. 
Kassen   Schildwache    zu   stehen,  die  sie  selbst   gefüllt   haben;   denn   die  Be- 


124  r)ie  8i-h\vurgerichtsverhaudluug  in  Keiclienberg 

«itzenden  können  weder  Schätze  sammeln,  noch  ^inll  sie  lähig,  sie  aucii 
nur  zu  verteidigen.  Das  Proletariat,  das  arbeitende  Volk  muß  Schätze 
herstellen,  muß  sie  auch  schützen.  Dazu  braucht  man  Militär,  und  wird 
Militär  so  hinge  bestehen,  als   der  Kapitalismus  besteht."*^ 

ti)  Ferner  durch  die  am  17.  .länner  1893  in  Reichenau  in  der 
Versammlung  des  politischen  Vereines  ..Vorwärts'"  gehaltene  Rede,  ins- 
besondere durch  die  Äußerungen:  „Uns  wird  vorgeworfen,  daß  wir  keine 
Vaterlandsliebe  besitzen;  kann  man  von  uns  aber  erwarten,  daß  wir  zu 
einem  Vaterland,  wo  wir  imterdrückt,  verkürzt  und  gequält  werden  und 
von  wo  jährlich  Tausende  in  die  Fremde  ausziehen,  eine  Liebe  haben?  Was 
ist  Vaterland?  Es  ist  ein  Ort,  wo  manclier  im  Elend  geboren  wird,  wo  ihm 
iMU  ungenügender  Schulunterricht  erteilt  wurde,  von  wo  er  dann  tori- 
gezogen und  wohin  er  sclilieLUicli  pei'  Schub  zunickkidirl,  uni  seiiu'  ("iel>eine 
dort   ins  Grab  zu  legen." 

c)  Ferner  durch  die  am  19.  .Jännei-  1893  m  (Irüuwald  in  der 
Versammlung  des  politischen  Vereines  „Vorwärts"  gehaltene  Rede,  ins- 
besondere durch  die  Äußerungen:  .,Der  Bauei'  müs.se,  nicht  nur  daß  ihm 
das  Geld  für  die  Schießprügel  berausge])i-eljt  werde,  diese  Schießprügel  n0';i! 
selbst  in  die  Schlacht  l'ürs  \'aterland  als  Kanonenfutter  tragen,  und  wenn 
er  da  zum  Krüppel  geschossen.  Arm  und  Bein  verliert,  dann  dankt  ihm  das 
Vaterland,  wenn  es  noch  gut  geht,  mit  der  Drehoigellizeiiz  .  .  .  Nicht  ilie 
Feindschaft  der  Völker  macht  diese  Anspannung  nötig,  der  .Militarismus  in 
seiner  gegenwärtigen  Gestalt  sei  das  Produkt  der  jetzigen  kapitalistischen 
Wirtschaft  und  zum  Schutze  der  gefüllten  Kassen  des  Kapitalisten  nötig, 
lienn  die  fürchten  sich,  daß  einmal  die  ausgebeutete  .Masse  fragen  könnte, 
wozu  diese  Reichtümer  aufgespeichert  wurden  .  .  .  Die  .\bleistuug  der  Welu- 
pllicht  sei  eine  ungerechte;  dem  Reichen  wird  es  rechl  leicht  gemacht,  er 
brauche  nur  ein  .fahr  zu  dienen,  es  seien  zwar  liiczu  ^fwisse  Bedingungen 
zu  erfüllen,  aber  da  gibt  es  gewisse  Anstallen,  in  widcbeii  die  jungen  T>eutf 
präpariert  werden,  selbst  wenn  sie  auch  unfähig  -^umI.  Der  Bauer  und  der 
Arbeite!'  müssen  drei  Jahre  schwer  dienen:  fin-  die  Bemitlellen  sind  be- 
sondere Vorteile  eingerichtet,  das  ist  die  durch  das  Staalsgrundgeselz  ge- 
wähi'leistete  Gleichheit  vor  dem  Gesetz,  die  Staalsgiuudgeselze  hätten  um- 
so viel-  Bedeutung  wie  ein  Wisch  Papiei,  "sie  gelten  uui-  für  bestimmte 
Klassen  riffentlich  und  vor  mehreren  Ironien  zur  Verachtung  und 
zum  Haß  wider  die  Staatsverwaltung  umt  durch  die  i)ei  der 
Versammlung  in  G  r  ü  n  w  a  1  d  gemachte  Außeiung  anci)  zur  V  e  i-  acht  u  n  g 
u  n  d  z  u  m  II  a  ß  w  i  d  e  r  il  i  e  V  e  r  f  a  s  s  u  n  g  il  e  s  It  e  i  c  h  e  s  a  u  f- 
/ureizeu  gesuchl,  biedurrh  das  Verbrechen  der  Störung  der  öffentlichen 
Rohe  nach  §  65  a  St.-G.,  stiathar  nacdi   i?  (iö   St.-G.,  begangeu. 

2.  Er  habe  durch  die  am  2.  Jänner  1893  in  Dessen  dort  m  der 
Wanderversammlung  des  ])olitischen  Vereines  ..Vorwärts"  gehaltene  Rede, 
uisbesondere     durch     die    .\ulJerungen :      ..Etwas     anderes     fi-eilich    mit    der 

*)  Für  den  unzusaramenhängenden  l'nsinn.  der  in  den  inkriminieilen 
Stellen  vorkommt,  bitten  wir,  nicht  den  Redner  verantwortlich  zu  machen. 
siuidi-rn  den  „Stenographen".  Herrn  sUid.  jur.  .\dolf  X  i  t  s  c  h  e.  des.cen 
Arbeit   (jeni  Staa1<anwalt  das  Material  liefei-te. 


Die  Schwurgeric'ht^verhautllung  in  Keichenberg  125 

Kirche;  mit  der  Kirche,  insofern  sie  Religion  predigt  und  verwaltet,  haben 
Wir  nichts  zu  tun.  Was  einer  glaubt,  wiederhole  ich,  ist  uns  gleichgültig. 
Em  Satz  unseres  Programms  lautet:  «Religion  ist  Privatsache.o<  Aber  was 
wir  wollen,  ist  das;  Wenn  einer  glaubt,  dann  soll  er  glauben,  w^eil  er 
glaubt,  weil  er  durcli  t^hrliches  Nachdenken  es  für  wahr  hält.  Was  wir 
aber  nicht  wollen,  ist,  daß  die  Kinder  von  Jugend  auf  hineingezwängt 
werden  in  eine  Richtung,  wo  sie  nicht  mehr  umkehren  können;  das  ist  auch 
nicht  mehr  Glaube,  das  ist  Gewohnheit,  das  ist  Knechtung,  und  die  Geistes- 
knechtschafl,  gegen  die  sind  wir,  wir  wollen  freie  Menschen  haben"  — 
öffentlich  der  Religion  Verachtung  l)t' zeigt  und  hiedurch  das 
im    §  122  b    St.-6.   bezeichnete   Verbrechen   der    Religionsstörnng   begangen. 

3.  a)  Er  habe  durch  ihe  am  18.  Jänner  1893  in  W  lesen  t  ha  1  in 
der  Versammlung  des  politischen  Vereines  „Vorwärts"  gehaltene  Rede,  ins- 
besondere durch  die  Äußerung:  „daß  von  den  österreichischen  Gerichten 
wahre  Bluturteile  gefällt  werden"  —  öffentlich  und  voi-  mehreren  Leuten 
durch  Schmähungen  d  i  (>  Entscheidungen  der  R  e  li  i\  r  d  e  n 
herabzuwürdigen   gesucht. 

b;  Ferner  durch  die  am  17.  Jänner  1893  in  R  e  i  c  h  e  n  a  u  m  der 
Versammlung  des  politischen  Vereines  „Vorwärts"  gehaltene  Rede,  ins- 
besondere durch  die  Äußerung:  „daß  der  Reichsrat  in  seiner  Zusammen- 
setzung nur  die  Vorteile  des  Großgrundbesitzers  und  Großkapitals  im  Auge 
hat,  daß  nur  solche  Gesetze  geschaffen  werden,  welche  dieser  Richtung 
entsprechen,  und  daß  dabei  die  Bauern  und  noch  mehr  die  Arbeiter  schlecht 
wegkommen." 

c)  Ferner  durch  die  am  20.  Jänner  1893  m  S  c  h  u  m  b  u  r  g  in  der 
Versammlung  des  politischen  Vereines  -.Vorwärts"  gehaltene  Rede,  ins- 
besondere durch  die  Äußerung:  „Wird  im  Abgeordnetenhause  etwas  Volk.-> 
Ireundliches  gemacht,  so  haben  wir  ein  Herrenhaus,  um  es  zu  vernichten" 
—  öffentlich  und  vor  mehreren  Leuten  durch  Schmähungen  a  n  d  e  r  <" 
zum  Hasse  und  zur  Verachtung  gegen  eines  der  beiden 
Häuser  des  Reichsrates  aufzureizen  gesucht  und  hiedurch  das 
1111  §  300  St.-G.  und  beziehungsweise  auch  im  Art.  IIL  d.  Ges.  v.  17.  Dez. 
1862,  Z.  8,  R.-(!.-Bl.,  bezeichnete  Vergehen  gegen  die  öffentliche  Ruhe  nnd 
Ordnung  begangen. 

i.  a)  Er  habe  durch  die  am  2.  Jänner  1893  m  1)  c  s  s  c  n  d  o  r  f  m  der 
Wanderversammlung  des  politischen  Vereines  „Vorwärts"  gehaltene  Rede, 
insbesondere  durch  die  Äußerungen: 

„Der  Jude  Rothschild  verträgt  sich  mil  allen  Erzbischöfen  ganz  aus 
$:.ezeichnet,  und  die  Großjuden  und  Großklerikalen  sind  einig  unter  einem 
Haufen,   wenn    es    losgeht  gegen    die  Arbeiter,  gegen   die   Ausgebeuteten    .  .  . 

Warum  läßt  sich  der  Mensch  das  gefallen?  Es  entsteht  die  Frag'', 
nachdem  Hunderte  und  Tausende  von  Menschen  sind,  die  von  einzelnen 
-ich  im  Schach  halten  lassen,  nachdem  die  Majorität  gedrückt  ist  und  eine 
iranz  dünne  Schicht,  die  drüber  lebt,  warum  lassen  sich  die  Vielen  ge- 
lallen,  von  Wenigen  ausgebeutet  und  geknechtet  zu  werden:  Warum?  Sie 
hätten  ja  die  Macht,  es  zu  tun*"; 

b)  ferner  durch  die  am  17.  Jänner  1893  in  Reichenau  gehalteiif 
Rede,  insbesondere  durch  die  Äußerung:   „Der  Kapitalismus  saugt  das  Volk 


126  Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichen berg 

gänzhch  aus,  der  Militarismus  hängt  mit  dem  Kapitalismus  zusammen, 
und  das  ausgesogene  Volk  muß  zuerst  neue  Gewehre  kaufen,  sodann  die 
eigenen  Söhne  zum  Militär  schicken,  damit  sie  das  ihm  gestohlene  Kapital 
in  Schutz  nehmen,  damit  es  den  Reichen  niemand  stehle"  —  andere  zu 
Feindseligkeiten  wider  einzelne  Klassen  und  Stände 
der  bürgerlichen  Gesellschaft  zu  verleiten  gesucht  und  hieduroh 
das  im  §  302  St.*G.  bezeichnete  Veigehen  gegen  die  öffentliche  Ruhe  und 
Ordnung  begangen. 

5.  Er  habe  durch  die  am  2.  Jänner  1893  in  Dessendorf  m  der 
Wanderversammlung  des  politischen  Vereines  „Vorwärts"  gehaltene  Rede, 
insbesondere  durch  die  Äußerung:  „Ja,  aber  wir  sind  auch  Feinde  des 
Eigentums.  Was  ist  denn  das  heutige  Eigentum?  Haben  Sie  es  sich  über- 
legt? Woher  ist  denn  die  einzige  Sanktion,  die  einzige  Heiligung  des 
Eigentums?  Welches  Eigentum  ist  heilig?  Ist  das  Eigentum  heilig,  das 
davon  herrührt,  daß  nach  dem  Dreißigjährigen  Kriege  die  Sieger  halb 
Böhmen  an  ein  paar  Ritter  verteilt  haben?  Ist  dieses  Eigentum  heilig?  Ist 
das  Eigentum  heilig,  das  aufgebaut  ist  auf  der  Ausbeutung  von  Tausenden 
von  Menschen  in  Fabriken,  das  einem  m  den  Schoß  fällt,  der  nicht  weiß, 
was  er  damit  machen  soll?  Heilig  ist  das  Eigentum,  welches  auf  eigener 
Arbeit  beruht,  wir  wollen  das  Eigentum  erst  wieder  heilig  machen,  wir 
wollen  dem  Volke  das  Eigentum  zurückgeben"  —  öffentlich  und  vor 
mehreren  Leuten  die  Rechtsbegriffe  über  das  Eigentum  zu 
erschüttern  versucht  und  hiedurch  das  im  §  305  St.-G.  bezeichnete 
Veigehen  gegen  die  öffentliche  Rnhe  und  Ordnung  begangen. 

6.  a)  Er  habe  durch  die  obige  in  Dessendorf  gehaltene  Rede, 
msbesondere  durch  die  erwähnten  Äußerungen  von:  „Aber  das  heutige 
Militär"  bis  „als  der  Kapitalismus  besteht"; 

b)  durch  die  obige  in  Reichenau  gehaltene  Rede,  insbesondere 
durch  die  Äußerungen:  „Das  Militär  ist  hier  nicht  zum  Schutze  der  Völker, 
sondern  zum  Schutze  der  kapitalistischen  Wirtschaft;  die  Kapitalisten 
fürchten,  damit  nicht  einmal  die  ausgebeutete  Masse  sie  frage,  wozu  eigent- 
lich die  Reichtümer  aufgespeichert  wurden;  insbesondere  der  Bauer,  dem 
das  Geld  für  die  Schießprügel  herausgepreßt  wird,  muß  diese  Schießprügel 
selbst  in  die  Schlacht  fürs  Vaterland  als  Kanonenfutter  tragen,  und  wird 
er  zum  Krüppel  geschossen,  so  daß  ihm  Arm  und  Bein  weggeschossen  wird, 
dankt  ihm  das  Vaterland,  wenn  es  gut  geht,  mit  der  Drehorgellizenz . .  ." 
und  die  oben  erwähnten  Äußerungen  von;  „der  Kapitalismus  saugt"  bis 
„den  Reichen  niemand  sichle"; 

c)  durch  die  obige  in  W  i  e  s  e  n  t  h  a  1  gehaltene  Rede,  insbesondere 
durch  die  Äußerungen:  „Daß  das  Militär  nicht  wegen  der  äußeren  Gefahr 
vorhanden  ist,  sondern  lediglich  zum  Schutze  der  vollgefüllten  Kassen  der 
Großkapitalisten;  nicht  die  russischen  Bauern  sind  es,  die  mit  unseren 
Bauern  Krieg  führen  wollen,  sondern  das  durch  die  Arbeit  des  Volkes  an- 
gesammelte Kapital  ist  es,  welches  den  Schutz  der  Gewehre  braucht  .  .  . 
Die  Vortrefflichkeit  unserer  Waffen  mußte  an  den  Arbeitern  erprobt  werden, 
wie  die  Affäre  in  den  Kohlenrevieren  im  Jahre  1891  nachweist  . . .  Daß 
iler  arme  Mann  den  Schießprügel  tragen  muß.  daß  er  mit  demselben  gegen 


Die  Schwurgerichts  Verhandlung  in  Reichenber.s:  127 


seinen  ^litmensehen  kämpfen  muß,  daß  er  der  Gefahr  ausgesetzt  ist,  Krüpptf 
zu  werden,  und  daß  er  als  Belohinung  dann  einen  Leierkasten  erhält"; 

d)  durch  die  obige  in  G  r  ü  n  w  a  1  d  gehaltene  Rede,  insbesondere  durcli 
•lie  erwähnten  Äußerungen  von:  ,.Der  Bauer  müsse"  bis  -nur  für  bestimmte 
Klassen"; 

e)  durch  die  obige  in  Schumburg  gehaltene  Rede,  insbesondere 
durch  die  Äußerungen:  „Wir  verlangen  auch  die  Beseitigung  des  Militarismus, 
verlangen  allgemeine  Volksbewaffnung,  wir  wollen  das  Volk  erst  recht  be- 
waffnen, wollen  ihm  die  Waffen  in  die  Hände  geben,  die  es  sich  selbst 
machen  muß.  Nun  sagen  einige,  der  Militarismus  muß  sein.  Sie  haben  unter 
den  Liberalen  eine  Menge,  die  der  Friedensliga  angehören.  Sie  kommen 
vom  Friedenskongreß  hernach  zurück,  und  als  Abgeordnete  bewilligen  sif 
126  Millionen  für  Bajonette  und  Kanonen.  Sie  können  das  leicht  tun,  sie 
tun  es  nicht  aus  ihrem  Sacke.  Der  Bauer  muß  sich  plagen  und  muß 
schwere  .Schulden  machen,  damit  sein  Sohn  ein  ordentliches  Gewehr  be- 
kommt, damit  sein  Sohn  eine  Mordwaffe  bekommt;  wenn  er  dann  zum 
Opfer  fällt,  in  der  Schlacht  ein  Krüppel  wird,  was  dann?  Wo  finden  Sie 
die  Post,  wo  für  die  Krüppel  gesorgt  wird?  Wir  finden  sie  auf  der  Straße. 
Sie  wissen,  wie  es  den  Invaliden  geht.  Man  sagt,  das  Militär  ist  notwendig, 
weil  wir  Feinde  von  außen  zu  fürchten  haben.  Jeder  Staat  geht  darauf  aus. 
sich  und  andere  bankrott  zu  machen.  In  jedem  Lande  wird  wahnsinnig  ge- 
rüstet, der  Schluß  muß  der  allgemeine  Bankrott  sein.  Gegen  unsere 
Feinde?  Nein!  Glauben  Sie  ja  nicht,  daß  das  der  einzige  und  wichtigste 
Grund  ist.  Der  Militarismus  ist  nur  notwendig  für  die  Kapitalisten,  für 
die  Gesellschaft,  diese  braucht  ihn.  um  die  große  Masse  im  Zaune  zu 
halten.  Sehen  Sie  sich  den  Zustand  der  Gesellschaft  an;  die  große  Masse 
arbeitet  ihr  Leben  lang,  mit  dem  Resultat,  daß  sie,  wenn  sie  begraben  wird, 
genau  so  arm  ist  wie  bei  der  Geburt.  Wohin  ist  die  Frucht  ihrer  Arbeit? 
Es  ist  doch  mehr  gearbeitet  worden,  als  verbraucht  wurde.  Es  ist  angehäuft 
worden.  Da  liegt  nun  die  Gefahr  nahe,  daß  einmal  die  Leute  nachsehen, 
ob  nicht  schon  genug  da  ist  für  alle.  Das  darf  nicht  sein,  da  muß  vor- 
siesorgt  werden;  dieselben  Leute,  die  die  Schätze  angehäuft  haben,  müssen 
die  Waffen  schmieden,  und  müssen  Posten  stehen  vor  diesen  Kassen  . .  . 
.iber  je  größer  die  Armeen  werden,  desto  mehr  Sozialdemokraten  kommen 
hinein.  Davor  fürchten  sie  sich  am  meisten.  Die  Sozialdemokratie  ist  die 
Partei,  welche  will,  daß  dem  Proletariat,  den  Ai heitern  die  Möglichkeit  zu 
ihrer  Befreiung  gegeben  wird''  —  öffentlich  und  vor  mehreren  Leuten  die 
kaiserliche  Armee  ohne  Anführung  bestimmter  Tat- 
sachen verächtlicher  Eigenschaften  geziehen  un.l 
dem  iiffentlichen  Spotte  ausgesetzt,  und  er  habe  hiedurch  die 
im  §  491  St.-G.  und  Art.  V  des  Ges.  vom  17.  Dezember  1872,  Z.  8  R.-G.-Bl., 
bezeichnete  Übertietnng  gegen  die  Sicherheit  der  Ehre  begangen. 

Zu  der  diesfalls  vor  dem  k.  k.  Kreis-  als  Schwurgericht  in  Reichen- 
berg gegen  Dr.  Victor  Adler  verzunehmenden  Hauptverhandlung  sind  als 
Zeugen  Anton  N  i  t  s  c  h  e,  Gemeindevorsteher  in  Dessendorf ,  Adolf 
.\  i  t  s  c  h  e,  stud.  jur.  in  Dessendorf,  Josef  Ullrich,  k.  k.  Bezirkssekretär 
ui  Gablonz,  Wenzel  Schneider,  Lehrer  in  Wiesenthal,  Wilhelm  Flach, 
Polizeikommissär    in    Wiesenthal,    Vinzenz    P  e  u  k  e  r  t,    Gemeindevorsteher 


138  Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg 


in  Rt'ichenau,  Karl  H  o  i  r  i  c  li  l  e  r  m  Reichenau,  Josef  Preußler  in 
Reichenau,  welche  beide  ihre  Aufzeichnungen  mitzubringen  haben,  Anton 
Jäckel,  Gemeindevorsteher  in  Grünwald,  Adolf  Kratz  er  l,  Glaswareiv 
erzeuger  in  Grünwald,  Wenzel  Schöffe  1,  Schlossermeister  m  (irünwald. 
Franz  Jäck'el.  Ökonom  m  Grünwald,  Josef  K  ratze  rt,  Privatier  in 
Grünwald,  Adolf  Bergmann,  Hotelier  in  Gablonz,  Josef  Jacek, 
k.  k.  Bezhkskommissär  in  Gablonz,  Josef  Pochmann,  Gemeindevorsteher 
m  Schumlmrg,  Franz  Simm,  Oberlehrer  in  Dessendorf,  vorzuladen,  ferner 
seien  hiebei  die  Protokolle  doi-  Zeugen  .losef  B  i  1 1  n  e  r,  Wilhelm  Barth 
Heinrich  Simm,  Anton  Lang,  Siegmund  Robitschek,  Josef  Fried- 
r  1  c  h,  Wilhelm  Schier,  Vinzenz  E  n  d  1  e  r,  Josef  A  d  a  m,  ferner  N.  J.  1 , 
Zuschrift  der  k.  k.  Bezirkshauptmannschaft  Gablonz  mit  /.  Übertragung  des 
Stenogramms,  N.  J.  5,  Zuschrift  derselben,  N.  J.  ß,  Zuschrift  der  k.  k.  Polizei- 
direktion Wien,  •/.  ad  Nr.  J.  09,  Übertrag  des  Stenogramms  ■/.,  ad  N.  J.  H, 
Zuschrift  der  k.  k.  B  e  z  i  r  k  s  h  a  u  p  t  m  a  n  n  s  c  h  a  f  t  Gablonz 
mit  7.  Aktum  u  n  d  'l-j  R  e  1  a  t  i  o  n,  7.  N.  J.  24,  Vermögenszeugnis  des 
Dr.  Victor  Adlei-,  N.  J.  2,  14,  t9,  26,  Zuschriften  des  k.  k.  Reichskriegs- 
ministeriums,  vorzidesen   und  die   Orighialstenogramme  vorzulegen. 

Gründe. 

Ende  Februar  1893  fand  die  Wahl  eines  Reichsratsabgeordneten  für 
Kien  Landgemeindewahlbezirk  Reichenberg-Gablonz  statt.  Als  Kandidat  von 
Seiten  der  sozialdemokratischen  Partei  wurde  Dr.  Victor  Adler  aus  Wien 
aufgestellt.  Zur  Unterstützung  dieser  Kandidatur  veranstaltete  der  politiS'Che 
Verein  „Vorwärts"  in  Reichenberg  zahlreiche  Versammhmgen  in  dem  Wahl- 
bezirk, bei  welchen  Dr.  Adler  als  Kandidat  auftrat. 

Gemäß  der  Mitteilung  der  k.  k.  Bezirkshauptmannschaft  Gablonz  hielt 
Dr.  Adler  unter  anderen  in  folgenden  Versammlungen  Reden,  und  zwar  am 
2.  Jänner  in  Dessendorf,  am  17.  Jänner  in  Reichenau,  am  18.  Jänner  in 
Wiesenthal,  am  19.  Jännei'  in  Grünwald  und  am  20.  Jänner  in  Schum- 
burg.  Der  Inhalt  dei'  Reden,  welcher  mit  mehr  oder  weniger  Abweichung  der 
gleiche  war,  hatte  eine  sehr  verhetzende  Tendenz,  so  daß  die  Bezirkshaupt- 
mannschaft die  Aufzeichnungen  über  die  Reden  der  Staatsanwaltschaft  zur 
Strafatntshandlung   ü])ermit teile 

I!  e  d  e  in  Dessendorf. 
Bei  der  Versammlung  in  Dessendorf  unter  dem  Vorsitz  des  Ver- 
einsobmannes Eduard  Zeller  aus  Reichenberg  fungierte  der  Gemeinde- 
vorsteher Anton  Nitsche  als  landesfürstlicher  Kommissär,  während  dessen 
Solm  stud.  jur.  Adolf  Nitsche  die  Rede  des  Dr.  Adler  stenographisch  auf- 
iKihm.  Die  Übertragung  des  Stenogramms  7.  ad  N.  J.  1  enthält  nur  wenige 
Lücken,  welche  den  Sinn  der  Rede  nicht  wesentlich  verändern.  Adolf  und 
Anton  Nitsche,  Franz  .Simm  und  Jf)sef  Bittner  bestätigen  die  Richtigkeil 
dieser  Aufzeichnungen.  Anton  und  Adolf  Nitsche  erklären,  daß  die  Rede 
einen  aufreizenden  Eindruck  machte,  während  sie  nach  Ansicht  des  Wilhelm 
BartI  nichts  Strafbares  enthielt.  Alle  die  Zeugen  sowie  Heinrich  Simm 
stimmeii  darin  überein,  daß  diese  Äußerungen  des  Dr.  Adler  mit  Beifall 
aufgenommen  wurden  und  den  Erfolg  erzielten,  daß  dann  sozialdemokra- 
tische Wahhnänner  gewählt  wurden. 


Die  Sehwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg  129 


Rede   in   R  e  i  c  h  e  n  a  u. 

Bei  der  Versammlung  in  R  e  i  c  h  e  n  a  u,  unter  demselben  Vorsitz, 
fungierte  der  k.  k.  Bezirkssekretär  Josef  Ullrich  als  landesfürstlicher 
Kommissär.  Nach  Angabe  desselben  waren  bei  dieser  sowie  bei  der  Ver- 
sammlung in  Grünwald  ungefähr  300  bis  400  Teilnehmer,  teils  Wähler,  teils 
NichtWähler  anwesend,  von  denen  die  Mehrzahl  dem  Bauern-  und  Klein- 
gewerbestande angehörte.  Die  Hauptsache  der  Versammlung  war  jedesmal 
das  Referat  des  Dr.  Adler.  Derselbe  entwickelte  sein  Programm,  besprach 
die  politische  und  wirtschaftliche  Lage  und  die  Forderungen  der  Sozial- 
demokratie sowie  die  Stellungnahme  zur  Reichsratswahl.  Wenn  auch  kein 
Stenogramm  über  diese  Rede  vorliegt,  so  gibt  doch  .losef  Ullrich  an,  daß 
dieselbe  mit  wenigen  Ausnahmen  denselben  Inhalt  hatte  wie  die  in  Grün- 
wald;  die  oben  verzeichneten  Äußerungen  des  Dr.  Adler,  speziell  in 
Reichenau,  wurden  den  Angaben  der  Zeugen  Josef  Ullrich,  Vinzenz  Peukert, 
Karl  Hofrichter  und  Josef  Preißler  entnommen. 

Alle  diese  Zeugen  gewannen  aus  der  Rede  den  Eindiiick,  daß  der 
Redner  gegen  die  bestehenden  Gesetze  und  die  soziale  Ordnung  aufzureizen 
suchte.  Die  Rede  äußerte  auch  auf  die  Anwesenden  die  beabsichtigte 
Wirkung,  indem  dieselben  einzelnen  Stellen  applaudierten  und  den  Redner 
durch  Zurufe  zum  weiteren  Sprechen  ermunterten;  der  Kommissär  sah  sich 
wiederholt  veranlaßt,  den  Sprecher  zu  unterbrechen;  aus  letzterem  Gründe 
glaubt  auch  der  Zeuge  Anton  Lang,  daß  der  Redner  gegen  das  Gesetz  ver- 
stoßen haben  müsse. 

Rede  in   Wiesenthal. 

Bei  der  Versammlung  in  Wiesenthal  fungierte  der  k.  k.  Bezirks- 
kommissär Josef  Jacek  als  landesfürstlicher  Kommissär.  Wenn  auch  da  keino 
stenographischen  Aufzeichnungen  vorliegen,  so  bestätigen  doch  Josef 
Jacek,  Wenzel  Schneider,  Adolf  Bergmann  und  Josef  Adam  den  Inhalt  und 
Sinn  der  oben  bezüglich  dieser  Rede  angeführten  Äußerungen  des 
Dr.  Adler.  Nach  Angabe  der  Zeugen  Josef  Jacek,  Adolf  Bergmann.  Wilhelm 
Flach  war  die  ganze  Rede  des  Dr.  Adler  sehr  aufreizend,  so  daß  der 
Kommissär  ihn  wiederholt  unterbrechen  ließ.  Auch  der  Eindruck  der  Regie 
auf  die  Anwesenden  war,  nach  dem  Beifall  zu  schließen,  ein  großer;  ebenso 
hatte  sie  dann  den  Erfolg,  daß  in  Wiesenthal  meist  sozialdemokratische 
Wahlmänner   gewählt  wurden. 

Rede  in   Grün  w  a  1  d. 

Bei  dieser  Versammlung  unter  dem  Vorsitz  des  Vereinsobmannes 
Ed.  Zeller  fungierte  der  k.  k.  Bezirkssekretär  Josef  Ullrich  als  landesfürst- 
licher Kommissär.  Derselbe  erstattete  am  anderen  Tage  die  Relation 
^-/i,  N.  J.  1  aus  N.  J.  13)  über  den  Verlauf  der  Versammlung  und  die 
Rede  Dr.  Adlers.  Ebenso  wurden  die  Zeugen  Anton  Jäckel,  Adolf  Kratzert, 
Wenzel  Schöffel,  Franz  Jäckel  und  Josef  Kratzert  sofort  am  20.  Jänner  in 
den  Aktum  (•/.  ad  N.  J.  1)  über  die  wesentlichen  Äußerungen  Dr.  Adlers 
zu  Protokoll  genommen.  Alle  Zeugen  bestätigen  gerichtlich  die  Richtigkeit 
dieser  Aufzeichnungen.  Nach  Angabe  der  Zeugen  wurden  die  aufreizenden 
Stellen    der   Rede    von    demonstrativem   Beifall    der   Anwesenden   be- 


130  Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg 

gleitet.  Letztere  gerieten  immer  mehr  in  Erregung,  so  daß  der  Kommissär 
dem  Redner  nach  wiederholter  Androhung  das  Wort  entziehen  ließ.  Da 
hierüber  eine  lärmende  Demonstration  der  Versammlung  erfolgte,  so  erklärte 
der  Kommissär  dieselbe  für  aufgelöst. 

Rede    in    S  c  h  u  m  b  u  r  g. 

Bei  dieser  Versammlung  fungierte  derselbe  landesfürstliche  Kom- 
missär und  wurde  über  die  Rede  Dr.  Adlers  ein  Stenogramm  auf- 
genommen, dessen  Übertragung  unter  •/.  ad  N.  J.  12  vorliegt.  Die  Zeugen 
Josef  Pochmann,  Josef  Friedrich,  Wilhelm  Schier  und  Vinzenz  Endler  be- 
stätigen, daß  das  Stenogramm  den  Sinn  der  W'orte  Adlers  mit  ziemlicher 
Treue  wiedergibt.  Nach  Ansicht  des  Josef  Fachmann  hatte  der  Redner  die 
Absicht,  das  Volk  gegen  die  bestehenden  Gesetze  und  gegen  das  Militär  auf- 
zureizen, während  Josef  Friedrich  diese  Absicht  bezweifelt.  Alle  diese 
Zeugen  bestätigen,  daß  die  Äußerungen  mit  Beifall  aufgenommen  und  daß 
dann  Wahlmänner  der  sozialistischen  Partei  gewählt  wurden. 

Der  Beschuldigte  erklärt,  daß  die  Stenogramme,  beziehungsweise 
deren  Übertragung  und  die  Zeugenaussagen  lückenhaft  und  ungenau  sind 
und  in  den  entscheidenden  Punkten  den  Inhalt  seiner  Rede  unrichtig  wieder- 
geben, im  übrigen  verweigert  er  jede  Auskunft  und  behält  sich  seine  Ver- 
teidigung bei  der  Hauptverhandlung  vor.  Dessenungeachtet  ist  der  Sinn  und 
die  Tendenz  seiner  Äußerungen  durch  die  schriftlichen  Aufzeichnungen  im 
Zusammenhang  mit  den  Zeugenaussagen  als  sichergestellt  anzunehmen. 

Was  nun  die  Subsumierung  der  einzelnen  Reden  und  Äußerungen 
unter  das  Strafgesetz  betrifft,  so  werden  in  den  in  Dessendorf,  Reichenau 
und  Grünwald  gehaltenen  Reden,  insbesondere  in  den  unter  i,  a,  b,  c  hervor- 
gehobenen Redewendungen  die  Zustände  im  österreichischen  Vaterland  in 
so  entstellter  und  gehässiger  Weise  dargestellt,  daß  dies  geeignet  ist,  andere, 
namentlich  die  Minderi)emittelten,  zum  Haß  und  zur  Verachtung  gegen 
die  Regierung,  welche  solche  angebliche  Zustände  veranlaßt  oder  wenig- 
stens zuläßt  und  daher  für  sie  verantwortlich  ist,  aufzureizen;  durch  die 
Worte,  daß  die  Staatsgrundgesetze  nur  soviel  Bedeutung  hätten  wie  ein 
Wisch  Papier,  wird  überdies  zu  den  gleichen  Gefühlen  wider  die  Verfassung 
lies  Reiches  aufzureizen  gesucht. 

In  der  Dessendorfer  Rede  wird  ferner  die  Erziehung  der  Jugend 
m  den  Lehren  und  Formen  einer  positiven  Religion  als  unrichtig,  als  bloße, 
erzwungene  Gewohnheit  und  als  Geistesknechtung  bezeichnet,  gegen  welche 
sich  die  Sozialdemokratie  ausspreche;  hiedurch  wird  jedenfalls  der  Religion 
A'erachtung  bezeigt. 

Der  Ausspruch  in  der  Wiesenthaler  Rede,  daß  von  den  österreichi- 
schen Gerichten  wahre  Bluturteile  gefällt  werden,  beinhaltet  in  seinem 
klaren  Sinne  und  im  Zusammenhang  mit  der  ganzen  Rede  den  Vorwurf  der 
Ungerechtigkeit  und  Parteilichkeit,  daher  eine  Schmähung  zur  Herab- 
würdigung der  Entscheidung  der  Behörden. 

Die  Reden  in  Reichenau  und  in  Schumburg  ergehen  sicli  insbesondere 
in  heftigen  Angriffen  gegen  den  Reichsrat, -welcher  als  parteiisch  und  volks- 
feindlich hingestellt  und  daher  so  geschmäht  wird,  daß  gegen  ihn  die  Gefühle 
des  Hasses  und  der  Verachtung  erweckt  werden. 


Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg  131 


Die  Rfden  m  Dessendorf  und  in  Reiohenau  suchen  insbesondere  in  den 
inkriminierten  Äui3erungen  durch  krasse  Hers^orhebung  des  Gegensatzes 
zwischen  reich  und  arm  die  ärmeren  Volksschichten  zu  Feindseligkeiten, 
(las  heißt  zu  feindseligen  Gesinnungen  gegen  die  Besitzenden  und  höher- 
testellten   Klassen    noch   mehr   anzueifern. 

In  der  Dessendorfer  Rede  wird  auch  die  rechtliche  Begründung  des 
heutigen  Eigentums,  hauptsächlich  des  Großgrundbesitzes  und  der  Groß- 
industrie, in  Zweifel  gezogen  und  diesem  Eigentum,  wie  aus  dem  Sinne  der 
vom  Redner  gestellten  Fragen  klar  hervorgeht,  die  Anerkennung  von  seiten 
der  Sozialdemokratie  versagt.  Diese  in  einem  Rechtsstaat  unzulässige  An- 
schauung ist  zweifellos  geeignet,  die  Rechtsbegriffe  über  das  Eigentum  zu 
eischüttem. 

Die  in  allen  fünf  Reden  vorkonunende  Außeixing  über  das  Militär 
richtet  sich  gegen  das  Militär,  wie  es  heute  in  Österreich  zum  Schutze  des 
Vaterlandes  gegen  äußere  und  innere  Feinde  zu  Recht  besteht;  es  wird 
f>eradezu  die  Notwendigkeit  der  Armee  zum  Schutze  gegen  äußere  Gefahren 
ti  e  3  t  r  i  1 1  e  n  und  in  wegwerfender,  gehässiger  Weise  behauptet,  daß  die 
vrmee  zum  Schutze  der  gefüllten  Kassen  der  Reichen,  des  von  ihnen  dem 
Volke  gestohlenen  Kapitals  da  sei. 

Hiedurch  wird  offenbar  die  kaiserliche  Armee  verächtlicher  Eigen- 
schaften geziehen  und  dem  öffentlichen  Spott  ausgesetzt.  Die  Beleidigung 
■ler  Armee  ist  gemäß  Art.  V  des  Gesetzes  vom  17.  Dezember  1862  von  Amts 
wegen  zu  verfolgen  und  liegt  die  hiezu  notwendige  Zustimmung  des  Kriegs- 
ininisters  vor. 

Alle  diese  inkriminierten  Äußerungen  wurden  vom  Beschuldigten 
öffentlich  und  vor  mehreren  Leuten  vorgebracht.  Daß  der  Beschuldigte  die 
zum  Tatbestand  der  obenerwähnten  Straftaten  erforderliche  böse  Absicht, 
die  übrigens  in  den  Worten  selbst  liegt,  hatte,  geht  aus  seiner  Zugehörigkeit 
zur  sozialistischen  Partei,  welche  auf  den  Umsturz  der  staatlichen  und  ge- 
sellschaftlichen Ordnung  abzielt,  hervor.  Auch  besitzt  derselbe  eine  solche 
[nlelligonz  und  Erfahrung,  daß  er  voraussetzen  konnte,  seine  Worte  werden 
bei  den  Anwesenden,  die  teils  zu  den  Anhängern  der  sozialistischen  Idee 
;^ehürten,  teils  zu  solch'en  von  ihm  gewonnen  werden  sollten,  erregend  und 
aufreizend  wirken.  Der  tatsächliche  Erfolg  entsprach  auch  dieser 
Absicht,  da,  wie  oben  gezeigt,  die  Reden  auf  die  Zuhörer  einen 
zündenden   Eindruck     machten. 

Der  Beschuldigte  ist  demnach  aller  ihm  zur  Last  gelegten  Straftaten 
dringend  verdächtig. 

Die  Zuständigkeit  des  k.  k.  Kreis-  als  Schwurgerichtes  Reichen- 
berg ist  in  §§  14.  51,  56  St.P.-O.  und  Art.  2.  24,  25  des  Einführungsgesetzes 
hiezu  begründet. 

24.  Juni  1893.  K.  k.  Staatsanwaltschaft  Reichenberg. 

S  c  h  ö  b  e  1. 

Vorsitzende  r;  Herr  Doktor  Adler,  erklären  Sie  sich  für  schuldig? 

Angeklagter:    Ich    erkläre   mich    für   nichtschuldig. 

Vorsitzender:  Es  steht  Ihnen  frei,  der  Anklage   eine  Erklärung 

entgegenzustellen;  ich  ersuche   aber,  nur   bei   der  Sache  zu   bleiben,   damit 

9* 


132  Die  Scliwuigerichtsverhandlung  in  Reichenberg 

ich  niclit  notwendig  habe,  Abweichungen   von  der  Saclie  durch  eine  Unte'-- 
brechiing  zu  verhindorn. 

Angeklagter:  Ich  werde  von  dieser  Erlaubnis  Ge- 
brauch machen  und  werde  so  kurz  als  möglich  sein.  Aber  die 
Anklage  umfaßt  ein  so  weites  Gebiet,  daß  die  Herren  Ge- 
schwornen  und  der  hohe  Gerichtshof  mir  gestatten  müssen,  ihre 
Geduld  einige  Zeit  in  Aneprucli  zu  nehmen.  Der  Prozeß,  um 
den  es  sich  handelt,  ist  ein  politischer  Prozeß,  der  Prozeß 
ist  ein  T  e  n  d  e  n  z  p  r  o  z  e  ß.  Ks  ist  daher  vor  allem  nötig,  die 
Umstände  feetzustellen,  unter  welchen  all  die  Delikte  begangen 
worden  sein  sollen.  Im  Jahre  1891  im  Frühjahr  fanden  zum 
ersten  Male  in  Österreich  Wahlen  in  den  Reichsrat  statt,  an 
welchen  die  Sozialdemokratie  teilnahm.  Zum  ersten  Male 
wurden  Kandidaten  aufgestellt,  allerdings  ohne  die  Aussicht, 
sie  durchzubringen,  aber  mit  der  Absicht,  ihre  Grundsätze 
zu  verbreiten  und  um  sich  nach  und  nach  in  den  mittleren 
Schichten  Anhänger  zu  gewinnen.  Ich  hatte  damals  schon  die 
Ehre,  für  den  Eeichratswahlbezirk  Reichenberg-Land  als 
Kandidat  aufgestellt  zu  werden  und  habe  damals  eine  Reihe  von 
Versamlungen  abgehalten,  und  zwar  überall,  in  der  Bezirks- 
liauptmannechaft  Reichenberg,  m  der  Bezirkshauptmannschaft 
Friedland,  in  Rochlitz  drüben,  ohne  die  geringsten  Schwierig- 
keiten, ohne  jeden  Anstand.  In  der  Bezirkshauptmannschaft 
G  a  h  1  o  n  z  aber  wurden  unsere  Versamlungen  von  der  Bezirks- 
hauptmannschaft gestört;  es  wurden  in  Morchenstern  und 
Wiesenthal  sowohl  der  Herr  Bezirkskommissär  als  auch  die 
Gendarmerie  aufgeboten  und  Leute,  die  nicht  Wähler  waren, 
nicht  zugelassen.  Ich  erwähne  das,  um  zu  begründen,  Avarum 
wir  bei  der  nächsten  Reichsratswahl  etwas  anders  vor- 
gegangen sind. 

Es  ist  ungefähr  ein  Tahr.  daß  Herr  Müller,  der  Abge- 
ordnete jener  Bezirke,  starb,  und  es  war  eine  Nachwahl  nötig: 
ich  wurde  neuerdings  als  Kandidat  aufgestellt.  Ich  habe  wieder 
etwa  30  Versammlungen  abgehalten.  Sie  waren  alle  einberufen 
vom  politischen  Verein  „Vorwärts";  es  waren  nicht  eigentliche 
Wählerversammlungen,  sondern  es  waren  öffentliche  Wander- 
versammlungen. Wir  haben  diese  Form  für  die  Wahlagitation 
wählen  müssen,  weil  gerade  in  der  Bezirkshauptmannschaft 
G  a  b  1  o  n  z  von  vornherein  die  Stimmung  war,  die  sozial- 
demokratische Agitation  in  jeder  Weise  einzuschränken  und  vor 


Die  Schwurgerichtsverhandlung-  in  Reichenberg  l'iS 

iillem  die  Versammluugen  so  zu  gestalten,  daß  diejenigen,  die 
nicht  Wähler  sind,  die  nicht  das  Eecht  haben,  einen  Abge- 
ordneten zu  wählen,  nicht  einmal  hören  können,  wie  er  sich 
etwa  verantworte,  und  ihre  Anforderungen  an  ihn  zu  stellen. 
Wir  aber  sind  von  der  Voraussetzung  ausgegangen,  daß,  wenn 
auch  zwei  Drittel  der  Bevölkerung  vom  Wahlrecht  ausge- 
fchlossen  sind,  der  Abgeordnete,  trotzdem  er  nur  ein  Drittel  zu 
vertreten  hat,  auch  in  die  Interessen  der  zwei  ausgeschlossenen 
Drittel  einzugreifen  habe,  mithin  auch  die  Verpflichtung,  sich 
auch  mit  den  Nicht  Wählern  auseinanderzusetzen.  Die  Auf- 
fassung der  Gablonzer  Bezirkshauptmannschaft  war  die  ent- 
gegengesetzte, wir  mußten  darauf  gefaßt  sein,  daß  mit  Waffen- 
ii:ewalt  die  Nichtwähler  ausgeschlossen  würden,  daß  es  deshalb 
wieder  zu  ganz  erheblicher  Aufregung  kommen  würde.  Es  sind 
also  vom  politischen  Verein  ., Vorwärts"  Versammlungen  ver- 
anstaltet worden,  welche  aber  ihren  Sinn  und  Bedeutung  als 
Wählerversammluugen  für  die  Eeichsratswahl  hatten.  Außer- 
dem ist  zu  bemerken,  daß  ein  Gegenkandidat  damals,  als  ich  die 
Versanunlungen  hielt,  noch  nicht  aufaestellt  war,  aber  es  war 
schon  sicher,  daß  nur  die  liberalePartei  einen  solchen 
aufstellen  würde.  Ich  habe  also  wieder  Versammlungen  abge- 
lialten,  und  zwar  in  der  Bezirkshauptmannechaft  Reichen- 
b  e  r  g  etwa  14  Versammlungen.  Es  wurde  von  selten  des 
löblichen  Kreisgerichtes  von  dieser  Bezirkshauptmannschaft  ein 
(rutachten  abverlangt,  und  die  Bezirkshauptmannschaft  fand, 
(laß  keine  Veranlassung  zur  Einleitung  einer  Straf- 
auitshandlung  vorgelegen  sei.  Ich  habe  in  der  Bezirkshaupt- 
uiannschaft  F  r  i  e  d  1  a  n  d  neun  Versammlungen  altgehalten, 
und  auch  diese,  die  mir  sein*  ängstlich  oder  sehr  sorgfältig 
hinterher  war,  hat  nichts  gefunden,  was  eine  Ausschreitung  be- 
deutet hätte,  wie  ja  aus  dem  Protokoll  hervorgehen  wird.  In  der 
Bezirkehauptmannschaft  Starke  n  b  a  c  h  habe  ich  unter 
anderem  unmittelbar  nach  den  beanständeten  Versammlungen 
zwei  Reden  gehalten  —  sie  wurden  nicht  als  sträflich  erachtet. 
Nun  ist  eine  solche  Agitationstour  eine  anstrengende  Sache 
und  man  hat  immer  über  dieselben  Dinge  zu  sprechen.  Man 
sjiricht  ja  verschieden  nach  dem  Publikum:  vor  einem  bäuer- 
lichen wird  man  mehr  die  agrarischen,  vor  einem  kleingewerb- 
lichen mehr  die  kleingewerblichen  Gegenstände  berühren.  Aber 
wenn    ich  noch   viel   ..intelligenter'*  wäre,  als  zu  sein  der    Herr 


IM  Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Keichenberg 

Staatsanwalt  mir  das  Kompliment  macht,  wäre  e?  mir  nicht 
möglich,  in  30  Versammlungen  binnen  drei  Wochen  ver- 
schiedene Reden  zn  halten.  Es  sind  also  diese  Reden  im  wesent- 
lichen, in  den  Grundzügen  dieselben.  Sie  bewegen  sich  überall 
um  zwei  Dinge:  erstens  um  dieEntwicklung  des  sozialdemokra- 
tischen Programms,  und  zweitens  um  die  Kritik  der  heutigen 
Verhältniisee,  der  wirtschaftlichen  in  erster  Linie,  der  politi- 
schen *in  zweiter,  speziell  unserer  Wahlordnung  und  politischen 
Gesetzgebung  überhaupt.  Ich  habe  also,  das  darf  ich  ruhig 
sagen,  in  Reichenberg  genau  so  „aufreizend"  und  „verhetzend"' 
gesprochen  wie  in  Gablonz,  ich  habe  am  22.  Jänner  in  H  a  r- 
r  a  c  h  e  d  o  r  f  ebenso  „aufgereizt"  wie  am  20.  Jänner  in  Schum- 
burg.  Dazu  kommt  noch  ein  umstand.  Die  Dessendorfer  Rede, 
die  am  meisten  inkriminiert  ist,  hielt  ich  am  2.  Jänner.  Die  An- 
zeige an  das  Kreisgericht  erfolgte  aber  nicht  nach  dieser 
Rede,  sondern  erst  nachdem  die  Wahlagitation  in  (Jablonz  im 
vollen  Zuge  war,  nachdem  ich  noch  weitere  fünf  Reden  ge- 
halten hatte,  also  um  drei  Wochen  später.  Und  noch  eines.  Ich 
habe  am  17.  Jänner  in  Reichenau,  am  18.  in  Wiesenthal,  am 
19.  in  Grünwald  gesprochen.  In  der  Anklageschrift  wird  mir 
aus  der  Auflösung  der  Versammlung  ein  Verbrechen  gemacht. 
Die  Auflösung  ist  nicht  etwa  erfolgt  wegen  Verhetzung  gegen 
das  Eigentum  oder  wegen  Aufreizung  zu  Haß  und  Verachtung 
gegen  Gesetze  .oder  dergleichen.  Die  Auflösung  erfolgte,  wie 
durch  Zeugen  und  durch  ein  vom  Regierungpjvertretor  unter- 
zeichnetes Protokoll  bewiesen  w^erden  wird,  wegen  Beleidigung 
der  liberalen  Partei.  Nach  dieser  Versammlung  in  Grünwald 
habe  ich  in  Schumburg  am  20.  Jänner  gesprochen,  die  ebenfalls 
eine  der  belastendsten  sein  soll.  Nun,  dieselbe  Bezirkshaupt- 
mannschaft, welche  mich  am  20.  für  einen  so  gefährlichen 
Menschen  halten  mußte,  nachdem  sie  mich  schon  fünfmal  reden 
gehört  hatte,  ließ  mich  am  21.  auf  ihrem  Gebiet  in  Oberpolaun 
reden,  wo  ich  dasselbe  sprach,  und  die  Rezirktshau])tmannschaft 
mußte  voraussetzen,  daß  ich  dasselbe  sprechen  würde,  aber  diese 
Versanunlung  bildet  nicht  den  Gegenstand  einer  Anklage. 
Und  warum  nicht?  Es  war  etwas  Schneewetter,  und  die  löbliche 
Rezirkshauptnuuiusehaft  hat  gefunden,  daß  es  doch  noch  ge- 
fährlicher sei,  wenn  sich  ein  Kommissär  nach  Oberpolaun  ver- 
füge, als  wenn  ich  <lort  den  I'msturz  predige:  sie  hat  vorge- 
zogen,  keinen  Kommissär  hinzuschicken.      Ich   konstatiere   das 


Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg  135 

hier,  weil  icli  voraussetze,  daß  die  Bezirkshauptmannschaft 
Gablonz,  wenn  sie  bereits  am  21.  Jänner  der  Ansicht  gewesen 
wäre,  daß  es  da  so  gefährliche  Dinge  gebe,  60  viele  Verbrechen 
begangen  werden,  es  dann  mit  ihrer  Amtspflicht  ernst  genug 
genommen  hätte,  um  trotz  des  Schneewetters  nach  Oberpolaun 
einen  Kommissär  zu  schicken.  Die  Vertretung  der  Dinge,  die 
mir  zu  Last  gelegt  werden,  ist  gewiß  keine  leichte,  und  zwar 
darum,  weil  ich  bestreite,  sehr  vieles  davon  gesagt  zu  haben : 
davon  aber,  was  ich  gesprochen,  ziehe  ich  kein  Wort 
zurück,  das  halte  ich  für  wahr,  nur  bin  ich  überzeugt,  daß  es 
dem  Strafgesetz  nicht  widerspricht.  Anderseits  ist  die  Anklage 
auf  zwei  sogenannten  „Stenogrammen"  aufgebaut.  Das  eine 
stammt  von  einem  Studiosus  juris,  der  auf  meine  Frage,  warum 
er  stenographiere,  antwortete,  er  tue  es  nur  zu  seiner  Übung, 
und  dessen  Vater,  der  Gemeindevorsteher  von  Dessendorf ,  sagte, 
er  wolle  nur  wissen,  „ob  der  Junge  schon  etwas  gelernt  habe", 
l'nd  jetzt  ist  dieses  „Stenogramm"  dieses  Jüngers  der  Wissen- 
schaft eines  der  belastendsten  Materiale!  Das  zweite  Steno- 
gramm von  Schumburg,  dessen  Verfasser  unbekannt  geblieben 
ist,  wird  dadurch  charakterisiert,  daß  vier  Bela.'^tungszeugen 
erklären,  daß  es  den  Sinn  der  Worte  „mit  ziemlicher  Treue" 
wiedergebe.  Bei  Stenogrammen  gibt  es  nichts  „ziemlich 
Treues",  entweder  ist  es  eine  mechanische  Wiedergabe  der 
Worte,  die  ich  gesprochen  habe,  oder  es  ist  eine  Aussage 
irgendeines  Anwesenden.  Ich  bekenne  nun  vollständig,  daß  ich 
alle  die  Dinge  berührt  habe,  konstatiere  aber,  daß  die  Stellen, 
welche  die  Anklage  vorbringt,  aus  dem  Zusammenhang  ge- 
rissen, ungetreu,  ungenau  und  lückenhaft  wiedergegeben  sind, 
und  daß  dadurch  vielfach  ein  ganz  falscher  Sinn  entstanden  ist. 
Es  sind  mir  so  zahlreiche  Verbrechen,  Vergehen  und 
Übertretungen  zur  Last  gelegt,  als  man  überhaupt  anständiger- 
weise begehen  kann.  Ich  fange  mit  den  „V  erbrechen"  an. 
Ich  soll  gesagt  haben;  „Die  Spitzbuben  fehlen  bei  uns  zwar 
auch  nicht,  nur  daß  sie  bei  uns  nicht  eingesperrt  werden."  Das 
soll  begründen  die  Störung  der  öffentlichen  Ruhe  und  Auf- 
reizung zum  Haß  oder  zur  Verachtung  wider  die  Regierungs- 
form oder  die  Staatsverwaltung  nach  §  65  a.  Ich  könnte  mich 
ja  billig  aus  der  Affäre  ziehen  und  sagen,  daß  das  der  allge- 
meine Vorwurf  sei,  daß  die  Polizei  überall  eine  Anzahl  Spitz- 
buben nicht  erwischt,   sogar  im  Gablonzer  Bezirk   soll  das  vor- 


136  Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg 

gekommen  sein.  Das  wäre  die  allgemeine  Klage  der  Bürger,  daß 
die  größten  Räuber  nicht  erwischt  werden;  aber  diese  Art  der 
Verantwortung  paßt  mir  nicht,  weil  sie  nicht  wahr  wäre.  Ich 
habe  in  Dessendorf  jene  Stelle  in  folgendem  Zusammenhang 
gesagt:  Die  Rede  hat  als  Thema  die  Forderungen  der  »Sozial- 
demokratie gehabt;  ich  habe  damit  angefangen,  was  die  Sozial- 
demokratie wäll,  daß  man  über  dieselbe  sehr  falsche  Ansichten 
habe,  daß  sie  von  den  verschiedenen  Parteien  natürlich  sehr 
verurteilt  werde,  daß  aber  ihre  Bedeutung  fortwährend  zu- 
nehme; heute  sei  sie  sogar  schon  die  zahlreichste  Partei  nicht 
nur  in  Deutschland,  sondern  auch  in  England,  ja  vielleicht  auch 
in  Österreich,  wo  wir  es  bisher  noch  nicht  konstatieren  können, 
weil  wir  kein  Wahlrecht  haben.  Ich  habe  die  einzelnen  Länder 
besprochen  und  bin  auch  auf  Frankreich  gekommen.  Dort  war 
gerade  die  Panamageschichte  los  und  ich  habe  ungefähr  ge- 
sagt :  Sehen  Sie  hinüber  nach  Frankreich ;  die  korrupte  Re- 
publik, die  einer  noch  korrupteren  Monarchie  gefolgt  ist,  wird 
durch  einen  Skandal  zerfressen;  und  fügte  nun  hinzu:  Man 
soll  aber  nicht  etwa  Pharisäer  sein  und  sagen,  Gott,  wir  danken 
Dir,  daß  wir  besser  sind  als  diese  da;  auch  bei  uns  sind  solche 
Spitzbuben  vorhanden,  nur  hängt  man  die  politische  Kor- 
ruption nicht  so  an  die  große  Glocke,  nur  spricht  man  darüber 
nicht  so  in  den  Zeitungen,  weil  wir  Preßzustände  haben,  wie 
sie  eben  sind,  weil  das  Parlament  nicht  die  Macht  hat  wie  in 
Frankreich,  und  darum  werden  sie  nicht  eingesperrt.  Das  zu 
konstatieren  soll  nun  ein  Verbrechen  sein.  Ich  könnte  eine  ganze 
Reihe  von  Fällen  anführen,  wo  Spitzbübereien,  wo  politische 
Korruption  in  Österreich  öffentlich  konstatiert  wurde  und  nicht 
<iazu  geführt  hat,  daß  die  Leute  eingesperrt  wurden,  wie  bei 
einzelnen  der  Panamabestochenen.  Sie  erinnern  sich  an  den 
Länderbankskandal  im  österreichischen  Abgeordnetenhaus,  wo 
die  Namen  R  a  p  p  a  p  o  r  t,  aber  auch  K  o  s  1  o  w  s  k  i,  Graf 
Wodzicki,  der  Gouverneur  der  Länderbank,  Ritter 
V.  Hahn,  eine  große  Rolle  gespielt  haben;  Sie  erinnern  sich 
an  die  T  r  a  n  s  v  e  r  s  a  1  b  a  h  n  geschichte,  die  darauf  folgte, 
und  bei  welcher  außer  diesen  Herren  auch  noch  ein  Name  eine 
Rolle  spielte,  der  heute  zu  besonderer  Perühmtheit  gekommen 
ist,  der  des  Grafen  S  t  a  d  n  i  c  k  i.  Damals  hat  eine  ünter- 
-uchungskommission  über  jene  unter  dem  Namen  K  a  m  i  n  s  k  i- 
A  f  f  ä  vp  liekainitc  Sache  im  Parlament  stattaefunden.  und  die 


Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg  l^T 


liberale  Minorität  hat  einen  Ausschußantrag  gestellt,  daß  dem 
Herrn  Abgeordneten  K  o  s  1  o  w  s  k  i  von  selten  des  Abge- 
ordnetenhauses wegen  seines  Vorgehens  anläßlich  seiner  Be- 
teiligung von  Seiten  der  österreichischen  Länderbauk  am  2.  Ok- 
tober 1882  mit  einer  Summe  von  über  60.000  fl.  das  Bedauern 
ausgesprochen  werde.  Damals  war  aber  die  Linke  im  parlamen-, 
tarischen  Ausschuß  in  der  Minorität,  der  Antrag  kam  gar  nicht 
zur  Debatte.  Die  Herren  Polen  haben  es  verstanden,  ihre 
Ko.slowskis  zu  schützen.  Sie  erinnern  sich,  wie  einige  Jahre 
später  ein  Angriff  auf  den  damaligen  Handelsminister  P  i  n  o 
von  selten  des  Abgeordneten  S  t  e  i  n  w  e  n  d  e  r  gemacht  wurde 
in  der  Frage  gewisser  böhmischer  Bahnen,  wo  sehr  verdächtige 
Beziehungen  des  Handelsministers  festgestellt  wurden,  wo  ein 
ganzes  Netz  von  Korruption  enthüllt  wurde,  aber  eingesperrt 
wurde  keiner.  Vor  ganz  kurzer  Zeit  hat  sich  folgendes  ereignet: 
Da  hatte  einer  der  polnischen  Führer  eine  Audienz  beim 
Kaiser,  es  handelte  sich  um  das  Kriegsbudget,  es  handelte  sich 
um  die  Aussichten  für  einen  nächsten,  etwa  zu  gewärtigenden 
Krieg.  Merkwürdigerweise  standen  darauf  angebliche  Äuße- 
rungen des  Kaisers  im  „Wiener  T  a  g  b  1  a  1 1",  geleitet  von 
Herrn  M  o  r  i  t  z  S  z  e  p  s,  zu  lesen.  Darauf  war  eine  große 
Spekulation  gebaut,  welche  Millionen  „ins  Verdienen"  gebracht 
hat;  und  als  darauf  eine  Interpellation  im  Abgeordnetenhaus 
an  die  Regierung  und  den  Polenklub  gestellt  wurde,  man  möge 
den  Spitzbuben  suchen,  man  möge  untersuchen,  wie  das 
„Wiener  Tagblatt"  denn  zu  diesen  falschen  oder  wahren  Nach- 
richten über  die  Audienz  gekommen  sei,  um  mit  dem  angeb- 
lichen Wort  des  Kaieeis  zum  Zweck  der  Börsenspekulation 
Mißbrauch  zu  treiben,  da  wurde  wieder  ein  Untersuchungs- 
ausschuß eingesetzt,  aber  die  Spitzbuben  wurden  nicht  einge- 
sperrt. 

\' 0  r  s  i  t  z  e  n  d  e  r  unterbiecliend):  Ich  möclile  Sie  ermahnen,  nicht 
so  vorzugehen.  Das  sind  nur  allgemein  hingestellte  Behauptungen  ohne 
weitere  Begründungen.  Das  Material,  das  jenen  Akten  vorlag,  steht  uns 
nicht  zur  Verfügung.  Es  würde  eine  einseitige  Darstellung  sein,  wenn 
Persönlichkeiten  verdächtigt  werden,  ohne  Beweise  anführen  zu  können, 
und  anderseits  die  Beschuldigung  erhoben  wird,  die  Verwaltungsorgane  und 
die  Gerichte  hätten  die  Spitzbuben  laufen  gelassen.  Ich  kann  solche  Ab- 
weichungen  von   der  Verteidigung   ferner  nicht   zulassen. 

Angeklagter:  Ich  bin  damit  bereits  fertig;  übrigen.« 
sind  Ihnen  ja  diese  Tatsachen  aus  der  Presse  bekannt.  Von  der 


138  Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Heicheiiberg 


Panuinakorruption  in  Frankreich  war  also  dit^  Kede,  und  ich 
habe  nur  behauptet,  Panama  ^ebe  es  anderswo  auch.  Die  zweite 
Stelle,  um  die  es  sieh  handelt,  von  „derselbe  Staat,  welcher  den 

Bauern     das  Mark     aus  den  Knochen  .  .  ."     bi?     für  die 

Armee"  klingt  etwas  abgebrochen.  Ich  habe  im  Zusammen- 
hang gesagt:  Wenn  wir  die  offiziellen  Ziffern  der  Rekru- 
tierung betrachten,  so  sehen  wir,  daß  das  Resultat  imme;- 
schlechter  wird,  daß  in  den  achtziger  Jahren  die  Hälfte  der  Ab- 
gestellten noch  zum  Militärdienst  tauglich  war,  im  Jahre  1881 
nur  462  von  1000,  daß  im  Jahre  1885  schon  568,  im  Jahre  1891 
schon  691  von  1000  untauglich  waren,  und  fahre  fort:  Wenn 
das  60  weiter  geht,  haben  wir  in  zehn  Jahren  ein  rauchloses, 
vielleicht  geruchloses  Pulver,  aber  wir  haben  die  Menschen 
nicht,  welche  fähig  sind,  die  Gewehre  auf  die  Schulter  zu 
nehmen,  und  derselbe  Staat,  welcher  den  Bürgern  das  Mark  au- 
den  Knochen  nimmt  für  das  Militär,  derselbe  Staat  ....  hier 
fehlt  die  Fortsetzung  im  Stenogramm,  während  ich  gesagt  habe : 
derselbe  Staat  wird  nicht  fähig  sein,  sich  zu  verteidigen,  weil 
das  Menschenmaterial  zu  sehr  degeneriert  ist.  Das  alles  ist  aber 
nur  die  Konetatierung  einer  allgemein  anerkannten  Tatsache. 
Das  dritte  Verbrechen  soll  darin  liegen,  daß  ich  sagte; 
„Alle  bürgerlichen  Freiheiten  sind  für  die  Besitzenden  vor- 
handen, für  die  Arbeiterklasse  existieren  sie  nicht."  Wenn  das 
ein  Verbrechen  ist,  dann  bin  nicht  ich  der  Verbrecher.  Sie 
wiesen,  daß  bei  jeder  Wahlagitation  eine  Rolle  spielt  der  Kampf 
für  allgemeines,  gleiches  und  direktes  Wahlrecht.  W^enn  ich  bei 
jeder  Gelegenheit  die  Ungleichheit  des  W^ahlrechtes  hervor- 
hebe, wenn  ich  sage,  daß  der  Satz,  der  an  der  Spitze  der  Staats- 
grundgesetze  steht:  ,,Vor  dem  Gesetz  sind  alle  Bürger  gleich", 
daß  dieser  Satz  im  W  a  h  1  r  e  c  h  t  einfach  nicht  vorhanden  ist. 
so  ist  das  kein  Verbrechen,  sondern  bloß  die  Konstatierung 
einer  Tatsache.  Ich  sagte  ungefähr:  Es  heißt  im  Staatsgrund- 
gesetz, daß  alle  Staatsbürger  vor  dem  (lesetz  gleich  sind.  Nun 
probieren  Sie  es,  gehen  Sie  hin  und  wählen  Sie,  dann  wird  man 
Ihnen  zeigen,  daß  Sie  nicht  gleich  sind,  daß  der  Mensch  erst 
beim  Fünfguklenmann  anfängt.  Dann  sprach  ich  vom  Heimats- 
recht und  vom  Preßgesetz.  Es  heißt  hier  im  Stenogramm:  „Dif 
freie  Presse  haben  wir,  wenn  wir  aber  schreiben  .  .  .",  hier 
fehlt  der  Satz,  der  Herr  iStudiosus  N  i  t  s  c  h  e.  welcher  steno- 
grajdiierte.  hat  nicht  weiter  gewußt:  ich  aber  weiß,  was  ich  ge- 


Die  Schwurgerichtsverhaudlung  in  Reichenberg  139 

sagt  habe:  j,Die  freie  Pre:--^o  ist  auch  nicht  für  alle  Bürger 
gleich ;  diejenigen,  welche  den  Stempel  nicht  bezahlen,  die 
Kaution  nicht  bezahlen  können,  haben  kein  Preßrecht  oder  es 
ist  sehr  eingeschränkt:  diejenigen,  die  auf  ein  Jahr  abonnieren 
können,  können  verbreiten  so  viel  sie  wollen,  die  aber  kreuzer- 
weise ihre  Zeitung  kaufen,  sind  durch  §  23  eingeschränkt  usw.. 
kurz,  die  bürgerlichen  Freiheiten  sind  für  die  Besitzenden  da, 
aber  für  die  Arbeiter  existieren  sie  nicht/'  An  anderer  Stelle 
soll  ich  gesagt  haben,  und  daraus  wird  mir  merkwürdigerweise 
nur  ein  Vergehen  gemacht:  ,,Die  verfassungsgemäßen  Frei- 
heiten sind  nur  ein  Wisch  Papier."  Das  habe  ich  so  nicht  ge- 
sagt. Wir  haben  einen  ungeheuren  Respekt  vor  dem  Staats- 
grundgesetz und  hegen  nur  den  Wunsch,  daß  die  sämtlichen 
Behörden  und  die  Herren  Gesetzgeber  denselben  Respekt  voi- 
diesem  Staatsgrundgesetz  hätten  wie  wir.  Wir  wollten,  daß  der 
(reist  dieser  Staatsgrundgesetze  die  ganze  übrige  Gesetz- 
gebung beherrsche,  auch  die  Verwaltung  und  Handhabung. 
Was  wir  auszusetzen  haben,  ist,  daß  dieser  freiheitliche  Geist 
der  Staatsgrundgesetze,  wo  das  Recht  auf  freie  Meinungs- 
äußerung garantiert  ist,  wo  Gleichheit  vor  dem  Gesetz,  Frei- 
zügigkeit usw.  garantiert  ist,  durch  andere  Gesetze  einge- 
schränkt und  durch  die  Ausführung  derselben  direkt  ver- 
nichtet werde.  Ich  sagte  ungefähr:  ,.Die  Staatsgrundgesetze 
sind  ausgezeichnet :  wenn  sie  aber  durch  andere  Gesetze,  wie 
Preßgesetz,  unsere  Wahlordnung  usw.  eingeschränkt  werden, 
und  durch  eine  Verwaltung,  welche  den  Staatsgrundgesetzen 
\ielfach  direkt  ins  Gesicht  schlägt,  dann  haben  die  Staatsgrund- 
gesetze kein  Leben  und  dann  wären  sie  allerdings  nicht  mehr 
wert  als  das  Papier,  auf  dem  sie  gedruckt  sind."  Und  das  ist 
selbstverständlich.  Je<les  Gesetz,  das  nicht  gehandhabt  wird,  ist 
ein  toter  Buchstabe,  absolut  wertlos.  Ob  das  auf  unsere  Staats- 
grundgesetze  paßt  oder  nicht,  das  zu  konstatieren  habe  ich  hier 
nK-ht  notwendig,  aber  ein  Verbrechen  oder  ein  Vergehen  katin 
es  nicht  sein. 

l'ud  nun  koiiiiiit  das  Schwerste:  es  wird  mir  znm^'orwurl 
gemacht,  was  ich  über  das  Vaterland  gesagt  habe:  daß  wii' 
das  Vaterland,  wo  in  gemeinsamer  Arbeit  ein  freies  Volk  von 
seiner  Arbeit  lebt,  wo  Gerechtigkeit  herrscht,  wo  der  Arme 
nicht  verkommt  und  auegebeutet  wird,  erst  schaffen  müssen, 
daß  es  noch   nicht   vorhanden  sei.  daß  wir  für  jenes   Vaterland 


140  Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg 


mit  Überzeugung  kämpfen  würden.  Von  diesem  Standpunkt  aus- 
zeigt eigentlich  meine  Rede  die  höchste  Art  der  Vaterlands- 
liebe. An  dieser  Stelle  habe  ich  die  Sozialdemokratie  gegen  den 
Vorwurf  der  Vaterlandslosigkeit  zu  verteidigen  gehabt.  Ich 
fragte,  wer  das  Vaterland  mehr  liebt:  diejenigen,  welche 
trachten,  das  Volk  zu  verelenden,  oder  diejenigen,  welche  das 
Volk  zu  kräftigen  trachten,  zu  einem  Volk  von  gesunden  und 
sittlich  erzogenen  Menschen  machen  wollend 

Es  wird  mir  dann  weiter  die  Stelle  über  das  .,M  i  1  i  t  ä  r'" 
zur  Last  gelegt.  Ich  habe  dae  Wort  ,,Militär"  nicht  ausge- 
sprochen; ich  habe  von  der  österreichischen  Armee  nur  ein 
einziges  Mal  in  ganz  anderem  Zusammenhang  geredet.  Wovon 
ich  aber  gesprochen  habe,  und  sehr  scharf,  das  ist  die  Inetitutiou 
des  Militarismus.  Ich  habe  die  Folgen  des  Militarismus 
dargeetellt;  das  tun  aber  nicht  nur  wir,  sondern  ebenso  ein- 
zelne Männer  der  bürgerlichen  Parteien,  die  den  Militarismus 
ebenso  scharf  bekämpfen  wie  wir.  Ich  habe  auch  nicht  gesagt, 
daß  der  heutige  Militarismus  ausschließlich  zum  Schutz 
der  gefüllten  Kassen  diene,  sondern  ich  habe  ausführlich  dar- 
gelegt, daß  die  gegenseitigen  Rüstungen  die  Völker  aufreiben, 
daß  er  sich  aber  von  den  bürgerlichen  Parteien  nicht  be- 
seitigen läßt,  weil  der  Militarismus  nicht  nur  aufgebaut  ist  auf 
der  gegenseitigen  llinauflizitierung  der  einzelnen  Länder,  auf 
der  politischen  Spannung,  eondern  weil  er  wesentlich  auch  eine 
Begleiterscheinung  des  Kapitalismus  ist,  die  mit  unseren 
kapitalistischen  Einrichtungen  notwendig  verknüpft  ist;  es 
wird  ja  ganz  offiziell  von  „äußeren  und  inneren 
Feinde  n"  geöprochen.  Je  mehr  ,,i  n  n  e  r  e  Fein  d  e"  es  gibt, 
je  mehr  Mißtrauen  die  heute  besitzende  Klasse  gegen  die  besitz- 
lose Klasse  hat,  um  so  mehr  hält  sie  sich  an  den  Militarismus, 
um  so  weniger  kann  sie  ihn  entbehren.  Und  wenn  selbst  nach 
außen  die  Verwicklungen  aufgehört  hätten  und  eine  allgemeine 
Abrüstung  beschlossen  wäre,  so  würde  die  besitzende  Klasse  den 
Militarismus  und  das  stehende  Heer  schwer  entbehren  können, 
weil  sie  es  auch  zum  Schutze  ihres  Eigentums  braucht  oder  zu 
brauchen  glaubt.  Das  ist  der  Sinn  der  Worte;  daß  das  keine 
Enteteilung  ist,  daß  das  einfach  wahr  ist,  ist  bekannt.  Aber  noch 
mehr:  Es  wurde  von  mir  gesagt,  aber  nicht  inkriminiert  —  und 
der  Herr  Staatsanwalt  möge  seine  Anklage  ausdehnen,  wenn 
er  kann  —  daPi  der   Milit;ii-isinus  mir  dciii   Kapit;di~uius  noch  in 


Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reicheuberg  141 


ganz  anderer  Weise  verknüpft  ist.  Der  Kapitalismne  kann  den 
Militarismn?  nicht  aufgeben,  weil  der  Militarismus,  so  wie  er 
einerseits  das  Volk  auesaugt,  anderseits  ein  sehr  g  u  t  e  s^ 
Geschäft  ist  für  die  großen  Kapitalisten.  Ich  habe  aus- 
einandergesetzt, daß  die  mehr  als  130  Millionen,  die  in  Zis- 
leithanien  alle  Jahre  für  die  stehende  Armee  bewilligt  werden., 
zum  großen  Teil  in  die  Taschen  derjenigen  zurückfließen, 
welche  die  Millionen  bewilligt  haben.  Ich  habe  weiter  einen 
Fall  angeführt  —  und  ich  bitte,  die  Anklage  nur  auszudehnen, 
denn  das  ist  eines  der  „verhetzendsten"  Dinge  —  daß  zum  Bei- 
spiel in  Heinersdorf  ein  Fabrikant  ist,  der  hauptsächlich  mit 
Militär'lieferungen  zn  tun  hat,  natürlich  ohne  Schaden  für  ihn, 
der  einen  viel  größeren  Einfluß  auf  die  Gesetzgebung  hat  ah 
Sie  alle,  indem  er  in  seinem  Bezirk  in  der  J.age  ist,  Wahl- 
männer zu  machen,  der  auch  auf  den  Militarismus  Einfluß 
nimmt  und  bei  welchem  die  schlechtesten  Löhne  in  ganz  Nord- 
höhmen  bezahlt  werden.  Ich  habe  einen  Prozeß  zitiert,  der 
sehr  aufreizend  auf  das  Publikum  gewirkt  hat;  ich  habe  kon- 
statiert, daß  eine  arme  Frau  angeklagt  war,  sie  hätte  Garn  nach 
Hause  genommen  im  Werte  von  17  kr.,  und  der  Militärlief eiant 
habe  sie  angeklagt,  und  da  sei  herausgekommen,  daß  sie  einen 
Taglohn  von  25  kr.  bekam,  daß  sie  davon  2  kr.  für  den  Platz  ab- 
geben mußte  und  daß  auch  sonst  geradezu  elende  Löhne  gerade 
für  Ausfertigung  der  Militärlieferungen  bezahlt  wurden.  Wie 
sollen  Sie  verlangen,  daß  der  Kapitalismus,  der  mit  dem  Mili- 
tarismus so  glänzende  Geschäfte  macht,  diesen  Militarismus  be- 
seitige? Er  ist  wuvzelhaft  verknüpft  mit  ihm  und  kann  und 
wird  ihn  nicht  beseitigen.  Daß  das  aber  eine  Beleidigung  der 
Armee  sein  soll,  begreife  ich  nicht.  Welcher  Truppenkörper  ist 
da  beleidigt?  Oder  bilden  etwa  die  Fabrikanten,  welche  Militär- 
lieferungen haben,  auch  schon  einen  besonderen  Truppen- 
körper? 

Nun  zu  einer  zweiten  Kategorie  von  Verbrechen.  Ich  muß 
gestehen,  daß  ich  über  nichts  mehr  überrascht  war  als  über  die 
Anklage  auf  „R  e  1  i  g  i  o  n  s  s  t  ö  r  u  n  g"  ;  überrascht  deshalb, 
weil  ich  weiß,  daß  ich  prinzipiell  niemals  eine  Religionsstörung 
begehe.  Wir  sind  ja  einer  ganzen  Menge  von  Verbrechen  und 
Vergehen  fähig,  nach  Ansicht  der  anderen;  wir  sprechen  sehr 
viel,  und  ,.subsumieren"  läßt  sich  leicht.  Aber  die  Sozial- 
demokratie   hat   einen    riesigen   Respekt   vor   fremder   Meinung 


142  Die  ^Schwurgerichtsveihandlung-  in  Reichenberg 

und  fremder  Überzeugung-.  Das  Wichtigiste,  was  sie  vertritt,  was 
^ie  heute  sich  erkämpfen  muß,  ist  das  Recht  der  freien 
Meinungsäußerung,  und  -weil  sie  dieses  Recht  so  hoch  stellt,  hat 
-ie  vor  jeder  Meinung,  auch  vor  der  der  ihrigen  entgegen- 
gesetzten, den  größten  Respekt.  Die  Sozialdemokratie  würde, 
wenn  sie  die  Macht  hätte,  niemals  Versammlungen  durch 
Polizisten  überwachen  lassen  und  niemals  Redner  einsperren. 
Die  Religionsstörung  aber  ist  durch  unser  Parteiprogramm 
direkt  ausgeschlossen.  Im  Hainfelder,  im  Erfurter,  in  allen 
Programmen  aller  sozialistischen  Parteien  findet  sich  ein  .Satz : 
Die  Religion  ist  Privatsache.  Freilich,  wir  wünschen,  daß  die 
religiösen  Lehren,  wie  sie  sich  heute  in  verschiedenen  Kon- 
fessionen geltend  machen,  der  freien  Kritik  zugänglich  gemacht 
werden.  Daß  wir  aber  die  religiöse  Überzeugung  der  Leute  so 
angreifen,  daß  wir  sie  darin  verletzen,  das  kommt  bei  Sozial- 
demokraten, die  sich  auf  dem  Boden  des  Programms  bewegen, 
nicht  vor.  Wir  suchen  sie  zu  überzeugen,  das  ist  unser  gutes 
Recht,  mit  allen  Mitteln  der  Aufklärung  suchen  wir  ihnen  jene 
Ansicht  der  Religion  beizubringen,  die  wir  selbst  haben.  Wir 
A-ermeiden  es  aber,  „verächtlich  zu  machen",  ,,herabzu- 
würdigen",  mit  einem  Wort,  zu  beleidigen.  Ich  hätte  mir  eine 
Rüge  der  Partei  zugezogen,  wenn  ich  es  getan  hätte.  Wir 
meinen,  daß  der  Gläubige  wii-klich  gläubig  sein,  aber  nielit 
heucheln  soll.  Vor  dem*  Glauben  als  einer  inneren  Überzeugung 
haben  wir  alle  Achtung,  keine  aber  vor  der  Heuchelei  und 
Muckerei,  und  die  S  t  ö  r  u  n  g  d  e  r  Heuchelei  gilt  bisher 
noch  nicht  ak  Verbrechen.  Ich  sagte,  wenn  die  unverständigen 
Kinder  von  vornherein  in  eine  bestimmte  Richtung  gezwängt 
werden,  dann  wird  nicht  Glaube  erzeugt,  sondern  eine  Gewohn- 
heit, eine  Geistesknechtschaft,  die  wir  nicht  wünschen.  Meine 
Herren  Geschwornenl  Wenn  einer  von  uns  beiden,  der  Herr 
Staatsanwalt  oder  ich,  in  dieser  Anklageschrift  der  Religion  Ver- 
achtung bezeigt  hat,  so  bin  ich  es  nicht.  Nicht  ich  habe  be- 
hauptet, daß  die  Geistesknechtschaft  und  die  leidige  Gewohn- 
heit, der  konfessionelle  Drill  zur  Religion  gehören,  nicht  i  c  h 
habe  behauptet,  daß  die  Gedankenloeigkcit  ein  unveräußerliches 
Inventarstück  der  Religion  ist  —  das  allein  zeigt  Ihnen  schon, 
wie  diese  Anklage  gemacht  ist! 

Und  nun  zu  den  kleineren  Delikten.  Die  Vergehen  sind 
natürlich  die  gewöhnlichen:     §§  300.  305.    Es    sind  dies  Para- 


Die  Schwurgericht-sverhandlung  in  Reichenberg  148 

giaphen.  ohne  deren  Übertretung  eigentlich  eine  politische  Dis- 
kussion einfach  ausgeschlossen  ist.  Wenn  das  als  Basie  ange- 
nommen würde,  könnte  überhaupt  kein  Redner,  welcher  Partei 
immer  angehörig,  irgendeine  Kritik  an  politischen  Zuständen 
aussprechen,  ohne  daß  sich  irgendein  Staatsanwalt  fände,  dei 
behauptete,  daß  er  zum  Haß  oder  zur  Verachtung  gegen  irgend 
etwas  oder  die  Einwohner  des  Staates  zu  feindseligen  Partei- 
iiugen  gegeneinander  aufzureizen  versucht  habe,  besonders 
wenn  er  mit  einem  Staatsanwalt  zu  tun  hat,  wie  ich  die  Ehre 
habe.  Denn  der  Herr  Staatsanwalt  dehnt  den  Begriff  in  seiner 
Klage  wesentlich  au6.  Er  sagt,  in  der  Rede  in  Dessendorf  ver- 
suche ich,  ..durch  krasse  Hervorhebung  des  Gegensatzes 
zwischen  Reichen  und  Armen  die  ärmeren  Volksschichten  zu 
Feindseligkeiten,  das  heißt  zu  feindlichen  Gesinnungen  gegen 
die  Besitzenden  noch  mehr  anzueifern".  Wenn  eine  .,Feind- 
seligkeit",  zu  der  man  aneifert,  schon  etwas  Unbestimmtes  ist, 
was  ist  das  erst^  eine  .,feindliche  Gesinnung"?  Wenn  das  ein 
von  der  Gesetzgebung  anerkanntes  Prinzip  würde,  dann  wäre 
kein  politischer  Redner  irgendeiner  Partei  mehr  sicher,  dieses 
Vergehens  nicht  beschuldigt  zu  werden.  Wenn  ich  als  Redner 
für  meine  Partei  spreche,  habe  ich  zu  sagen:  Unsere  Partei 
hat  die  richtigen  Anschauungen,  die  anderen  Parteien  haben 
falsche  Anschauungen.  Wenn  ich  dieee  Überzeugung  nicht  habe, 
fange  ich  gar  nicht  an,  oder  ich  bin  ein  Lump.  Ich  sage  weiter: 
Rs  i=t  eure  Pflicht,  die  anderen  Parteien  zu  bekämpfen,  und 
zwar  so  scharf,  als  das  möglich  ist,  das  heißt,  ich  habe  sie  zu 
..feindseligen  Gesinnungen"  gegen  die  anderen  aufzureizen, 
sonst  bin  ich  ein  schlechter  Agitatoi-,  und  jede  Politik  hört  auf, 
wenn  das  Wort  feindselig  in  diesem  weiten  Sinn  gefaßt  wird. 
Etwas  anderes  ist  es,  wenn  ich  sage:  „Jeder  einzelne,  der  der 
anderen  Partei  angehört,  ist  ein  Lump,  man  könne  jener  Partei 
nicht  angehören,  ohne  verlogen  zu  sein  oder  ein  rein  persön- 
liches Interesse  daran  zu  haben",  das  wäre  eher  feindselig. 
Aber  der  Ton  meiner  Rede  geht  im  Gegenteil  immer  mehr 
darauf  hinaus,  weil  es  eben  die  Grundlage  unseres  Programms 
ist,  festzustellen,  daß  die  Leute,  welche  die  besitzende  Klasse 
repräsentieren,  die  einzelnen  sowohl  als  die  Klasse,  nicht  ver- 
antwortlich sind  für  die  Zustände,  weil  sie  ebenso  der  Gewalt 
dieser  Zustände  unterliegen  wie  die  Proletarier  selbst.  Wir 
sind  überzeugt,  daß  der  Ausgebeutete  unter  einem  ungeheuren 


144  Die  SchwLirgerichtsverhandhing  in  Reichenberg 

Druck  steht,  wissen  aber  ganz  gut,  daß  auch  der  Ausbeuter 
nicht  andere  kann,  daß  er  getrieben  wird,  daß  eine  Sehraube  die 
andere  treibt.  Daß  wir  darum  durchsetzen  wollen,  was  unsere 
Überzeugung  ist,  versteht  sich,  und  daß  wir  das  so  energisch 
machen,  als  wir  können,  versteht  sich  auch.  Ich  glaube  aber 
nicht,  daß  der  Sozialdemokratie  daraus  ein  Vorwurf  gemacht 
wird  von  einer  Partei,  die  selbst  etwas  leistet,  die  selbst  Mut 
und  Energie  hat,  sondern  höchstens  von  einer  solchen  Partei, 
die  so  altersschwach  ist,  daß  sie  nichts  mehr  leisten  kann. 

Ich  soll  das  Vergehen  nach  §  300  dadurch  begangen 
haben,  daß  ich  angeblieh  sagte:  „Von  den  österreichischen 
Gerichten  werden  wahre  Bluturteile  gefällt."  Nun,  diese 
Äußerung  in  diesem  Sinne,  so  blank,  wie  sie  da  steht,  glaube 
ich  nicht  gemacht  zu  haben;  ich  halte  das  darum  für  eehr  un- 
wahrscheinlich, weil  dies  nicht  vernünftig  gewesen  wäre.  Was 
ich  aber  sicher  gesagt  habe,  und  was  ich  aufrecht  halte,  ist 
folgendes:  Ich  sprach  von  der  Art  und  Weise",  wie  speziell  in 
der  Bezirkshauptmannschaft  Gablonz  gegen  die  sozialdemo- 
kratische Agitation  vorgegangen  wird,  und  meinte,  daß  das  der 
Sozialdemokratie  ebensowenig  schadet,  als  ihr  die  frühere 
Gewaltanwendung  geschadet  hat,  und  habe  an  die  Zeiten  er- 
innert am  Ende  der  siebziger  und  Anfang  der  achtziger  Jahre, 
wo  ungezählte  Geheimbundsprozesse  gegen  Sozialisten  statt- 
gefunden haben;  ich  erinnerte  daran,  daß  ein  Trupp  nach  .dem 
anderen  von  Genossen  meiner  Partei  in  Ketten  nach  Prag  ge- 
liracht  wurde:  es  genügte,  Abonnent  einer  Arbeiterzeitung  zu 
sein,  um  zu  beweisen,  daß  man  Mitglied  einer  geheimen  Ver- 
bindung sei,  und  monatelang  in  Untersuchungshaft  zu  sitzen, 
wie  es  mindestens  400  Menschen  passierte.  Ich  erinnerte  daran, 
v/ie  sehr  oft  nach  langer  Untersuchungshaft  nicht  mehr  heraus- 
kam als  aclit  Tage,  vierzehn  Tage,  ein  Monat  Arrest.  Und  da 
habe  ich  gesagt:  .,Wenn  die  Prager  Eichter  zu  so  leichten 
Strafen  verurteilt  haben,  dann  können  Sie  überzeugt  sein,  daß 
die  Leute  nicht  sehr  schuldig  waren.  In  Österreich,  und  speziell 
bei  diesem  Gericht,  ist  man  nicht  allzu  milde;  der  Senat,  der  in 
Prag  zusammengesetzt  wurde  speziell  für  die  Sozialisten,  der 
Senat,  der  in  Wien  während  des  Ausnahmezustandes  bestand, 
hat  sich  nicht  schuldig  gemacht  einer  übergroßen  Milde  gegen- 
über der  Sozialdemokratie.  Wenn  da  Leute  freigesprochen  oder 


Die  Schwurgerichts  Verhandlung  in  Reichen  berg  1-15 

nur  zu  geringen  Arreststrafen  verurteilt  wurden,  so  waren  sie 
wirklich  ganz  unschuldig,  darauf  kann  man  sich  verlassen." 

Vorsitzender  (unterbrechend) :  Ich  muß  Ihnen  die  strengste  Rüge 
für  die  Äußerung  erteilen,  die  österreichischen  Gerichte  hätten  Unschuldige 
verurteilt. 

x\  n  g  e  k  1  a  g  t  e  r:  Ich  meinte,  wenn  sie  so  kleine  Strafen  . 
erhielten  oder  überhaupt  freigesprochen  wurden,  dann  müssen 
sie  selbstverständlich  unschuldig  gewesen  sein  an  den  großen 
Vergehen,  die  man  ihnen  vorgeworfen  und  deretwegen  sie  oft 
halbe  Jahre  in  Untersuchung  saßen.  Es  ist  wohl  möglich,  daß 
in  diesem  Zusammenhang  der  Ausdruck  Blutnrteil  einmal  vor- 
gekommen ist.  Die  Nervosität  des  Herrn  Staatsanwalts  über 
diese  Äußerung  kann  ich  nicht  begreifen.  Haben  wir  nicht  ein 
eigenes  Gesetz,  welches  die  Entschädigung  un- 
schuldig Verurteilter  zum  Gegenstand  hat?  Der  Fall, 
daß  ein  ungerechtes  Urteil  gefällt  werde,  ist  also  nicht  aus- 
geschlossen. Und  wenn  wir  erst  ein  Gesetz  hätten,  welches  jene 
entschädigt,  welche  unschuldig  von  Polizei  und  Staatsanwalt- 
schaft zu  Untersuchungshaft  verurteilt  wurden!  Wenn  aber 
das  Wort  Bluturteil  hier  gebraucht  wurde,  so  heißt  das  nichts 
anderes,  als  daß  es  vorgekommen  ist,  daß  gegen  Sozialisten 
Urteile  gefällt  wurden,  welche  der  Herr  Gerichtspräsident 
gewiß  als  sehr  gerecht  anerkennen  muß,  von  denen  ich  mir  aber 
erlauben  darf  zu  sagen,  daß  sie  allzu  streng,  allzu  schart  waren. 
Es  sind  an  hundert  Sozialdemokraten  in  den  Kerkern  zugrunde 
gegangen  an  Tuberkulose  und  Skorbut;  es  sind  —  und  da  er- 
innere ich  an  die  Tätigkeit  des  Wiener  Ausnahmegerichts  bei 
Prozessen,  die  hervorgerufen  wurden  unter  Intervention  des 
Herrn  Polizeirates  Bernhard  F  r  a  n  k  1  —  Leute  wegen  Münz- 
verfälschung und  anderer  angeblich  anarchistischer  Dinge  ein- 
gesperrt worden,  die  auf  Lockspitzeleien  hineingefallen  waren 
und  die  in  den  Kerkern  elend  zugrunde  gegangen  sind.  Wenn 
man  die  Leute  gekannt  hat,  wenn  man  sah,  wie  so  ein  Mensch 
erst  verleitet  wurde,  um  Material  zu  bekommen,  wie  er  dann 
zugrunde  ging,  dann  drängen  sich  einem  unwillkürlich  harte 
Worte  auf  die  Lippen.  Wenn  man  aber  ein  einzelnes  Urteil  als 
das  bezeichnet,  was  es  ist,  so  kann  darin  noch  nicht  eine  Be- 
leidigung, eine  Herabsetzung  der  Richter  überhaupt  gesehen 
werden. 

10 


146  Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg 

Nun  komme  ich  auf  den  §  300.  Ich  soll  in  der  Reichenauer 
Eede  das  Parlament  und  das  Herrenhaus  beleidigt  haben.  Das 
ist  ein  Gebiet,  welches  sehr  weit  führen  könnte.  Leider  liegt  in 
bezug  auf  diese  Rede  nicht  einmal  jene  Art  von  Stenogramm 
vor  wie  bezüglich  der  Dessendorf er  Rede ;  aber  es  ist  doch  not- 
wendig, daß  man  den  Zusammenhang  herstellt.  Daß  der  Reichs- 
rat heute  in  seiner  Zusammensetzung  den  Großgrundbesitz  und 
die  Interessen  des  Großkapitals  vertritt,  ist  eine  in  unserer  Ver- 
fassung anerkantc  Tatsache,  <]arül;er  habe  ich  gar  nicht  zu 
reden.  Von  353  Abgeordneten  gehören  85  dem  Großgrundbesitz 
und  21  den  Handelskammern,  also  ungefähr  ein  Drittel;  man 
muß  anerkennen,  daß  die  Interessen  des  Großgrundbesitzes  und 
des  Großkapitals  eine  sehr  bedeutende  Vertretung  haben.  Aber 
das  geht  noch  viel  weiter.  Wir  haben  Provinzen,  wo  der  Groß- 
grundbesitz in  der  Lage  ist,  auch  die  anderen  Kurien,  auch  die 
Kurien  der  städtischen  und  ländlichen  Wähler  in  hohem  Grade 
bei  den  Wahlen  zu  beeinflussen,  und  vollständig  frei  von  dieser 
Beeinflussung  ist  überhaupt  kein  Ort.  Aus  Galizien  kommen 
aus  den  städtischen  und  ländlichen  Kurien  viel  mehr  Groß- 
grundbesitzer als  andere  Leute.  Ich  will  hier  nicht  auf  die 
Wahlstatistik  eingehen,  obwohl  ich  beinahe  dazu  verpflichtet 
wäre.  Daß  aber  die  Großgrundbesitzer  ihren  Einfluß  in  dem 
Sinne  ausüben,  daß  in  erster  Linie  die  Interessen  des  Groß- 
grundbesitzes gewahrt  werden,  versteht  sich  von  selbst ;  daß 
diese  Leute  ihre  Interessen  wahren,  wird  allgemein  anerkannt, 
und  wir  haben  erst  vor  kurzem  ein  Beispiel  erlebt,  wo  eine 
wichtige  politische  Reformmaßregel  einfach  darum  vom  Schau- 
platz verschwand,  und  mit  ihr  die  Regierung,  weil  sie  das 
Interesse  der  bevorzugten  Klasse  verletzte.  Was  das  Herren- 
haus anbelangt  sieht  man  es  für  gewöhnlich  als  den 
Hemmungsapparat  für  jedes  Parlament  an.  Man  erwartet,  daß 
das  Abgeordnetenhaus,  welches  aus  dem  Volke  gewählt  ist  —  in 
anderen  Ländern  nämlich,  bei  uns  nur  aus  einem  Drittel  des 
Volkes  —  daß  dieses  Abgeordnetenhaus  zu  rasch,  zu  überstürzt 
in  Reformen  vorgehen  würde,  und  hat  dazu  ein  Oberhaus,  um 
das  zu  hemmen.  Dieses  Oberhaus  ist  selbstverständlich  so 
zusammengesetzt,  daß  es  einen  solchen  Hemmungsapparat  dar- 
stellen kann.  LTnser  Herrenhaus  ist  aus  recht  konservativen 
Elementen  zusammengesetzt,  durchaus  nur  verläßliche  Leute 
sind  hineingesetzt.  Wir  haben  derzeit  125  lebenslängliche  Mit- 


Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg  147 

glieder;  das  sind  ernannte  Leute,  meist  pensionierte  Generale, 
kirchliche  Würdenträger,  ab  und  zu  ein  Mann  der  Wissen- 
schaft, Bankiers  und  solche  Leute.  Wir  haben  unter  diesen 
Lebenslänglichen  auch  eine  Anzahl  von  Adeligen:  4  Fürsten 
und  48  Grafen,  und  unter  den  erblichen  Mitgliedern  21  Erz- 
herzoge, 26  Grafen  und  Fürsten.  Sie  sehen,  das  Herrenhaus  ist 
beruhigend  zusammengesetzt.  Es  ist  eine  Tatsache,  die  ein  jeder 
Politiker  in  Österreich  berücksichtigen,  der  er  ins  Gesicht 
sehen  muß,  die  er  in  Rechnung  ziehen  muß,  daß  es  Reform- 
maßregeln gibt,  die  vielleicht  noch  im  Abgeordnetenhaus 
durchgehen  —  es  sind  ja  nicht  viel,  aber  doch  einige  — -  die 
aber  irDizdom  im  Herrenhaus  nicht  durchgehen  würden  und 
nicht  durciigogangen  sind.  Ich  führe  ein  Beispiel  aus  der  letzten 
Zeit  au.  Sie  erinnern  sich,  daß  vor  kurzer  Zeit  unser  Vereins- 
und Versammlungsrecht  eine  ganz  erhebliche  Einechränkung 
dadurch  erfuhr,  daß  die  Bezirkshauptmannschaften,  Polizei  und 
Magistrate  auf  eine  eigentümliche  Auslegung  des  §  2  des  Ver- 
sammlungsgesetzes gekommen  sind;  die  Geschichte  mit  den  „ge- 
ladenen Gästen".  Es  wurde  im  Abgeordnetenhaus  darüber  inter- 
pelliert, ein  Antrag  eingebracht,  sogar  angenommen,  und  jetzt 
liegt  er  im  Herrenhaus,  er  liegt  schon  lange,  er  kommt  gar  nicht 
zur  Beratung,  und  wenn  er  zur  Beratung  kommt,  geht  er  viel- 
leicht geändert  zurück.  Meine  Rede  ist  also  keine  Schmähung 
dee  Herrenhauses,  keine  Beleidigung,  nur  die  Konstatierung 
der  Tatsache,  daß  das  Herrenhaus  noch  mehr  konservativ  und 
noch  weniger  volkstümlich   ist  als   das  Abgeordnetenhaus. 

Vorsitzender  (unterbrechend):  Sie  führen  da  eine  rein  politische 
Begründung,  meine  Geduld  ist  erschöpft.  Ich  will  Ihnen  Zeit  und  Raum  zu 
Ihrer  Verteidigung  gönnen;  aber  daß  Sie  Ihre  politischen  Ansichten  hier  ver- 
treten, kann  ich  unbedingt  nicht  zulassen  und  ermahne  Sie  ernstlich,  bei 
der  Sache  zu  bleiben.  Eine  Kritik  des  Reichsrates,  der  einzelnen  Parteien, 
die  können  Sie  auf  parlamentarischem  Boden  vorbringen,  wenn  Sie  dort 
stehen.  Vor  Gericht  kann  ich  das  nicht  weiter  zulassen. 

Angeklagter:  Herr  Präsident!  Ich  werde  inlcli  so 
gut  ak  möglich  an  die  gemachte  Vorschrift  halten.  Aber  wenn 
mir  vorgeworfen  wird,  daß  ich  in  jener  Stelle  vom  Abge- 
ordnetenhaus und  vom  Herrenhaus  etwas  Strafbares  gesagt 
habe,  kann  ich  doch  unmöglich  umhin,  das  zu  erklären,  was  ich 
wirklich  sagte.  Ich  kann  eben  nicht  anders  ale  mich  auf  poli- 
tischen Boden  begeben,  aus  dem  Grunde,  weil  mir  ein  politi- 
scher Prozeß  gemacht  wird. 

10* 


148  Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg 

Vorsitzender:  Das  ist  aber  nicht  in  so  weitgehendem  Maße 
nötig,  als  es  Herr  Doktor  unternehmen.  Sie  haben  so  unendlich  viel  vor- 
gebracht, um  es  vielleicht  möglicherweise  in  den  Zeitungen  zu  verbreiten, 
und  ich  kann  einen  solchen  Vorgang  nicht  zulassen.  Sonst  werden  wir  in 
vier  Wochen  nicht  fertig.  Sie  kommen  mit  allgemeinen  Ausführungen,  mit 
allgemeinen  Dingen;  Sie  nützen  die  Gelegenheit,  um  gegen  dies  oder  jenes 
loszugehen,  und  wollen  damit  jedenfalls  einen  anderen  Erfolg,  als  sich 
einfach  gegen  die  Anklage  zu  verteidigen.  Es  ist  zu  erweisen,  ob  Sie  das 
gesprochen  haben,  was  die  Anklage  behauptet,  und  inwiefern  das  als 
gesprochen  Konstatierte  strafbar  ist.  Diese  Beurteilung  obliegt  den  Herren 
Geschwornen.  Die  Intelligenz  unserer  Herren  Geschwornen  bietet  die 
Garantie  dafür,  daß  sie  sich  darüber  klar  werden;  es  ist  unnötig,  vom 
Gegenstand  der  Verhandlung  so  weit  abzuschweifen.  Herr  Doktor,  wollen  Sic 
sich  daran  halten! 

Angeklagter:  Herr  Präsident !  Ich  bedauere  ja  sehr, 
wenn  ich  Ihre  Geduld  etwas  in  Anspruch  genommen  habe.  Aber 
ich  möchte  mich  gegen  die  Vorwürfe  des  Herrn  Präsidenten 
in  aller  Bescheidenheit  verteidigen.  Herr  Präsident  haben  mir 
gesagt,  daß  ich  wahrscheinlich  das  Gesprochene  journalistisch 
verwerten  wolle;  ich  erlaube  mir  aber  zu  bemerken,  daß  ich  das 
nicht  nötig  habe,  da  ich  Herausgeber  eines  in  20.000  Exem- 
plaren zweimal  wöchentlich  erscheinenden  Blattes  bin  und  alle 
Wochen  ein  paarmal  in  Versammlungen  spreche.  Wenn  ich  so 
spreche,  wie  ich  gesprochen  habe,  so  hielt  ich  —  der  Herr  Prä- 
sident ist  ja  Richter  darüber,  ob  ich  die  Grenze  der  Verteidi- 
gung übersehritten  habe  —  jedes  Wort  für  notwendig  zu  meiner 
Verteidigung.  Ich  bedauere  sehr,  wenn  es  länger  dauert,  aber 
es  würde  vielleicht  für  mich  persönlich  viel  länger  dauern, 
wenn  ich  verurteilt  würde,  weil  ich  mich  nicht  ausreichend  ver- 
teidigt hätte. 

Vorsitzender:  Die  Politik  wollen  Sie  als  unnötig  beiseite  lassen, 
die  Rechtsmittel  dagegen  stehen  Ihnen  zu  jeder  Zeit  zu.  Wenn  Sie  sagen, 
daß  Sie  ein  Journal  haben,  imi  sich  auszusprechen,  so  ist  das  doch  etwas 
ganz  anderes,  wenn  Sie  sagen  können:  „Das  habe  ich  vor  Gericht 
gesprochen."  Und  daher  bleibt  es  bei  meiner  Ermahnung. 

Angeklagter:  Ich  kann  ja  natürlich  meine  Motive 
nicht  verteidigen.  Allee,  was  ich  sagte,  hielt  ich  für  meine  Ver- 
teidigung für  notwendig.  —  Nun,  der  nächste  Paragraph,  un) 
den  es  sich  handelt,  ist  der  §  302;  es  soll  eine  Verhetzung  der 
einzelnen  Klassen  und  ßtände  stattgefunden  haben,  indem  ich 
gesagt  haben  eoll:  „Der  Jude  Rothschild  verträgt  sich  mit 
allen  Erzbischöfen  sehr  gut,  und  die  Großjuden  und  Groß- 
klerikalen sind  einig  unter  einem  Haufen,  wenn  es  gegen  die 


Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Keichenberg  149 

Arbeiter  geht.''  Daß  ich  etwas  Ähnliches  gesagt  habe,  will  ich 
gar  nicht  leugnen.  Ich  habe  damit  nichts  anderes  bezeichnen 
wollen,  als  daß  hinter  den  Parteien  Klaeseninteressen  stecken 
und  daß  alle  Parteien,  der  Jude  Kothschild  und  die  Erzbischöfe 
Koalitionen  abschließen,  wenn  sie  Interessen  der  Besitzenden 
gegen  die  Besitzlosen  zu  verteidigen  haben;  daß  sie  Koalitionen 
abschließen,  wenn  die  Arbeiterschaft  ein  politisches  Recht  ver- 
langt; daß  sie  Koalitionen  abschließen,  um  ihr  dieses  Recht 
nicht  zu  gewähren.  Ich  habe  gar  keinen  Grund,  das  zu  leugnen, 
was  ich  gesagt  habe;  aber  eine  Störung  der  öffentlichen  Rulie 
kann  ich  darin  nicht  eehen.  Auch  in  der  Rede  in  Reichenau, 
wo  etwas  von  „gestohlenem  Kapital"  vorkommt,  soll  das  Ver- 
gehen nach  §  302  liegen.  Das  beruht  nicht  einmal  auf  einem 
Stenogramm,  sondern  auf  Erinnerungen  des  Herrn  Sekretärs; 
Ich  habe  dem  Wesen  nach  die  Äußerungen  in  Dessendorf  ge- 
geben; daß  ich  aber  in  irgendeiner  Versammlung  einen  der- 
artigen Ausdruck  wie  „gestohlenes  Kapital"  gebraucht  hätte, 
dagegen  verwahre  ich  mich  ausdrücklich. 

Nun  zum  §  305,  bei  welchem  es  mir  unter  den  mir  auf- 
erlegten Beschränkungen  recht  schwer  wird,  ihn  so  zu  er- 
läutern, wie  ich  es  für  notwendig  finde.  Aber  ich  muß  es  ver- 
suchen. Ich  habe  in  Dessendorf  nacheinander  die  verschiedenen 
Einwürfe  gegen  das  sozialdemokratische  Programm  erörtert 
und  zum  Schluß  sagte  ich :  „Ja,  man  nennt  uns  auch  Feinde  des 
Eigentums.  Sind  wir  denn  Feinde  des  Eigentums?"  Und  durch 
die  folgende  Stelle  soll  ich  die  Rechtsbegriffe  über  dae  Eigen- 
tum zu  erschüttern  versucht  haben.  Daß  ich  ungefähr  so  ge- 
sprochen habe,  leugne  ich  nicht;  aber  nicht  mit  einem  Wort 
habe  ich  den  „Rechtsbegriff"  des  Eigentums  berührt  oder  er- 
schüttert, den  heutigen  juristischen  Zustand.  Jeder  von  uns 
weiß,  daß  die  Angehörigen  der  heute  besitzenden  Klascse  ihren 
Besitz  auf  vollständig  legale  Weise  überkommen  haben.  Wer 
heute  eine  Fabrik  besitzt,  kann  mit  Brief  und  Siegel  beweisen, 
daß  er  der  Eigentümer  dieser  Fabrik  ist,  und  es  fällt  uns  nicht 
ein,  den  „Rechtsbegriff"  zu  erschüttern,  daß  er  nach  dem 
heutigen  Gresetz  berechtigt  ist,  Eigentümer  zu  sein.  Keiner  von 
uns  zweifelt  daran,  daß  der  heutige  Großgrundbesitz  gute 
Briefe  hat  über  jedes  Joch,  das  er  besitzt,  daß  es  vor  jedem 
Gerichshof  als  rechtlich  begründetes  Eigentum  anerkannt 
werden  muß.  Aber  ich  habe  von  dem  Eigentumsrecht  gar  nicht 


150  Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg 

gesprochen,  sondern  von  der  Heiligkeit,  von  der  Heili- 
gung des  Eigentums.  Ich  sagte,  daß  die  Rechsbegriffe  über 
das  Eigentum  in  der  Entwicklung  begriffen  sind,  daß  das,  was 
heute  berechtigtes  Eigentum  ist,  darum  noch  kein  Heiligtum 
ist,  an  dem  nicht  gerüttelt  werden  kann.  Denn  zu  keiner  Zeit 
war  in  diesem  Sinne  der  Rechtsbegriff  über  das  Eigentum 
heilig  oder  unabänderlich.  Ich  habe  den  Dreißigjährigen  Krieg 
zitiert;  ich  habe  die  Quellen  da,  aber  ich  will  nach  den  Unter- 
brechungen, die  mir  zuteil  wurden,  sie  nur  wenig  berühren. 
Kein  Mensch  fand  im  Dreißigjährigen  Krieg  nach  der  Schlacht 
am  Weißen  Berg  etwas  Merkwürdiges  darin,  daß  Güter  kon- 
fisziert wurden  im  Betrage  von  3.0  Millionen  Gulden,  daß  das 
ausgeteilt  wurde  an  einige  Familien,  daß  die  Gegenreformation 
überhaupt  so  eehr  mit  Güterkonfiskationen  gearbeitet  hat.  Der 
Rechtsbegriff  über  das  Eigentum  war  also  zu  der  Zeit  nicht 
heilig.  Das  Gesetz,  der  damalige  Rechtsbegriff,  ist  über  die 
Heiligkeit  des  Eigentums  hinweggegangen,  hat  es  konfisziert; 
und  heute  leben  wir  in  einer  Übergangsperiode,  wo  sehr  viel 
Eigentum  vernichtet  wird,  wo  die  Eigentümer  immer  weniger 
werden.  Nun  habe  ich  gesagt:  Nur  das  Eigentum  ist  heilig, 
welches  auf  eigener  Arbeit  beruht.  Dieses  Eigentum  entspricht 
dem  iheute  geltenden  Rechtsbegriff  nicht.  Dieses  Eigentum 
wünschen  wir  zur  Grundlage  einer  Gesellschaft.  Wenn  ich  den 
Rechtsbegriff  über  das  Eigentum  hätte  erschüttern  wollen, 
dann  hätte  ich  den  Leuten  sagen  müssen :  Da  seht,  die  Herren 
Besitzenden,  die  haben  geraubt  oder  gestohlen,  geht  hin  und 
nehmt  es  ihnen  weg,  die  haben  kein  Recht  dazu.  Das  habe  ich 
aber  nicht  gesagt,  das  war  nicht  der  Sinn  rneiner  Rede.  Wenn 
ich  hier  zwei  wichtige  Kategorien  von  Eigentum  hervorgehoben 
habe,  die  des  Großgrundbesitzes  und  die  des  Kapitalbesitzes,  so 
könnte  ich  an  beiden  Gattungen  von  Kapital  den  eingehenden 
Nachweis  erbringen,  daß  es  im  Verlauf  der  Zeiten  große  Ände- 
rungen in  bezug  auf  seine  Rechtsbegriffe  erlebt  hat,  daß  es 
also  nicht  „heilig"  war.  Denken  Sie  an  die  Ba\iernbefreiung, 
an  die  Abschaffung  der  Robot;  daß  bis  zu  jener  Zeit  der 
Grundherr  ein  verbrieftes  Recht  auf  die  Bauern  gehabt  hat. 
gegen  welches  damals  zu  sprechen,  zu  erklären,  daß  es  nicht 
heilig  sei,  daß  es  anders  werden  könne,  gewiß  auch  angesehen 
worden  wäre  als  eine  Aufreizung  gegen  die  Rechtsinstitution 
des  Eigentums,  als   ein  Versuch,     die  Rechtsgrundlage  zu  er- 


Die  Schwurgerichtsverhaudlung  in  Reichenberg  151 

schüttern.  Und  diese  Rechtsgrundlage  hat  sich  geändert  und 
auch  die  Rechtsgrundlage,  die  das  heutige  Eigentum  hat,  wird 
sich  ändern,  das  ist  ein  geschichtlicher  Prozeß.  Von  einer  Auf- 
reizung war  nicht  die  Rede,  der  Sinn  meiner  Rede  war  vielmehr 
gegen  den  Vorwurf  gerichtet,  daß  die  Sozialdemokratie  jedem 
da-^  Eigentum  wegnehmen  wolle. 

Zum  Schluß  führt  der  Staatsanwalt  eine  ganze  Reihe  von 
Stellen  an,  wodurch  ich  nicht  nur  das  Verbrechen  der  Störung 
der  öffentlichen  Ruhe,  sondern  auch  eine  „Beleidigung 
der  A  r  m  e  e"  begangen  haben  soll.  Ich  habe  bereits  erwähnt, 
daß  ich  nirgends  von  der  Armee  als  solcher,  nirgends  vom 
Militär  gesprochen  habe,  sondern  überall  nur  von  der  Insti- 
tution des  Militarismus.  Kein  Mensch  wird  leugnen,  daß  die 
Armee  in  erster  Linie  für  den  Krieg  gegen  außen  da  ist.  Aber 
allerdings  auch  zum  großen  Teil  für  den  Krieg  nach  innen.  Von 
einer  Verepottung  oder  Verächtlichmachung  der  Armee  aber 
kann  darin  nichts  gefunden  werden.  Ich  habe  diejenigen,  die 
infolge  des  Militarismus  gezwungen  sind,  die  Waffen  zu 
führen,  durchaus  nicht  verächtlicher  Eigenschaften  geziehen, 
sondern  sie  als  unter  einem  Zwang  stehend  hingestellt,  als 
Leute,  welche  die  größten  Opfer  zu  bringen  haben;  und  Opfer 
zu  bringen  ist  niemals  verächtlich,  die  Opfer  des  ]\[ilita- 
rismus  zu  verspotten  ist  mir  am  allerwenigsten  eingefallen. 

Ich  bin  somit  zu  Ende.  Ich  bin  geständig,  eine  Reihe  von 
Reden  gehalten  zu  haben,  in  welchen  ich  nach  meiner  Meinung 
in  logischer  Weise  das  Programm  der  Sozialdemokratie  aus- 
einandergesetzt habe;  ich  konstatiere  aber,  daß  die  einzelnen 
Äußerungen  in  der  Anklage  mitunter  höchst  ungenau,  aus  dem 
Zusammenhang  gerissen  sind  und  daß  ich  einzelne  Worte  über- 
haupt nicht  gesprochen  habe.  Der  Herr  Staatsanwalt  wirft  mir 
Störung  der  öffentlichen  Ruhe  und  Aufreizung  in  allen  Formen 
vor,  die  dae^  Strafgesetz  aufweist.  Er  spricht  auch  von  E  r- 
folgen  der  Aufreizung,  und  die  tatsächlichen  Erfolge,  die 
wiederholt  als  erschwerend  und  belastend  vorgeführt  werden, 
bestehen  darin,  daß  in  der  Tat  in  jenen  Orten  sozialdemokra- 
tische Wahlmänner  gewählt  wurden.  Der  Herr  Staatsanwalt 
führt  als  besonders  erschwerend  an,  daß  die  Rede  in  Dessen- 
dorf  einen  lebhaften  Eindruck  machte,  daß  sie  mit  Beifall  -luf- 
genommen  wurde,  daß  die  Rede  in  Reichenau  applaudiert 
wurde  und   ..der  Redner  durch  Zurufe  zum  weiteren  Sprechen 


152  Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg 

ermuntert  wurde,  daß  die  Reden,  nach  dem  Beifall  zu  schließen, 
großen  Eindruck  machten"  usw.  Ich  muß  sagen,  daß  ich  darin 
eigentlich  keine  Unterßtützung  der  Anklage  sehen  kann.  Ich 
weiß  nicht,  wie  der  Staatsanwalt  in  einem  Atem  erklären  kann, 
das,  was  ich  gesprochen,  seien  Verbrechen,  Vergehen  und 
Übertretungen  in  Massen,  und  auf  der  anderen  Seite,  daß 
Hunderte  von  Menschen  in  jeder  Versammlung  dem  zuge- 
stimmt haben  und  sich  somit  mit  mir  solidarisch  erklärt  haben. 
Wenn  das  wirklich  eine  {Störung  der  öffentlichen  Ruhe  be- 
gründet hätte  und  sich  solche  Massen  mit  solchen  Störungen 
einverstanden  erklären,  dann  wäre  die  öffentliche  Ruhe  in  ganz 
anderer  Weise  gestört  worden,  als  das  geschehen  ist.  Daß  aber 
hundert  sozialdemokratische  Wahlmännerstimmen  abgegeben 
wurden,  ist  zwar  in  Österreich  etwas  Neues,  aber  eine  Störung 
der  öffentlichen  Ruhe  im  Sinne  des  Strafgesetzes  ist  es  immer- 
hin nicht.  Wenn  der  Herr  Staatsanwalt  schließlich  sagt,  daß  die 
,.sozialdemokratische  Partei  auf  den  Umsturz  der  staatlichen 
und  gesellschaftlichen  Ordnung  gerichtet  ist",  so  ist  das  eine 
Ausdrucksweise,  welche  eo  alt,  so  hundertmal  abgewiesen  und 
widerlegt  ist,  daß  ich  mich  damit  nicht  zu  beschäftigen  brauche. 
Die  Ruhe  wurde  nicht  gestört,  und  indem  der  Herr  Staats- 
anwalt mich  beschuldigt,  beschuldigt  er  mit  mir  Hunderte,  ja 
Tausende  von  Leuten,  die  dabei  waren,  zugestimmt  und  sich  so 
an  diesen  Dingen  mitschuldig  gemacht  haben. 

Was  ich  gesagt  habe,  davon  habe  ich  nichts  zurück- 
zunehmen; was  mir  aber  in  den  Mund  gelegt  wird,  kann  ich 
natürlich  nicht  verantworten.  Anderseits  habe  ich  die  Über- 
zeugung, daß  das,  was  ich  gesprochen  habe,  dem  Gesetz  nicht 
zuwiderläuft! 

Um  3  Uhr  beginnt 

das  Z  e  II  g  e  n  V  e  r  h  ö  r, 
und  zwar  zunächst  bezüglich  der  Rede    in   Dessendorf. 

Der  Zeuge  Anton  N  i  t  s  c  h  e,  Gemeindevorsteher,  erklärt,  an  den 
Inhalt  der  Rede  könne  er  sich  nicht  mehr  erinnern.  Er  habe  damals  die 
stenographische  Aufnahme  verfügt,  ohne  Auftrag  dazu  zu  haben. 

Vorsitzender:    Welche  Absicht   hatten    Sie    dabei? 

Zeuge:  Ich  wollte  sehen,  ob  mein  Sohn,  der  Jurist  ist,  gut 
stenographieren  kann;  auch  zu  dem  Zweck,  um  vielleicht  festzustellen,  was 
gesprochen  wurde.  Es  war  aber  mehr  eine  stenographische  Übung.  Erst  über 
Auftrag  der  Bezirkshauptmannschaft  wurde  die  Rede  übertragen.  Die  ein- 
zelnen Lücken  kann   ich  nicht  ergänzen. 


Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg  153 

Vorsitzender:  Haben  Sie  den  Eindruclc  gehabt,  daß  das,  was 
gesprochen   wurde,  nicht   zulässig  erscheint? 

Zeuge:    Es  wurde  etwas   zu  scharf   gesprochen. 

Vorsitzender:  Warum  haben  Sie  den  Redner  nicht  unterbrochen? 

Zeuge:  Wenn  man  mit  dem  Gesetz  nicht  vertraut  ist,  so  ist  einem 
das  Urteil,  wie  weit  der  Redner  gehen  kann,  nicht  zugänglich.  Ob  etwas 
Strafwürdiges  vorkam,  weiß  ich  nicht. 

Zeuge  Adolf  Ni  Ische  (Studiosus  juris  an  der  Universität  in  Prag, 
in  Einjährig-Freiwilligenuniform)  spricht  so  leise,  daß  er  fortwährend  auf- 
gefordert werden  muß,  lauter  zu  sprechen  und  sich  nicht  zu  genieren.  Er 
sagt  aus:  Was  über  das  Wesen  der  Sozialdemokratie,  über  das  Militär  gesagt 
wurde,  kann  ich  jetzt  nicht  wiedergeben.  Ich  stenographierte  damals  auf 
Auftrag  meines  Vaters,  der  sehen  wollte,  ob  ich  schon  etwas  gelernt  hätte. 
Ich  kann  eine  gewöhnliche  Rede  mitschreiben.  Manche  Punkte  sind  mir 
aber  nicht  geraten,  manchmal  ist  eine  Lücke  entstanden  durch  Umwenden 
der  Blätter,  Bleistiftspitzen  oder  wenn  zu  schnell  gesprochen  wurde.  Beim 
tjbertragen  habe  ich  die  Stellen,  die  ich  nicht  lesen  konnte,  ganz  weggelassen. 

Vorsitzender:    Welchen    Eindruck    haben    Sie   bekommen? 

Zeuge:  Es  fiel  mir  auf,  daß  etwas  Unzulässiges  gesagt  wurde, 
nämlich  über  den  Militarismus.  Was  das  war,  erinnere  ich  mich  nicht.  Es 
schien  mir  aber  nicht  richtig. 

Vorsitzender:    In    welcher    Beziehung? 

Zeuge  (schweigt). 

Vorsitzender:  Dann  sagen  Sie  einfach:  Das  verstehe  ich  nicht. 
Sie  sind  doch  Jurist;  erschien  Ihnen  etwas  unzulässig  mit  Rücksicht  auf 
die  bestehenden  Gesetze? 

Zeuge:  Es  kam  mir  zu  scharf  vor  gegen  die  bestehenden  Gesetze. 

Vorsitzender:  Zum  Beispiel:  wurde  die  Regierung  angegriffen 
oder  die  Verfassung  herabgesetzt? 

Zeuge:  Der  Besitz  wurde  angegriffen,  die  Not  der  Arbeiter  wurde 
zu   drückend  geschildert. 

Vorsitzender:  Haben  Sie  nur  gefunden,  daß  vielleicht  bestehende 
Zustände  übertrieben  oder  aber  daß  etwas  Sträfliches  gesagt  wurde?  Sie 
sind  doch  Jurist. 

Zeuge    (schweigt). 

Vorsitzender:  Können  Sie  sich  darüber  nicht  aussprechen,  so 
sagen  Sie  einfach:  Ich  weiß  es  nicht. 

Zeuge:    Ich  kann   mich  darüber  nicht  aussprechen. 

Vorsitzender:   Dann  habe  ich  weiter  nichts   zu  fragen. 

Verteidiger:   Wie  lange  hat  die  Rede  Dr.  Adlers  gedauert? 

Zeuge:    Das   weiß   ich  nicht. 

Verteidiger;   Wie  lange  haben   Sie  zur   Übertragung   gebraucht? 

Zeuge:   Das  weiß   ich  nicht  mehr. 

Dr.  Adler:  Können  Sie  behaupten,  daß  ich  dort,  wo  Sie 
^[  i  1  i  t  ä  r  geschrieben  haben,  nicht  Militarismus  ge- 
sagt habe? 

Zeuge:    Das  kaim   ich  nicht  ganz  genau  sagen. 


154  Die  Schwurgerichtsverhandlung-  in  Reichenberg 

Zeuge  Franz  S  i  m  m,  Oberlehrer,  sagt  unter  anderem  aus:  Herr 
Dr.  Adler  hat  über  den  Militarismus  ganz  im  allgemeinen  gesprochen.  Den 
Eindruck,  daß  etwas  Strafbares  gesagt  wurde,  habe  ich  nicht  erhalten.  Von 
einer  Beleidigung   der   österreichischen  Armee  habe   ich  nichts  gemerkt. 

Dr.  Adler:  Sie  haben  sich  an  der  Debatte  beteiligt,  da- 
mals die  liberale  Partei  in  Schutz  genommen.  Hätten  Sie  nicht 
auch  eine  Beleidigung  der  Armee  zurückgewiesen? 

Zeuge:  Wenn  mir  eine  solche  aufgefallen  wäre,  hätte  ich  das  jeden- 
falls getan. 

Dr.  Adler:  Sie  werden  sich  vielleicht  eines  (Schuh- 
machermeisters erinnern,  der  sich  an  der  Debatte  beteiligte 
und  in  V  e  t  e  r  a  n  e  n  u  n  i  f  o  r  m  Avar.  Hat  der  vielleicht  einer 
Verletzung  wegen  einer  Beleidigung  der  Armee  Ausdruck 
gegeben  ? 

Zeuge:   Nein,   das   hat  er  nicht  getan. 

Dr.  Adler:  Haben  Sie  vielleicht  zufällig  gesehen,  daß 
mir  jener  Herr  nach  der  Rede  die  Hand  drückte? 

Zeuge:   Gesehen  habe  ich  es  nicht. 

Zeuge  Eduard  Z  e  1 1  e  r,  Korbmacher,  war  Vorsitzender  in 
sämtlichen  inkriminierten  Versammlungen :  Wenn  ich  gleich  einvernommen 
worden  wäre,  was  merkwürdigerweise  nicht  geschah,  hätte  ich  die  Reden 
vielleicht  fast  wörtlich  wiedergeben  können,  jetzt  sind  mir  nur  mehr  die 
«einzelnen  Sachen  im  Gedächtnis.  Es  wurde  das  Programm  der  Sozial- 
demokratie entwickelt,  über  die  Verfassung  wurde  gesprochen.  Auch  von  der 
Religion  wurde  Erwähnung  gemacht,  daß  sie  nämlich  Privatsache  sei.  Von 
einer  Verächtlichmachung  der  Religion  habe  icht  nichts  gehört.  Wir  achten 
die  Überzeugung  des  anderen  zu  sehr,  um  jemand  wegen  seiner  religiösen 
Überzeugung  zu  verachten.  Über  den  Militarismus  wurde  wie  in  allen 
unseren  Versammlungen  gesprochen.  Das  österreichische  Militär  ist  nicht 
beleidigt  worden;  ein  Veteran,  der  im  Ausschuß  des  dortigen  Veteranen- 
vereines sitzt,  war  anwesend,  und  es  hat  ihm  die  Rede  sehr  gut  gefallen. 
Ich  habe  mit  einer  großen  Anzahl  von  Leuten  gesprochen,  denen  allen  die 
Rede  sehr  gut  gefallen  hat.  Etwas  Mißfälliges  habe  ich  von  keiner  Seite 
gehört. 

Verteidiger:  Sind  von  seilen  der  Regierungsvertreter  außerhalb 
von  Gablonz  gegen  Dr.  Adlers  Reden  Einwendungen  erhoben  oder  Be- 
anstandungen vorgekommen? 

Zeuge:    Nein,   nur  im  Gablonzer  Bezirk   war  das  der  Fall. 

Zeuge  Wilhelm  B  a  r  1 1  erklärt,  sich  nicht  mehr  au  den  Inhalt 
der  Rede  erinnern  zu  können,  und  beruft  sich  auf  seine  protokollarische 
Aussage.   Etwas   Strafbares   fand  er  nicht    in    der  Rede. 

Zeuge  Karl  Herold  gibt  auf  die  Frage,  welches  Urteil  er  sicii 
über  die  Rede  gebildet  habe,  an:  „Sie  hat  mir  gefallen.  Etwas  Strafbares 
oder  Unzulässiges  habe   ich   nicht  gefunden." 


Die  Sch\\airgerichtsverhandlung  in  Reichenberg  155 

Zeuge  Johann  Endler:  Es  wurde  der  MiUtarismus  einer  Kritik 
unterzogen,  von  einer  Beleidigung  der  österreichischen  Armee  habe  ich 
nichts  gehört. 

Vorsitzender:  Hat  die  Rede  den  Eindruck  auf  Sie  gemacht,  daß 
das  zu  weit  gehe,  daß  man  das  nicht  überall  reden  dürfte? 

Zeuge:  Diesen  Eindruck  hat  sie  auf  mich  nicht  gemacht.  Diese 
Rede  ist  überall   zulässig. 

Es  wird  nun  die  Rede  nach  dem  Stenogramm  des  Adolf  N  i  t  s  c  h  e 
\erlesen  und  die  einzelnen  Zeugen  wieder  gefragt,  ob  die  Übertragung  der 
Rede  Dr.  Adlers  entspreche. 

Zeuge  Anton  N  i  t  s  c  h  e  glaubt,  daß  die  Übertragung  ganz  genau  der 
Rede  entspreche.  Unterbrochen  habe  er  Dr.  Adler  nicht,  weil  er  dachte, 
er  habe  ja  die  Rede  aufgeschrieben.  Ob  etwas  Ungesetzliches  gesagt  wurde, 
konnte  er  nicht  beurteilen. 

Zeuge  Adolf  Nitsche:  Den  Sinn  habe  ich  nicht  geändert,  sondern 
höchstens  einen  Übergang  geschaffen.  Es  kann  möglich  sein, 
daß  auch   ein   größerer  Satz  über   ein   Thema  weggeblieben   ist. 

Vorsitzender:  Haben  Sie  im  Protokoll  niedergelegt,  daß  Ihnen 
die  Sache  aufreizend  erschienen  sei? 

Zeuge:  Ich  glaube,  es  war  eine  übertriebene  Darstellung;  ob  etwas 
unter  das  Strafgesetz  Fallendes  gesagt  wurde,  weiß  ich  nicht. 

Zeugen  Simm,  Zeller,  Bartl,  Herold,  Endler  erklären  das 
Stenogramm  für  sinngemäß,  aber  nicht  wortgetreu. 

Es  werden  hierauf  Zuschriften  der  Bezirkshauptmannschaften  Fried- 
land, Reichenberg  und  Starkenbach  verlesen,  in  welchen  erklärt  wird,  daß 
die  Regierungsvertreter  in  den  Reden  Dr.  Adlers  in  jenen  Bezirken  nichts 
Strafbares   gefunden   haben. 

Zweiter   Verhandlnngstag. 

Das  Zeugenverhör  wird  fortgesetzt  und  auf  die  Versammlung  in 
Reichenan   eingegangen. 

Zeuge  Josef  Ullrich,  Bezirkssekretär:  Ich  war  genötigt,  Herrn 
Dr.  Adler  in  seiner  Rede  in  Reichenau  unzähligemal  zu  unterbrechen,  weil 
er  durch  die  Hervorhebung  der  Klassengegensätze  gegen  die  bestehende 
soziale  Ordnung  aufreizte  und  über  die  Institution  des  Reichsrats  eine  ab- 
fällige Kritik  übte,  welche  jedenfalls  danach  angetan  war,  daß  die  Zuhörer 
zur  Verachtung  gegen  die  bestehenden  Institutionen  verleitet  werden  konnten. 
Nach  jeder  Unterbrechung  sprach  er  gemäßigter;  dann  verfiel  er  in  den 
alten  Ton,  worauf  ich  wieder  unterbrach  und  er  wieder  gemäßigter  sprach, 
so  daß  es  zu  keiner  Auflösung  kam. 

Vorsitzender:  In  welcher  Weise  sprach  er  sich  über  den  Reichs- 
rat  aus? 

Zeuge:  Er  hatte  es  hauptsächlich  auf  das  Wirken 
der  liberalen  Partei  abgesehen;  es  war  mehr  eine  Kritik  der 
Parteien  als  des  Reichsrats  selbst.  Dann  hat  der  Redner  über  den  Milita- 
rismus gesprochen,  daß  er  in  allen  Staaten  die  Kräfte  des  Volkes  aussauge 
und   daß  dadurch  die  Leute  am   Fortschritt  in  anderer  Richtung  geschädigt 


156  Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg 

werden.  In  Grünwald  hat  er  sich  auch  nach  meiner  Ansicht  über  das  Militär 
in  einer  Weise  ausgedrückt,  die  es  ins  Lächerliche  ziehen  konnte.  Er  sprach, 
daß  die  Krüppel  höchstens  eine  Drehorgellizenz  erhalten. 

Vorsitzender:    Das    also    erschien    Ihnen    als    Beleidigung. 

Zeuge  gibt  dann  an,  daß  er  den  Inhalt  der  Reichenauer  und  Grün- 
walder  Rede  nach  der  Versammlung  aus  dem  Gedächtnis  niedergeschrieben 
habe,  daß  aber  die  Rede  in  Schumburg  über  Auftrag  der  Bezirkshaupt- 
mannschaft vom  Lehrer  Wünsch  aus  Gablonz  stenographiert   wurde. 

Vorsitzender:  Warum  ist  nach  Oberpolaun  kein  politischer 
Kommissär  gekommen? 

Zeuge:  Nachdem  der  Herr  Bezirkshauptmann  aus  den  anderen 
Reden  ersehen  hatte,  was  die  Tendenz  derselben  sei,  und  namentlich  weil 
der  Beamte  überanstrengt  war  und  ein  ungeheures  Schneewetter  herrschte, 
wurde   niemand   dorthin   geschickt. 

Verteidiger:  Erinnern  Sie  sich  an  eine  oder  die  andere  Stelle, 
wo   Sie   unterbrochen  haben? 

Zeuge:  Wie  Herr  Dr.  Adler  gegen  den  Kapitalismus  und  den 
Großgrundbesitz  sprach,  da  habe  ich  ihn  beim  Nennen  der  Namen 
Schwarzenberg  und  Rothschild  unterbrochen,  wegen  der 
Tendenz,   da    ich    gesehen   habe,    daß    er   immer    weiter    geht. 

Dr.  J  e  n  n  e  1  beantragt  die  Vorladung  des  Lehrers  Wünsch,  da 
nun  zum  erstenmal  der  Stenograph  der  Schumburger  Rede  genannt  werde. 
Die  Vorladung  wird  beschlossen. 

Zeuge  Vinzenz  P  e  u  k  e  r  t,  Gemeindevorsteher:  Es  war  bei  der  Rede 
in  Reichenau  ein  sehr  verläßlicher  Stenograph  anwesend,  der  damalige 
Kaplan    Wenzel   Beran;    der  hat  mir   die    Rede    nachher   vorgelesen. 

Dr.  Adler:  Vor  Ihrer  ersten  Einvernahme  oder  nach 
derselben? 

Zeuge:    Vor    der  Einvernahme. 

Zeuge  Karl  Hofrichter,  Exporteur,  bezieht  sich  auf  seine  erste 
Aussage:  „Wie  wir  nach  Gablonz  vorgeladen  wurden,  gingen  wir  zum  Herrn 
Kaplan  Beran,  der  stenographiert  hatte,  und  da  schrieben  wir  uns  den 
Inhalt  ab.  An  den  Ausdruck  „gestohlenes"  Kapital  kann  ich  mich  nicht 
erinnern.  Ich  habe  den  Eindruck  gehabt,  daß  Dinge  gesprochen  wurden,  die 
ungesetzlich  sind,  weil  sie  gegen  die  bestehende  Ordnung  gerichtet  waren, 
weil  tatsächlich  das  Volk  dadurch  nur  unzufrieden  gemacht  wird  und  weil 
es  nicht  so  arg  ist.  Eine  Beleidigung  des  Militärs  habe  ich  nicht  heraus- 
gefunden." 

Zeuge  Josef  P  r  e  i  ß  1  e  r,  Maler:  Ich  habe  vor  dem  Bezirksgericht  vor- 
gebracht, was  ich  aus  der  Übertragung  des  Kaplans  Beran  mir  abge- 
schrieben hatte.  Ich  habe  den  Eindruck  gehabt,  daß  einzelnes  nur  zur 
Verhetzung  gesprochen  wurde.  Das  Stenogramm  des  Pater  Beran  ist  dem 
ganzen  Sinne  nach  richtig  gewesen,  wenn  auch  nicht  dem  Wortlaut  nach. 

Zeuge  Eduard  Zeller:  Ich  habe  zahlreiche  Versammlungen  geleitet, 
aber  unter  solchen  Schwierigkeiten  wie  in  Reichenau  noch  nie.  Der  Herr 
Regierungsvertreter  hat  jedesmal,  wenn  von  der  liberalen  Partei  gesprochen 
wurde,    unterbrochen.      Kein    Satz   konnte    zur    Ausführung   gelangen.      Der 


Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg  157 

Referent  kam  auf  Rothschild  zu  sprechen  und  meinte,  daß  Herr 
Rothschild  Besitzer  von  Bergwerken  und  gleichzeitig  Aktionär  der  Nord- 
bahn sei,  was  ihm  durch  eine  Ermäßigung  der  Fahrpreise  ermögliche, 
seine  Kohlen  billiger  nach  Wien  zu  bekommen.  Wie  er  bei  Rothschild  an- 
gelangt war,  unterbrach  ihn  der  Herr  Ullrich  und  drohte,  ihm  das  Wort 
zu  entziehen,  wenn  er  so  weiterspreche.  Ich  hatte  den  Eindruck,  daß  man 
nicht  reden  lassen  wollte.  In  Reichenberg  hat  eine  Versammlung  mit 
derselben  Tagesordnung  ganz  unbeanstandet  stattgefunden.  Nicht  die 
geringste  Gesetzesübertretung  hat  stattgefunden.  Wenn  man  von  Rothschild 
spricht,  so  ist  das  doch  keine  Gesetzesübertretung. 

Zeuge  Anton  Scheffel,  Tischler  in  Pulletschnei,  bemerkt  ebenfalls, 
als  Dr.  Adler  auf  das  Großkapital  und  auf  Rothschild  zu  sprechen  kam, 
wurde  er  vom  Regierungsvertreter  unterbrochen.  Dr.  Adler  habe  dann  gesagt: 
Ja,  das  habe  ich  nicht  gewußt,  daß  Baron  Rothschild  unter  polizeilichem 
Schutz  steht.  Der  Zeuge  führt  dann  aus,  daß  Dr.  Adler  in  der  Versammlung 
gesagt  habe,  daß  sich  das  Kapital  immer  mehr  und  mehr  auf  einem  Platz 
anhäuft  und  daß  Rothschild  so  und  so  viel  Besitz  hat.  Wenn  er  (Roth- 
schild) 100  Jahre  lebt,  kann  er  auf  seine  Taschen  klopfen  und  fragen:  Was 
kostet  die  Welt?  Auf  dieses  hin  wurde  er  vom  Regierungsvertreter  unter- 
brochen. Eine  Beleidigung  des  Militärs  hat  nicht  stattgefunden.  Ich  habe 
nicht  gefunden,  daß  etwas  Ungesetzliches  gesagt  wurde.  Ich  hätte  den  Redner 
nicht  unterbrochen. 

Zeuge  Anton  H  i  1  1  e  b  r  a  n  d  t,  Krämer:  Der  Redner  wurde  oft  unter- 
brochen wegen  Aufreizung  gegen  die  besitzende  Klasse.  Mir  schien  es  aber 
nicht  so,  ich  habe  nichts   Schlechtes  entdeckt. 

Zeuge  Alois  Massopus  t,  Weber  und  Gemeindevorsteher:  Es  ist 
gar   nichts   Unrechtes   gesprochen   worden,   durchaus   nichts    Strafbares. 

Zeuge  Anton  M  a  s  c  h  k  e,  Gastwirt:  Etwas  Gesetzwidriges,  eine  Auf- 
reizung gegen   die  Reichen  habe  ich  nicht  gefunden. 

Zeuge  Anton  Lang,  Kaufmann:  Es  wurde  nur  über  den  Militarismus 
im  allgemeinen  gesprochen.  Er  sprach  in  scharfen  Worten;  aber  es  machte 
nicht  den  Eindruck  auf  mich,  daß  er  aufrührerisch  sprechen  wollte,  sondern 
er  lieferte  nur  eine  scharfe  Kritik  der  bestehenden  Einrichtungen. 

Zeuge  Franz  Dreß  1er:  So  oft  vom  Liberalismus  gesprochen  wurde, 
unterbrach  der  Herr  Regierungsvertreter.  Von  einer  Beleidigung  des  Militärs 
ist  mir  nichts  bekannt. 

Es  wird  die  Übertragung  des  Stenogramms  des  Pater  B  e  r  a  n  ver- 
lesen, imd  die  einzelnen  Zeugen  werden  wieder  vorgerufen. 

Zeuge  Bezirkssekretär  Ullrich:  In  diesem  Ideengang  war  die  Rede; 
ob  es  wortgetreu  ist,  kann  ich  nicht  sagen,  aber  die  Tendenz  ist  dieselbe. 

Zeuge  Peukert:  Die  Rede  hat  auf  mich  den  Eindruck  gemacht, 
daß  Dr.  Adler  zu  viel  gesprochen  hat.  Seine  Absicht  war,  daß  er  als  Abge- 
ordneter gewählt  werden  wollte.  (Heiterkeit.)  Die  Rede  hat  im  ganzen  keinen 
günstigen  Eindruck  auf  mich  gemacht.  Es  wurde  viel  getadelt  an  der  Rede 
Dr.  Adlers. 

Zeuge  Hillebrandt  gibt  an,  daß  die  jetzt  verlesene  Rede  viel 
schärfer  sei  als  die  von  Dr.  Adler  gehaltene;  die  einzelnen  Stellen  sind 
zusammengedrängt,   so    daß   man    einen    ganz   anderen   Eindruck   bekommt. 


158  Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg 

Dasselbe  geben  die  Zeugen  Zeller,  Massopus  t,  Maschke  und 
D  r  e  ß  1  e  r  an.  Die  übrigen  Zeugen  finden  den  Aufsatz  zwar  sinngetreu, 
aber  nicht   dem  Wortlaut   entsprechend. 

Es  wird  auf  Antrag  Dr.  J  e  n  n  e  1  s  die  Vorladung  des  Pfarrers  B  e  r  a  n 
beschlossen. 

Nun  wird  zur  Erörterung  der  Versammlung  in  Wiesenthal  über- 
gegangen. 

Zeuge  Josef  J  a  s  c  h  e  k,  Bezirkskommissär;  Ich  erinnere  mich  an 
zwei  Momente,  wo  ich  Herrn  Dr.  Adler  in  Wiesenthal  unterbrach.  Das 
erstemal  war  es,  als  er  sich  anschickle,  die  Verfügungen  der  Bezirks- 
hauptmannschaft anläßlich  seiner  Anwesenheit  vor  zwei  Jahren  in  Johannis- 
berg  zu  kritisieren.  Da  unterbrach  ich,  weil  ich  der  Ansicht  war,  daß  er  die 
Verfügungen  der  Behörde  herabzuwürdigen  suchte.  Das  zweitemal  unterbrach 
ich,  als  er  vom  Militarismus  sprach  und  erwähnte,  daß  das  Militär  nicht 
etwa  wegen  der  russischen  Bauern  da  sei,  sondern  lediglich  dazu,  wenn  es 
den  Armen  einmal  einfiele,  in  die  feuerfesten  Kassen  einzubrechen.  Das  Wort 
Bluturteil  ist  ganz  sicher  gefallen,  den  Zusammenhang  weiß  ich  nicht;  die 
Notizen,  die  ich  mir  machte,  habe  ich  leider  nicht  mehr. 

Dr.  Adler:  Habe  ich  da  im  allgemeinen  von  österreichi- 
schen Gerichten  gesprochen  oder  habe  ich  einen  speziellen 
Fall  erwähnt? 

Zeuge:  Das  weiß  ich  wirklich  nicht.  Ich  denke,  es  war  im  allge- 
meinen gemeint,  die  österreichischen  Gerichte  überhaupt. 

Dr.  Adler:  Das  denken  Sie  also. 

Zeuge  Wenzel  Schneider,  Lehrer:  Dr.  Adler  sprach  darüber,  daß 
nicht  alle  Leute  vor  dem  Gesetz  gleich  seien.  Wenn  ein  armer,  zerlumpter 
Mann  auf  der  Landstraße  gehe,  packe  ihn  der  Gendarm  und  frage  um 
Papiere;  den  reichen  Lumpen,  der  im  Wagen  fährt,  packe  aber  niemand  an. 
Ich  hatte  den  Eindruck,  daß  nur  eine  scharfe  Kritik  geübt  wurde;  ob  etwas 
Ungesetzliches  vorkam,  weiß  ich  nicht.  Aufreizend  kam  mir  die  Rede  nicht 
vor,  aber  auch  nicht  gerade  beruhigend.   (Heiterkeit.) 

Zeuge  Wilhelm  P 1  a  c  h  t,  Gemeindesekretär:  Ich  habe  die  Rede  für 
aufreizend  gegen  die  bestehende  Ordnung  gehalten. 

Zeuge  Adolf  Bergmann,  Hotelier,  will  zuerst  den  Eid  nicht  ablegen 
und  sagt:  Ich  will  mich  der  Aussage  enthalten.  Man  wird  von  den  Sozial- 
demokraten angefeindet.  Ich  habe  anonyme  Briefe  bekommen.  Es  wurde  mir 
angedroht,  ich  soll  mich  hüten,  und  wenn  ich  in  eine  Versammlung  komme, 
werden  sie  mich  hinauswerfen.  Für  mich  sei  gesorgt,  ich  habe  einen  Posten 
als  Schinder  im  Zukunftsstaat. 

Der  Vorsitzende  macht  den  Zeugen  aufmerksam,  daß  er  die 
Wahrheit  s^agen  solle,  und  da  die  Sozialisten  auch  immer  die  Wahrheit 
wollen,  so  habe  er  nichts  von  diesen  zu  fürchten;  die  Sozialisten  hätten  auch 
gewiß  nicht  jene  Briefe  geschrieben,  denn  sie  kennen  das  Gesetz.  Dann 
begann  der  Zeuge  mit  seiner  Aussage,  nachdem  er  auf  Befragen  des  Staats- 
anwalts noch  erklärt  hatte,  er  habe  den  anonymen  Brief  schon  ^  erbrannt: 
Erst  hat   Dr.   Adler  über  die   Arbeiterbevölkerung  gesprochen,   in    welcher 


Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg  159 

Art  sie  behandelt  werde,  dann  ist  er  auf  die  Liberalen  übergegangen.  Ich 
habe  mich  gewundert,  daß  er  in  einem  derartigen  Ton  sprechen  darf,  wenn 
ein  politischer  Kommissär  anwesend  ist.  Dann  hat  er  gegen  die  Ämter 
gesprochen,  wie  dort  die  Arbeiter  behandelt  werden,  wie  sie  angeschnauzt 
und  angefahren  werden,  und  wie  ein  Liberaler  zu  Gericht  kommt,  wie  der 
ganz  anders  behandelt  wird.  Er  ist  dann  so  fortgefahren  bis  an  die  oberste 
Behörde  hinauf,  alles  mögliche  ins  Werk  zu  setzen,  so  daß  es  mich  nicht 
gewundert  hätte,  wenn  die  Leute  sich  wirklich  empört  hätten  und  etwas  ' 
entstanden  wäre.  Eine  solche  Rede  habe  ich  noch  nie  gehört.  Dann  hat  er 
über  das  Militär  gesprochen,  daß  die  Väter  in  den  Fabriken  Gewehre  machen 
und  die  Söhne  sie  tragen  müssen;  dann  daß  sich  die  armen  Arbeiterfamilien 
oft  nicht  einmal  einen  Kaffee  machen  können,  weil  er  durch  die  Zuckersteuer 
verteuert  ist.  Dann  maclite  er  Ausfälle  auf  die  Liberalen.  Es  wäre  nicht  nötig, 
daß  man  so  viel  Militär  ha.be;  er  hat  nicht  von  Österreich  allein  gesprochen» 
sondern  überhaupt  vom  Militär.  Ich  kann  nicht  sagen,  daß  er  gerade  das 
Militär  beleidigt  hat,  aber  er  beleidigt  alles,  er  zieht  alles  in  den  Schmutz 
mit  seinen  Reden.  Die  Rede  hat  auf  mich  einen  äußerst  ungünstigen  Ein- 
druck gemacht,  es  war  eine  wahre  Brandrede.  Ich  sagte  ihm  das  auch,  als 
er  nächsten  Morgen  in  mein  Kaffeehaus  zum  Tee  kam.  Ich  sagte  ihm:  „Sie 
wären  wert,  daß  man  Sie  per  Schub  nach  Wien  zurückschickte."  Darauf 
sagte  er:  „Ja  ich  glaub'  schon;  wenn's  möglich  war',  würden  Sie's  schon 
tun."  rAllgemeinc  Heiterkeit.)  Ich  habe  nicht  die  ganze  Rede  angehört,  ich 
i)in  weggegangen,  weil  mir  die  Sache  zu  toll  wurde. 

Dr.  Jennel:  Haben  Sie  etwas  gehört,  daß  die  Freisinnigen,  Eugen 
Richter  zum  Beispiel,  im  Deutschen  Reichstag  ebenfalls  gegen  den  Mili- 
tarismus gesprochen  haben? 

Zeuge:  Es  kommt  eben  auf  den  Ton  an,  alles  muß  seine  gewissen 
Grenzen  haben. 

Dr.  Adler:  Sie  sind  ganz  vorne  geseseen.  Ich  habe  sofort 
gesehen,  daß  Sie  sehr  aufgeregt  waren,  daß  meine  Eede  auf  Sie 
sehr  aufreizend  gewirkt  hat.  Aber  wurden  auch  noch  andere 
aufgereizt,  weil  Sie  sagen,  daß  es  zu  etwas  hätte  knninien 
können? 

Zeuge:  (iekommen  ist  es  zu  nichts;  aber  Beispiele  sind  ja  schon 
dagewesen,  daß  solche  Dinge  Unheil  bringen. 

Dr.  Adler:  Doch,  es  ist  zu  etwas  gekommen:  in  Wiescn- 
tlial  wurden  sechs  sozialdemokratische  Wahlmänner  gewählt. 
Haben  Sie  bemerkt,  daß  andere  auch  eo  entrüstet  waren 
wie  Sie? 

Zeuge:  Das  kommt  ganz  darauf  an,  zu  wclchom  Publikum  man 
spricht-  Wenn  man  sicli  in  der  Versammlung  empört  hätte,  wäre  man  ja 
liinausgeworfen  worden. 

Zeuge  Eduard  Zelter  kann  keinen  aufreizenden  Kiiulruck  konstatieren. 

V.s  wird  nun  zur  Rede  in  Grünwald  übergegangen. 

Zeuge  Bezirkssekrt'tär  Ullrich:  Ich  habe  darüber  eine  Relation 
gemacht,  die   dem  Inhalt   der  Rede   genau   entspricht.  Bei   der  Versammlung 


160  Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg 

selbst  habe  ich  mir  keine  Notizen  gemacht,  sondern  den  nächsten  Tag  die 
Relation  aus  dem  Gedächtnis  verfaßt.  Ich  habe  diese  Versammlung  aufgelöst. 
Die  Relation  sagt :  „Weil  der  Redner  in  den  Angriffen  gegen  die 
liberale  Partei  fortfuhr,  in  einer  Art  und  Weise,  von  der  ich  glaube,  daß 
man  nicht  so  weit  gehen  dürfe,  unterbrach  ich  den  'Redner.  Herr 
Dr.  Adler  sagte  darauf:  >Sie  sehen,  die  liberale  Partei  steht  unter  poli- 
zeilichem Schutz«,  worauf  demonstrative  Zustimmung  erfolgte,  so  daß  ich 
mich  veranlaßt  sah,  die  Versanmilung  aufzulösen,  und  unter  Inter- 
vention der  Gendarmerie  wurde  der  Saal  ohne  besonderen  Zwischenfall 
geräumt." 

Dr.  Adler:  Sie  haben  mich  unterbrochen,  wenn  icli 
etwas  Ihnen  gesetzwidrig  Erscheinendes  sagte.  Haben  Sie  diese 
Stelle,  bei  welcher  ßie  mir  das  Wort  entzogen,  auch  für  gesetz- 
widrig gehalten? 

Zeuge:  Als  Sie  gegen  die  liberale  Partei  losgezogen 
sind,  habe  ich  Ihnen  das  Wort  entzogen. 

Dr.  Adler:  Halten  Sie  das  für  etwas  Ungesetzliches, 
im  Strafgesetz  Verbotenes? 

Zeuge:  Ja,  als  eine  Verhetzung  gegen  eine  politische  Partei. 
(Bewegung.) 

Dr.  Adler:  Wissen  Sie  mir  den  Gesetz  p  a  r  a- 
g  r  a  p  h  e  n  dee  Strafgesetzes  zu  bezeichnen,  welcher  verbietet, 
gegen  die  liberale  Partei  zu  sprechen? 

Zeuge:  So  im  §  302  glaube  ich.  (Heiterkeit.) 

Dr.  Adler:  Dort  steht  doch  nichts  von  der  liberalen 
Partei  .  .  . 

Vorsitzender:  Herr  Doktor,  diese  Frage  scheint  mir  nicht  mehr 
zulässig.  Der  Herr  Zeuge  ist  ja  übrigens  kein  richterlicher  Beamter  und 
braucht  das  Strafgesetz  nicht  so  zu  kennen;  er  hat  das  für  unzulässig 
gehalten;  ob  mit  Recht  oder  nicht,  kümmert  uns  hier  nicht. 

Dr.  Adler:  Ich  wurde  oft  unterbrochen,  und  bei  dieser 
Stelle  .wurde  mir  das  Wort  entzogen,  obwohl  ich  nicht  gegen 
eine  Körperschaft  oder  eine  Institution,  sondern  nur  gegen  eine 
gegnerische  politische  Partei  gesprochen  habe.  Daraus  werden 
die  Herren  Geschwornen  ihre  Konsequenzen  ziehen.  Es  existiert 
außerdem  ein  Protokoll,  von  Herrn  Ullrich  unterschrieben, 
welches  dasselbe  besagt. 

Zeuge  Anton  J  ä  c  k  e  1,  Gemeindevorsteher:  Ich  weiß,  daß  er  die 
Staatsgrundgosetze  einen  Wisch  Papier  nannte.  Er  hat  auch  einen  Steuer- 
schein über  4  fl.  96  kr.  vorgezeigt  und  gesagt,  daß  nach  der  Wahlordnung 
der  Mann  nicht  politisch  reif  ist,  weil  ihm  4  Kreuzer  an  direkter  Steuer 
fehlen.  Auf  mich  hat  die  Rede  keinen  aufreizenden  Eindruck  gemacht,  ich 
fürchte  mich  nicht  vor  solchen  Reden.  Allerdings  war  sie  mehr  aufregend  als 
beruhigend. 


Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg  161 

Zeuge  Adolf  Kratzer t,  Glaswarenerzeuger :  Ich  habe  das  Wort 
., Wisch  Papier"  gehört.  Er  hatte  den  Zweck,  gewählt  zu  werden,  weil  er 
gedacht  hat,  die  Wähler  seien  Leute,  die  seinen  Gesinnungen  beipflichten. 
Er  schien  die  Absicht  zu  haben,  Anhänger  zu  gewinnen.  Er  schien  mir  sehr 
scharf  zu  sprechen,  vielleicht  über  das  Zulässige  hinaus. 

Die  Verhandlung  wird  um  /42  Uhr  abgebrochen.  Um  3  Uhr  nach- 
mittags wird  das  Zeugenverhör  fortgesetzt. 

Zeuge  Wenzel  Seh  öf  fei:  Dr.  Adler  hat  über  die  Bauern  und  die 
Kleingewerbetreibenden  gesprochen,  die  er  gegen  das  Großkapital  in  Schutz 
nahm.  Die  Versammlung  wurde  aufgelöst,  weil  er  die  liberale  Partei  be- 
handelte. Einen  richtigen  Grund  zur  Auflösung  konnte  ich  nicht  finden.  Er 
hat  nichts  gesagt,  wa.3  beanstandet  werden  könnte. 

Zeuge  Franz  Jacke  1,  Ökonom:  Ich  dachte,  daß  das  Volk  aufgereizt 
würde  und  daß  er  sich  beliebt  machen  wollte.  Es  hat  den  Leuten  gefallen. 

Verteidiger:  Wozu  wollte   er  das  Volk  aufreizen? 

Zeuge:  Daß  er  sie  für  seine  Person  gewinnen  wollte. 

Verteidiger:  Wenn  ich  jemand  gewinnen  will,  reize  ich  ihn 
ja  nicht  auf. 

Zeuge  Josef  K  r  a  t  z  e  r  t,  Gastwirt :  Ich  könnte  nicht  sagen,  daß  etwas 
Strafbares  vorgebracht  worden  wäre.  Aufregend  war  es.  Von  den  Leuten  habe 
ich  aber  nicht  gemerkt,  daß  sie  aufgeregt  waren. 

Zeuge  Eduard  Zell  er:  Die  Auflösung  ist  unter  so  eigentümlichen 
Um.ständen  vor  sich  gegangen,  daß  ich  ein  Protokoll  darüber  aufnehmen  ließ. 
Es  lautet: 

„Als  der  Referent  Dr.  Adler  in  seinem  Referat  auf  die  Verhand- 
lungen zwischen  der  Linken  und  der  Regierung  zu  sprechen  kam  und  die 
Worte  gebrauchte:  >Wenn  die  Liberalen  darauf  eingehen,  auf  jeden  poli- 
tischen Fortschritt  zu  verzichten,  wie  das  bei  der  Majoritätsbildung 
Bedingung  ist,  so  bleibt  vom  Liberalismus  nichts  anderes  übrig  als  die 
nackte  Sanktionierung  der  Ausbeutung.« 

Bei  diesen  Worten  entzog  der  Regierungsvertreter  Herr  Bezirkssekretär 
Josef  Ullrich  dem  Redner  das  Wort.  Als  Redner  noch  hinzusetzte,  »die 
Liberalen  also  stehen  unter  polizeilichem  Schutz  •  und  die  Versammlung 
zustimmte,  löste  er  die  Versammlung  auf." 

G  r  ü  n  w  a  1  d,  am  19.  Jänner  1893. 

Ullrich,  E.    Zeller, 

Bezirkssekretär.  Anton  Jacke  1,  Vorsitzender. 

Ortsvorsteher. 

Die  Leute  waren  nicht  aufgereizt  worden,  sonst  wären  sie  nicht  auf 
mein  Ersuchen  ruhig  aus  dem  Saal  gegangen. 

Zeuge  Thomas  Gahler,  Gürtler:  Dr.  Adler  hat  über  die  Arbeiter- 
frage gesprochen,  aber  nicht  in  gehässiger  Weise.  Nach  meiner  Überzeugung 
kann  ich  nur  sagen,  daß  er  die  Wahrheit  gesprochen  hat.  Die 
Leute  wurden  nicht  aufgereizt;    mich  hat  die  Rede    auch    nicht    aufgereizt. 

Zeuge  Heinrich  S  c  h  o  I  z  e,  Gürtler:  Vom  österreichischen  Militär 
war  nicht  die  Rede,  sondern  von  den  Steuerlasten.  Etwas  Verhetzendes  habe 

11 


162  Die  Schwurgerichtsverhandlung-  in  lieicheuberg 

ich  nicht  in  der  Rede  gefunden,  niemand  wurde  aufgereizt,  die  Leute  waren 
ruhig.  Von  einem  „Wisch  Papier'"  habe  icli  nichts  gehört. 

Zeuge  Josef  Dreß  1er:  Der  Redner  hat  über  den  Militarismus  über- 
haupt gesprochen.  Aufgehetzt  wnrrde  niemand.  Es  wurde  nichts  U  n- 
wahresgesagt. 

Zeuge  Anton  Wünsch:  Den  Ausdruck  „Wisch  Papier"  habe  ich 
nicht  gehört.  Vom  Militär  wurde  nichts  Beleidigendes  gesprochen.  Von  einer 
Aufreizung  oder  Aufregung  habe  ich  nichts  bemerkt.  Auf  mich  hat  die  Rede 
einen  guten  Eindruck  gemacht. 

Zeuge  Gottfried  König,  Bäcker:  Vom  „Wisch  Papier"  habe  ich  nichts 
gehört,  sondern,  daß  die  Staatsgrundgesetze  nicht  mehr  wert  sind  als  das 
Papier,  auf  welchem  sie  gedruckt  sind,  wenn  sie  nicht  gehandhabt  werden. 
Ich  habe  nichts  Strafbares  gefunden,  die  anderen  haben  auch  Beifall  gezollt. 

Es  wird  nun  die  Relation  verlesen. 

Die  Zeugen,  nochmals  vorgerufen,  erklären  dieselbe  im  allgemeinen 
für  sinngemäß,  aber  nicht  wortgetreu. 

Es  gelangen  die  Zeugen  über  die  Schumburger  Rede  zum  Verhör. 

Zeuge  Bezirkssekretär  Ullrich:  Diese  Rede  habe  ich  durch  den 
Lehrer  Wünsch  stenographieren  lassen.  Diesmal  hat  der  Dr.  Adler 
etwas  gemäßigter  gesprochen;  ich  war  selten  in  der  Lage,  ihn  zu 
ermahnen.  Ich  habe  den  Eindruck  gemacht,  daß  sie  Unzufriedenheit  mit 
den  bestehenden  Zuständen  erregt  hat. 

Vorsitzender:  Woraus  schließen  Sie  das? 

Zeuge:  Die  betreffenden  Stellen  wurden  von  den  Zuhörern  mit 
Beifall  aufgenommen. 

Dr.  Adler:  Glauben  Sie,  daß  eri^t  meine  Rede  die  Leute 
unzufrieden  gemacht  hat  oder  daß  die  Leute  vielleicht  doch 
schon  früher  unzufrieden  waren? 

Zeuge:  Darüber  habe  ich  kein  Urteil;  die  Möglichkeit  ist  nicht 
ausgeschlossen. 

Zeuge  Josef  Hoff  m  a  n  n  fand  nichts  besonders  Neues  in   der  Rede. 

Zeuge  Eduard  Z  e  1 1  e  r  hat  nichts  Aufreizendes  gefunden.  Ich  habe 
nachher  mit  vielen  Leuten  über  die  Versammlung  gesprochen,  aber  ich  habe 
keine  Erregung  gefunden. 

Zeuge  Siegmund  Robitschek,  Gastwirt:  Etwas  Böses  habe  ich 
nicht  gefunden,  eine  aufreizende  Tendenz  habe  ich  nicht  gemerkt. 

Zeuge  Emanuel  Schwarz  hat  nichts  Aufreizendes  gefunden. 

Zeuge  Wilhelm  Schi  e  r,  Kaufmann :  Ich  meinerseits  erkenne  die 
Rede  Dr.  Adlers  als  wahr  an.  Dieselbe  hat  auf  die  Zuhörer  einen  gün- 
stigen Eindruck  gemacht.  Niemand  hat  öffentlich  den  Ausführungen  des 
Redners  widersprochen,  nur  einer  sagte:  „Wenn  er  nur  kein  Jude  war'!'" 

Vorsitzender:  Herr  Dr.  Adler  ist  ja  kein  Jude,  ich  habe  das 
gestern  zu  konstatieren  vergessen;  er  ist  Protestant. 

Zeuge:  Auch  wurde  ^•om  Regier  ungs  vertretet  das 
Lachen  verboten,  und  dann  wurde  auch  nicht  mehr  gelacht! 

Zeuge  Alois  Wünsch,  Lehrer  in  Gablonz,  welcher  telegraphisch 
vorgeladen    wurde,   gibt  an,  er  habe  auf  Ansuchen  des   Bezirkssekretärs   die 


Dit'  Schwargerichtsverhandlung  in  Reichenberg  163 

Rede  Dr.  Adlers  in  Scliumburg  stenographisch  aufgenommen  und  bezeichnet 
sein   Stenogramm  sowie   dessen   ihm   vorgewiesene   Übertragung  als  richtig. 

Der  Vorsitzende  verliest  nun  die  von  Dr.  Adler  in  Schumburg  gehal- 
lene  Rede,  w-as  fast  eine  Stunde  in  Anspruch  nimmt. 

Die  Zeugen  werden  wieder  einzeln  befragt,  ob  die  verlesene  Rede 
übereinstimme  mit  der  Adlers. 

Zeuge  Bezirkssekretär  Ullrich   erklärt  sie   für  richtig. 

Dr.  Adler:  Sie  haben  gesagt,  daß  die  Rede  in  Scham- 
burg Ihnen  am  wenigsten  Anlaß  zu  Unterbrechungen  gegeben 
hat,  daß  Sie  bei  allen  anderen  Versammlungen  öfter  unter- 
brochen haben  als  in  Schumburg.  Ich  bitte,  Herr  Präsident,  zu 
konstatieren,  wie  oft  diese  Rede  unterbrochen  wurde. 

Vorsitzender:  Es  sind  17  Unterbrechungen  notiert. 
Heiterkeit.^ 

Die  anderen  Zeugen  geben  an,  die  Rede  sei  ziemlich  richtig  wieder- 
gegeben. 

Hierauf  wird  die  Verhandlung  um  halb  7  Uhr  abgebrochen. 

Dritter  Yerhandlungstag. 

Montag  früh  um  9  Uhr  wird  die  Verhandlung  wieder  eröffnet.  Es 
werden  Aussagen  der  Zeugen  Josef  Friedrich  und  Vinzenz  E  n  d  1  e  r 
verlesen. 

Zeuge  Wenzel  Heran,  Pfarrer:  Ich  bin  zur  Versammlung  gegangen, 
um  zu  hören,  ob  etwas  gegen  die  Religion  vorgebracht  werde.  Ich  habe  mir 
Amnerkungen  gemacht,  keine  stenographischen.  Über  die  Religion  hat  er 
wenig  gesprochen;  was  er  gesprochen  hat,  war  zum  Teil  auch  im  Interesse 
des  niederen  Klerus,  von  der  Kongrua,  von  der  Stola,  wie  sich  die  niedere 
Geistlichkeit  ihr  Einkommen  herausbetteln  müsse.  Sonst  ist  mir  nichts 
besonders  aufgefallen.  Mir  war  nur  der  Ausdruck  „himmlische  Gendarmerie'" 
etwas  ungewohnt,  sonst  habe  ich  nicht  gehört,  daß  der  Redner  der  Religion 
Verachtung  bezeigt  hätte.  Es  sind  dann  der  Gemeindevorsteher  und  andere 
zu  mir  gekommen,  und  ich  habe  ihnen  meine  Notizen  diktiert.  Es  war  bloß 
ein  Auszug.  Der  Eindruck,  den  die  Rede  auf  mich  machte,  war,  daß  die 
meisten  Leute  sie  nicht  verstanden  haben.  Ich  glaube,  daß  die  Rede 
beabsichtigte,  die  Leute  unzufrieden  zu  machen. 

Vorsitzender:  Das  werden  sie  wohl  schon  ohnehin  gewesen  sein. 

Zeuge:  Ich  würde  vor  einem  solchen  Publikum  nicht  so  gesprochen 
haben,  daß  es  geheißen  hat:  „Gestohlenes  Kapital." 

Dr.  Adler:  Sie  haben  also  nicht  stenographiert.  Können 
Sie   behaupten,  daß  es  geheißen  hat:    „Gestohlenes   Kapital"? 

Zeuge:  Nein.  Es  kann  auch  anders  geheißen  haben. 

Sodann  nimmt  der  Vorsitzende   dem  Angeklagten  die   Generalien   ab. 

Vorsitzender:  Haben  Sie  ein  Vermögen? 

Dr.  Adler:  Ich  besitze  jetzt  kein  Vermögen,  ich  lebe 
von  meiner  Arbeit. 

11* 


164  Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg 

Vorsitzender:    Sind   Sie   schon   gerichtlich   beanständet? 

Dr.  Adler:  Ich  bin  einmal  bestraft  wegen  Vergehens 
nach  §  302  und  §  305  St.-G. ;  das  war  in  Wien  während  de;^ 
Ausnahmezustandes,  in  einem  Preßprozeß  vor  dem  Ausnahme- 
gericht. Es  handelte  sich  um  den  Tramwaystreik.  Ich  erhielt 
vier  Monate  verschärften  Arrest.  Dann  hatte  ich  einige  kleinere 
Strafen,  die  ich  nicht  in  Evidenz  halte,  wegen  §  23,  §  24  Preß- 
gesetz,  §  312  einigemal. 

Vorsitzender:  Waiaim  kamen  Sie  vor  das  Ausnahmegericht? 

Dr.  Adler:  Weil  der  Staatsanwalt  behauptete,  es  sei  ein 
anarchistisches  Vergehen.  Der  Herr  Landesgerichtsrat  H  o  1- 
z  i  n  g  e  r  war  auch  der  Ansicht. 

Staatsanwalt:  Sie  wollen  sagen,  der  Gerichtshof  war  auch  der 
Ansicht. 

Dr.  Adler:   Der  Herr  Holzinge  r  war  der  Ansicht.. 

Staatsanwalt:  Es  war  ja  ein  ganzer  Senat. 

Dr.  Adler:  Herr  Holzinger  war  der  Ansicht. 

Der  A^erteidiger  läßt  aus  dem  Protokoll  eine  Äußerung  des  Anton 
Jäckcl  verlesen:  „Der  Eindruck  der  Rede  auf  die  Mehrzahl  der  Anwesenden 
war  ein  bedeutender.  Man  sah,  daß  Adler  ihnen  aus  dem  Herzen 
gesprochen  habe."  Es  wird  hierauf  die  ?sote  der  Polizeidirektion  Wien 
verlesen.  Darauf  wird  das  Beweis  verfahren  geschlossen  und 
die  Fragen  an  die  Geschwomen  formuliert. 

Es  folgen  nun  die 

Plädoyers. 

Zunächst  ergreift  das  Wort  der 

Staatsanwalt:  Meine  Herren  Gesell wornen!  Hoher  Gerichtshof! 
Herr  Dr.  Adler  bezeichnete  den  gegen  ihn  angestrengten  Prozeß  als  einen 
Tendenzprozeß.  Ich  erlaube  mir,  dieser  Anschauung  entgegenzutreten.  Die 
Regierung  hegt  keine  Gehässigkeit  gegen  die  ärmere  und  arbeitende  Klasse. 
Im  Gegenteil,  sie  schuf  in  den  letzten  Jahren  das  Institut  der  Gewerbe- 
inspektoren, sie  schuf  die  bekannten  Wohlfahrtsgesetze,  die  Arbeiter- 
Krankenversicherung,  die  Unfallversicherung,  und  sie  wird  vielleicht  auch 
mit  der  Zeit  die  in  Deutschland  bereits  eingeführte  Alters-  und  Invaliden- 
versorgung schaffen.  Ja,  die  Regierung  sucht  auch  die  politischerr  Rechte  der 
Arbeiter  zu  erweitern;  sie  legte  ihrerseits  einen  Wahlreformcntwurf  vor. 
welcher  den  bürgerlichen  und  gemäßigten  Parteien  sogar  zu  weitgehend, 
schien.  Daraus  kann  man  das  Wohlwoilen  der  Regierungskreise  für  die 
Arbeiter  am  besten  ersehen.  Auch  die  Staatsanwaltschaft  oder  meine  Wenig- 
keit hat  keine  Voreingenommenheit  gegen  die  ärmeren  Klassen  und  gegen  die 
.\rbeiter.  Ich  selbst  bin  ja  nicht  Kapitalist.  Ich  hege  auch  keine  Voreinge- 
nommenheit gegen  Dr.  Adler.  Er  ist  ja  ein  geistvoller,  sympathischer  Mann, 
mit  dem  man  sich  recht  gerne  über  politische  und  soziale  Fragen  >auf  aka- 
demische Weise  unterhalten  wird.  Er  ist  auch  wegen  keines  ehrlosen  Delikte 
bestraft  oder  verfolgt.  Er  ist,  abgesehen  von  politischen  Delikten,   ein  sehr 


Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg-  165 

anständiger  Mann.  Wenn  irgend  jemand  solche  Reden  gehalten  hätte,  würde 
jeder  ohne  Ansehen  der  Person  wegen  derselben  strafgerichtlich  verfolgt 
Avorden  sein,  wenigstens  in  diesem  Sprengel.  Es  ist  nur  eine  Amtspflicht, 
welche  mich  dazu  bewegt,  die  Anklage  gegen  Herrn  Dr.  Adler  zu  erheben, 
um  dem  verletzten  Gesetz  Sühnung  zu  verschaffen.  Der  Prozeß  ist  in  dem 
Sinne  ein  politischer,  weil  es  sich  um  sogenannte  politische  Delikte  handelt. 
Die  inkriminierten  Reden  entstanden  aus  seinem  Bestreben,  die  sozia- 
listischen Ideen  zu  verbreiten.  Die  Verbreitung  sozialistischer  Ideen  ist  an 
und  für  sich  nicht  strafbar.  Die  Regierung  bewilligte  namentlich  in  den 
letzten  Jahren,  daß  es  gestattet  sei,  sich  als  Sozialist  zu  bekennen  und  seinen 
Ideen  Verbreitung  zu  verschaffen.  Sie  bewilligte  ein  Koalitionsgesetz,  wonach 
es  gestattet  ist,  zu  streiken,  sie  bewilligte  zahlreiche  Vereine  der  Arbeiter, 
sie  bewilligte  noch  zahlreichere  Versammlungen,  es  existiert  eine  bedeu- 
tende, weitverbreitete  Presse.  Wenn  auch  die  Behörden  häufig  in  die  Lage 
kommen,  Artikel  dieser  Presse  als  ungesetzlich,  strafbar  zu  inhibieren  und 
zu  verbieten,  so  existiert  dennoch  eine  bedeutende  Preßfreiheit,  durch  welche 
es  möglich  ist,  daß  die  Arbeiter  ihre  Beschwerden  zur  öffentlichen  Kenntnis 
bringen  können.  Ja  es  ist  allgemein  bekannt,  daß  in  Arbeiterblättern  oft 
die  Zustände  in  manchen  Betrieben  in  so  greller  Weise  geschildert  werden, 
daß  sie  nicht  immer  der  Wirklichkeit  entsprechen  und  Berichtigungen  zur 
Folge  haben.  Die  sozialdemokratische  Agitation  ist  also  gestattet,  jedoch  mit 
der  Einschränkung:  im  Rahmen,  in  den  Schranken  der  bestehenden  Gesetze. 
Wenn  diese  Agitation  über  diese  Grenzen  hinausgeht,  dann  ist  die  Staats- 
anwaltschaft vei-pflichtet,  einzuschreiten.  Es  handelt  sich  also  darum,  ob 
der  Angeklagte  diese   Schranken  überschritten  hat. 

Es  sind  im  ganzen  fünf  Reden,  welche  inkriminiert  sind.  Die  erste  ist 
in  Dessendorf  gehalten  worden.  Da  liegt  ein  Stenogramm  des  Juristen 
Witsche  vor,  welches,  abgesehen  von  einigen  Lücken,  im  ganzen  wort- 
nnd  sinngetreu  ist.  Der  Zeuge  selbst  sagt,  daß  vielleicht  noch  mehr 
gesprochen  wurde,  was  aber  darin  stehe,  sei  gesprochen  worden.  Die 
Richtigkeit  des  Stenogramms  wird  auch  von  anderen  Zeugen  bestätigt; 
diesen  Aussagen  stehen  die  der  Entlastungszeugen  gegenüber,  welche  aber 
auch  zugeben  müssen,  daß  es  der  Rede  im  wesentlichen  entspricht,  über 
die  Rede  in  Reichenau  liegt  ein  Stenogramni  des  Pfarrers  Beran  vor;  die 
Richtigkeit  desselben  wird  von  diesem,  vom  landesfürstlichen  Kommissär 
Josef  Ullrich,  vom  Gemeindevorsteher  P  e  u  k  e  r  t  und  anderen  Zeugen 
bestätigt,  welche  sich  von  Pater  Beran  die  Aufzeichnungen  diktieren 
ließen.  Von  der  Rede  in  Wiesenthal  liegt  keine  schriftliche  Aufzeichnung 
vor,  sondern  der  Regierungskommissär  Josef  Jacek  machte  sich  damals 
Notizen,  die  er  heute  nicht  mehr  hat.  Er  hat  aber  bei  seiner  ersten  Ver- 
nehmung unter  dem  frischen  Eindruck  des  Gehörten  Angaben  gemacht  und 
selbstverständlich  die  reine  Wahrheit  gesagt.  Alle  Zeugen  bestätigen  wenig- 
stens im  wesentlichen  diese  Angaben.  Über  die  Versammlung  in  Grünwald 
machte  sich  der  Herr  Kommissär  Ullrich  bei  der  Verhandlung  Notizen 
und  erstattete  eine  Relation  bei  seinem  Vorgesetzten.  Es  liegt  ein  Aktum  der 
politischen  Behörde  vor,  ein  PmtokoU  über  die  Aussagen  der  Zeugen 
J  ä  c  k  e  1,  Vorsteher,  Adolf  Kratzer  t,  Schöffe  1,  Josef  K  r  a  t  z  e  r  t,  die 
sich   selbst   zur   Zeugenschaft   anboten.    Diese    bezeichnen    die   Relation    als 


166  Die  Scliwurgerichtsverhandlung  in  Reichenlieig 

Vollkommen  richtig.  Die  Entlastungszeugen  erklären,  die  Aufzeichnungen 
entsprechen  dem  Sinn  der  Rede.  Über  die  Rede  in  Schumburg  liegt  ein  Steno- 
gramm des  Lehrers  Wünsch  vor,  dessen  Richtigkeit  allgemein  anerkannt 
wird.  Dr.  Adler  erklärt  sich  für  nichtschuldig,  hat  aber  im  großen  und 
ganzen  die  Richtigkeit  der  Aufzeichnungen  und  der  Zeugenaussagen 
zugegeben.  Nur  einzelne  Ausdrücke,  die  ihm  besonders  A-orfänglich  er- 
scheinen, bestreitet  er;  er  hat  aber  vorgestern  vor  Gericht  Äußerungen 
gemacht,  die  es  ganz  möglich  erscheinen  lassen,  daß  er  auch  die  anderen 
Stellen  gesagt  hat.  Er  erklärt,  daß  jene  Stellen  aus  dem  Zusammenhang 
gerissen  sind.  Er  will  weiters  nicht  vom  Militär,  sondern  vom  Militarismus 
als  System  gesprochen  haben.  Er  will  auch  keine  Religionsstörung  begangen 
haben.  Aber  vorgestern  sagte  er  erst:  „Wir  wünschen  nicht,  daß  die  Kinder 
m  eine  dogmatische  Richtung  hineingezwängt  werden;  wir  wollen  keinen 
konfessionellen  Drill."  Als  sehr  verfänglich  schien  ihm  jedenfalls  auch  die 
Äußerung  über  die  Bluturteile.  Das  sucht  er  nun  anders  zu  drehen,  als 
es  aufgefaßt  wird,  stellt  aber  wieder  eine  Behauptung  auf,  die  wieder  hart 
an  die  Grenzen  des  Strafgesetzes  stößt.  Er  sagt;  „Wenn  die  Prager  Richter 
so  leichte,  milde  Urteile  fällten,  so  können  Sie  überzeugt  sein,  daß  diese 
Leute  ganz  unschuldig  waren.'"  Das  ist  offenbar  eine  Zumutung,  daß  die 
Prager  Richter  Unschuldige  zu  einer,  wenn  auch  geringen  Strafe  verurteilen. 
Schließlich  bestätigt  er  aber:  „Ich  sagte  vielleicht,  daß  auch  von  öster- 
reichischen Gerichten  einmal  Bluturteile,  Urteile,  die  allzu  streng  und  scharf 
waren,  gegen  Sozialisten  gefällt  wurden.'"  —  Die  Äußerungen  über  den 
Reichsrat  gibt  er  zu;  den  Ausdruck  „gestohlenes""  Kapital  will  er  als  bedenk- 
lich nicht  gebraucht  haben,  das  ist  das  einzige,  was  er  entschieden  und 
direkt  in  Abrede  stellt.  Die  Äußerungen  über  das  Eigentum  deutet  er  zu 
einem  anderen  Sinne  um,  welchen  er  zu  motivieren  sucht.  Endlicli  stellt  er 
jede  beleidigende  Absicht  gegenüber  der  Armee  in  Abrede. 

Was  die  Behauptungen  über  die  Stenogramme  betrifft,  so  wiid  nur 
bestätigt,  daß  in  der  Rede  auch  noch  anderes  vorgebracht  wurde,  als  was 
hier  steht.  Was  aber  hier  steht,  ist  tatsächlich  vorgebracht  worden.  Heri- 
Dr.  Adler  sagte,  die  Äußerungen  seien  ungenau,  lückenhaft,  aus  dem 
Zusammenhang  gerissen  und  entstellt  wiedergegeben.  Aber  er  konnte  dies  im 
einzelnen  Falle  nicht  beweisen.  Er  verlegt  sich  auch  weniger  auf  die  Bestrei- 
tung der  Äußerungen  als  darauf,  eine  andere  Auffassung,  eine  andere  Inter- 
pretation glaubhaft  zu  machen.  Es  ist  auch  gar  nicht  anzunehmen,  daß  die 
Verfasser  der  Aufzeichnungen  irgend  etwas  hineingedichtet,  etwas  ersonnen 
hätten.  Der  Einwand,  daß  die  Äußerungen  aus  dem  Zusammenhang  gerissen 
seien,  ist  nicht  stichhaltig  bei  so  langen  Reden  und  bei  fünf  Reden,  welche 
zum  Teil  in  vollkommenem  Zusammenhang  vorhanden  sind.  Die  bestrittenen, 
weil  bedenklichen  Äußerungen,  wie  „Wisch  Papier"",  „Bluturteil",  über  das 
Militär,  sind  jedenfalls  bestätigt. 

Nun  die  Zeugenaussagen.  Wir  haben  da  positive  Zeugen- 
aussagen, welche  die  Richtigkeit  der  Äußerungen,  daß  sie  dieselben  wirklich 
gehört  haben,  bestätigen  oder  wenigstens  in  dem  nach  den  Versammlungen 
aufgenommenen  Protokoll  bestätigten.  Ihnen  gegenüber  stehen  negative 
Aussagen,  nämlich  die  der  meisten  Entlastungszeugen,  welche  sich  die  Sache 
recht  leicht  gemacht  haben,  indem  sie  auf  die  Fragen  nach  den  verfänglichen. 


Die  Schwiirgerichtsverhandlung  in  Reichenberg  167 

Worten  angaben,  nichts  zu  wissen,  sich  nicht  mehr  erinnern  zu  können, 
nicht  die  ganze  Rede  gehört  zu  haben.  Ohne  der  Wahrhaftigkeit  dieser 
Zeugen  nahetreten  zu  wollen,  so  ist  doch  zu  bemerken,  daß  positive  Zeugen- 
aussagen nicht  ohnewoiters  durch  die  Aussagen  von  Zeugen  entkräftet 
werden,  welche  eine  Wahrnehmung  nicht  gemacht  haben.  Dazu  kommt 
der  Unterschied  in  der  Stellung  der  Zeugen.  Auf  seifen  der  Belastung  stehen 
)ene  öffentlichen  Organe,  Regierungskommissäre,  Gemeindevorsteher,  Aus- 
Schüsse  und  dergleichen,  diese  halten  ein  weit  größeres  Interesse,  zu 
erfahren,  was  wirklich  gesprochen  wurde.  Sie  waren  auch  auf  einem 
bevorzugten  Platze,  offenbar  neben  dem  Redner.  Die  anderen  Zeugen  hatten 
weniger  Interesse  daran,  haben  auch  in  der  Bewegung,  im  Lärm  nicht  alles 
gehört.  Es  kam  noch  eine  schriftliche  Aufzeichnung  zutage,  die  vorher  gar 
nicht  vorkam;  da  kommt  sogar  eine  neue  verfängliche  Äußerung  vor, 
nämlich,  „daß  die  neuen  Gewehre  an  den  Arbeitern  in  Nürschan  und  Pilsen 
erprobt  wurden";  dadurch  ist  die  Möglichkeit,  daß  die  anderen  ehrenrührigen 
Äußerungen  über  das  Militär  vorgebracht  wurden,  bestätigt.  Es  ist  meiner 
Ansicht  nach  alles  vollkommen  erwiesen,  was  tatsächlich  vorgebracht  wurde, 
und  dann  handelt  es  sich  nur  darum,  zu  prüfen,  ob  imd  welche  strafbaren 
Handlungen  durch  die  einzelnen  Reden  begangen  wurden.  Vorher  aber  will 
ich  noch  den  Eindruck  der  Reden  besprechen.  Bezüglich  der  Rede  in 
Dessendorf  gibt  der  Vorsteher  N  i  t  s  c  h  e  an,  daß  er  zwar  den  Redner 
nicht  unterbrochen  habe.  Er  dachte  sich,  daß  er  ja  ohnehin  das  Gesprochene 
fixiert  habe.  Aber  sowohl  er  als  Adolf  N  i  t  s  c  h  e  halten  die  Rede  für  auf- 
reizend. Wenigstens  gaben  sie  das  in  dem  Protokoll  an,  welches  sie  unter 
dem  Eindruck  der  Rede  abgegeben  haben,  wenn  sie  auch  diesmal  diese 
Ansicht  nicht  so  entschieden  vorbringen  wollten.  Dementgegen  halten  andere 
Zeugen  die  Rede  für  nicht  aufreizend.  Die  Rede  in  Reichenau  wurde  vom 
landesfürstlichen  Kommissär  öfter  unterbrochen;  der  Gemeindevorsteher 
Peukert  gibt  an,  daß  zu  viel  gesprochen  wurde,  was  nicht  gut  war,  daß 
viele  diese  Rede  tadelten.  Hofrichter  gibt  an,  daß  die  Rede  ihm 
ungesetzlich  und  aufreizend  schien.  Dagegen  finden  Herr  Zell  er  und  fünf 
andere  Zeugen  nichts  Ungesetzliches  darin.  Der  Pater  Beran  erklärt,  er 
habe  zwar  nichts  gegen  die  Religion  darin  gefunden,  aber  er  habe  den  Ein- 
druck, daß  die  Rede  unzufrieden  machen  könne,  daß  er  vor  einem  solchen 
Publikum  nicht  so  gesprochen  hätte,  daß  es  ihn  wunderte,  als  der  Polizei- 
kommissär bei  den  Äußerungen  über  das  Militär  nicht  unterbrach.  Die  Rede 
in  Wiesenthal  wurde  vom  Herrn  Regierungsvertreter  J  a  c  e  k  zweimal  unter- 
brochen; er  findet  die  Rede  gehässig  und  aufreizend.  Herr  Bergmann, 
jener  Zeuge,  welcher  trotz  des  erhaltenen  Drohbriefes  mit  voller  Ent- 
schiedenheit bei  der  Wahrheit  blieb  und  aussagte,  der  dadurch  einen  großen 
Beweis  von  Charakterfestigkeit  und  Uberzeugungstreue  an  den  Tag  legte, 
erklärte,  daß  die  Rede  eine  wahre  Brandrede  war,  daß  er  sich  wundere,  wie 
man  solche  Dinge  öffentlich  vorbringen  dürfe.  Herr  Z  e  1 1  e  r  fand  die  Rede 
nicht  gehässig.  Die  Rede  in  Grünwald  wird  vom  Kommissär  Ullrich  als 
einen  gewaltigen  Eindruck  machend  geschildert,  daß  demonstrativer  Beifall 
folgte,  daß  er  die  Versammlung  auflösen  mußte,  weil  das  Publikum  lebhaft 
demonstrierte,  als  er  dem  Redner  das  Wort  entzog.  Die  Zeugen  Anton 
J  ä  c  k  e  1,  Franz   .1  ä  c  k  e  1.  Adolf  K  r  a  t  z  e  r  t  und  Josef  K  r  a  t  z  e  r  t  finden 


168  Die  Sch^vurg•erichtsvel■handlung•  in  Reichenberg 

die  Rede  aufreizend  und  melden  sich  selbst  bei  der  Bezirkshauptmannschaft 
als  Zeugen,  dagegen  finden  die  anderen  Zeugen  die  Rede  für  nicht  aufreizend. 
Die  Rede  in  Schuml)urg  findet  der  Regierungskommissär  etwas  gemäßigter, 
aber  doch  Unzufriedenheit  erregend ;  die  anderen  Zeugen  finden  nichts  Straf- 
bares darin.  Nun  sind  die  inkriminierten  Äußerungen  auf  ihre  Slrafbarkeit 
zu  prüfen. 

Nach  der  Ansicht  der  Staatsanwaltschaft  ist  die  Störung  der  öffent- 
lichen Ruhe  und  Ordnung  durch  Erregung  und  Haß  und  Verachtung  gegen 
die  Staatsverwaltung  durch  Äußerungen  in  Dessendorf,  Reichenau  und 
Grünwald  begangen,  und  zw'ar  dadurch,  daß  die  Zustände  im  österreichischen 
Vaterland  auf  eine  so  schwarze  Weise  geschildert  wurden,  daß  dadurch  in 
jedem  Hörer  eine  Erbitterung  gegen  das  Vaterland,  gegen  diejenigen,  die 
solche  Zustände  verschulden,  hervorgerufen  werden  kann  und  muß.  Es  wird 
da  gesagt,  daß  eine  Ungleichheit  in  der  Behandlung  der  Staatsbürger 
herrsche,  daß  die  armen  Arbeiter  nur  unterdrückt  und  geknechtet  werden, 
daß  die  Ableistung  der  Wehrpflicht  eine  ungleiche  sei.  Wenn  jemand  die 
Zustände  im  Viaterland,  welches  uns  doch  so  teuer  und  heilig  ist,  auf  eine 
so  entstellte  Weise  schildert,  so  ist  das  warklich  geeignet,  in  den  Zuhörern 
das  Gefühl  der  Erbitterung  hervorzurufen.  Der  Herr  Dr.  Adler  wendet  ein, 
daß  er  das  Wort  Staatsverwaltung  und  Regierung  gar  nicht  gebraucht  hat. 
Das  ist  unrichtig-  Der  Herr  Doktor  ist  durch  langjähriges  Verfassen  von 
Artikeln,  durch  Abhaltung  von  Versammlungen  in  dieser  Beziehung  hin- 
reichend erfahren,  um  vorsichtig  zu  sein,  wie  ja  alle  Redakteure  es  über- 
haupt vermeiden,  direkte  Vorwürfe  gegen  die  Regierung  oder  die  Behörden 
zu  machen,  sondern  sich  mit  allgemeinen  Ausdrücken:  „man'",  „es  wird'", 
„es  geschieht'",  zu  behelfen,  weil  sie  meinen,  damit  der  Verantwortung  für 
eine  Gesetzesverletzung,  namentlich  dieses  Paragraphen,  zu  entgehen. 
Dadurch  wird  aber  der  wahre  Sinn,  die  Tendenz,  die  Absicht  des  Sprechers 
nicht  gehindert.  Wenn  in  einem  Lande  wirklich  solche 
Zustände  herrschen,  so  muß  doch  jeman<l  daran  schuld 
tragen,  dafür  verantwortlich  sein!  Wer  ist  das?  Die 
Regierung  oder  die  Staatsverwaltung!  Wenn  man  daher 
gegen  die  Zustände  in  einem  Lande  solche  Vorwürfe  und  Beschwerden  erhebt, 
so  greift  man  die  verantwortliche  Staatsverwaltung  an,  gegen  welche  dadurch 
jedenfalls  zu  Haß  und  Verachtung  aufzureizen  gesucht  wird. 

In  der  Rede  in  Grünwald  wurde  auch  vorgebracht,  die  Staatsgrund- 
gesetze hätten  nicht  mehr  Wert  als  ein  Wisch  Papier.  Der  Ausdruck  Wisch 
ist  ein  so  geringschätziger,  verächtlicher,  daß  darüber  gar  nicht  gestritten 
werden  kann,  ob  dadurch  zum  Haß  und  zur  Verachtung  gegen  die  Staats^, 
grundgesetze  aufgefordert  wird.  Der  Angeklagte  sucht  das  so  zu  drehen,  daß 
er  die  Äußerung  nur  bedingungsweise  gemacht  habe.  Aber  das  selbst 
zugegeben,  so  bleibt  das  ganz  gleich;  auch  durch  die  Äußerung,  die  Staat>- 
grundgesetzo  seien  nicht  mehr  wert  als  das  Papier,  worauf  sie  gedruckt  sind; 
wird  zur  Verachtung  gegen  die  Staatsgrundgesetze  aufgefordert.  Das  Ver- 
brechen der  Religionsstörung  ist  in  der  Dessendorfer  Rede  begründet.  Wenn 
auch  der  Herr  Dr.  Adler  dies  leugnet  und  korrigiert,  so  ist  es  docli 
strafbar,  wenn  man  das  Heiligste,  was  der  Mensch  hat,  die  Religion,  die 
Grundlage  des  Staates,  der  Familie,  herabzieht  und  sich  über  sie  in  so  ver- 


Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg  169 

•ächÜichem  Sinne  ausspricht.  Jede  Religion  muß  einer  positiven  Konfession 
entsprechen,  und  diese  muß  wieder  in  einer  bestimmten  Weise  dem  Men- 
schen beigebracht  werden-  Dieselbe  muß  den  Kindern  im  zartesten  Alter 
beigebracht  werden.  Wenn  sich  der  Herr  Doktor  nun  dagegen  so  scharf 
ausspricht,  so  muß  in  jedem  das  Gefühl  der  Verächtlichmachung  der  Religion 
erweckt  werden.  Durch  die  Rede  in  Wiesonthal,  und  zwar  durch  die 
Äußerung,  daß  die  österreichischen  Gerichte  wahre  Bluturteile  gefällt  hätten, 
werden  jedenfalls  die  österreichischen  Gerichte,  das  heißt  die  Behörden 
herabzuwürdigen  gesucht.  Der  Angeklagte  hat  diese  Äußerung  eigentlich  nicht 
bestritten,  sondern  vielmehr  zu  rechtfertigen  gesucht.  Er  hat  dabei  eine 
Äußerung  gemacht,  welche  das  bestätigt,  was  die  Anklage  behauptet. 

Durch  die  Rede  in  Reichenau  wurde  der  Reichsrat  beleidigt,  indem 
ihm  vorgeworfen  wurde,  daß  er  seiner  Zusammensetzung  nach  die  Vorteile 
der  Großgrundbesitzer  und  Großkapitalisten  wahre;  vom  Herrenhause  wurde 
gesagt,  daß  es  das  wenige  Volksfreundliche,  wenn  etwas  im  Abgeordneten- 
haus durchgehe,  vernichte.  Es  wird  zwar  manche  Kritik  gegen  das  Parlament 
auch  in  Österreich  vorgebracht,  allein  eine  solche  Äußerung  über.-chreitet 
jedenfalls  das  Maß  einer  erlaubten  Kritik.  Auch  ist  sie  unwahr  und  entstellt, 
indem  bekanntlich  alle  volksfreundlichen  Gesetze,  die  in  der  letzten  Zeit 
geschaffen  wurden,  eben  von  den  beiden  Häusern  des  Reichsrates  beschlossen 
wurden  und  beschlossen  werden  mußten. 

Durch  die  Reden  in  Dessendorf  und  Reichenau  wurde  nach  meiner 
Ansicht  auch  zu  Feindseligkeiten  gegen  die  einzelnen  Klassen  der  bürger- 
lichen Gesellschaft,  insbesondere  gegen  die  Besitzenden  aufzureizen  ven-^ucht. 
E?  werden  da  die  Zustände  in  übertriebener  und  entstellter  Weise  dargestellt, 
es  werden  die  Besitzer  und  die  Großindustriellen  als  die  wahre  Ursache 
alles  Elends  in  der  Welt  hingestellt,  es  wird  nur  Schlechtes  vorgebracht, 
was  dieselben  tun  oder  dulden,  nicht  das  geringste  Gute  erwähnt,  das  sie 
tatsächlich  tun;  es  wird  verschwiegen,  daß  auch  reiche  Großmdustrielle, 
Großhändler  mitunter  fallieren.  Es  wird  der  Gegensatz  zwischen  Reichen 
und  Armen  in  so  greller  und  krasser  Weise  herv'orgehoben  und  geschildert, 
da(j  dadurch  in  den  Hörern,  i)esonders  ia  denen  mit  minderem  Besitz,  wirklich 
ein  Gefühl  des  Hasses,  eine  feindselige  Gesinnung  gegen  die  Besitzer  hervor- 
gerufen wird.  Es  ist  nicht  nötig,  daß  es  gerade  zu  Feindseligkeiten  kommt, 
es  genügt  die  Erweckung  einer  feindseligen  Gesinnung,  die  im  Herzen  des 
Hörers  immer  mehr  erstarkt  und  vielleicht  bei  eintretender  Gelegenheit  sich 
kundgibt-  Durch  die  Äußerung  in  der  Dessendorfer  Rede  wird  jedenfalls  auch 
der  Rechtsbegriff  über  das  Eigentum  zu  erschüttern  versucht.  Es  wird  das 
Eigentum  als  nicht  heilig  hingestellt.  In  jedem,  der  weniger  Eigentum  hat, 
wird  das  Gefühl  hervorgerufen,  daß  das  Eigentum  der  anderen  möglichst  bald 
■und  radikal  beseitigt  werden  möge. 

Ich  komme  nun  zu  der  Beleidigung  der  kaiserlichen  Armee,  welche 
in  allen  Reden  begangen  wurde.  Herr  Dr.  Adler  sucht  das  dahin  zu  deuten, 
daß  er  eigentlich  den  Militarismus  im  allgemeinen  gemeint  habe.  Wir  haben 
aber  hier  die  Rede  in  so  viel  Variationen  gehört,  daß  an  dem  wahren  Sinn 
kein  Zweifel  sein  kann.  Es  ist  auch  vollkommen  unglaubwürdig;  denn  eine 
rein  theoretische,  abstrakte  Abhandlung  über  den  Militarismus  als  System 
in   Europa  hätte  bei  den  Zuhörern,  unbeschadet  ihrer  Intelligenz,   doch   zu 


170  l-)ie  Sohwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg 

wenig  Interesse  und  Verständnis  gefunden.  Wenn  dem  Militär  imputiert  wird, 
daß  es  nicht  gegen  äußere  Feinde,  sondern  eigentlich  nur  gegen  die  Arbeiter, 
zum  Schutz  der  gefüllten  Kassen  da  ist,  so  muß  das  in  jedem  das  Gefühl 
der  Verachtung  und  des  Hasses  gegen  das  Militär  als  solches  erwecken.  Es 
mag  sein,  daß  sich  ein  einzelner  Soldat  nicht  beleidigt  fühlt,  der  sich  im 
Sinne  des  Herrn  Dr.  Adler  als  Opfer  des  Militarismus  betrachtet,  das  ist 
aber  nicht  maßgebend,  aber  die  ganze  Körperschaft  ist  jedenfalls  verächtlicher 
Eigenschaft  geziehen  und  dem  öffentlichen  Spott  preisgegeben.  Es  bleibt  noch 
die  böse  Absicht,  die  vom  Gesetz  gefordert  wird,  zu  erörtern-  Der  Angeklagte 
bestreitet  jede  aufreizende  Absicht  und  gibt  an,  daß  er  jene  Reden  nur  in 
der  Absicht  gehalten  habe,  um  sich  als  Kandidat  für  den  Reichsrat  vor- 
zustellen, und  dann  auch,  um  Anhänger  für  sein  Programm  zu  finden.  Die 
persönliche  Vertretung  des  Programms  ist  an  und  für  sich  nicht  strafbar,  nur 
muß  sie  innerhalb  der  Schranken  des  Gesetzes  geschehen.  Die  ^Vbsicht  liegt 
in  diesen  Fällen  im  Wortlaut  und  im  wahren  .Sinne.  Und  sie  ist  eine  böse, 
aufreizende.  Wenn  man  immer  nur  das  Ungünstigste  hervorhebt,  was  in 
einem  Staate  geschieht,  wenn  man  als  die  Ursache  von  allem  möglichen  den 
Staat  und  die  besitzenden  Klassen  hinstellt,  so  kann  doch  keine  andere 
Absicht  vorhanden  sein,  als  die  Hörer  gegen  die  Institutionen,  die  ihrem 
Wohl  so  feindlich  entgegenstehen,  aufzureizen  und  in  ihnen  das  Gefühl  zu 
erwecken,  daß  möglichst  bald  eine  radikale  Umwälzung  in  diesen  Ein- 
richtungen stattfinden  sollte.  Die  Absicht  ist  bei  solchen  mündlichen  Äuße- 
rungen nicht  zweifelhaft,  namentlich  wenn  es  sich  nicht  um  ein  zufälliges 
Gespräch  in  i'inem  Wirtshaus  handelt,  wo  ein  der  Politik  fernstehender 
Mensch  ein  Wort  hinwirft,  ohne  aufreizen  zu  wollen.  Aber  ein  Mann  wie 
Dr.  Adler,  der  eine  solche  politische  und  soziale  Bildung  besitzt,  der  sich 
nach  eigenem  Geständnis  jahrelang  mit  politischer  Tätigkeit  und 
Agitation  befaßt.  Reden  hält  und  Artikel  schreibt,  der  muß  sich  voilkoiiimen 
bewußt  sein  der  Bedeutung  und  der  Tragweite  seiner  Äußerungen.  Der 
Angeklagte  ist  aber  auch  wirklich  fähig,  eine  solche  Absicht  zu  haben.  Ich 
will  ihm  keinen  Vorwiirf  wegen  überstandener  Strafen  machen,  aber  es 
muß  auch  die  Frage  geprüft  werden,  ob  jemand  nach  seinem  Vorleben  einer 
Handlung  fähig  ist.  Und  da  muß  er  zugeben,  daß  er  tatsächlich  bereits 
wiederholt  mit  dem  Gesetz  in  Konflikt  gekommen  ist,  und  zwar  wegen 
ähnlicher  Handlungen.  Es  kann  also  bei  ihm  nicht  der  geringste  Zweifel  über 
das  Vorhandensein  der  bösen  Absicht  obwalten.  Ich  glaube  daher,  daß  die 
Herren  Geschwornen  ohne  Skrupel,  ohne  Bedenken  die  an  sie  gestellten 
Fragen  einhellig  bejahen  und  so  dem  verletzten  Gesetz  Sühnung  ver- 
schaffen werden. 

Dr.  Jennel: 
Wenn  ich  es  übernommen  habe,  die  Verteidigung  des  Herrn  Dr.  Adler 
in  diesem  politischen  Prozeß  zu  führen,  obwohl  ich  weder  der  Partei  angehöre, 
der  er  angehört,  noch  mit  seinen  Anschauungen  im  einzelnen  und  vielleicht 
im  ganzen  übereinstimme,  so  geschah  es  in  der  Erwägung,  daß  hier  etwas 
ganz  anderes  in  Frage  steht  als  die  Persönlichkeit  des  Herrn  Dr.  Adler 
selbst,  daß  hier  in  Frage  steht  das  Recht  der  freien  Rede  in  politischen  A.n- 
gelegenheiten  überhaupt.  Meine  Herren  Geschwornen!  Sie  mögen  die  An- 
sichten des  Herrn  Dr.  A  d  1  e  r  teilen  oder  nicht  —  es  wird  von  Ihnen   viu'- 


Die  Schwurgerichtsverhandlung-  in  Reichenberg  171 

mutlich  niemand  sein,  der  sie  teilt  —  aber  wenn  eine  Rede,  in  welcher  mau 
sich  derartig  mit  der  Kritik  der  öffentlichen  Venhältnisse  befaßt,  jedesmal  der 
VerfolKung;  durch  den  Staatsanwalt  und  einer  Verurteilung  unterläge,  dann  ist 
das  politische  Leben  in  Österreich  überhaupt  unmöglich,  dann  ist  es  tot. 
Denn  jeder,  der  in  irgendeiner  Versammlung  über  öffentliche  Zustände  spricht^ 
si€  vom  Standpunkt  dieser  oder  jener  Partei  einer  Kritik  unierzieht,  er  wird 
dasjenige,  was  er  für  schlecht  findet,  als  schlecht  bezeichnen,  er  \vir<i 
trachten,  die  Zuhörer  von  seiner  Ansicht  zu  überzeugen,  für  seine  Partei  An- 
hänger zu  wefben,  er  wird  alles  das  in  einem  sogenannten  Rechtsstaat  Er- 
laubte und  'für  jede  Partei  Erlaubte  tun.  Es  hat  der  Herr  .Staatsanwalt  selbst 
die  Güte  gehaibl,  zuzugestehen,  daß  auch  die  sozialdemokratische  Partei  von 
der  Regierung  geduldet  wird  —  natürlich  nicht  von  der  Regierung,  sondern 
vom  Gesetz.  Sie  ist  eine  Partei,  die  wie  jede  andere  unter  das  gemeine  Recht 
gestellt  ist  und  auf  welche  also  auch  'd'as  geraeine  Recht  angewendet  werden 
muß.  Es  mag  sein,  daß  Ihnen  einzelne  Lehren  dieser  Partei  recht  gefährlich 
erscheinen,  daß  diese  Partei  vom  Standpunkt  ganzer  Gesellschaftsklassen 
ungemein  schädlich  erscheint.  Aber  von  diesem  Gedanken  dürfen  Sie  sich 
hier  nicht  leiten  lassen,  denn  Sie  sitzen  hier  als  Richter.  Sie  müssen  Ihre 
eigene  Parteistellung,  Ihre  eigenen  politischen  Ansichten  beiseite  lassen,  Sie 
müssen  ganz  unparteiisch  prüfen,  ob  das,  was  Dr.  Adler  vorgebracht  hat, 
d*em  bestehenden  Strafgesetz  nach  zulässig  sei  oder  nicht.  Und  da  freilich 
kommen  wir  zur  Frage  unseres  Strafgesetzes  über  politische  Vergehen  über- 
haupt. Das  bestehende  Strafgesetz  verdankt  seine  Entstehung  dem  Jahre  1803, 
einer  Zeit,  wo  es  eine  Verfassung  in  Österreich  überhaupt  nicht  gab,  wo  der 
Kaiser  absolut  regierte;  im  Jahre  1852  ist  es  neuerdings  revidiert  worden,  zu 
einer  Zeit  also,  welche  wie  Sie  ja  wissen,  die  Zeit  der  schwärzesten  Reaktion 
nach  dem  kurzen  Aufflackern  des  konstitutionellen  Lebens  im  Jahre  1848 
war.  Es  sind  also  die  Bestimmungen  über  politische  Delikte  eigentlich  für 
verfassungsmäßige  Zustände  schon  recht  schwer  anwendbar  und  schwer  an- 
zupassen. 

Wenn  wir  abei'  selbst  den  strengen  Wortlaut  dieses  Strafgesetzes  an- 
wenden, so  kommen  wir  zur  Überzeugung,  daß  Dr.  Adle  r,  mag  er  auch  sonst 
ein  noch  so  gefährlicher  Mensch  sein,  in  jenen  Reden  keines  jener  Verbrechen, 
Vergehen  und  Übertretungen  begangen  hat.  Wie  kam  er  dazu,  jene  Reden 
zu  halten?  Es  war  anläßlich  der  Reichsratsersatzwahl,  daß  die  sozialdemo- 
kratische Partei  die  Gelegenheit  benützte,  um  zu  demonstrieren,  daß  sie 
bereits  unter  den  Wahlberechtigten  Anhang  habe.  Ihr  Kandidat,  Dr.  Adler, 
hat  20  bis  30  Versammlungen  abgehalten.  Nun  ist  es  klar.  <laß  niemand  über 
ein  Thema  20  bis  30  verschiedene  Reden  halten  kann.  Man  kann  also  ganz 
sicher  schließen,  daß  die  unbeanstandeten  Reden  von  Reichenberg,  Fried- 
land, Starkenbach  ganz  dieselbe  Tendenz,  ganz  denselben  Inhalt,  ja  zum 
großen  Teil  denselben  AVortlaut  gehabt  haben  wie  die  beanstandeten  Reden 
im  Gablonzer  Bezirk.  Der  Gedankengang  scheint  mir  am  besten  in  der  Re- 
lation des  Regierungsrates  Ullrich  üiljer  die  Reichenauer  Rede  wieder- 
gegeben zu  sein.  Dr.  Adler  sagte  also:  „Wir  haben  uns  mit  einer  Reichs- 
ratswahl zu  beschäftigen.  Diese  beruht  auf  der  Verfassung;  in  der  Verfas.sung 
sind  wunderbare  Prinzipien;  es  ist  an  die  Spitze  derselben  das  Prinzip  ge- 
stellt: Alle  Staatsbürger  sind  vor  dem  Gesetze  gleich.  Ist  aber  diese  Gleich- 


172  Uie  Sch\\T.irgerichtsverhandlung  in  Reichenberg 

heit  vor  dem  Ges-etze  wirklich  vorhanden?"  Und  er  beantwortet  diese  Frage: 
..Nein,  weil  die  Verfassung  durch  spätere  Bestimmungen  vielfach  ab- 
geschwächt und  durch  die  Verwaltungspraxis  noch  mehr  abgeschwächt  ist." 
Er  sagt  ganz  drastisch:  „Gehen  Sie  und  probieren  Sie  zu  wählen,  und  Sie 
werden  sofort  überzeugt  sein,  daß  vor  dem  Wahlgesetz  nicht  alle  Staatsbürger 
gleich  sind."  Er  zeigt  dann  an  der  Hand  des  Preßgesetzes,  an  der  Hand  des 
A'agabundengesetzes,  daß  die  Staatsbürger  nicht  gleich  vor  dem  Gesetze  sind. 
Damit  hat  aber  Dr.  Adler  nichts  Neues  gesagt,  das  haben  wir  so  alle  gewußt. 
Er  hat  dann  über  das  allgemeine  Wahlrecht  gesprochen  und  ist  auf  die  ali- 
gemeinen Zustände  gekommen,  hat  auf  das  bestehende  Elend  weiter  Be- 
völkerungsschichten  hingewiesen,  hat  dargelegt,  daß  die  Übermacht  des 
Kapitals  die  Arbeiter,  die  Kleinbürger  und  die  Bauern  niederdrückt,  und  hat 
dagegen  dargelegt,  daß  das  Großkapital  und  der  Großgrundbesitz  eine  überaus 
bevorzugte  Stellung  einnehmen,  daß  sich  das  Kapital  immer  mehr  anhäuft, 
und  ist  auf  den  Militarismus  übergeganigen  und  hat  erklärt,  daß  derselbe  nicht 
nur  den  Schutz  des  Staatsgebietes  gegen  auswärtige  Feinde,  sondern  auch  im 
wesentlichen  einen  Schutz  Jür  das  Großkapital  bildet.  Darin  erblickt  nun  die 
Staatsanwaltschaft  eine  ganze  Reihe  von  Delikten.  Es  handelt  sich  um  Wort- 
delikle.  Bei  Wortdelikten  kommt  es  nicht  so  sehr  auf  den  Sinn  als  auf  den 
Wortlaut  der  einzelnen  Äußerungen  an.  Es  liegen  uns  nun  allerdings  bezüglich 
zweier  Reden  stenographische  Aufzeichnungen  vor;  aber  bezüglich  des 
Dessendorfer  Stenogramms  erklärt  der  Verfasser,  Herr  Nitsche,  selbst,  daß 
er  nicht  einer  der  vorzüglichsten  Stenographen  sei,  daß  er  nur  60  bis  70 
Wörter  in  der  Minute  schreibe.  In  der  Tat  sind  auch  derartige  Lücken  und  Aus- 
lassungen vorhanden,  ist  die  Konstruktion  der  einzelnen  Sätze  so  mangelhaft, 
daß  man  wii^lich  auf  den  Wortlaut  dieser  Aufzeichnung  nicht  viel  Gewicht 
legen  kann.  Aber  ich  lege  darauf  wenig  Gewicht,  da  sich  ja  Herr  Dr.  A  d  1  e  r 
nicht  auf  den  Standpunkt  des  Leugnens  gestellt  hat,  sondern  nur  seine  eigene 
rednerische  und  logische  Auffassung  vor  einzelnen  Entstellungen  und  Zu- 
sammenziehungen schützen  will.  In  dieser  Rede  soll  er  das  Verbrechen  der 
Störung  der  öiffentlichen  Ridie  be,gangen  haben,  indem  er  zu  Haß  und  Ver- 
achtung gegen  die  Staatsverwaltung  aufzureizen  versucht  habe.  Es  liegt  schon 
ein  Widerspruch  darin,  daß  die  Anklage  sagt,  er  habe  zu  Haß  u  n  d  zur  Ver- 
achtung aufgereizt.  Was  ich  hasse,  erscheint  mir  gefährlich,  aber  nicht  ver- 
ächtlich, was  ich  verachte,  erscheint  mir  zu  niedrig,  als  daß  ich  es  hassen 
könnte.  Es  könnte  also  nur  heißen:  Zum  Haß  o  der  zur  Verachtung.  Nun  hat 
.iber  der  Herr  Staatsanwalt  selbst  zugeben  müssen,  daß  in  der  ganzen  Rede 
von  der  Staatsverwaltung,  von  der  östen-eichischen  Regierung  oder  von  einem 
Mitglied  derselben  alDsolut  keine  Rede  war.  Es  ist  auch  zu  envarten,  daß  die 
sozialdemokratische  Partei,  welche  eine  internationale  Partei  ist,  nicht  eine 
einzelne  Regierung,  nicht  einzelne  Minister  zum  Gegenstand  ihrer  Angriffe 
machen  wird,  sondern  daß  sie  die  ganze  Gesellschaftsordnung,  welche  ein  ge- 
schichtliches Produkt  ist,  angreift.  Die  geschilderten  Ztistände  bestehen  nicht 
nur  in  Osterreich,  sondern  in  allen  Ländern,  in  welchen  die  gegenwärtige 
Gesellschaftsordnung  herrscht,  wenigstens  nach  der  Auffassung  des  Herrn 
Dr.  Adler.  Weder  eine  Regierung,  noch  ein  Ministerium,  ja  nicht  einmal 
die  besitzenden  Klassen,  gegen  welche  die  Angriffe  gerichtet  werden,  sind 
schuld  an  den  Zuständen.  Die  Verhältnisse  sind  ein  Produkt  der  Geschichte, 


Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg-  173 

sie  haben  sich  Ciitnickelt.  und  ebensowenig  wie  man  sagen  kaoin,  daß  die 
remischen  Patrizier  schuld  waren,  wenn  in  Rom  die  Sklaverei  bestand,  oder 
daß  die  Pflanzer  in  -Amerika  schuld  waren,  wenn  dort  die  Negersklaverei 
bestand,  ebensowenig  kann  ma^i  sagen,  daß  für  gewisse  gesellschaftliche 
Nichteiie  irgendeine  bestimmte  Piegierung  verantwortlich  sei.  Aber  dem 
Herrn  Dr.  Adler  wird  auch  vorgeworfen,  daß  er  gegen  das  Vaterland  ge- 
sprochen habe.  Aber  er  sagte:  Der  arme  Teufel,  dem  keine  Scholle  des  vater- 
ländischen Bodens  zu  eigen  gehört,  der  kann  scliwer  eine  Liebe  haben  zu  dem 
Vaterland,  das  ihm  nichts  bietet.  Aber  wenn  die  Verhältnisse  besser  werden, 
wenn  das  sozialdemokratische  Programm  durchgeführt  wird  (was  ich  natürlich 
für  ganz  utopistisch  lialte),  wenn  die  Welt  von  Milch  und  Honig  überfließen 
wird,  dann  werden  wir  -das  Vaterlanö  lieben.  Das  ist  doch  keine  Aufreizung 
zu  Haß  und  Verachtung  gegen  die  österreichische  Regierung,  das  sagen  die 
Parteigenossen  des  Dr.  Adler  in  Paris,  ein  anderer  in  London  und  ein  dritter 
in  Amsterdam.  Daß  die  derzeitige  österreichische  Regierung  jene  Zustände 
nicht  geschaffen  hat.  ist  ja  klar,  denn  die  Regierungen  wechseln.  Daß  Herr 
Dr.  Adler  sich  nicht  ausschließlich  mit  österreichischen  Verhältnissen 
beschäftigt  hat,  zeigt  ja  gerade  die  Stelle  von  den  Spitzbuben,  die  es  a  u  c  h 
bei  uns  gebe.  Er  hat  offenbar  auch  von  Frankreich  gesprochen  und  gesagt: 
.Seien  wir  nicht  Pharisäer,  bei  uns  ist's  auch  nicht  besser,  auch  bei  uns  gibt 
es  politische  Korruption,  nur  geht  man  bei  uns  mit  der  Sache  nicht  so  weit., 
l'nd  daß  er  da  recht  hat,  beweist  ja  der  neueste  Fall,  wo  sogar  die  Worte  des 
Kaisers  zu  faulen  Börsienmanövern  benützt  wurden  und  wo  die  Untersuchung 
doch  im  Sande  verlaufen  ist.  —  Dr.  A'dler  soll  aber  auch  gegen  die  Ver- 
fassung zu  Haß  und  zur  Verachtung  aufgereizt  haben.  Aber  aus  dem  Steno- 
gramm von  Schumburg  ersehen  wir  deutlich  den  Zusammenhang.  Er  sagte: 
•,Die  Verfassung  ist  sehr  •schön  und  gut."  Nun,  etwas,  was  man  schön  und 
gut  findet,  das  haßt  und  verachtet  man  nicht.  Er  sagte  dann  \veiter:  „Aber 
leider  sind  die  schönen  Grundprinzipien  in  der  Ausführun^g  nicht  vorhanden, 
die  Grundsätze  der  Verfassung  werden  nicht  gehandhabt."  Er  hat  also  nicht 
gegen  die  Verfassung  aufgereizt,  sondern  nur  getadelt,  daß  die  Verfassung 
durch  spätere  Gesetze,  durch  Verordnung  und  hauptsächlich  durch  die  Ver- 
waltungspraxis nicht  durchgeführt  w-ird.  Speziell  die  Verwaltungspraxis  ist 
so  eine  Sache;  da  ändert  sich  oft  vieles,  was  'man  Jahre  und  Jahrzehnte  lang 
für  heilig  und  sicher  gehalten  hat,  im  Handumdrehen.  Ich  erinnere  da  an  die 
Verwaltungspraxis  bezüglich  des  §  2  des  Versammlungsgesetzes.  Plötzlich 
erscheint  eine  oberstgerichtliche  Entscheidung  über  den  Begriff  der  «geladenen 
Gäste"  und  die  zwanzigjährige  Verwaltungspraxis  wird  vollständig  um- 
geäjidcrt.  Ein  anderes  Beispiel.  Es  besteht  seit  1803  im  Strafgesetz  ein  Para- 
graph über  das  Hasardspiel.  Bis  vor  drei  Jahren  ist  keinem  Menschen  ein- 
gefallen, daß  das  Spielen  in  der  „blauen  Lotterie"  darunterfällt.  Plötzlich 
erklärt  eine  Entscheidung,  daß  es  unter  den  Hasardparagraphen  zu  sub- 
sumieren sei.  Wenn  man  die  Verwaltungspraxis  mit  der  Verfassung  vergleicht, 
so  sieht  man,  daß  von  dem  ganzen  Prinzip  nur  der  Name  übrig  geblieben  ist. 
Wenn  man  aber  das  feststellt,  begeht  man  keineswegs  das  Verbrechen  der 
Störung  der  öffentlichen  Ruhe,  und  ich  erwarte  auch  bezüglich  dieses  Punkte- 
den Freispruch  meines  Klienten. 


ITi  Die  Schwiu'gerichtsverhandlung-  in  Reichenberg   . 

Nun  kommen  wir  zum  Verbrechen  der  Religionsstörung.  Sie  haben 
hier  einen  Vertreter  deiienigen  Konfession  gehört,  welchier  die  ungeheure 
Majorität  der  Bevölkeiiing  angehört;  der  mit  der  Absicht  in  die  Versammlung 
kam,  um  zu  hören,  ob  etwas  Verächtliches'  über  die  Religion  gesprochen 
wurde,  und  der  ausdrücklich  erklärt,  daß  er  nichts  Strafbares  gefunden  habe. 
Dr.  Adler  hält  es  nicht  für  gut,  daß  die  Kinder  in  ein  bestimmtes  konfessio- 
nelles System  hineingezavängt  werden.  Dazu  braucht  man  aber  durchaus  kein 
Sozialdemokrat  zu  sein,  u'm  einzusehen,  daß  man  kleine  Kinder  nicht  Sachen 
lehren  soll,  die  weit  über  ihre  Auffass^mgskraft  hina/usgehen;  daß  es  besser 
wäre,  wenn  man  in  diesen  jungen  Jahren  nicht  so  sehr  dogmatische  und 
konfessionelle  Dinge,  sondern  mehr  den  moralischen  Gehalt,  der  in  jeder 
lleliigion  ist,  lehren  solle. 

Nun  komme  ich  au<f  das  Vergehen  nach  §  300.  Ich  habe  hier  den 
Bericht  des  ständigen  Strafgesetzausschusses  des  österreichischen  Abgeord- 
iTetenhauses,  unterzeichnet  von  höchst  konserMativen  Männern,  von  Hemi 
Dr.  Kopp,  von  Graf  P  i  n  i  n  s  k  i,  und  da  ist  folgendes  Urteil  über  den  §  300 
enthalten:  „Die  vorstehende  Bestimmung  hat  den  Zweck,  den  berüch- 
tigten, sogenannten  Haß-  und  Verachtungsparagraphen  des 
gelte  n  d  enRechtes  (§  300  St.-G.)  zu  ersetzen.  Daß  die  Bestimmung  des 
geltenden  Rechtes,  unter  welche  jede  schärfere  Kritik  irgend- 
eines R  e  g  i  e  r  u  n  lg  s  a  k  t  e  s  sich  siubsuimieren  läßt,  d'en  konstitutio- 
nellen Prinzipien  njcht  entspricht  und  reformbedürftig 
ist,  dürfte  allgemein  anerkannt  sein-"  Wenn  unser  Parlament  etwas  mehr 
gearbeitet  und  zu  der  Reform  des  Strafgesetzes  gekommen  wäre,  wäre  dieser 
Paragraph  schon  längst  umgeändert  worden.  Aber  selbst  wenn  Sie  diesen 
Paragraphen  so  fassen,  wie  er  da  steht,  so  werden  Sie  finden,  daß  er  von 
der  Anklage  falsch  angewendet  wurde.  Es  soll  durch  das  Wort  „Bluturteil" 
das  Vergehen  nach  §  300  begangen  worden  sein.  Dieses  Wort  ist  nur  durch 
■einen  einzigen  Zeugen,  Herrn  Jacek,  bezeugt;  aber  selbst  dieser  war  nicht 
imstande,  irgendwie  den  Zusammenhang  anzudeuten,  in  welchem  dieses 
AVort  gebraucht  wurde.  Wenn  ich  so  im  allgemeinen  sage,  daß  von  den 
österreichischen  Gerichten  Bluturteile  gefällt  werden,  so  sage  ich  nichts 
Unwahres,  denn  manchmal  werden  ja  in  der  Tat  Todesurteile  gefällt.  Ich 
W'ill  damit  sagen,  daß  man  nichts  schließen  kann  aus  dem  einzigen  Worte, 
wenn  der  Zusammenhang  gänzlich  fehlt.  Es  geht  nicht  an,  wegen  einer 
allgemeinen  Kritik  über  allzu  große  Strenge  oder  auch  allzu  große  Milde 
der  Urteile  nach  §  300  belangt  zu  werden.  Der  Herr  Minister  Schönborn 
hat  vor  einiger  Zeit  die  entgegengesetzte  Meinung  geäußert,  nämlich  daß  die 
gefällten  Urteile  der  österreichischen  Gerichte  zu  milde  seien-  Das  ist 
ebenfalls  eine  Kritik,  in  welcher  man  ebenso  eine  Sclmaähung  der  Behörden 
erblicken  könnte  wie  in  der  Kritik,  daß  die  Urteile  zu  streng  seien.  Ich 
•jjaube,  daß  auf  diese  angebliche  Äußerung  Adlers  der  §  300  nicht 
anwendbar  ist. 

Dann  kommt  der  Reichsrat,  der  dadurch  beleidigt  worden  sein  soll, 
daß  gesagt  wird,  das  Parlament  habe  infolge  seiner  Zusammensetzung  nur 
das  Interesse  des  Großgrundbesitzes  und  des  Großkapitals  im  Auge.  Aber 
meine  Herren,  das  ist  ja  das  oberste  Prinzip  der  Wahlordnung,  daß  gewisse 
bestimmte  Interessen  vertreten  sein  sollen.  Unser  Parlament  ist  eine  Inter- 


Die  öchwurserichtsvei'handlung  in  Reichenberg  175 


osscnverlretung,  aber  eine  Volksvertretung  offenbar  nicht,  weil  ja  zwei  Drittel 
der  Bevölkerung  vom  Wahlrecht  ausgeschlossen  sind.  Nun  ist  es  ja  klar,  daß 
ein  so  zusammengesetztes  Parlament,  daß  eine  solche  Interessenvertretung 
vor  allem  die  Interessen  dieser  Kreise,  des  Großgrundbesitzes  und  des  Groß- 
kapitals, vertreten  wird.  Daß  es  das  tut,  haben  wir  ja  in  den  letzten  Tagen 
pesehen,  wo  die  kaiserliche  Regierung  einen  Wahlreformantrag  eingebracht 
hat  und  damit  gescheitert  ist.  Was,  die  Äußemng  über  das  Herrenhaus  soll  , 
auch  eine  Beleidigung  sein?  Es  ist  doch  bekannt,  daß  alle  Herrenhäuser  aus 
höchst  konservativen  Personen  zusammengesetzt  sind,  welche  gegen  'Ände- 
rungen der  bestehenden  Zustände  unbedingt  einschreiten.  Das  Herrenhaus 
ist  überall  dazu  da,  um  ein  zu  rasches  Tempo  der  Gesetzgebung,  ein  zu 
rasches  Vorwärtsschreiten  hintanzuhalten.  Diese  Bestimmung  erfüllt  das 
österreichische  Herrenhaus  in  Übereinstimmung  mit  den  Herrenhäusern  aller 
Staaten.  Das  ist  aber  eine  Tatsache  und  keine  Aufreizung,  keine  Beleidigung- 
Wenn  das  zu  sagen  nicht  erlaubt  wäre,  dann  wäre  überhaupt  keine  Kritik 
der  Tätigkeit  des  Parlaments  erlaubt.  Wenn  das  Volk  wählen  soll,  muß  es 
wissen,  was  der  Abgeordnete  getan  hat,  muß  es  die  Tätigkeit  derjenigen,  die 
gewählt  wurden,  beurteilen  können;  jeder  Mann,  der  gewählt  ist,  muß  sich 
die  Kritik  gefallen  lassen.  Eine  Beleidigung  des  Reichsrates  aber  liegt  in  den 
Äußerungen  Dr.  Adlers  nicht. 

Es  handelt  sich  noch  um  Vergehen  nach  §  302  und  §  305.  Das  Ver- 
sehen nach  §  302  begeht,  wer  zu  Feindseligkeiten  gegen  Nationalitäten  oder 
Klassen  und  Stände  der  bürgerlichen  Gesellschaft  aufzureizen  versucht. 
Der  Herr  Staatsanwalt  aber  substituiert  auf  einmal  „feindselige  G  e  s  i  n- 
n  u  n  g  e  n".  Das  Gesetz  ist  ohnehin  streng  genug,  aber  Gedanken  und 
Gesinnungen  sind  bisher  denn  doch  noch  in  Österreich  zollfrei.  Zu  feind- 
seligen Gesinnungen  aufzureizen  ist  gestattet;  das  muß  gestattet  sein, 
weil  sonst  ein  öffentliches  und  konstitutionelles  Leben  gar  nicht  denkbar 
ist.  Es  müßte  der  Herr  Staatsanwalt  den  Beweis  führen,  daß  Dr-  A  d  1  e  r 
zu  Feindseligkeiten,  zu  Tätlichkeiten  aufgefordert  hat;  aber  der  Herr  Staats- 
anwalt hat  sich  darüber  mit  der  Phrase  von  „feindseligen  Gesinnungen" 
hinweggeholfen.  Wenn  die  Gegensätze  zwischen  den  Besitzenden  und  Besitz- 
losen in  etwas  greller  Farbe  geschildert  werden,  so  konstatiert  man  doch  nur 
landläufige^  allgemein  bekannte  Tatsachen,  aber  dadurch  reizt  man  noch 
nicht  zu  feindseligen  Taten  auf. 

Der  Herr  Staatsanwalt  sprach  von  der  bösen  Absicht  des  Dr.  A  d  1  e  r. 
Seine  wahre  Absicht  war,  gewählt  zu  werden  oder  wenigstens  eine  bedeu- 
tende Stimmenzahl  zu  erreichen.  Einzelne  zartbesaitete  Gemüter  haben  die 
Sachen  etwas  zu  stark  gefunden;  nun,  das  Urteil  der  Menschen  ist  ver- 
schieden. Mancher  ist  päpstlicher  als  der  Papst,  manchem  scheint  das  etwas 
Gewöhnliches  zu  sem,  was  dem  anderen  gefährlich  erscheint.  Ein  biederer 
Zeuge,  ein  alter  Herr,  Vertreter  einer  Gemeinde,  hat  uns  ganz  schlicht  gesagt : 
Ich  habe  nichts  Besonderes  gefunden,  mich  hat  es  nicht  aufgereizt,  ich  habe 
CS  nicht  aufreizend  gefunden.  Mit  dem  Zeugen  Adolf  Bergmann  hätte  der 
Herr  Staatsanwalt  am  besten  nicht  hervortreten  sollen;  auf  einen  unpar- 
teiischen Menschen  hat  dieser  Zeuge  gewiß  keinen  günstigen  Eindruck 
gemacht.  Wenn  jemand  mit  einem  solchen  Fanatismus  auftritt  wie  dieser 
Zeuge,  wenn  jemand   so   entsetzt  von    einer  „Brandrede"   spricht   und  sich 


176  Die  Schwurgerichtsvei'handlung  in  Reichenberg 

nicht  genug  verwundern  kann,  daß  der  Regierungsvertreter  „solclie  Reden"' 
zuläßt,  so  kann  einem  Richter  ein  solcher  Zeuge  niclit  imponieren.  Der 
Regierungsvertreter  war  da  noch  liberaler  als  Herr  Bergmann.  Da  haben 
wir  einen  anderen  Zeugen,  den  Herrn  Oberlehrer  Simm,  dem  man  gewiß 
keine  Parteilichkeit  vorwerfen  kann,  und  der  sagt:  „Den  Eindruck  von  etwas 
Strafbarem  habe  ich  nicht  gewinnen  können,  eine  Beleidigimg  des  Militärs 
habe  ich  nicht  vernommen."  Es  ist  so,  wie  ich  gesagt  habe.  Man  könnte 
vielleicht  sagen,  daß  es  vielleicht  besser  wäre,  die  Sozialdemokraten  unter 
ein  Ausnahmegesetz  zu  stellen.  Aber  solange  dies  nicht  der  Fall  ist,  stehen 
sie  unter  dem  gemeinen  Recht.  Was  der  einen  Partei  recht  ist,  muß  auch 
der  Sozialdemokratie  gegenüber  billig  sein.  Es  mag  sein,  daß  die  Sozial- 
demokratie unseren  bürgerlichen  Parteien  nicht  gefällt;  wir  sollten  sie 
violleicht  energischer  bekämpfen,  als  wir  es  tun,  aber  den  Sozialdemokralen 
überhaupt  das  Wort  abzuschneiden,  haben  wir  so  lange  kein  Recht,  als  sie 
unter  dem  gemeinen  Recht  stehen.  Herr  Dr.  Adler  soll  auch  die  Rechts- 
begriffe über  das  Eigentum  zu  erschüttern  versucht  haben.  Er  hat  gewiß  als 
Sozialdemokrat  über  das  Eigentum  gesprochen,  aber  er  hat  nur  die  Heiligkeit 
des  Eigentums  angezweifelt.  Meine  Herren!  Die  Heiligkeit  des  Eigentums  ist 
meiner  Ansicht  nach  doch  wirklich  eine  Art  Blasphemie,  welche  die  kapi- 
talistische Gesellschaft  auf  dem  Gewissen  hat.  Heilig  ist  nach  meiner  Idee 
etwas  Irdisches  überhaupt  nicht.  Was  Adler  sagte,  daß  nur  das  Eigentun» 
heilig  genannt  werden  könnte,  das  auf  eigener  Arbeit  beruht,  das  wird  jeder 
von  uns  sagen.  Ich  schätze  den  Mann,  der  mit  Fleiß  und  eigener  Anstrengung 
ein  kleines  Besitztum  erworben  hat,  mehr  als  den,  dem  vielleicht  ein  Gewinn 
in  der  Lotterie  ein  Vermögen  in  den  Schoß  geworfen  hat  oder  der  an  der 
Börse  ein  gutes  Geschäft  gemacht  hat.  Adler  hat  auf  die  Konfiskationen 
im  Dreißigjährigen  Krieg  hingewiesen.  Ich  als  Jurist  kann  das  nur  dahin 
ergänzen,  daß  allerdings  das  Eigentum  im  Laufe  der  Geschichte  seine 
AVandlungen  gemacht  hat.  Wenn  der  alte  Aristoteles  in  einem  seiner  Werke 
die  Sklaverei  verteidigt,  verteidigt  er  damit  eine  Form  des  Eigentums,  die 
uns  heute  den  größten  Abscheu  einflößt.  Wenn  nach  der  Entdeckung  von 
Amerika  Las  Casas,  um  die  Ausbeutung  der  einheimischen  Bevölkerungr 
welche  die  schwere  Arbeit  in  den  Zucker-  und  Kaffeeplantagen  nicht  ver- 
tragen konnte,  zu  verhindern,  auf  die  Idee  gerät,  Negersklaven  einzuführen, 
und  wenn  diese  Sklaverei  durch  .lahrhunderte  in  Amerika  als  ein  Staats- 
grundgesetz besteht,  so  werden  Sie  doch  selbst  sagen:  „Heilig  war  dieses 
Eigentum  an  den  Schwarzen  nicht."  Dr.  Adler  hat  die  Heiligkeit  auch 
des  heutigen  Eigentums  bestritten;  sein  Standpunkt  ist,  daß  das  Privatkapital 
in  ein  kollektives,  in  Eigentum  der  Gesellschaft  übergehen  sollte;  das  ist 
eine  Lehre  der  Sozialdemokratie,  die  jeder  Sozialdemokrat  zu  vertreten 
befugt  ist,  solange  man  nicht  überhaupt  die  Verbreitung  seiner  Lehren 
untersagt.  Die  verschiedenen  Formen  des  Eigentums  haben  aufgehört,  die 
Leibeigenschaft  hat  aufgehört,  obwohl  die  Großgrundbesitzer  fest  daran 
gehalten  haben,  die  Gesetzgebung  mußte  es  beseitigen.  Die  Möglichkeit  einer 
Änderung  in  bezug  auf  das  heutige  Eigentum  ist  also  nicht  ausgeschlossen. 
Es  soll  in  allen  Reden  die  k.  u.  k.  Armee  beleidigt  worden  sein.  Aber 
unter  allen  Zeugen  hat  sich  nicht  eine  Stimme  erhoben,  welche  das  bewiese. 
Alle  stimmten  darin  überein,  daß  es  sich  bloß  um  die  Institution  des  Mili- 


Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg  177 

tarismus  gehandelt  habe.  Und  diese  Institution  anzugreifen,  ist  durchaus 
nicht  verboten.  Im  Deutschen  Reichstag  haben  die  Freisinnigen  diesen  Mili- 
tarismus aufs  heftigste  bekämpft  und  ihm  sogar  alle  Schuld  an  den  schlechten 
Zuständen  in  die  Schuhe  geschoben.  Der  Militarismus  saugt  das  Volk  aus,  er 
bewirkt  den  großen  Steuerdruck,  das  sagt  nicht  nur  der  Herr  Dr.  Adler, 
das  sagen  alle  Leute.  Die  Armeen  müßten  nicht  so  groß  sein,  meint  er 
weiters,  wenn  es  sich  bloß  um  die  auswärtigen  Feinde  handelte.  Der  Kapi- 
talismus benützt  die  Armeen  überall  zu  seinen  eigenen  Zwecken.  Aber  das 
weiß  ja  heute  jeder  Mensch,  und  wenn  ich  mich  über  etwas  gewundert  habe, 
so  darüber,  daß  der  Herr  Staatsanwalt  nicht  diesen  Klagepunkl  aus  eigener 
Überzeugung  zurückzog.  Er  gibt  aber  von  der  Anklage  nicht  den  kleinsten 
Faden  preis.  Daher  ist  es  an  Ihnen,  meine  Herren  Geschwornen,  zu  erkennen, 
daß  alles,  was  Herrn  Doktor  Adler  zur  Last  gelegt  wird,  nichts  weiter  ist 
als  eine  von  seinem  Standpunkt  berechtigte  Kritik  der  bestehenden  Ver- 
hältnisse, vielleicht  mit  etwas  grellerer  Farbe  gemalt,  daß  aber  darin  eine 
Verletzung  irgendeines  positiven  Gesetzes  nicht  gefunden  werden  kann.  Es 
ist  weder  zu  Haß  und  Verachtung  gegen  die  Staatsgrundgesetze,  noch  gegen 
■die  Verfassung,  noch  gegen  die  Regierung,  noch  gegen  die  Religion  auf- 
zureizen versucht  worden.  Es  ist  weder  eine  Beleidigung  des  Reichsrates, 
noch  eine  Schmähung  der  Behörden,  noch  eine  Aufreizung  zu  Feindselig- 
keiten gegen  einzelne  Stände  versucht  worden.  Es  hat  weder  ein  Versuch 
2ur  Erschütterung  der  Rechtsbegriffe  über  das  Eigentum,  noch  eine  Be- 
leidigung der  k.  u.  k.  Armee  stattgefunden.  Ich  glaube,  daß  jeder  von  Ihnen 
diese  Überzeugung  teilt,  die  ich  als  Jurist  und  als  Mensch  von  diesen  Sachen 
gewonnen  habe,  und  so  erwarte  ich  von  Ihnen  ein  einhelliges  Nicht- 
schuldig auf  alle   Fragen. 

Nach  der  Mittagspause  erhält  das  Wort  der  .Ingeklagte. 

Dr.  Adler: 

Nach  der  sehr  ausführlichen,  ausgezeichneten  Rede 
meines  Herrn  Vertreters  wäre  ich  vielfach  der  Mühe  enthoben, 
noch  zu  sprechen,  und  ich  würde  es  gern  vorziehen,  Ihre  schon 
lange  angestrengte  Geduld  nicht  noch  länger  in  Anspruch  zu 
nehmen,  wenn  ich  es  nicht  für  wesentlich  hielte,  außer  dem  rein 
juristischen  Gesichtspunkt  auch  noch  einen,  ich  möchte  sagen, 
rein  persönlichen  Gesichtspunkt  hervorzukehren,  welcher  bei 
dieser  Anklage  eine  Rolle  spielt.  Der  Herr  Staatsanwalt  hat  zur 
Grundlage  dieser  Verhandlung  eine  Anklage  gemacht,  die  mir 
eine  ganze  Anzahl  von  Verbrechen  und  Vergehen  und  auch  eine 
Übertretung  in  die  Schuhe  schiebt,  eine  Anklage,  von  der  es 
mich  nicht  wundern  würde,  wenn  einer  oder  der  andere  der 
Herren  vielleicht  jetzt,  nachdem  wir  so  lange  darüber  sprechen, 
einigermaßen  überrascht  wäre,  daß  so  viele  Voraussetzungen, 
so  viele  Behauptungen   aufgestellt   wurden,    und  die  so  wenig 

12 


178  Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg 

eigentlich  den  Kern  der  Sache  berührt.  Unter  den  vielen 
Zeugenaussagen  waren  mir  einige  besonders  wichtig;  es  sind 
diejenigen,  die  gesagt  haben:  „Was  Adler  gesagt  hat,  das 
wissen  wir  alle  schon  lange;  was  Adler  gesagt  hat,  i  s  t 
w  a  h  r."  Denn  das  ist  es,  was  ich  für  die  Dinge,  die  ich  ge- 
sprochen habe,  in  Anspruch  nehme.  Ich  behaupte,  daß  sie  durch- 
aus objektiv  wahr  sind,  so  wie  sie  auch  meine  innerste  Über- 
zeugung sind,  und  daß  diese  Überzeugung  nicht  nur  die  meine 
ist,  nicht  nur  die  meiner  Partei,  der  Sozialdemokratie,  sondern 
daß  sie  im  wesentlichen  der  Standpunkt  der  heutigen  Wissen- 
schaft ist.  Freilich,  der  Herr  Staatsanwalt  hat  sich  die  Sache 
leicht  gemacht.  Er  sagt:  Der  Mann  hat  ein  Verbrechen  be- 
gangen, das  der  Ruhestörung;  zu  einem  Verbrechen  gehört  der 
„böee  Vorsatz",  der  ist  gegeben,  denn  —  er  ist  Sozial- 
demokrat, das  genügt  vollständig.  Er  hat  weiter  gesagt:  Die 
„böse  Handlung"  ist  auch  gegeben:  Er  hat  —  gesprochen;  und 
der  Erfolg  ist  auch  gegeben:  Man  hat  ihm  applaudiert,  und 
es  wurden  die  Sozialdemokraten  als  Wahlmänner  gewählt.  Und 
nun  fragt  es  sich:  Ist  es  in  Österreich  unter  dem  bestehenden 
Strafgesetz  erlaubt  oder  nicht,  das  sozialdemokratische  Pro- 
gramm zu  vertreten?  Ist  es  erlaubt,  dann  muß  auch  erlaubt  sein, 
was  ich  gesprochen  habe;  ist  es  nicht  erlaubt,  dann  gebe  ich 
dem  Herrn  Verteidiger  recht,  dann  mache  man  Ausnahme- 
gesetze. Man  hat  allerdings  mit  den  Ausnahmegesetzen  in 
Österreich  und  im  Ausland  sehr  böse  Erfahrungen  gemacht,  daß 
sie  zweischneidig  sind,  daß  man  im  Interesse  der  Nicht- 
aufreizung  handelt,  wenn  man  erlaubt,  daß  Dinge,  die  bestehen, 
Übelstände,  die  vorhanden  sind,  beim  richtigen  Namen  ge- 
nannt werden,  daß  man  besser  tut,  wenn  man  nicht  zuungunsten 
der  Arbeiterschaft,  zuungunsten  der  Sozialdemokratie  das 
oberste  Prinzip  der  Staatsgrundgesetzc  ändert.  —  Ich  bin 
einer  ganzen  Reihe  von  Delikten  angeklagt,  und  ein  umfang- 
reiches Beweisverfahren  ist  vorbei.  Aber  eines  müssen  Sie  mir 
zugeben:  B  e  w  i  e  s  e  u  wurde  durch  dieses  Heweisverfahren 
nur  einzig  und  allein  das,  was  ich  v  o  n  v  o  r  n  h  e  r  e  i  n 
nicht  geleugnet  habe,  daß  ich  im  Sinne  des  Programms 
meiner  l'artei  gesprochen  habe,  das  habe  ich  nicht  geleugnet; 
alle  anderen  einzelnen  Ausdrücke,  die  beim  Staatsanwalt  be- 
sonderen Anstoß  erregten,  wurden  auch  durch  das  Beweis- 
verfahren  nicht  bewiesen.  Der  Herr  Staatsanwalt  hat  sich  in 


Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg  179 

eieinem  Plädoyer  immer  auf  mich  berufen  und  gesagt:  „Der 
Angeklagte  hält  diesen  oder  jenen  Ausdruck  für  besonders 
verfänglich  und  wehrt  sich  deshalb  dagegen."  Ich  muß  ihm  da 
leider  widersprechen.  Ich  halte  diese  Ausdrücke  für  durchaus 
nicht  verfänglich;  ich  finde  aber  zu  meinem  Erstaunen,  daß  die 
löbliche  Staatsanwaltschaft  sie  für  verfänglich  hält,  und  da 
muß  ich  ihn  wohl  bitten,  zu  beweisen,  was  er  behauptet.  Aber 
beweisen  konnte  er  doch  nur,  was  ich  von  vornherein  ohne- 
weiters  zugegeben  habe. 

Ich  habe  zunächst  nach  Ansicht  der  Staatsanwaltschaft 
das  Verbrechen  der  Störung  der  öffentlichen  Ruhe  nach  §  G5  a 
begangen.  Ich  brauchte  mich  damit  nicht  lange  zu  beschäftigen, 
da  ja  mein  Herr  Verteidiger  diesem  Punkt  sehr  viel  Zeit 
gewidmet  hat.  Aber  eines  muß  ich  sagen.  Ee  ist  doch  merk- 
würdig, daß  der  Staatsanwalt  sagt:  Der  Angeklagte  hat  Übel-' 
stände  geschildert,  er  hat  die  soziale  Not  ausführlich  dargelegt; 
diese  muß  doch  einen  Urheber  haben :  wer  ist  schuld  an 
dieser  sozialen  Not  ?  Und  der  Herr  Staatsanwalt  sagt, 
nicht  ich  sagte  es :  ,,Dae  kann  kein  anderer  sein  als  die  Re- 
gierung." Und  wo  es  sich  an  anderer  Stelle  um  soziale  Übel- 
stände handelt,  wo  es  sich  um  das  Vergehen  nach  §  305  handelt,' 
daß  ich  das  Elend  der  Armen,  der  Arbeiterschaft,  geschildert' 
habe,  da  fragt  er:  Wer  ist  schuld  daran?  Und  er  antwortet: 
Ja,  das  müssen  die  besitzenden  Klassen  sein.  Das  sagt  der  Herr 
Staatsanwalt,  ich  habe  das  nicht  gesagt,  ich  konnte  es  auch  nicht 
sagen.  Im  Hainfelder  Programm  der  sozialdemokratischen 
Partei  Österreichs  heißt  es:  „Die  Ursache  dieses  unwürdigen 
Zustandes  ist  nicht  in  einzelnen  politischen  Einrichtungen  zu 
ruchen,  sondern  in  der  das  Wesen  des  ganzen  Cresellschafts- 
zustandes  bedingenden  und  beherrschenden  Tatsache,  daß  die 
Arbeitsmittel  in  den  Händen  einzelner  Besitzender  monopoli- 
siert sind."  In  der  Gesellschaftsordnung  als(j,  nicht  in  einer' 
Staatsverwaltung,  die  zufällig  besteht:  unsere  Partei  ist  der 
Republik  gegenüber  ebenso  in  Opposition  wne  der  ^lonarchie. 
Wir  geben  auf  die  Frage,  wer  schuld  sei  an  dieser  Not,  nicht 
die  Antwort:  „Die  derzeitige  Regierung  ist  schuld  oder  ein- 
zelne Fabrikanten  oder  Besitzende  sind  schuld",  sondern  wir 
sagen,  die  ganze  Einrichtung  der  Gesellschaft;  und  die  not-^ 
wendige  Weiterentwicklung  dieser  Gesellschaft  wird  diese  Ein- 
richtungen beseitigen,  genau  so  wie  sie  andere  Einrichtungen 

12* 


180  Die  Schwiirgerichtsverhandlung  in  Reichenberg 

beseitigt  hat.  Dr.  J  e  n  n  e  1  hat  Ihnen  einen  anderen  Ge- 
sellschaftszustand vorgeführt,  dessen  Grundlage  die  Sklaverei 
war.  Ja,  waren  an  der  Sklaverei  etwa  die  einzelnen  Sklaven- 
hälter  schuld?  Durchaus  nicht,  die  waren  ebenso  Werkzeuge, 
Organe  jener  Gesellschaftsordnung,  wie  heute  die  Besitzenden 
und  Nichtbesitzenden,  die  Ausbeuter  und  Ausgebeuteten  in 
diese  Gesellschaftsordnung  eingekeilt  sind.  Eine  einzelne  In- 
stitution oder  gar  eine  einzelne  Regierung  zu  bezeichnen  als  die 
Ursache  des  Elends  liegt  uns  ferne,  das  ist  unserem  Prinzip 
gerade  entgegengesetzt.  Der  Herr  Staatsanwalt  meint  aber 
auch,  daß  ich  jenes  Verbrechen  nach  §  65  a  durch  einige 
Äußerungen  über  das  Militär,  über  Patriotismus  begangen  habe. 
Zunächst  die  Bemerkung,  daß  meines  Wissens  im  §  65  a  von 
Patriotismus  überhaupt  nicht  die  Rede  ist,  daß  es  vom  rein  juri- 
stischen Standpunkt  vollständig  ausgeschlossen  ist,  diesen  Para- 
graphen auf  diese  Stelle  zu  beziehen.  Aber  ich  möchte  aulJer- 
dem  anführen,  daß  meine  Ausführungen  nicht  gegen  die  wahre 
und  echte  Vaterlandsliebe  gerichtet  waren,  sondern  darauf,  den 
Leuten  klarzumachen,  daß  es  eine  erst  noch  zu  lösende  Auf- 
gabe sei,  auch  für  die  Massen  der  Ausgebeuteten  ein  Vaterland 
herzustellen.  Mit  dieser  Ansicht  stehe  ich  nicht  allein,  Sie 
haben  einen  Landsmann,  einen  Reichenberger,  Herrn  Professor 
H  e  r  k  n  e  r,  jetzt  an  der  Technik  in  Karlsruhe,  dem  ich  zu 
meinem  Bedauern  nicht  nachsagen  kann,  daß  er  Sozialdemokrat 
ist.  Dieser  Mann  hat  vor  einiger  Zeit  einen  Aufsatz  geschrieben: 
„Die  Zukunft  der  Deutschösterreicher",  in  welchem  es  unter 
anderem  heißt:  „Allein  würde  mich  jemand  fragen,  wen  ich  für 
den  besseren  deutschen  Patrioten  halte,  jenen  der  inter- 
nationalen Sozialdemokratie  angehörigen,  sein  Dasein  der 
Hebung  seiner  Genossen  aufopfernden  schlichten  Volksmann 
oder  einen  Exporteur,  der  mit  unsoliden  Praktiken  den  Ruf  der 
heimischen  Ware  auf  dem  Weltmarkt  untergräbt,  der  infolge 
einer  gewissenlosen  Lohndrückerei  die  Ware  um  ein  Zehntel 
des  Preises  ausbietet,  zu  welchem  andere  Nationen  produzieren, 
der  allen  Bestrebungen  zur  Organisation  der  Industrie  mit  er- 
l)armungslosem  Egoismus  eich  widersetzt  —  ich  würde  mich 
keinen  Augenblick  besinnen  und  die  Palme  dem  „Hetzer" 
reichen,  mag  vor  der  Villa  des  „hervorragenden  Industriellen" 
eine  noch  so  große  und  schöne  schwarz-rot-goldene  Flagge 
wehen,   und  mag  er  selbst  „gründendes   Mitglied"   des   Schul- 


Die  Schwurgerichtsverhandliing  in  Reichenberg  181 

Vereines  sein.  Wohl  mögen  in  der  Hitze  des  Gefechtee  die 
Leiter  der  Bewegung  die  Unbefangenheit  des  Urteils  zum  Teil 
eingebüßt  haben,  sie  mögen  sich  im  Ton  und  in  der  Wahl  der 
Mittel  nicht  selten  vergreifen,  der  Kern  ihrer  Bestrebungen, 
die  aufsteigende  Klassenbewegung  der  Arbeiter,  ihre  Erhebung 
aus  unsäglichem  Elend  zu  Wohlstand  und  Gesittung  ist  nicht 
nur  vom  rein  menschlichen,  sondern  auch  vom  nationalen 
Standpunkt  dankbar  anzuerkennen."  .  .  .  Also  auch  Herr  Pro- 
fessor H  e  r  k  n  e  r  scheint  zu  meinen,  daß  eine  Vaterlandsliebe 
nur  gedeihen  kann,  wo  eine  wirkliche  Heimat,  ein  wirklicher 
Herd  vorhanden  ist.  Und  wenn  Sie  sich  erinnern,  daß  bei  jedem 
patriotischen  Fest  Schiller  zitiert  wird: 

„Ans  Vaterland,  ans  teure,  schließ  dich  an  ... 
Hier  sind  die  Wurzeln  deiner  Kraft!" 
so  möchte  ich  bemerken,  daß  Schiller  diese  Worte  im 
„W  i  1  h  e  1  m  Teil"  geschrieben  hat,  daß  er  sie  dem  alten 
Attinghausen  in  den  Mund  legt,  in  dem  Moment,  wo  sein 
Volk  ein  freies  Volk  geworden  ist.  Und  er  läßt  ihn  sagen : 
„Hier  sind  die  Wurzeln  deiner  Kraft",  nicht  wie  heute  — 
der  Kraftlosigkeit,  der  E  n  t  k  r  ä  f  t  u  n  g,  das  ist  das 
Moment,  worauf  es  ankommt. 

Es  käme  noch  das  Verbrechen  der  Eeligionsstörung, 
allein  ich  erachte  dieses  Verbrechen  für  so  gründlich  erledigt, 
daß  ich  der  Sache  nicht  ein  einziges  Wort  widme. 

Es  kommen  nun  die  Vergehen.  Ich  habe  nach  Ansicht 
des  Staatsanwalts  das  Vergehen  nach  §  300  begangen,  und 
zwar  unter  anderem  durch  einen  Angriff  auf  die  Verfassung, 
was  anderseits  auch  als  Verbrechen  nach  §  65  a  aufgefaßt  wird; 
man  weiß  nämlich  in  der  Praxis  nicht,  wo  der  §  65  a  anfängt 
und  der  §  300  aufhört.  Das  kann  auch  ein  Richter  nicht  unter- 
scheiden, der  Staatsanwalt  hat  es  überhaupt  nicht  unter- 
schieden. Es  handelt  sich  angeblich  um  einen  Angriff  gegen 
die  Staatsgrundgesetze.  Darüber  war  ich  sehr  verwundert,  denn 
wir  Sozialdemokraten,  und  ich  als  einer  der  lledner  und 
Schreiber  der  Sozialdemokratie  bin  mit  in  erster  Linie  dazu 
berufen,  es  gehört  zu  meinem  täglichen  Geschäft,  fortwährend 
auf  die  Durchführung  der  Staatsgrundgesetze  mit  aller  Energie 
zu  dringen.  Ich  weiß  nicht,  ob  es  dem  Herrn  Staatsanwalt 
schon  passiert  ist,  aber  wir  pflegen  in  Wien  und  andernorts, 
wenn   uns  etwas  konfisziert  wird  in  unseren  Blättern,  in  die 


182  Die  Schwiirgerichtsverhandlung  in  Reichenberg 

Lücken  hinein  einzelne  Artikel  der  Staatsgriindgesetze  zu 
.'stellen;  das  tun  wir  nicht,  um  die  Staatsgrundgesetze  „ver- 
ächtlich zu  machen",  das  tun  wir  nicht,  um  die  Staatsgrund- 
gesetze zu  tadeln,  das  tun  wir,  um  die  —  Staatsanwälte  zu 
tadeln,  um  zu  zeigen,  daß  gegenüber  dem  Prinzip  der  Staat.s- 
grundgesetze,  die  wir  verfechten,  die  —  wir  wollen  uns  milde 
.ausdrücken  —  Einsicht  und  Praxis  der  Staatsanwälte  eine  ab- 
weichende ißt.  Es  ist  unsere  Tätigkeit  der  Durchsetzung  der 
.■Staatsgrundgesetze  gewidmet,  und  ich  wäre  in  der  Lage,  eine 
ganze  Eeihe  von  Bezirkshauptmannschafton  anzuführen,  di«' 
Gablonzer  ist  auch  darunter,  wo  wir  mit  schwerer  und  harter 
Arbeit  den  Staatsgrundgesetzen  erst  Geltung  verschaffen 
mußten.  Der  Herr  Staatsanwalt  besteht  darauf,  daß  ich  das 
Wort  „Wisch  Papier"  gesagt  haben  müsse.  Ich  habe  dieses 
Wort  nicht  gesagt,  es  ist  nicht  mein  Stil.  Ich  habe  nach  aller- 
größter Wahrscheinlichkeit  gesagt:  Die  Staatsgrundgesetze, 
die  nicht  gehandhabt  werden,  sind  nicht  so  viel  wert  wie  das 
Papier,  worauf  sie  gedruckt  sind.  Das  soll  eine  Beleidigung  der 
Staat sgrundgesetze  sein?  Ist  es  denn  ein  integrierender  Be- 
standteil unserer  Verfassung,  daß  sie  nicht  gehandhabt  wird? 
Ich  gehe  aber  noch  weiter.  Ich  habe  in  Orünwald  das  Wort 
„Wisch  Papier"  nicht  gesagt;  wenn  aber  dem  Herrn  Staats- 
anwalt damit  ein  Gefallen  geschieht,  so  sage  ich  es  hier  und 
jetzt,  daß  ein  Gesetz,  das  nicht  gehandhabt  wird,  nicht  mehr  ist 
als  ein  Wisch  Papier;  wenn  es  ihm  beliebt,  möge  er  davon 
Gebrauch  machen,  ich  stelle  es  ihm  frei. 

Ich  habe  weiters  vom  Reichsrat  gesprochen;  ich  habe 
gesagt,  daß  das  Abgeordnetenhaus  die  Vorteile  des  Großgrund- 
besitzes und  Großkapitals  im  Auge  hat.  Das  habe  ich  gewiß 
gesagt  und  auch  in  Schumburg,  in  Reichenau  und  in  Wiesen- 
thal. In  den  Aufzeichnungen  des  Herrn  Pater  B  e  r  a  n,  der  ja 
tseinen  Beruf  verstehen  mag,  jedoch  weder  ein  Politiker  nocli 
ein  Stenograph  ist,  fehlt  aber  der  Zusammenhang.  Ich  werde 
■jene  Stelle  im  Zusammenhang  mit  dem  Wahlrecht  besprociion 
und  gesagt  haben:  Können  Sie  es  dann  den  Herren  übel- 
'nehmen,  die  im  Parlament  sitzen,  die  gewählt  sind  als  Ver- 
treter ihrer  Klasse,  wenn  sie  die  Interessen  ihrer  Klasse  ver 
treten?  Wenn  die  Arbeiterschaft  einmal  in  der  Lage  sein  wii-d, 
.Vertreter  ins  Parlament  zu  senden,  sie  wird  froh  sein  können, 
iwenn    diese  Leute    die  Interessen  der  Arbeiter  so    energisch 


Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg  183 

vertreten  wie  die  Herren  Kapitalisten  und  Großgrundbesitzer 
die  Interessen  ihrer  eigenen  Klasse.  Das  alles  ist  aber  keine 
Herabsetzung.  Übrigens  haben  sich  in  bezug  auf  diese  Dinge 
andere  Leute  viel  schärfer  ausgedrückt,  und  Leute,  die  nicht 
etwa  Sozialdemokraten  sind,  also  nicht  böse  Menschen,  denen 
man  von  vornherein  alles  mögliche  zutraut.  Da  ist  ein  Mann, 
der  seinerzeit  Minister  in  Österreich  war,  Herr  Schäfflc, 
der  einer  der  eifrigsten  und  unermüdlichsten  ]3ekämpfer  der 
Sozialdemokratie  ist.  Dieser  sagt  im  ersten  Band  seines 
Werkes  „Bau  und  Leben  des  sozialen  Körpers"  über  die  Zen- 
suswahlen: 

„Das  Vermögen  gewährleistet  nicht  einmal  die  Einsicht 
für  vernünftige  Ausübung  des  Wählerberufes,  die  intellek- 
tuelle Fähigkeit  zu  dem  Amt,  welches  durch  Wahl  übertragen 
wird.  Bei  gewissen  Wahlen  handelt  es  sich  jedoch  zuerst  um 
den  guten  Willen:  der  Zensus  aber  verbürgt  ganz 
sicher  nur  die  Geltendmachung  der  Sonder- 
interessen des  Besitzes,  also,  da  einseitige 
K  1  a  s  s  e  n  h  e  r  r  s  c  h  a  f  t  in  ihren  weiteren  Folgen  äußerst 
revolutionär  wirkt,  nicht  einmal  eine  konservative  Entwick- 
lung des  öffentlichen  Lebens;  die  wenigen  Zehntausende, 
welche  unter  Ludwig  Philipp  Frankreichs  „pays  legal"  waren, 
haben  die  Revolution  von  1848  als  Gegenschlag  ihrer  Klassen- 
herrschaft hervorgerufen." 

Ich  habe  von  unserem  Zensuswahlsystem  lange  nicht  so 
scharf  gesprochen,  ich  habe  das  Wort  Klassenherrschaft,  das 
jedem  auf  der  Zunge  liegt,  nicht  ausgesprochen;  denn  der 
Herr  Staatsanwalt  hat  recht,  wir  müssen  vorsichtig  reden,  wir 
reden  vorsichtig;  und  daß  er  uns  das  zum  Vorwurf  macht, 
hat  mich  sehr  sonderbar  berührt.  Ich  leugne  gar  nicht,  daß  ich 
hätte  noch  viel  schärfer  reden  können;  aber  die  Bücksicht  auf 
die  Kommissäre,  und  nicht  zuletzt  auf  den  Herrn  Staatsanwalt, 
hat  es  mir  auferlegt,  so  umschreibend,  so  gemäßigt,  so  be- 
sonnen und  so  die  Dinge  nur  andeutend  zu  besprechen  als  nur 
möglich.  Allerdings  meinte  der  Herr  Staatsanwalt,  die  Dinge, 
die  von  mir  besprochen  wurden,  hätte  jeder  Staatsanwalt  be- 
anstandet; aber  er  hat  wohlgetan  hinzuzusetzen:  „Wenigstens 
in  diesem  Sprengel".  Denn  im  ganzen  übrigen  Österreich  sind 
diese  Reden  nicht  beanstandet  worden,  obwohl  sie  auch  zur 
Kenntnis  der  Behörden  gekommen  sind.  Allerdings  war  viel- 


18-t  Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg 

leicht  keine  politisch  so  bewegte  Zeit,  keine  Eeichsratswahl, 
vielleicht  war  auch  keine  so  „pflichteifrige"  Bezirkshaupt- 
mannschaft zur  Hand. 

Der  §  302,  zu  dem  ich  nun  komme,  mit  dem  §  305  zusam- 
men, das  sind  zwei  Paragraphen,  die  für  uns  gemacht  sind,  die- 
der  Sozialdemokratie  auf  den  Leib  geschrieben  wurden,  bevor 
es  noch  eine  Sozialdemokratie  gab.  Da  heißt  es  von  Verhetzung 
der  Klassen  untereinander  —  von  dem  Passus  „Verhetzung 
der  Nationen"  wird  jetzt  weniger  Gebrauch  gemacht  —  von 
Aufreizung  gegen  Institutionen,  der  Familie  und  des  Eigen- 
tums. Ich  muß  gestehen,  ich  bin  überrascht,  wenn  ich  das 
Stenogramm,  das  einzige,  das  existiert,  das  von  der  Schum- 
burger  Rede,  lese,  das  ist  für  mich  überraschend  ruhig  ge- 
halten. Es  heißt  in  der  Anklage,  daß  durch  die  „krasse  Hervor- 
hebung des  Gegensatzes  zwischen  reich  und  arm  die  ärmeren 
Volksschichten  zu  feindseligen  Gesinnungen  noch  mehr  an- 
geeifert werden".  Worauf  bezieht  sich  dieses  „noch  mehr"? 
Noch  mehr,  als  ich  bereits  getan  habe,  oder  etwa  gar,  noch 
mehr,  als  sie  es  schon  sind?  Daß  sie  es  sind,  ist  wohl 
nicht  meine  Schuld.  Der  Herr  Staatsanwalt  hat  diesen  Para- 
graphen aber  auch  auf  die  Stelle  angewendet,  wo  es  heißt: 
„Der  Jude  Rothschild  verträgt  sich  mit  den  Erzbischöfen  sehr 
gut"  usw.  Was  das  mit  dem  §  302  zu  tun  hat,  weiß  ich  nicht. 
Ich  bin  kein  Prophet,  ich  habe  nur  die  Dinge  ausgesprochen., 
die  unseren  Anschauungen  als  Sozialdemokraten  entsprechen, 
nämlich  den  Satz,  daß  die  Klassengegensätze  es  sind,  welche 
die  Politik  beherrschen.  Ich  bin  kein  Prophet,  und  deshalb 
war  es  mir  nicht  möglich,  anstatt  Rothschild  zu  sagen: 
Herr  von  P  1  e  n  e  r  und  statt  der  Erzbischöfe  einzusetzen  : 
(xraf  H  o  h  e  n  w  a  r  t.  Ich  bedaure  sehr,  aber  wenn  ich  ein 
Prophet  wäre,  hätte  ich  sagen  können:  „Der  Herr  von 
P  1  e  n  e  r  vereinigt  sich  mit  dem  Grafen  H  o  h  e  n  w  a  r  t  in 
dem  Atomont,  wo  die  Arbeiter  das  Wahlrecht  kriegen  eollen." 
Das  ist  aber  keine  Aufreizung,  das  ist  bloß  die  Konstatierung 
der  Tatsache,  die  sich  wiederholen  wird,  solange  es  Klassen- 
gegensätze gibt,  daß  nämlich  alle  kleinen  Streitfragen, 
nationale  und  politische,  untergeordnet  werden  dem  gemein- 
samen Klasseninteresse.  Die  Arbeiter  selbst  machen  es  auch  so; 
die  internationale  Sozialdemokratie,  was  ist  sie  sonst  als  eine 
Vereinigung,  welche  alle   Unterschiede,  ja  manche  Gegensätze 


Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg  185 

der  Nationalität,  der  Erziehung  unterdrückt,  um  den  gemein- 
samen Klassenkampf  zu  führen.  Eine  Aufreizung  zu  Haß  und 
Verachtung  ist  das  aber  nicht. 

Ich  eoll  die  „krasse  Hervorhebung  des  Gegensatzes"  da- 
durch verübt  haben,  daß  ich  das  Elend  als  zu  groß  geschildert 
habe,  daß  ich  übertrieben  habe  usw.  Da  möchte  ich  doch  hervorT 
heben,  daß  ich  in  sämtlichen  fünf  Versammlungen  von  dem 
herrschenden  Elend  der  Arbeiterklasse  sehr  wenig  ge- 
sprochen habe,  sondern  daß  ich  gesagt  habe:  „Über  das  Elend 
reden  wir  gar  nicht,  denn  ihr  wißt  das  viel  beseer  als  ich,  dar- 
über könntet  ihr  mir  erzählen."  Daß  ich  den  armen  Glas- 
arbeitern im  Gablonzer  Bezirk  etwas  Neues  über  ihr  Elend 
sagen  könnte,  werden  die  Herren  Geschwornen  selbst  nicht 
glauben.  Was  aber  die  krasse  Hervorhebung  des  Gegensatzes 
anbelangt,  so  erkläre  ich,  daß  dae,  was  ich  gesagt  habe,  sehr 
milde  war.  Sehr  milde  gegenüber  dem,  was  heute  die  offi- 
zielle Wissenschaft  der  Gelehrten  sagt.  Ich  zitiere  wieder  nicht 
„berufsmäßige  Hetzer  und  Schürer",  sondern  immer  und  immer 
nur  Angehörige  der  bürgerlichen  Wissenschaft  und  bürgerliche 
Politiker.  Auch  hier  kann  ich  wieder  Professor  H  e  r  k  n  e  r 
zitieren.  Ich  möchte  wissen,  was  der  Herr  Staatsanwalt  sagen 
würde,  wenn  ich  in  meiner  Rede  folgendes  erwähnt  hätte : 

„Wie  oft  hört  man  den  Trost  aussprechen,  vor  dem 
Tode  seien  arm  und  reich  gleich!  Nichts  kann  dem 
wahren  Sachverhalt  mehr  widersprechen.  Während  der  Tod  in 
den  wohlhabenden  Schichten  der  Gesellschaft  mit  einem  Tribut 
von  26  aus  100  Kindern  im  ersten  Lebensjahr  sich  begnügte, 
forderte  er  von  den  Armen  50.  Die  Sterblichkeit  von  arm  und 
reich  überhaupt  aber  verhielt  eich  wie  30:18." 

Wenn  diese  Schrift  Herkners:  „Die  soziale  Reform 
als  Gebot  des  wirtschaftlichen  Fortschrittes"  dem  Herrn 
Staatsanwalt  von  Reichenberg  in  die  Hände  gekommen  wäre, 
er  hätte  sie  konsequenterweise  nach  §  302  und  §  305  kon- 
fiszieren müssen,  schon  wegen  dieser  einen  Stelle,  und  da  er- 
wähne ich  eine  Menge  anderer  nicht,  um  Sie  nicht  zu  ermüden. 
Dieser  „krasse  Gegensatz"  ist  eben  keine  Erfindung  der 
„Hetzer",  sondern  eine  wissenschaftlich  festgestellte  Tatsache, 
und  es  gibt  dieser  Tatsache  gegenüber  nur  e  i  n  Verbrechen  der 
Störung  der   öffentlichen  Ruhe,  das  ist,  sich  die  Augen  davor 


1R6  Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg 

zu  verschließen,  anstatt  mitzuarbeiten  an  der  Beseitigung  dieser 
Tatsache. 

Noch  eine  Gruppe  von  Äußerungen  ist  dem  Herrn  Staats- 
anwalt außerordentlich  gefährlich  und  bedenklich  erschienen. 
Im  §  305  wird  die  Institution  des  Eigentums  geschützt.  Und  da 
meint  die  löbliche  Staatsanwaltöchaft,  ich  hätte  „die  rechtliche 
Begründung  des  heutigen  Eigentums in  Zweifel  ge- 
zogen und  diesem  Eigentum  die  Anerkennung  von 
Seiten  der  Sozialdemokratie  versag  t".  Ich  glaube  nun  nicht, 
daß  das  heutige  Eigentum  oder  die  Herren  Eigentümer  sich 
besonders  reißen  um  die  „Anerkennung"  von  Seiten  der  Sozial- 
demokratie. Auch  steht  in  keinem  Gesetz  vorgeschrieben,  daß 
man  etwas  „anerkennen"  muß.  Aber  der  Herr  Staatsanwalt  ist 
im  Irrtum ;  wir  „anerkennen"  das  heutige  Eigentum  gar  sehr. 
als  eine  harte  Tatsache,  mit  der  wir  rechnen  müssen,  solange 
sie  besteht.  Allerdings  meinen  wir,  daß  der  heutige  Eigentums- 
begriff ebenso  wie  er  nicht  von  Ewigkeit  her  ist,  auch  nicht 
ewig  derselbe  bleiben  wird;  allerdings  wissen  wir,  daß  der 
heutige  Eigentumsbegriff  wie  die  heutigen  Verhältnisse  etwa^^ 
geschichtlich  Gewordenes  sind,  und  geschichtlich  geworden 
nicht  immer  auf  einem  Weg,  der  mit  Eau  de  Cologne  und  mit 
Eosenwasser  besprengt  war.  Das  heutige  Eigentum  anerkennen 
wir  als  Tatsache;  es  aber  heilig  zu  sprechen,  wie  der 
Herr  Staatsanwalt  von  uns  verlangt,  dazu  haben  wir  nicht  die 
geringste  Veranlassung.  Forschen  Sie  nicht  in  der  Geschichte 
des  heutigen  Eigentums,  lassen  wir  diese  in  jenem  Dunkel, 
das  die  Götter  gnädig  bedecken  mit  Nacht  und  Grauen!  Der 
Herr  Staatsanwalt  meint  aber,  es  sei  eine  „in  einem  Rechts- 
staat unzulässige  A  n  s  c  h  a  u  u  n  g".  Ich  war  sehr  erstaunt, 
heute  noch  einnuil  diesen  Satz  aus  dem  Munde  desselben 
Staatsanwalts  zu  vernehmen,  der  mir  vorwarf,  daß  ich  die 
Staatsgrundgesetze  nicht  respektiere.  Die  Grundlage  unserer 
Staatsgrundgesetze  ist,  daß  es  in  einem  Rechtsstaat  keine 
unzulässige  A  n  s  c  h  a  u  u  n  g  gibt.  Jede  Anschauung  ist 
zulässig,  nur  das  Ausdrücken  und  Betätigen  unterliegt 
gewissen  Beschränkungen.  Aber  ein  Staatsgrundgesetz,  welches 
sagt:  „Die  Wissenschaft  und  i>hre  Lehre  ist  frei",  das  weiter 
sagt:  „Jedermann  hat  das  Recht,  in  Wort,  Schrift  und  Druck 
seine  Meinung  innerhalb  der  gesetzlichen  Schranken  frei  zu 
äußern",    ein    solches    Staatsgrundgesetz    kennt    keine    „unzu- 


Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg  187 

lässige  Anschauung".  In  einem  Rechtsstaat  ist  nichts  anderes 
unzulässig  als  die  Überschreitung  des  Strafgesetzes.  Ich  muß 
an  dieser  Stelle  etwas  ziitieren,  um  Ihnen  zu  zeigen,  daß  auch 
<iie  Form  meiner  Ausdrücke  ebenso  wie  ihr  Inhalt  durchaus 
nicht  übertrieben  sind.  Es  wird  an  dieser  Stelle  der  Dreißig- 
jährige Krieg  erwähnt  und  daß  damals  halb  Böhmen  an  den 
Adel  verschenkt  wurde.  In  B  r  o  c  k  h  a  u  s'  Konver- 
sationslexikon, einem  bisher  wenigstens  auch  vom 
Staatsanwalt  nicht  beanständeten  Buch,  heißt  es:  „Auch  von 
solchen,  die  weniger  beteiligt  waren,  wurden  in  Böhmen 
480  Edelleute,  in  Mähren  über  300  Personen  ihres  Vermögens 
ganz  oder  teilweise  beraubt.  Die  Güterkonfiskationen  wurden 
in  Böhmen  auf  einen  Wert  von  30,  in  Mähren  von  5  Millionen 
Gulden  geschätzt  .  .  .  Durch  den  Ankauf  der  konfiszierten 
Güter  bereicherten  sich  insbesondere  Wallenstein  und  der 
Statthalter  Fürst  Karl  Liechtenstein.  Sehr  viele  Güter  wurden 
vom  Kaiser  dem  Erzbistum  Prag,  den  Jesuiten  und  anderen 
Geistlichen  geschenkt  .  .  .  Von  den  drei  Millionen  Einwohnera, 
die  Böhmen  1618  gezählt,  waren  1648  nur  noch  300.000  übrig.'' 
Ich  könnte  diese  Belege  fortsetzen,  will  aber  nicht  weiter  auf 
<Iie  Geschichte  des  Grundeigentums  eingehen.  Aber  nicht  nur 
Geschichtsforscher  drücken  sich  in  dieser  Beziehung  sehr  klar 
aus.  Ich  weiß  nicht,  ob  der  Herr  Staatsanwalt  den  deutschen 
Philosophen  Fichte  für  einen  Sozialdemokraten  hält,  ich 
weiß  niclit,  ob  er  ihn  im  Verdacht  der  „Störung  der  öffent- 
lichen Ruhe"  hat;  aber  der  Mann  sagt  sehr  „verfängliche" 
Sachen  und  hat  „x\nschauungen",  die  nach  der  Ansicht  des 
Herrn  Staatsanwalts  in  einem  Rechtsstaat  völlig  „unzulässig" 
sind,  was  um  so  bedenklicher  ist,  als  das  die  Anschauungen 
eines  der  ersten  Philosophen,  eines  der  berühmtesten  Namen 
der  deutschen  Nation  sind  und  als  diese  Anschauungen  heute 
-^eine  so  furchtbare  Verbreitung  haben,  daß  sich  jeder  für  zehn 
Kreuzer  diese  Bücher  in  der  Reclamausgabe  anschaffen  kann, 
was  die  Gefährlichkeit  und  Unzulässigkeit  in  den  Augen  des 
^Staatsanwalts  beträchtlich  erhöht.  Und  der  Mann  sagt  unter 
anderem:  „Das  Eigentum  kann  keinen  anderen  Ursprung 
haben  als  die  Arbeit.  Wer  nicht  arbeitet,  hat  nicht  das  Recht, 
voD  der  Gesellschaft  die  Mittel  zu  seiner  Existenz  zu 
erhalten  .  .  .  Derjenige,  der  nicht  so  viel  hat,  daß  er  davon 
leben  kann,    darf    weder    das  Eigentum    anderer    anerkennen. 


188  Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg 

noch  Rücksicht  darauf  nehmen.  Die  G-esellschaft  ist  ver- 
pflichtet, allen  die  Arbeitsmittel  zu  liefern." 

Sehen  Sie,  meine  Herren  Geschwornen,  so  weit  bin  ich 
lange  nicht  gegangen.  Und  Fichte  hat  ein  Buch  über  den 
„E  echtsstaat"  geschrieben,  und  man  müßte  also  an- 
nehmen, daß  Fichte  vom  Rechtsstaat  mindestens  so  viel  ver- 
stehe wie  der  Herr  Staatsanwalt,  und  in  diesem  Buch  heißt  es: 
„N  iemand  darf  Überfluß  haben,  solange 
nicht  alle  das  Nötige  haben,  und  das  Eigentum  an 
Luxusgegenständen  entbehrt  der  Grundlage,  solange  nicht 
jeder  Bürger  seinen  Anteil  am  Eigentum  hat."  Welch 
„unzulässige  Anschauungen" ! 

Aber  ich  erinnere  mich  eben,  daß  ich  auch  der  Religions- 
störung angeklagt  bin,  und  da  fühle  ich  mich  doch  verpflichtet, 
dem  Herrn  Staatsanwalt,  der  ja  einen  anerkennenswerten  Eifer 
entwickelt,  die  Religion  ja  nicht  „stören"  zu  lassen,  doch  zu 
empfehlen,  die  religiösen  Bücher  etwas  eifriger  zu  lesen;  es 
könnte  ihm  da  allerdings  passieren,  daß  er  in  diesen  Büchern 
Dinge  findet,  die  mit  dem  §  305  nach  seiner  Auffassung  als 
„in  einem  Rechtsstaat  unzulässige  Anschauungen"  kollidieren 
würden.  Wir  reden  gar  nicht  so  scharf,  wir  haben  ökonomisch 
und  geschichtlich  geklärte  Auffassungen;  aber  in  dem  Grund- 
zug des  Evangeliums:  „Eher  geht  ein  Kamel  durch  ein  Nadel- 
öhr als  ein  Reicher  ins  Himmelreich",  da  ist  der  §  305  in  seiner 
ganzen  Größe  zu  finden,  da  haben  Sie  die  „Klassenverhetzung". 
Aber  die  Kirchenväter  haben  noch  ganz  andere  Dinge  gesagt. 
Was  ich  jetzt  vorlese,  ist  nicht  meine  Anschauung,  sind  nicht 
meine  Worte  —  wir  haben  eine  andere,  eine  geschichtliche 
Auffassung  der  Dinge  —  nein,  das  sagen  Kirchenväter, 
lauter  heilig  gesprochene  Menschen.  Da  sagt  der  heilige 
B  a  s  i  1  i  u  s :  „Der  Reiche  ist  ein  Dieb" ;  da  sagt  der  heilige 
Johann  Chrysostomus:  „Der  Reiche  ist  ein 
Räuber;  es  ist  notwendig,  daß  eine  Art  Gleichheit  entsteht, 
indem  der  eine  dem  anderen  von  seinem  Überfluß  gibt;  es 
wäre  besser,  daß  alle  Güter  gemeinsam  wären."  Der 
heilige  Hieronymus  sagt:  „Der  Überfluß  ist  stets  das 
Ergebnis  eines  Diebstahls;  wenn  er  nicht  durch  den 
gegenwärtigen  Eigentümer  begangen  worden  ist,  so  ist  er  doch 
begangen  worden  durch  dessen  Vorfahren."  Der  heilige 
Ambrosius   sagt:  „Die  Natur  hat  die  Gemeinschaft- 


Die  Schwurgeiichtsverhandlung  in  Reichenberg  189 

lichkeit  eingeführt,  die  widerrechtliche 
Besitzergreifung  das  Sondereigentu  m."  Der 
heilige  K  1  e  m  e  n  s  sagt :  „Nach  Fug  und  Eecht  muß  alles 
allen  gehören.  Die  Ungerechtigkeit  ist  es,  welche  das 
Sondereigentum  geschaffen  hat." 

Sie  werden  zugeben:  wenn  Heilige  so  sprechen,  dann  ist 
ein  moderner  Sozialdemokrat,  ein  ganz  ordinärer  „Hetzer  und 
Schürer",  wirklich  sehr  gemäßigt,  wenn  er  sagt,  was  ich  gesagt 
habe.  Ich  habe  nur  gesagt:  das  Eigentum  ist  nicht^  h  e  i  1  i  g, 
denn  es  ist  nicht  ewig,  es  ist  eine  der  geschichtlichen  Ent- 
wicklung unterliegende  Eechtsform.  Die  Kirchenväter 
sprechen  ganz  anders,  die  sagen:  das  Privateigentum  ist  eine 
Sünde;  das  sagen  wir  nicht,  wir  kennen  die  Geschichte;  aber 
ich  glaube,  daß  der  Herr  Staatsanwalt  doch  gut  täte,  seine 
Aufmerksamkeit  nicht  einzig  und  allein  auf  die  ihm  durch 
Bezirkskommissäre  überbrachten  Reden,  sondern  auch  auf  die 
Kirchenväter  zu  richten.  An  die  Heiligkeit  des  Eigentums, 
-an  die  TJnerschütterlichkeit  der  heutigen  Eigentumsrechts- 
verhältnisse glaubt  ja  heute  kein  Mensch  mehr;  da  brauchen 
Sie  keine  Kirchenväter,  da  nehmen  Sie  die  Professoren;  ich 
will  Ihnen  die  meisten  von  meiner  kleinen  Sammlung  ersparen, 
aber  einen  will  ich  noch  .  .  . 

Vorsitzender  (unterbrechend):  Ich  habe  weitgehende  Geduld 
gehabt,  aber  sozialpolitische  Vorlesungen  anzuhören  sind  wir  nicht  ver- 
pflichtet.  Ich   bitte,  beim   Gegenstand   zu   bleiben. 

Angeklagter:  Herr  Präsident!  Ich  bin  mir  bewußt, 
daß  ich  die  Geduld  der  Herren  Geschw^ornen  und  auch  die 
Ihrige  zu  viel  in  Anspruch  nehme.  Aber  ich  bitte  eines  zu 
bedenken !  Ich  habe  mich  nicht  auf  diesen  Platz  gedrängt, 
ich  bin  hieher  berufen  worden  vom  Herrn  Staatsanwalt.  Ich 
bitte  weiter  zu  bedenken,  die  Verbrechen  und  Vergehen,  um 
die  es  sich  handelt,  haben  einen  Strafsatz  von  ein  bis  fünf 
Jahre  Kerker,  respektive  von  einem,  bis  sechs  Monate  ver- 
schärften Arrests.  Ich  gebe  zu,  Herr  Präsident,  daß  es  Ihnen 
scheinen  kann,  als  sei  das  alles,  was  ich  vorbringe,  recht  lang- 
weilig. Aber  wenn  ich  hoffen  kann,  den  Herren  Geschwornen 
klarzumachen  und  auszuführen,  daß  dasjenige,  was  ich  gesagt 
habe,  nicht  nur  meine  persönliche  Überzeugung,  sondern  die 
Überzeugung  der  heutigen  Wissenschaft  sei,  ist  es  dann 
vielleicht  möglich,  mir  einige  von  diesen  Jahren  oder  einige 


190  Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg 

von  diesen  Monaten  zu  ersparen.  Und  ich  richte  noch  einen 
Appell  an  die  Herren  Geschw^ornen.  Wenn  Sie  so  lange 
zugehört  haben,  werden  Sie  gewäß  nichts  dagegen  haben,  wenn 
ich  so  wie  der  Staatsanwalt  von  Ihrer  Geduld  Gebrauch  mache. 
Es  ist  sehr  langweilig,  hier  zu  sitzen  und  mir  zuzuhören,  das 
räume  ich  ein;  aber  bedenken  Sie,  es  wäre  für  mich  noch 
erheblich  langweiliger,  wo  anders  länger  zu  sitzen. 

Vorsitzender:  Das  kann  aber  unmöglich  so  weit  gehen,  um 
ganze  Bibhotheken  zur  Vorlesung  zu  bringen.  Die  Verteidigung  mögen  Sie 
führen,  wie  Sie  wollen,  aber  diese  Vorlesungen  möchte  ich  hintangehalten 
haben. 

Angeklagter:  Es  war  mir  daran  gelegen,  gerade 
diesen  §  305  etwas  ausführlicher  zu  erläutern.  Die  Vertei- 
digung hat  naturgemäß  dieses  Prinzipielle  weniger  ausführen 
können,  und  muß  das  mir  überlassen  bleiben.  Ich  habe  gesagt, 
daß  niemand  mehr  an  die  Heiligkeit  und  Unerschütterlichkeit 
des  Eigentums  glaubt,  und  da  wird  es  mir  wohl  noch  gestattet 
sein,  den  Herrn  Professor  Adolf  Wagner  zu  zitieren,  der 
kein  Sozialist  ist,  sondern  preußischer  Geheimrat  und  konser- 
vativer Reichsratsabgeordneter.  Der  Mann  sagt  in  seiner 
„Grundlegung  zur  Nationalökonomie" :  „Das  Privatkapital  ist 
in  der  Tat  direkt  und  indirekt  vielfach  den  Arbeitern  vor- 
enthaltener Lohn  oder,  allgemeiner  ausgedrückt,  dem  wahren 
Erwerber  unbillig  entzogenes  Einkommen;  ja  ist  vielfach, 
wenn  man  sich  an  den  durch  die  vorausgehenden  Erörterungen 
festgestellten  richtigen  Sinn  des  Ausdrucks  hält,  mit 
Lassalles  Wort:  Fremdtum."  Mit  dieser  Definition 
gibt  er  sich  aber  nicht  zufrieden  und  sagt  in  einer  Fußnote: 
„Selbst  P  r  o  u  d  h  o  n  s  »berüchtigtes«  Wort:  »Eigentum  ist 
Diebstahl«  enthält  einen  richtigen  Kern,  wenn  man  es  auf 
einige  der  obigen  Fälle  beschränkt."  Und  so  weiter. 

Meine  Herren,  das  sagt  ein  Professor,  ja  es  gibt  heute 
niemand  mehr,  der  daran  glaubt,  daß  Eigentum  „heilig",  von 
Ewigkeit  her  sei,  so  wie  es  heute  ist.  Und  selbst  im  Staatsgrund- 
gesetz steht  neben  der  „Unverletzlichkeit  des  Eigentums"  der 
Satz,  daß  eine  Enteignung  stattfinden  kann,  selbst- 
verständlich im  Rahmen  der  einschlägigen  Gesetze.  Wenn  das 
Eigentum  heilig  wäre,  da  könnte  eine  Enteignung  überhaupt 
nicht  stattfinden.  Das  Eigentum  ist  nicht  heilig,  und  das  ist  in 
meinen  Ausführungen  gesagt,  weil  es  immer  mehr  aufhört   zu 


Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg  191 

bestehen,  weil  es  immer  weniger  Eigentümer  gibt.  Ich  habe 
vom  Großgrundbesitz  gesprochen  und  will  nicht  weiter  von  der 
Geschichte  der  kleinen  Eigentümer  im  Bezirk  sprechen,  von 
der  Geschichte  der  Keichenberger  Tuchmacher,  von  den  einmal 
selbständigen  Eigentümern  ihrer  ^Yerkzeuge,  welche  heute 
durchaus  besitzlos,  Proletarier,  sind.  Wenn  ich  also  gesagt, 
habe,  das  Eigentum  ist  nicht  heilig,  so  habe  ich  damit  nur  eine 
Tatsache  ausgesprochen,  die  von  der  gesamten  Wissenschaft 
anerkannt  wird.  Heilig  wird  das  Eigentum  nur  hie  und  da 
noch  von  dem  einen  oder  dem  anderen  Herrn  Staatsanwalt 
gehalten.  Aber  damit  habe  ich  durchaus  nicht  die  „Rechts- 
begriffe über  das  Eigentum"  erschüttert.  Die  Sozial- 
demokraten, die  heute  nach  Millionen  zählen,  auch  in  Öster- 
reich schon  eine  ziemliche  Zahl,  die  wissen  das  sehr  gut  zu 
unterscheiden.  Wir  stehlen  nicht,  wir  wünschen  nur,  daß  andere 
nicht  stehlen ;  wir  ,,erschüttern"  diesen  Eechtsbegriff  nicht. 
wir  suchen  ihn  zu  entwickeln,  wir  sind  überzeugt,  daß  an  die 
Stelle  dieses  Rechtsbegriffes  ein  anderer  treten  wird.  Aber 
solange  dieser  Rechtsbegriff  besteht,  wird  von  uns  kein  Wort 
gesprochen,  etwa  in  dem  Sinn:  Geht  hin  und  nehmt  dem 
Manne,  was  er  gestohlen  hat.  Der  Herr  Staatsanwalt 
beschuldigt  mich  auch,  den  Ausdruck  „gestohlenes  Kapital" 
gebraucht  zu  haben.  Ich  halte  das  nicht  für  „verfänglich",  aber 
es  ist  nicht  wahr,  daß  ich  es  gesagt  habe;  ich  spreche  nicht  so, 
nicht  etwa  aus  Vorsicht,  sondern  weil  es  meiner  wissenschaft- 
lichen Überzeugung  widerspricht.  Der  Diebstahl  ist  ein 
privater  Akt,  während  die  Eigentumsreform,  die  wir  anstreben, 
ein  öffentlich-rechtlicher  Akt  ist.  Heute  handelt  es  sich  gar 
nicht  um  Diebstahl,  sondern  um  rechtliche,  gesetzlich 
geschützte  Formen,  in  welchen  das  Eigentum  der  einen  in  den 
Sack   der  anderen  hinübergeleitet  wird. 

Es  bleibt  nur  noch  die  M  i  1  i  t  ä  r  b  e  1  e  i  d  i  g  u  n  g.  Ich 
glaube  nicht,  daß  ich  dem  noch  viel  Zeit  widmen  soll,  denn  es 
haben  alle  Zeugen  einstimmig  hervorgehoben,  und  es  geht  aus 
den  ganzen  Reden  hervor,  daß  es  mir  nicht  um  einen  Truppen- 
körper, sondern  um  die  Institution  zu  tun  war.  Ich  habe  über- 
haupt nicht  so  gesprochen,  wie  es  mir  der  Herr  Staatsanwalt 
imputiert.  Ich  habe  eine  prinzipielle  Rede  gehalten,  einen 
Kommentar  zu  unserem  Prognunm;  ich  habe  über  die  Gesell- 
schaft gesprochen    und    dann    auch    über    das  Wesen    des  Mili- 


192  Die  Schwurgerichtsverhandhmg  in  Reichenberg' 

tarismus.  Der  Herr  Staatsanwalt  hängt  sich  durchaus  daran, 
was  ihm  das  eine  oder  das  andere  Stenogramm  sagt,  daß  ich 
ausgeführt  hätte,  das  Militär  sei  ausschließlich  für  die  inneren 
Feinde  da.  Wenn  ich  das  so  gesagt  hätte,  hätte  ich  nicht  die 
statistischen  Ziffern  gebraucht,  die  ich  verwendet  habe. 
Überhaupt  sind  die  hier  vorgelesenen  Reden  sehr  abgerundet; 
in  Wirklichkeit  sprach  ich  viel  langweiliger,  brachte  eine 
Menge  Material  an  Ziffern,  weil  ich  stets  den  Leuten  auch 
einige  Tatsachen  geben  will.  Ich  habe  also  über  den  Mili- 
tarismus gesprochen,  und  daß  ich  auch  Österreich  von  der  Be- 
sprechung nicht  ausgeschlossen  habe,  ist  selbstverständlich.  Ich 
habe  die  Institution  des  Militarismus  als  eine  die  Volkskraft 
verwüstende  hingestellt,  ich  habe  dargelegt,  daß  der  Mili- 
tarismus darauf  hinausläuft,  gerade  die  kräftigsten  Menschen 
zu  opfern  und  die  schwächeren  zu  erhalten.  Und  ich  habe 
weiter  gesagt:  Diese  Meinung  über  den  Militarismus  haben 
aber  andere  Leute  auch.  Aber  selbst  wenn  die  äußeren  Gründe 
des  Militarismus  nicht  mehr  wären,  könnten  diese  Leute  den 
Militarismus  nicht  beseitigen,  weil  er  nicht  nur  gegen  die 
äußeren  Feinde  gerichtet  ist,  sondern  auch  mit  dem  Kapi- 
talismus zusammenhängt  und  auch  gegen  die  „inneren  Feinde" 
gerichtet  ist,  weil  er  die  besitzenden  Klassen  gegen  die  Besitz- 
losen zu  schützen  berufen  ist.  Das  sind  Tatsachen,  die  jeder  so 
:genau  kennt  wie  ich.  Und  wenn  der  Herr  Staatsanwalt  das 
als  ein  wegwerfendes  und  gehässiges  Urteil  über  die  Armee 
bezeichnet,  wenn  er  meint,  daß  sie  damit  verspottet  wird,  dann 
möge  er  doch  gefälligst,  wenn  der  Baron  Rothschild  bei 
«inem  nächsten  Streik  um  ein  paar  Kompagnien  Soldaten 
telegraphiert,  diesen  Baron  Rothschild  vor  seine  Schran- 
ken ziehen  wegen  seines  „wegwerfenden  und  gehässigen" 
Urteils  über  die  Armee;  oder  wenn,  wie  es  vorgekommen  sein 
soll,  nicht  nur  in  Wien,  am  I.Mai  überall  das  Militär  auf- 
marschiert, dann  möge  er  doch  die  Fabrikanten  der  Militär- 
beleidigung anklagen,  die  doch  von  ihrem  Standpunkt  im  guten 
Recht  zu  sein  glauben,  weil  das  Militär  dazu  da  sei.  Das  Militär 
ist  ja  am  1.  Mai  nicht  notwendig;  es  könnte  ganz  ruhig  zu 
Hause  bleiben,  aber  die  Fabrikanten  glauben  einmal,  das 
Militär  nötig  zu  haben.  Möge  doch  der  Herr  Staatsanwalt  diese 
Fabrikanten  anklagen  wegen  eines  „wegwerfenden  und 
i?ehässigen"  Urteils  über  die  Armee.  Ich  weiß  nicht,  in  welcher 


Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg  193 

Welt  ich  lebe.  Mir  sind  die  Din^e  ganz  klar.  Wenn  der  Herr 
Staatsanwalt  von  all  dem  zum  erstenmal  hört,  und  glaubt,  daß 
ich  das  erfunden  habe,  nur  um  die  Armee  zu  verspotten, 
dann  kennt  er  seine  Umgebung  nicht,  dann  weiß  er  nicht, 
welche  Institutionen  er  in  seinem  Amt  zu  schützen  hat. 

Meine  Herren!  Ich  bin  mir  wohl  bewußt,  daß  ich  durch 
meine  Ausführungen  niemand  von  Ihnen  zur  Sozialdemokratie 
bekehrt  habe.  Das  war  auch  meine  Absicht  nicht.  Meine 
Absicht  mußte  sein,  Ihnen  klarzulegen,  daß  das,  was  ich  in 
meinen  Reden  gesagt  habe,  nicht  nur  meine  Überzeugung  ist, 
sondern  auch  die  Überzeugung  einer  großen  Anzahl  von 
Menschen,  daß  sie  eine  durch  die  Wissenschaft  fundierte  ist, 
und  daß  sie  innerhalb  der  strafgesetzlich  erlaubten  Grenzen 
sich  hielten,  denn  Äußerungen,  die  weit  darüber  hinausgehen, 
werden  ohneweiters  geduldet.  Man  sollte  doch  glauben,  daß 
einem  Sozialdemokraten  das  noch  erlaubt  ist,  was  einem  Pro- 
fessor gestattet  ist.  Bleibt  noch  die  „böse  Absicht".  Der  Herr 
Staatsanwalt  meint :  Ja,  der  Angeklagte  hat  die  „böse  Absicht" 
gehabt,  denn  er  gehört  zur  sozialdemokratischen  Partei,  welche 
auf  den  Umsturz  der  staatlichen  und  gesellschaftlichen  Ord- 
nung abzielt.  Der  Herr  Staatsanwalt  muß  sich  doch  gesagt 
haben:  Da  kommt  ein  Mann,  welcher  den  Umsturz  der  staat- 
lichen und  gesellschaftlichen  Ordnung  will,  und  zwar  will  er 
das  umstürzen  mit  seinen  Reden,  und  der  tatsächliche  Erfolg 
ist  kein  anderer,  als  daß  die  Leute  applaudieren  und  daß  dann 
einige  Wahlmänner  gewählt  werden.  Da  steht  denn  doch  die 
Absicht,  der  „Umsturz",  mit  dem  tatsächlichen  Erfolg  in 
ziemlich  krassem  Gegensatz!  Was  aber  den  vielbeliebten  „Um- 
sturz" anbelangt,  das  rote  Gespenst,  das  Ihnen  vorgemalt 
worden  ist,  habe  ich  nur  zu  sagen:  Wir  Sozialdemokraten  sind 
mit  der  heutigen  Gesellschaftsordnung  nicht  zufrieden,  weil 
wir  die  Vertreter  der  Klasse  der  Besitzlosen  sind,  die  keine 
Ursache  zur  Zufriedenheit  haben.  Wir  sprechen  allerdings 
nicht  vom  Umsturz;  doch  ich  will  dem  Herrn  Staatsanwalt 
das  Wort  „Umsturz"  gar  nicht  nehmen,  er  mag  weiter  damit 
arbeiten.  Aber  Umsturz  ist  ein  zweideutiges  Wort.  Es  kann 
auch  etwas  umstürzen,  ohne  daß  es  von  .iemand  umgestürzt 
wird;  das  ist  der  Zusammenbruch,  das  Zusammenfallen; 
es  stürzt  zusammen,  aber  nicht  weil  wir  Sozialdemokraten  mit 
nackten,  unbewaffneten  Händen  es  wünschen.  Allerdings,  der 

13 


194  Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg 


Herr  Staatsanwalt  hat  recht,  die  staatliche  und  gesellschaft- 
liche Ordnung  geht  nach  unserer  Ansicht  einem  solchen  Um- 
sturz entgegen.  Aber  wenn  er  das  als  Motiv  für  meine  böse 
Absicht  anführt,  dann  sage  ich  ihm,  das  haben  wir  gar  nicht 
nötig,  die  staatliche  und  gesellschaftliche  Ordnung  stürzt 
ohnehin;  und  anderseits  ist  sie,  solange  sie  noch  steht,  noch 
immer  zu  stark,  als  daß  sie,  wie  der  Staatsanwalt  meint,  um- 
fallen würde,  wie  einst  die  Mauern  von  Jericho,  indem  man 
viel  Spektakel  macht  und  Reden  hält.  Was  wir  aber  für  unsere 
Pflicht  halten,  ist,  die  Menschen  auf  diesen  Umsturz,  der  ganz 
unabhängig  von  uns  eintritt,  vorzubereiten,  die  Arbeiter  vorzu- 
bereiten auf  die  E-olle,  die  sie  dann  zu  spielen  haben  werden, 
wenn  dieser  Umsturz  sich  vollzieht. 

Noch  eins.  Der  Herr  Staatsanwalt  sagt  an  einer  Stelle, 
daß  mit  Rücksicht  auf  das  Publikum,  vor  dem  ich  gesprochen 
habe,  vor  den  Arbeitern,  die  Dinge  so  gefährlich  seien.  Da 
wird  sehr  oft  der  Vergleich  gemacht,  und  es  hat  dies  schon 
einmal  ein  Staatsanwalt  mir  gegenüber  getan:  Ja  man  soll  den 
Pulverfässern  gegeiiüber  nicht  mit  brennendem  Licht  herum- 
gehen, das  sei  furchtbar  gefährlich.  Darauf  sagte  ich:  Wenn 
eine  Gefahr  der  Explosion  besteht,  so  sind  daran  nur  die 
Pulverfässer  schuld,  das  heißt  die  Masse  von  Elend,  die  ange- 
sammelt ist;  und  wenn  der  Staatsanwalt  diese  Gefahr  besei- 
tigen will,  dann  möge  er  die  Pulverfässer  wegschaffen,  nicht 
aber  das  Licht,   welches  zeigt,  daß  die  Gefahr  vorhanden  ist. 

Meine  Herren  Geschwornen!  Sie  gehören  nicht  meiner 
Partei  an;  die  Arbeiterschaft,  und  noch  weniger  die  Sozial- 
demokratie, gehört  nicht  jener  Klasse  an,  aus  der  sich  die 
Geschwornen  rekrutieren.  Ich  appelliere  gar  nicht  an  Ihre 
Objektivität;  ich  bin  überzeugt,  daß  Sie  objektiv  sein  werden 
und  müssen,  obwohl  Ihr  Klasseninteresse  nicht  dasjenige  ist, 
welches  wir  vertreten.  Sie  werden  es  sein,  weil  Sie  ganz  genau 
wissen,  die  Sozialdemokratie  —  ich  stehe  hier  allein  für  sie 
ein,  sogar  mein  Herr  Verteidiger,  für  dessen  ausgezeichnete 
Verteidigung  ich  ihm  sehr  verbunden  bin,  hat  sich  die  Gelegen- 
heit nicht  entgehen  lassen,  sie  ein  bißchen  abzutöten,  so  gut 
das  in  aller  Schnelligkeit  ging,  aber  auch  er  und  alle  sind  darin 
einig  —  die  Sozialdemokratie  ist  durch  Verfolgungen  und  Ver- 
urteilungen nicht  aus  der  Welt  zu  schaffen.  Man  mag  sie,  wie 
der  Herr  Staatsanwalt,   als  eine  große  Gefahr  ansehen,  durch 


Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Keichenberg  195 

Verurteilungen  läßt  sie  sich  nicht  beseitigen.  Sie  wissen  ganz 
gut,  daß,  ob  Sie  verurteilen,  ob  Sie  freisprechen,  das  Verhältnis 
zwischen  Parteien,  welchen  Sie  und  ich  angehören,  dasselbe 
bleibt,  das  Verhältnis  zwischen  den  Besitzlosen  und  den  Be- 
sitzenden das  gleiche  bleibt.  Eia  Moment  gibt  es  aber,  welche.s 
diesen  Kampf,  der  sich  weder  durch  Justiz  noch  durch  die 
Polizei  beendigen  läßt,  wesentlich  verändern  kann,  welches 
ihn  vergiften  kann,  verbittern  kann,  mehr  als  nötig  ist,  welches 
diesen  Kampf,  der  ein  geschichtlicher  ist,  herabzieht  auf  das 
gewöhnliche  Niveau  der  gewöhnlichen  Verfolgungen  und  der 
Tendenzprozesse,  nämlich,  wenn  einer  großen  Partei,  die  nach 
Millionen  zählt  und  die  täglidh  wächst,  widerrechtlich  das 
Recht  der  freien  Meinungsäußerung  beschnitten  wird,  wenn 
man  sie,   anstatt  sie  zu   widerlegen,  einsperrt. 

Ich  bin  zu  Ende.  Ich  habe  hier  über  dreißigmal  den  Eid 
sprechen  gehört,  wo  es  heißt:  „Ich  verpflichte  mich  zu  sagen 
die  reine  und  volle  Wahrheit  und  nichts  als  die  Wahr- 
heit." Nun,  meine  Herren  Geschwornen,  wenn  wir  Sozial- 
demokraten auf  die  Tribüne  steigen,  so  haben  wir  das  Gefühl, 
unter  dem  Eid  zu  stehen,  daß  wir  verpflichtet  sind,  die  reine 
Wahrheit  zu  sagen  und  nichts  als  die  Wahrheit,  aber  auch,  und 
das  wird  mir  zum  Verbrechen  gemacht,  die  volle  Wahrheit. 
Die  volle  Wahrheit  mag  ja  mitunter  unangenehm  klingen,  aber 
sie  hört  darum  noch  nicht  auf.  die  W  a  h  r  h  e  i  t  zu  sein. 
Und  damit  erlauben  Sie  mir  zu   schließen. 

Replik  und  Dnplik. 

Der  Staatsanwalt  erhebt  sich  zur  Replik:  Der  Angeklagte  ist  in 
der  glücklichen  Lage,  einen  der  glänzendsten  Vertreter  des  Barreaus  zu 
seinem  Verteidiger  gewonnen  zu  haben-  Da  kommt  es  nicht  auf  die  politische 
Überzeugung  desselben  an,  er  wird  mit  Wärme  auch  für  diesen  Klienten 
eintreten.  Freilich  gerät  er  dadurch  bezüglich  der  Verantwortung  und  der 
Verteidigung  in  einen  gewissen  Widerspruch  mit  den  Ausführungen  des  An- 
geklagten. Während  dieser  seine  Ansichten  ernst  nimmt,  sie  mit  Be- 
geisterung vorträgt  und  sie  für  geeignet  hält,  seinem  Programm  neue  An- 
hänger zu  gewinnen,  muß  der  Herr  Verteidiger  diese  Ausführungen  gering- 
schätzig behandeln,  sie  als  Utopien  hinstellen  und  als  harmlos  und  unge- 
fährlich darstellen.  Dem  glänzenden  und  scharfsinnigen  Redner  ist  es 
wirklich  gelungen,  diese  Klippe  möglichst  zu  umschiffen.  Der  Herr  Ver- 
teidiger mußte  sich  selbstverständlich  auf  die  Seite  der  Ordnungsparteien 
stellen  und  das  Meritorische  der  sozialdemokratischen  Anschauungen  be- 
kämpfen. Von  diesem  Gesichtspunkt  aus  werden  die  Herren  Geschwornen 
die   Ausführungen   des  Herrn   Verteidigers  würdigen.     Der   Herr   Verteidiger 

13*  • 


196  Die  Schwurgerictitsverhandlung  in  Reichenberg 

hat  an  Stelle  der  inkriminierten  Rede  eine  ganz  andere  Rede  substituiert, 
die  sehr  harmlos  klang;  leider  hat  aber  Dr.  Adler  diese  Rede  nicht  ge- 
halten, sondern  eine  ganz  andere.  Was  vor  allem  die  Störung  der  öffent- 
lichen Ruhe  durch  Aufreizung  gegen  die  Staatsverwaltung  betrifft,  so  haben 
beide  Redner  die  von  Dr.  Adler  gehaltene  Rede  als  harmlos  hinzustellen 
gesucht.  Damals  sagte  aber  Dr.  AdJter  den  Zuhörern  keineswegs,  daß  die 
Staatsverwaltung,  die  Regieiung  nicht  schuld  sei  an  den  scheußlichen  Zu- 
ständen, die  er  schilderte.  Jeder  Unbefangene  muß  empfinden,  daß  es  der 
Rede  darum  zu  tun  war,  das  Gefühl  für  das  Vaterland  und  für  das  Heer 
zu  unterdrücken.  Das  stimmt  auch  mit  der  Ansicht  des  Angeklagten,  mit 
der  Internationalität  der  Sozialdemokratie  vollkommen  überein.  Für  die 
Zustände,  die  er  da  anführte,  muß  nach  seiner  Darstellung  jedenfalls  die 
Staatsverwaltung  verantwortlich  gemacht  werden;  wenn  sie  auch  nicht 
namentlich  erwähnt  ist,  so  kann  doch  nach  dem  Geist  und  wahren  Sinn 
niemand  anderer  damit  gemeint  sein.  Der  Herr  Verteidiger  meint,  es 
sei  unmöglich,  zu  Haß  u  n  d  zu  Verachtung  gegen  irgend  etwas  aufzureizen. 
Ich  glaube,  daß  das  wohl  möglich  ist;  aber  wenn  die  Herren  Geschwornen 
meinen,  daß  n  u  r  zu  Haß  oder  zur  Verachtung  aufgereizt  wurde,  so  steht 
es  ihnen  ja  frei,  nur  das  eine  oder  das  andere  zu  bejahen.  —  Bezüglich  der 
Religionsstörung  muß  ich  mir  doch  erlauben,  auf  der  Anklage  zu  beharren. 
Nach  der  Rede  des  Angeklagten  muß  der  Unbefangene  den  Eindruck  be- 
kommen, daß  es  getadelt  wird,  daß  die  Kinder  überhaupt  in  einer  Kon- 
fession aufgezogen  werden.  Das  richtet  sich  gegen  die  Aufnahme  von 
Kindern  in  eine  Religionsgenossenschaft  überhaupt,  und  dadurch  wird  in- 
direkt der  Religion  Verachtung  hezeigt.  Der  Herr  Angeklagte  hat  die  Stellen, 
in  welchen  eine  Verhetzung  der  Besitzlosen  gegen  die  Besitzenden  gefunden 
wurde,  selbst  als  das  Verfänglichste,  Bedenklichste  gehalten,  weil  er  ihnen 
eine  längere  Ausführung  widmete;  er  fühlte  selbst,  daß  darin  der  schwächt^ 
Punkt  für  ihn  und  der  starke  für  die  Anklage  liege.  Juristisch  ist  ein- 
gewendet worden,  daß  feindselige  Gesinnungen  nicht  Feindseligkeiten  im 
Sinne  des  Gesetzes  seien.  Es  ist  aber  nicht  notwendig,  daß  durch  eine 
Schrift  oder  eine  Rede  direkt  zu  einer  feindseligen  Handlung  gegen  jemand 
aufgereizt  werde,  es  genügt,  wenn  die  Anwesenden,  deren  Gemüt  besonders 
empfänglich  ist,  zu  einer  feindseligen  Gesinnung  gegen  andere  Klassen  auf- 
gereizt werden;  wenn  das  Gefühl  der  Bitterkeit  gegen  die  Besitzenden  er- 
weckt oder  noch  verstärkt  wird,  so  muß  die  Geneigtheit  zum  Handeln  nicht 
unmittelbar  auf  die  Rede  folgen,  sondern  die  Folgen  können  sich  auch 
späterhin  bei  sich  ergebenden  Ereignissen  zeigen.  Daß  tatsächlich  feind- 
selige Handlungen  gegen  die  Besitzenden  schon  vorgekommen  sind,  ist  nicht 
zu  leugnen.  Der  Angeklagte  gibt  an,  daß  die  Absicht  bestand,  sich  erstens 
als  Kandidat  bei  den  Wählern  zu  insinuieren  und  zweitens  Propaganda 
für  seine  Ideen  zu  machen.  Die  erste  Absicht  kam  wenig  in  Betracht,  da 
er  nicht  Aussicht  hatte,  gewählt  zu  werden.  Aber  zugegeben,  daß  er  diese 
Absicht  hatte,  so  schließt  das  nicht  aus,  daß  er  noch  eine  andere  Tendenz 
hatte.  Die  vom  Gesetz  geforderte  böse  Absicht  kann  aus  dem  Wortlaut 
und  dem  Sinne  der  Rede  erschlossen  werden,  aber  auch  aus  äußeren  Um- 
ständen und  dem  Vorleben  des  Verbrechers.  Und  Herr  Dr.  Adler  ist 
eine    Persönlichkeit,    von    der    man    sich    einer    solchen    Handlung    versehen 


Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg  197 


kann.  Es  wird  als  Entlastung  angeführt,  daß  die  Rede  auf  die  Zeugen  keinen 
aufreizenden  Eindruck  gemacht  hat.  Ich  gebe  ja  zu,  daß  vielleicht  Ge- 
sinnungsgenossen des  Dr.  Adler  nicht  aufgereizt  worden  sind.  Allein  auf  der 
anderen  Seite  stehen  Personen,  behördliche  Organe,  welche  am  besten  die 
Verhältnisse  kennen  und  welche  für  die  öffentliche  Ordnung  verantwortlich 
sind.  Wenn  diese  finden,  daß  der  Eindruck  ein  aufreizender  war,  so  ist 
dem  mehr  Bedeutung  beizulegen  als  anderen  Personen,  welche  an  der 
Wirkung  der  Worte  nicht  so  interessiert  waren.  Sie  haben  die  Zeugen  nicht 
zu  zählen,  sondern  zu  wägen,  ihrer  Qualität  nach  zu  beurteilen.  Wenn 
zum  Beispiel  Herr  Z  e  1 1  e  r  sagt,  nach  seiner  Ansicht  habe  nichts  Straf- 
bares stattgefunden,  so  ist  diese  Äußerung  mit  großer  Skepsis  aufzunehmen. 
Ich  weiß  nicht,  bei  welcher  Äußerung  des  Herrn  Adler  oder  eines  anderen 
sozialdemokratischen  Redners  Herr  Z  e  1 1  e  r  denselben  unterbrochen  hätte. 
Ich  kann  mir  auch  nicht  denken,  welche  Äußerung  vorgebracht  werden 
müßte,  damit  sie  der  Zeuge  Massopust  für  strafbar  halte.  Ich  über- 
lasse es  getrost  den  Herren  Geschwornen,  die  Qualität  dieser  Zeugen  zu 
prüfen. 

Unter  anderem  meint  Herr  Dr.  Adler,  daß  er  nicht  nötig  hatte,  die 
Gemüter  der  Armen  aufzuregen  und  ihnen  ihre  traurige  Lage  zu  schildern, 
die  sie  am  besten  kennen.  Daß  er  sie  nicht  unzufrieden  gemacht  hat,  ist 
"selbstverständlich.  Wenn  es  aber  gefährlich  ist,  Unzufriedenheit  zu  er- 
wecken, so  ist  es  noch  mehr  gefährlich,  die  bereits  bestehende  Unzufrieden- 
heit noch  zu  vermehren.  Der  Herr  Dr.  Adler  meint  auch,  er  sei  nur  im 
Gablonzer  Bezirk  beanstandet  worden.  Er  hat  aber  wahrscheinlich  nicht 
überall  so  gesprochen.  Er  verfügt  über  eine  so  lebhafte  Phantasie,  einen 
Reichtum  von  Gedanken,  er  weiß  immer  neue  drastische  Bilder  vorzuführen, 
er  besitzt  kaustischen  Humor,  um  seine  Reden  damit  zu  würzen,  so  daß 
er  offenbar  immer  etwas  anderes  gesagt  hat.  Er  hat  sich  gerade  den  Reichen- 
berger  und  Gablonzer  Bezirk  zur  Kandidatur  gewählt,  eben  weil  hier  die 
Gegensätze  schärfer  sind  als  anderswo,  weil  da  eine  Großindustrie  und  dem- 
entsprechend eine  zahlreiche  Arbeiterbevölkerung  existiert,  er  mochte  daher 
am  meisten  in  diesem  Sprengel  darauf  gerechnet  haben,  wenn  auch  nicht 
damals  schon  gewählt  zu  werden,  aber  neue  Anhänger  für  seine  Ideen  zu 
gewinnen  und  die  Unzufriedenheit  noch  zu  vermehren.  Was  hätte  es  für 
einen  Zweck,  ihre  Lage  in  den  schwärzesten  Farben  zu  schildern  und  die 
Regierung  und  die  besitzenden  Klassen  als  die  Ursache  dieses  Elends  hin- 
zustellen, wenn  die  Leute  das  bereits  wissen?  Aber  jene  Verhetzung  zwischen 
den  Klassen  und  die  Verschweigung  der  mildernden  Übergänge,  darin  liegt 
die  wahre  Ursache  der  Reden,  die  Tendenz,  aufzureizen.  Die  Leute  in  diesem 
Sprengel  sind  durch  die  Erfahrung  belehrt,  und  daher  war  es  nicht  zu  er- 
warten, daß  sie  unmittelbar  nach  der  Rede  hingehen  und  Ausschreitungen 
gegen  Personen  oder  das  Eigentum  begehen,  aber  wohl  konnte  das  Gemüt 
eines  in  ungünstiger  materieller  Lage  Befindlichen  noch  mehr  zu  feind- 
seligen Gesinnungen  gegen  alle  jene  Institutionen  erregt  werden,  die  ihm 
als  Ursache  seines  Elends  hingestellt  werden.  Es  ist  eine  allgemeine  Er- 
fahrung, daß  die  Macht  der  Rede  einen  gewaltigen  Einfluß  auf  die  Gemüter 
der  Menschen  ausübt,  um  so  mehr,  wenn  sie  bereits  vorher  empfänglich 
sind.     Es  war  oft  ein  neues  Schlagwort,  das  in  die  Menge  geworfen 


198  Die  Schwurgeriehtsverhandlung  in  Reichenberg 

wurde  und  dann  eine  große  Umwälzung  der  staatlichen  und 
gesellschaftlichen  Einrichtungen  herbeigeführt  hat. 
Und  wer  ist  mehr  geeignet,  die  Macht  über  die  Gemüter  der  Volksmassen  zu 
gewinnen  als  der  Herr  Dr.  Adler?  Sie  haben  seine  Verteidigungsrede 
gehört ;  mit  welcher  Begeisterung  ist  er  für  seine  Ansichten  eingetreten,  und 
das  unter  dem  immerhin  beengenden  Gefühl,  daß  er  vor  seinen  Richtern 
steht;  ich  bitte  nun,  ihn  sich  vorzustellen  in  der  Freiheit,  als  Volksredner, 
und  Sie  werden  die  Macht  des  Wortes  gewiß  nicht  unterschätzen.  Der  An- 
geklagte verwahrt  sich  allerdings  dagegen,  anarchistische  Gesinnungen  zu 
hegen  und  weiter  zu  verbreiten.  Ich  bin  aber  immerhin  gezwungen,  darauf 
hinzuweisen,  daß  derselbe  nach  dem  Urteil  vom  27.  Jänner  1889  wegen  eines 
Artikels  verurteilt  wurde,  von  dem  angenommen  wurde,  daß  er  auf  solchen 
Bestrebungen  beruhe,  die  auf  einen  gewaltigen  Umsturz  der  staatlichen 
Ordnung  hinarbeiten.  Das  haben  vier  geprüfte  Richter.  .  . 

Angeklagter:  Fünf. 

Vorsitzender:   Aber  das  gehört  doch    nicht  her! 

Staatsanwalt:  Ich  muß  nun  auf  die  Endziele  der  Sozialdemo- 
kratie zu  sprechen  kommen.  Es  ist  dies  die  Überführung  des  Privateigen- 
tums an  allen  Produktionsmitteln  in  das  Gesamteigentum,  die  Änderung  des 
Einzelbetriebes  in  den  gesellschaftlichen  Betrieb.  Es  ist  nun  schwer,  sich  vor- 
zustellen, daß  diese  Änderung  so  ganz  ruhig  und  ohne  Gewalt  stattfinden 
wird.  Der  Herr  Doktor  hat  darum  wohl  nicht  zu  ungesetzlichen  Handlungen 
aufreizen  wollen;  wäre  dies  geschehen,  dann  stände  er  unter  einem  anderen 
Paragraphen  hier,  oder  wenn  Ausschreitungen  stattgefunden  hätten,  stände 
er  wegen  Mitschuld  da.  Aber  es  lastot  auf  ihm  eine  indirekte  Mit- 
schuld ander  bloßen  Möglichkeit,  daß  aus  den  gefährlichen 
Reden   und   Schriften  einmal  wirklich    etwas  entstehen  könnte. 

Auch  die  Anklage  wegen  Beleidigung  des  Militärs  halte  ich  aufrecht. 
Das  hohe  Kriegsministerium  hat  als  Vertretung  der  Armee  die  Zustimmung 
zur  Verfolgung  gegeben  und  dieses  wird  wohl  am  besten  wissen,  ob  das 
Militär  beleidigt  ist.  Es  kommt  nicht  darauf  an,  ob  ein  Mitglied  der  Armee, 
das  sich  als  Opfer  des  Militarismus  im  Sinne  des  Dr.  Adler  betrachtet, 
sich  beleidigt  fühlt  oder  nicht,  sondern  ob  die  k.  u.  k.  Armee  beleidigt  ist, 
und  da  hat  das  hohe  Kriegsministerium  als  Vertretung  der  Armee  gesprochen. 

Ich  erlaube  mir  noch,  Ihnen  ein  P  r  ä  ]  u  d  i  zu  r  t  e  i  1  des  Schwur- 
gerichts vorzulesen  .  .  . 

Vorsitzender  (^unterbrechend) :  Ich  bitte  das  zu  unterlassen.  Das 
gehört  nicht  hieher.  Die  Herren  Geschwornen  haben  selbst  zu  urteilen.  Der 
Fall  ist   ihnen   ganz   unzugänglich,   sie  kennen   jenen   Akt  nicht. 

Staatsanwalt:  Ich  lege  aber  darauf  ein  Gewicht.  Dann  dürfte 
man  auch  keine   oberstgerichtliche   Entscheidung  vorlesen. 

Vorsitzender:  Das  wäre  nach  meiner  Rechtsüberzeugung  in  der 
Tat  unstatthaft;  ich  rate  Ihnen,  das  zu  unterlassen. 

Staatsanwalt:  Es  wurde  dort  ein  jüngerer  Mann  verurteilt.  Wenn 
dieser  Mann,  der  politischen  Dingen  gegenüber  weniger  erfahren  war  und 
die  Tragweite  seiner  Worte  nicht  so  beurteilen  konnte,  bestraft  wurde,  werden 
Sie  um  so  weniger  Bedenken   tragen,   bei   Herrn   Dr.   Adler   anzunehmen. 


Die  Schwurgerichtsverhandlung^  in  Reichenberg  199 

daß  er  im  vollen  Bewußtsein,  in  voller  Absicht  gesprochen  hat.  Ich  erlaube 
mir  nun  noch  einige  Worte  aus  dem  ^Präger  Abendblatt"  zur  Begründung 
der  Ausnahmeverfügungen  vorzulesen.  (Liest:)  «Die  bedauerlichen  sozialen 
Strömungen,  welche  mit  ihren  gegen  die  herrschende  Gesellschaftsordnung, 
gegen  die  bestehenden  staatlichen  Einrichtungen,  gegen  das  derzeitige  Re- 
gierungssystem gerichteten  Tendenzen  in  immer  weiteren  Schichten  der 
Bevölkerung  Eingang  finden,  ihren  religiösen  Sinn  beirren,  das  Volk  zur 
Unduldsamkeit  und  Härte  gegen  Andersgläubige  verhetzen,  seine  Sitten  ver- 
wildern, die  Begriffe  von  Recht  und  Unrecht  verwirren,  den  wechsel- 
seitigen Kampf  der  einzelnen  Klassen  der  mensch- 
lichen Gesellschaft  entfachen,  das  arbeitende  Volk  verleiten, 
die  von  ihm  angestrebten  Rechte  auf  bessere  Lebensbedingungen  selbst 
auf  dem  Wege  der  Gewalt  zu  erzwingen;  das  in  letzterer  Zeit 
in  den  weiteren  Schichten  des  Volkes  wiederholt  hervorgetretene  Bestreben, 
die  Autorität  der  bestehenden  Gesetze  zu  mißachten,  gegen  die  Staatsgewalt 
und  ihre  Organe  bei  jeder  Gelegenheit  zu  demonstrieren,  den  Organen  der 
öffentlichen  Sicherheit  in  der  Ausführung  ihres  Amtes  Hindernisse  in  den 
Weg  zu  legen,  ja  selbst  gewaltsamen  Widerstand  zu 
leisten:  das  alles  sind  Erscheinungen,  welche  die  Regierun'g  veranlaßt 
haben,  diejenigen  verfassungsmäßigen  Rechte,  deren  Mißbrauch  zu  gesetz- 
widrigen Ausschreitungen  geführt  hat,  in  der  Landeshauptstadt  Prag  und 
deren  nächster  Umgebung  als  dem  Schauplatz  solcher  beklagenswerter  Vor- 
gänge zeitweise  in  ihrer  Wirksamkeit  zu  beschränken.'"  Meine  Herren  Ge- 
schwornen!  Wir  finden,  daß  diese  Anführungen  für  ganz  Europa  gelten,  daß 
überall  die  sozialistischen  Bestrebungen  und  Ausschreitungen  überhand- 
nehmen. Es  bleibt  nicht  bei  Worten  und  Schriften,  sondern  es  kommt  zu 
gewaltsamen  Ausschreitungen,  und  sehr  oft  lassen  sich  solche  Aus- 
schreitungen zurückführen  auf  irgendeine  mündliche  oder  schriftliche 
Äußerung.  Hier  herrscht  kein  Ausnahmezustand,  der  Angeklagte  ist  seinen 
ordentlichen  Richtern  nicht  entzogen,  sondern  er  steht  vor  den  Geschwornen, 
welche  für  politische  Delikte  kompetent  sind.  Die  Justiz  hofft,  daß  die 
Rechtschaffenheit,  die  überzeugungstreue,  die  Charakterfestigkeit  und  Un- 
abhängigkeit der  Geschwornen  sich  auch  in  diesem  Falle  beweisen  wird, 
und  hofft,  daß  es  gelingen  wird,  mit  den  verfassungsmäßigen  Mitteln 
die  Ruhe  und  Ordnung  aufreclitzuerh  alten,  bcz  i(■hungs- 
^\■eise   dem   \' erletzten    Gesetz   Sühnung    zu   verschaffen! 

Dr.  Adler: 

Ich  werde  weder  auf  das  ..Prager  Abendblatt"  noch  auf 
die  Drohung  mit  dem  Ausnahmezustand  eingehen,  die  der 
Herr  Staatsanwalt  an  den  Schluß  seiner  Rede  setzte,  noch  auf 
die  falschen  Zitate  aus  meiner  Rede  bezüglich  der  Handels- 
verträge. Das  sind  Sachen,  die  uns  gar  nicht  beschäftigen 
können,  denn  sonst  brauche  ich  wieder  einige  Stunden,  um  die 
neuen  Behauptungen  zu  widerlegen.  Aber  einige  Punkte  muß 
ich  noch  berühren.   Der  Herr  Staatsanwalt  war  so  ungeheuer 


200  Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reicheuberg 

freundlich,  meiner  bescheidenen  Person  eine  Reihe  von  aus- 
gesuchten Komplimenten  zu  machen  in  bezug  auf  meine  Bil- 
dung, auf  meine  Fähigkeit  als  Redner,  meinen  Charakter,  alles 
mögliche.  Er  hat  auch  gesagt,  daß  ich  politisch  sehr  gebildet 
sei.  Ich  bedauere  aufrichtig,  daß  ich  nicht  in  der  Lage  bin, 
dem  Herrn  Staatsanwalt  dieses  Kompliment  zurückzugeben. 
Der  Herr  Staatsanwalt  hat  gesagt,  es  sei  geschichtlich  er- 
wiesen, daß  Schlagworte  Umwälzungen  bewirken.  Ich  be- 
dauere sehr,  mir  ist  nicht  ein  einziges  solches  Faktum  bekannt. 
Ich  würde  diesen  Satz  nicht  herausgerissen  haben,  wenn  er 
nicht  mit  etwas  anderem  zusammenhinge,  was  der  Herr  Staats- 
anwalt in  seiner  Replik  vorgebracht  hat,  jetzt  zum  erstenmal. 
Jetzt  hat  er  das  eigentliche  rote  Gespenst  heraufbeschworen 
und  Ihnen  gesagt,  daß  diese  Umwälzungen  ohne  Grewalttaten 
unmöglich  sind.  Er  hat  sogar  gesagt,  daß  ich  eine  „M  i  t- 
schuld  an  der  Möglichkeit"  solcher  Gewalttaten 
hätte.  Es  gibt  meines  Erachtens  eine  Mitschuld  an  Delikten; 
aber  eine  Mitschuld  an  Möglichkeiten,  das  war  dem  Herrn 
Staatsanwalt  von  Reichenberg  vorbehalten,  zu  erfinden. 

Was  aber  die  Gewalttaten  anbelangt,  ohne  welche  die 
neuen  Zustände  nicht  herbeigeführt  werden  könnten,  so  sage 
ich:  Wir  wissen,  daß  das  nicht  von  uns  abhängt,  sondern  von 
den  Herrschenden.  Haben  sie  Einsicht,  haben  sie  den  nötigen 
Verstand,  um  die  nötigen  Reformen  vorzubereiten,  so  kann 
sich  der  Übergang  friedlich  vollziehen;  wenn  nicht,  nicht. 
Aber  der  Herr  Staatsanwalt  möge  sich  gedulden;  wie  kommt 
er  dazu,  mich  heute  für  die  möglichen  Gewalttaten  verant- 
wortlich zu  machen,  die  sich  vielleicht  einmal  ergeben  werden  ( 
Ich  finde,  daß  dieser  Appell  doch  etwas  zu  weit  hergeholt  ist. 
Er  scheint  zu  meinen,  daß  die  Stunde  noch  weit  früher  kommt, 
als  selbst  wir  annehmen.  Gut,  wenn  er  dann  noch  Staatsanwalt 
ist,  möge  er  dann  die  Gewalttätigen  vor  Gericht  stellen,  wenn 
er  kann  — -  aber  wie  komme  ich  dazu^ 

Das  zweite  ist  das  Wort  „Aufreizung",  um  das  es  sich 
immer  und  immer  handelt.  Es  ist  durch  Zeugen  erwiesen,  daß 
sie  nichts  Aufreizendes  gefunden  hätten.  Aber  da  sagt  nun  der 
Herr  Staatsanwalt:  Nein,  die  Zeugen,  die  muß  man  „wägen". 
Ich  weiß  nicht,  ob  es  statthaft  ist,  einen  Zeugen  für  gewich- 
tiger zu  erklären  als  einen  anderen.  Ich  gebe  zu,  daß  der  Herr 
Hotelier  Bergmann  eine  „gewichtigere"  Persönlichkeit  ist 


Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg  201 


als  der  Herr  Zeuge  Zeller;  aber  wenn  er  auch  „gewich- 
tiger" ist,  so  ist  damit  noch  nicht  gesagt,  daß  seine  Aussage 
vor  dem  Gericht  schwerer  ins  Gewicht  fallen  dürfe.  Was  das 
..Aufreizen"  anbelangt,  frage  ich:  wer  wurde  aufgereizt? 
Ich  bin  hier  angeklagt,  die  Massen  aufgereizt  zu  haben,  und 
die  Massen,  soweit  sie  hier  zu  Wort  kommen,  die  waren  gar 
nicht  aufgereizt.  Aufgereizt  wurden  der  Herr  Hotelier  Berg- 
mann, ein  Amtsvorsteher  etc.,  aber  der  Herr  Staatsanwalt 
dürfte  mich  doch  wohl  nicht  wegen  Aufreizung  des  Herrn 
Bergmann  vor  die  Geschwornen  gestellt  haben.  Der  Herr 
Staatsanwalt  hat  sehr  scharfsinnig  bemerkt,  daß  ich  deshalb 
den  Gablonzer  Bezirk  für  meine  Kandidatur  gewählt  habe, 
weil  dort  die  Gegensätze  sehr  -weit  entwickelt  und  die  Leute 
der  Sozialdemokratie  zugänglich  sind.  Das  ist  wahr,  gewiß, 
deshalb  wurde  meine  Kandidatur  dort  aufgestellt,  das  stimmt 
vollständig.  Im  böhmischen  Großgrundbesitz  würde  ich  keine 
Aussichten  gehabt  haben.  Aber  ich  glaube  nicht,  daß  das  etwas 
Belastendes  ist.  Ich  kann  nicht  verstehen,  warum  ich  ein  so 
furchtbar  gefährlicher  Mensch  sein  soll,  bloß  deshalb,  weil  ich 
die  Leute  aufsuchte  und  zu  den  Leuten  spreche,  die  meinen 
Ideen  zugänglich  sind,  weil  sie  unter  der  Not  leiden,  der  ich 
abzuhelfen  versuche,  so  gut  ich  es  verstehe  und  kann.  Ja,  aber 
der  Herr  Staatsanwalt  sagt,  von  der  Kandidatur  war  über 
haupt  keine  Kede.  Ich  gebe  zu,  daß  die  Chancen  nicht  be- 
deutend waren,  aber  trotzdem  war  es  ein  ganz  ehrlicher,  und, 
die  löbliche  Staatsanwaltschaft  beliebe  sich  zu  erinnern,  ein 
sehr  erbitterter  Wahlkampf,  und  durchaus  kein  erfolgloser,  da 
ich  ungefähr  ein  Drittel  der  Stimmen  bekam.  Ich  leugne  aber 
gar  nicht,  daß  meine  Rede  auch  eine  agitatorische  Absicht 
hatte.  Das  ist  selbstverständlich.  Was  also  der  Herr  Staats- 
anwalt vorgebracht  hat,  um  mich  den  Herren  Geschwornen  so 
viel  als  möglich  als  einen  noch  gefährlicheren  Menschen  hin- 
zustellen, als  er  ohnehin  schon  getan  hat,  ist  nichts  Besonderes. 
Wenn  er  Ihnen  aber  außerdem  sagt,  daß  die  Begründung  des 
Prager  Ausnahmezustandes  unter  anderem  den  Saiz  enthalte, 
es  hätten  Freisprüche  vor  den  Geschwornen  stattgefunden  und 
man  hätte  deshalb  die  Schwurgerichte  abschaffen  müssen,  so 
glaube  ich,  meine  Herren,  daß  dieses  x\rgument  bei  Ihnen  nicht 
zieht.  Ich  habe  bereits  betont,  daß  ich  sehr  gut  weiß,  daß  ich 
nicht  vor  Parteigenossen  als  Richtern    stehe.     Ich    weiß    abei 


202  Die  Schwurgerichtsverhandlung  in  Reichenberg 

auch,  daß  das  Schwurgericht  ein  Gericht  ist,  welches  weder  an 
vorhergegangene  Urteile,  noch  an  die  Wünsche  der 
Prager  Statthalter  ei  gebunden  ist.  Ich  erwähne  das 
deshalb,  weil  die  Anzeige  der  Gablonzer  Bezirk  s- 
haupt  mann  Schaft  erst  an  die  Prager  Statt- 
hai t  e  r  e  i  eingeschickt  wurde,  wie  aus  den  Akten 
hervorgeht.  Wir  wissen,  alle,  daß  meines  Erachtens  das  Schwur- 
gericht es  sich  gefallen  lassen  muß,  durch  ein  Ausnahmegestz 
abgeschaft  zu  werden,  daß  es  aber,  so  lange  es  besteht,  rück- 
sichtslos, ohne  Kücksicht  auf  jene  Wünsche  zu  richten  hat  imd. 
dessen  bin  ich  ülierzeugt,  auch  richtewi  wird. 

Dr.  Jennel: 

Das  Gesetz  spricht  dem  Angeklagten  das  Schlußwort  zu,  und  wie  ich 
meine  Aufgabe  auffasse,  kann  ich  nicht  darauf  verzichten.  Der  Herr  Staats- 
anwalt faßt  das  allerdings  anders  auf,  ihm  wäre  am  liebsten  gewesen,  wenn 
sich  Herr  Dr.  Adler  recht  ungeschickt  verteidigt  und  einen  möglichst 
albernen  Verteidiger  gewählt  hätte.  Ich  glaube,  meine  Herren,  daß  Sie  es 
dem  Angeklagten  doch  nicht  übelnehmen  werden,  daß  er  einem  bescheidenen 
Advokaten  an  Ort  und  Stelle  das  Vertrauen  geschenkt  hat,  daß  der  Mann 
als  Jurist  seine  Pflicht  erfüllen  werde,  wenn  er  auch  nicht  sein  Parteigenosse 
ist.  Ich  danke  für  die  vielen  Komplimente,  die  der  Herr  Staatsanwalt 
auch  an  mich  verschwendet  hat,  und  ich  glaube,  auch  Herr  Dr.  Adler 
wird  sich  höflichst  dafür  bedanken,  mit  allen  diesen  Komplimenten  ins 
Kriminal  hineinzukommen.  Der  Herr  Staatsanwalt  hat  nachmittags  nui' 
wiederholt,  was  er  morgens  vorgebracht  hat  und  kein  einziges  meiner 
juristischen  Argumente  widerlegt.  Ich  habe  Ihnen  schon  dargelegt,  daß  ich 
auf  dem  Standpunkt  stehe:  Erkennt  man  einmal  der  Sozialdemokratie  di'j 
Rechte  einer  Partei  zu  und  ihren  Führern  die  Rechte  von  Führern  einer 
Partei,  dann  muß  man  ihr  auch  diejenige  Redefreiheit  gewähren,  die  allen 
anderen  Parteien  gewährt  ist,  und  dann  muß  man  der  Sozialdemokratie 
vor  allem  das  Recht  einräumen,  daß  sie  erstens  ihr  Programm  entwickelt, 
und  zweitens  agitatorisch  für  dasselbe  eintritt.  Das  hat  mein  Klient  getan, 
mehr  nicht.  Ist  das  gefährlich,  dann  hätte  man  die  Sozialdemokratie  von 
vornherein  außerhalb  des  gemeinen  Rechtes  stellen  sollen.  Solange  das  nicht 
geschieht,  muß  sie  mit  gleichem  Maßstab  gemessen  werden  wie  andere 
Parteien.  Ich  habe  das  Vertrauen,  daß  Sie  trotz  Ihrer  verschiedenen  Partei- 
stellung ebenso  wie  ich  zu  dem  Urteil  gelangen  werden,  daß  das,  was  Doktor 
Adler  gesagt  hat,  jene  Reihe  von  Verbrechen,  Vergehen,  Übertretungen  nicht 
involviert.  Der  Herr  Staatsanwalt  hat  mein  juristisches  Argument  bezüglich 
der  Störung  der  öffentlichen  Ruhe  sehr  leicht  hingenommen.  Ich  sagte,  daß 
es  ganz  unlogisch  sei,  wenn  der  Herr  Staatsanwalt  dem  Angeklagten  unter- 
schiebt, er  habe  dadurch,  daß  er  das  Elend  schilderte,  die  Regierung  dafür 
verantwortlich  gemacht  und  dadurch  zu  Haß  und  Verachtung  aufgereizt. 
Daraufhin  verlangt  nun  der  Herr  Staatsanwalt,  Herr  Dr.  Adler  hätte  damals 


Die  Schwiirgerichtsverhandlung  in  Reichenberg  203 


der  Regierung  ein  Wohlverhallungszeugnis  ausstellen,  er  hätte  ausdrücklich 
erklären  sollen,  daß  die  Regierung  daran  unschuldig  sei.  Meine  Herren,  wenn 
man  das  von  einem  Oppositionsmann  verlangt,  was  sollen  dann  erst  die 
Anhänger  der  Regierung  tun?  Der  Herr  Staatsanwalt  hängt  sich  an  das 
Wort  „Wisch  Papier",  aber  der  ganze  Zusammenhang,  der  ganze  Wortlaut 
ist  so  gründlich  zerstört,  daß  man  daraus  gar  keinen  Schluß  ziehen  kann. 
Der  Herr  Staatsanwalt  hält  die  Klage  bezüglich  der  Religionsstörung  noch 
immer  aufrecht-  Nun,  ich  glaube,  die  Aussage  des  Pater  Beran,  der  extra 
hingeht,  um  zu  horchen,  ob  etwas  gegen  die  Religion  gesprochen  wird,  und 
der  nicht  findet,  daß  Dr.  Adler  verächtlich  über  die  Religion  gesprochen 
hat,  wird  den  Herren  Geschwornen  ausreichend  sein.  Daß  Dr.  Adler 
wünschte,  die  unverständigen  Kinder  sollten  nicht  mit  Dogmen  vollgestopft 
werden,  die  sie  nicht  fassen  können,  das  ist  keine  Verächtlichmachung  der 
Religion,  daß  ist  eine  Ansicht,  die  ja  auch  andere  Leute  hegen.  Für  die  Be- 
leidigung des  Militärs  hat  der  Herr  Staatsanwalt  zum  Schluß  als  Krone 
seiner  Argumente  darauf  hingewiesen,  daß  das  hohe  Kriegsministerium  die 
Erlaubnis  zur  Anklage  erteilt  habe,  das  sei  schon  ein  Beweis.  Wo  kämen 
wir  hin,  wenn  jeder  Ehrenbeleidigungsklage,  die  jemand  einbringt,  schon 
einfach  daraufhin  stattgegeben  wird,  weil  sich  der  Kläger  beleidigt  fühlt. 
Vielleicht  war  die  vermeintliche  Beleidigung  gar  eine  Schmeichelei.  Das 
hohe  Kriegsministerium  erhält  von  solchen  Sachen  Kenntnis  durch  eine 
Anzeige  der  Staatsanwaltschaft,  in  welcher  kurz  gesagt  wird,  dort  und  dort 
habe  der  und  der  eine  Rede  gehallen,  in  welcher  Beleidigungen  der  Armee 
vorkämen,  und  es  werde  um  die  Ermächtigung  zur  Verfolgung  ersucht.  Das 
Kriegsministerium  gibt  seine  Zustimmung  und  überläßt  es  dem  Staatsanwalt, 
den  Tatbestand  zu  konstruieren.  Dieses  Argument  zieht  also  nicht-  Zuletzt 
hat  der  Herr  Staatsanwalt  das  „Prager  Abendblatt'"  herangezogen.  Sie  wissen, 
meine  Herren,  was  solche  offiziöse  Auslassungen  eines  Journalisten,  der  im 
Solde  einer  Regierung  steht,  zu  bedeuten  haben.  Der  schreibt  heute  für  das 
Ministerium  Taaffe,  morgen  für  das  Ministerium  Windischgrätz, 
heute  so  und  morgen  wieder  anders.  Das  ist  auch  ein  Argument,  welches 
auf  unabhängige,  ehrenhafte  Männer  keine  Wirkung  haben  kann.  Diese 
Auslassungen  sind  eine  journalistische  Rechtfertigung  des  über  Prag  ver- 
hängten Ausnahmezustandes.  Aber  was  kann  da  Dr.  Adler  dafür?  Für 
übertriebene  nationale  Agitation,  welche  den  Ausnahmezustand  verschuldete, 
ist  Herr  Dr.  Adler  nicht  zu  haben,  da  er  auf  internationalem  Standpunkt 
steht.  Was  ist  ihm  Hekuba,  was  ist  ihm  Prag?  Ich  muß  mich  sehr  kurz 
fassen,  um  Sie  nicht  zu  übermüden,  aber  ich  glaube,  Sie  sind  durch  die 
lange  Verhandlung  ohnehin  in  Ihrem  Urteil  gefestigt-  Dieses  Urteil  kann 
nach  meiner  festen  Überzeugung  nur  lauten  zugunsten  der  unbe- 
dingten Freiheit  der  Rede,  und  wenn  dieses  Urteil  in  diesem  Sinne 
lautet,  dann  sehe  ich  ihm  mit  Beruhigung  entgegen. 

Es  folgen  das  Resümee  des  Präsidenten  Landesgerichtsrates 
Salaschek    sowie    die    Rechtsbelehrung   an    die    Geschwornen. 

Die  Geschwornen  ziehen  sich  nun  zur  Beratung  zurück,  die  mehr  als 
zwei  Stunden  währt.  Nach  ihrem  Wiedereintritt  verkündet  der  Obmann  der 
Jury,  Herr  Dr.  H  e  r  g  e  1,  das 


204  Eine  Volksversammlung  nach  der  Verhandlung- 

Verdikt  der  Geschwornen. 

Die  1.  Hauptfrage,  betreffend  das  Verbrechen  der  Störung 
der  öffentlichen  Ruhe  und  Ordnung  (§  65  a),  wird  in  albn 
drei  Absätzen  beantwortet  mit  12  Stimmen  Nein. 

Die  2.  Hauptfrage,  Verbrechen  der  Religionsstörung 
(§  122  b),  wird  beantwortet  mit  12  Stimmen  Nein. 

Die  3.  Hauptfrage   (§  300): 

a)  Schmähungen  der  Behörden:  5  Stimmen  Ja,  7  Stimmen  Nein. 

b)  Beleidigung  des  Abgeordnetenhauses:  2  Stimmen  Ja,  10  Stimmen 
Nein. 

c)  Beleidigung  des   Herrenhauses:    3    Stimmen  Ja,  9  Stimmen  Nein. 
Die    4.    Hauptfrage,    Verleitung    zu    Feindseligkeiten 

gegen  einzelne    Klassen   (§  302) :  a)  7  Ja,  5  Nein;  b)  7  Ja,  5  Nein. 

Die  5.  Hauptfrage,  Erschütterung  der  Rechlsbegriffe 
ü  b  e  r  d  a  s  E  i  g  e  nt  u  m    (§  305) :  5  Ja,  7  Nein. 

Die  6.  Hauptfrage,  Beleidigung  der  Armee;   12  Stimmen  Nein. 

Darauf  verkündet  der  Vorsitzende  das  iieispiechende  Urteil. 

Das  aus  allen  Bevölkerungsschichten  zusammengesetzte,  dicht  gedrängt 
den  großen  Saal  und  die  Galerie  füllende  Publikum  bricht  nach  dem 
Geschwornenverdikt  und  nach  dem  Freispruch  in  laute  Bravorufe  aus. 


Eine  Volksversammlung  nach  der  Verhandlung. 

(Ans    einem  Feuilleton    des  Herausgebers    dieses  Bandes    in    der  „Arbeiter- 
Zeitung"    vom  11.  November  1922.) 

F.^  war  schon  spät  abends,  als  der  Prozeß  zu  Ende  war. 

Und  jetzt,  nach  dieser  ungeheuerlichen  körperlichen  und  geistigen 
Leistung,  nach  dieser  Anspannung  des  Gehirns  und  aller  Nerven,  nach  diesem 
dreitägigen  Kampf  mit  dem  Staatsanwalt  und  mit  bösartigen  Zeugen,  nach 
diesem  Turnier,  wo  beständig  vollste  Geistesgegenwart,  Schlagfertigkeit  und 
Gedächtnis  notwendig  waren,  am  Abend  dieses  dritten  Tages,  nachdem  er 
eine  erschöpfende  Verteidigungsrede  gehalten  und  ein  zweitesmal  gesprochen 
hatte,  nach  der  mehr  als  zweistündigen  Nervenfolter,  welche  die  Beratung 
der  Ge^^chwornen  für  den  Angeklagten  mit  sich  bringt  und  die  um  so  größer 
ist,  als  der  Delinquent  seine  na.türliche  Unruhe  beherrscht  und  mit  dem  Ver- 
teidiger in  der  Armensünderzelle  über  Gott  und  die  Welt  spricht,  nach  der 
unerträglichen  Spannung,  welche  die  Wiedereröffnung  der  Sitzung,  das  Er- 
scheinen des  Gerichtshofes,  die  wörtliche  Verlesung  der  ausführlichen  Frage- 
punkie  und  ihre  Beantwortung  durch  den  Obmann  mit  sich  bringen,  nach 
dem  formalen  Freispruch  durch  den  Vorsitzenden,  den  Glückwünschen  der 
Umstehenden  und  dem  Jubel  der  Zuhörer  —  nach  all  dem,  was  tut  Victor 
Aciier? 

Victor  Adler  begibt  sich  zu  einer  Volksversammlung  im 
Schießhause,  dem  größten  Lokal  von  Reichenberg!  Die  Versammlung  ist  auf 
seinen  Wunsch  einberufen,  um  !f  ü  r  jeden  Fall  für  die  Partei  zu  agitieren. 
Verurteilung?   —    Gut,    aber  dann    muß   man   sofort    die   anderen 


Eine  Volksversammlung  nach  der  Verhandlung  205 

trösten,  jeder  Depression  der  Gemüter  entgegenwirken,  kein  Verzagen,  keine 
EntmuligTing  aufkommen  lassen!  Freispruch?  Um  so  besser  —  aber 
dann  muß  man  die  gehobene  Stimmung  scfort  ausnützen,  um  Schwankende 
zur  Partei  herüberzuziehen,  die  Zuversicht  der  Genossen  zu  stärken,  sie  zu 
erhöhter  Tätigkeit  anzuspo^rnen ! 

Das  war  Victor  Adler! 

Die  Versammlung  war  überfüllt,  die  Stimmung  erregt,  da  das  Urteil' 
noch  nicht  bekannt  war.  Stürme  des  Beifalls,  da  Kiesewetter  den  Frei- 
spruch mitteilt,  ein  Orkan  der  Freude  umtost  Adler,  da  er  auf  der  Tribüne 
erscheint  und  zunächst  auf  die  Bedeutung  des  Freispruchs  für  die 
Partei  verweist:  die  Verurteilung  der  Rechtlosigkeit  der  Arbeiter,  ein  Ver- 
dikt bürgerlicher  Richter  über  die  behördlichen  Schikanen  und'  Rechts- 
beugungen gegenüber  den  Sozialdemokraten!  Aber  auch  wenn  eine  Ver- 
urteilung erfolgt  wäre,  fügt  er  hinzu,  hätte  sie  dem  Bestand  und  der  Fort- 
entwicklung der  Partei  nicht  das  mindeste  anhaben  können!  Und  dann  spricht 
Adler  zur  Tagesordnung:  Das  allgemeine,  gleiche,  'direkte  Wahlrecht,  hält 
nach  den  gewaltigen  Mühen  dieses  Tages,  dieser  drei  Tage,  eine  regelrechte 
Rede  für  die  Erkämpfung  dieses  Wahlrechtes!  Der  Schriftführer  der  Ver- 
sammlung, ein  Arbeiter  namens  S  p  o  n  e  r,  schilderte  im  Reichenberger 
„Freigeist"  die  Rede  mit  folgenden  schlichten  Worten:  „Adler  geht  dann 
zur  Besprechung  des  au^f  der  Tagesordnung  stehenden  Programmpunktes 
über  und  erledigt  sich  dieser  Aufgabe  in  einer  nur  ihm  einzig 
eigenen  Art,  aber  auch  trefflichen  Kritik  und  brmgt  zum  Schluß  seiner 
meisterhaften,  oft  mit  mit  großem  Beifall  aufgenonimenen  Rede  nachstehende 
Resolution  zur  Verlesung."  Und  er  schließt  den  Bericht  nach  der  Schilderung, 
wie  die  Arbeiter  das  Lied  der  Arbeit  singen  und  langsam  abziehen,  mit  den 
Worten:  „Für  die  Arbeiter  aus  Reichenberg  und  Umgebung  wird  aber  der 
20.  November  1893  stets  ein  denkwürdiger  Tag  bleiben." 

Spät  nachts  kam  Adler  zur  Ruhe;  nächsten  Morgen  aber  ging  es  zum 
Bahnhof  —  zurück  nach  Wien!  Dort  war  während  dieser  Tage  viel  Rück- 
stand aufgehäuft,  neue  Arbeit,  neue  Sorgen  warteten. 

Das   war  er,   Victor    Adler! 

Unermüdlich,  ohne  Rast  und  ohne  Ruh',  wenn  es  ifür  die  Partei,  für 
die  Arbeiterklasse  etwas  zu  tun  gab.  Und  gab  es  nichts  zu  tun,  dann  sorgte 
er  dafür,  daß  es  wieder  etwas  gab.  Woher  nahm  dieser  Mensch  mit  dem 
schwächlichen,  mageren  Körper  diese  Energie,  wie  konnte  dieser  zarte  Leib 
diese  körperlichen  und  geistigen  Anstrengungen  leisten,  diese  Hetzjagd  mit- 
machen durch  die  Jahrzehnte  hindurch,  von  der  Gründung  der  „Gleichheit" 
im  Jahre  1886  an  bis  zur  Abdankung  des  Kaisers  Karl  von  Habsburg? 
Flammen  brannten  in  ihm,  das  brennende  Mitleid  mit  der  gequälten  Kreatur, 
das  Feuer  des  Idealismus  und  die  stilleuchtende  Fackel  der  Erkenntnis.  Nur 
tieifes  Wissen,  gepaart  mit  sittlichem  Ernst,  nur  ideale  Begeisterung,  ver- 
schwistert  mit  der  Überzeugung  von  der  Notwendigkeit  des  Sozia- 
lismus und  von  seiner  Möglichkeit,  wenn  es  nur  gelänge,  die  Arbeiter- 
klasse zu  wecken,  konnte  diesen  schwachen  Leib  zu  so  unerhörten  Leistungen 
spornen.  Er  peitschte  alle  um  ihn  zur  Arbeit  für  das  Proletariat,  weil  er  diese 
Peitsche  beständig  gegen  sich  selbst  schwang.  Er  konnte  alles  von  seinen 
Genossen  verlangen,  weil  er  sich  selbst  die  Ruhe  versagte,  dem  Proletarial 


206  Für  die  Rechte  der  tschechischen  Arbeiter  in  Wien 

alles  opferte,  sein  Wissen,  sein  Können,  seine  Ruhe,  seine  Tage  und  seine 
Nächte,  seinen  Geist  und  seinen  Leib,  sein  Leben  vom  ersten  Tage  an,  da 
er  zu  ihrem  Segen  in  die  Reihen  der  damals  verachteten  Arbeiterklasse  trat. 
bis  zu  dem  elften  November,  wo  er  wußte,  daß  die  Habsburger  hinausgejagl, 
die  demokratische  Republik  erobert  sei. 


Für    die   Rechte    der   tschechischen    Arbeiter 

in  Wien. 

Das  Reichsgericht  hatte  im  Jänner  1894  eine  Entscheidung  gefällt,  die 
den  nichtdeutschen  Minderheiten  —  und  zwar  handelte  es  sich  vor  allem  um 
die  Tschechen  in  Wien  —  'das  Recht  absprach,  sich  in  Versammlungen  und 
Vereinen  der  Muttersprache  zu  bedienen.  Die  tschechischen  Sozialdemokraten 
hielten  in  Wien  Protestversammlungen  ab,  aber  auch  die  deutschen  Sozial- 
demokraten veranstalteten  gegen  diese  Einschränkung  des  Versammlungs- 
rechtes der  tsichechi&chen  Arbeiter  am  28.  Jänner  beim  Schwender  in  Rudolfs- 
heim eine  große  Protestversammlung,  wo  Schuhmeier  und  Adler 
sprachen.  Schuhmeier  wurde  wegen  Releidigung  der  Regierung,  Adler  wegen 
Beleidigung  des  Reichsgerichts  durch  die  Worte:  „Das  Reichsgericht  hat 
ja  zufällig  auch  vernünftige  Urteile  gefällt . . ."   angeklagt. 

Am  17.  März  standen  Adler  und  S  c  h  u  h  m  e  i  e  r  wegen  Übertretung 
des  §  491  und  des  Art.  V  des  Gesetzes  vom  Jahre  1862  vor  dem  Bezirksgericht 
Rudolfsheim. 

Beide  Angeklagte  gaben  zu,  ähnliche  Worte  gebraucht  zu  haben,  kon- 
statierten aber,  daß  sie  vollständig  aus  dem  Zusammenhang  gerissen  seien. 
So  habe  Schuhmeier  nicht  'die  Regierung  als  solche  eine  brutale  ge- 
nannt, sondern  habe  auf  die  zahlreichen  und  festgestellten  Gesetzes- 
verletzungen hingewiesen,  die  ohne  Zweifel  Brutalitäten  gegenüber  der  Ar- 
beiterschaft darstellen,  von  der  Regierimg  aber  nicht  gehindert  werden. 

Adler  erklärt,  eine  Beleidigung  des  Reichsgerichts  liege 
nicht  vor,  er  habe  nur  die  Exekutivbehörden  auf  jene 
sehr  vernünftigen  Urteile  des  Eeichsgerichts  in 
bezug  auf  die  Freizügigkeit  hingewiesen,  welche  von  den 
Behörden  regelmäßig  unbeachtet  blieben.  Der  Regierungs- 
vertreter habe  ihn  mitten  in  dem  Satze  unterbrochen,  der  lauten 
sollte:  „Das  Reichsgericht  hat  ja  zufällig  auch  einige  vernünf- 
tige Urteile  gefällt,  in  einer  Sache,  die  für  uns  große  Wichtig- 
keit hat,  und  hat  entschieden,  daß  die  Bezirkshauptmann- 
schaften nicht  das  Recht  haben,  streikende  Arbeiter  als  »be- 
stimmungslos« abzuschieben."  In  diesem  Sinne  hätten  auch 
seine  weiteren  Ausführungen  gelautet. 

Der  Verteidiger  Dr.  Richard  Ulbing  konstatierte,  daß  die  Äußerungen 
Schuhmeiers  absolut  nicht  unter  den  Paragraphen  der  Ehrenbeleidigung  von 
Behörden   zu   bringen   seien.     Insbesondere   sei   es  mehr   als   zweifelhaft,   ob 


Die  Bhrenbeleidigungsklage  eines  Gesinnungslumpen  207 

überhaupt  die  Regierung  als  eine  Behörde  im  Sinne  dieses  Paragraphen  auf- 
zufassen sei.  Er  führte  weiters  aus,  daß  aber,  wenn  hier  überhaupt  Delikte 
vorlägen,  dieselben  nicht  unter  diesen  Paragraphen  zu  subsumieren  seien, 
sondern  als  Vergehen  nach  §  300  aufzufassen  und  somit  von  den  Geschwornen 
abzuurteilen  wären. 

Der  Richter  Dr.  Schober  nahm  eine  beleidigende  Absicht  beider  Redner 
ohnewciters  an  und  verurteilte  Adler  und  S  c  h  u  h  m  e  i  e  r  zu  je  einem 
Monat  Arrest.  Von  beiden  Verurteilten  wurde  die  Berufung  gegen  Schuld 
und  Strafe  eingebracht  (^Arbeiter-Zeitung"'  Nr.  23  vom  20.  März  1894). 

Die  Berufungsverhandlung. 

Bei  der  Berufungsverhandlung  vor  dem  Landesgericht  am  19.  Mai  1894 
legte  der  Verteidiger  Dr.  U  1  b  i  n  g  wieder  dar,  daß  es,  falls  überhaupt  ein 
Delikt  vorliege,  was  nicht  der  Fall  sei,  keineswegs  die  Übertretung  der  Ehren- 
beleidigung sein  könnte,  da  nicht  die  persönliche  Ehre,  wohl  aber  Entschei- 
dungen der  Behörden  und  ihre  Amtsführung  Gegenstand  der  Kritik  waren.  Die 
Angeklagten  wurden  ihrem  ordentlichen  Richter,  nämlich  dem  Schwurgericht, 
entzogen,  offenbar  weil  dort  ein  Freispruch  nicht  ausgeschlossen  sei.  Betreffs 
der  Äußerung  Adlers  sei  'durch  den  Zeugen  B  r  ü  g  e  1,  der  die  Rede  steno- 
graphierte, nachgewiesen,  daß  der  vom  Regierungsvertreter  angegebene  Wort- 
laut unrichtig  sei. 

Adler 

konstatierte,  daß  er  in  der  inkriminierten  Stelle  nicht  das 
Reichsgericht,  von  welchem  er  sagte,  daß  es  auch  sehr  vernünf- 
tige Urteile  gefällt  habe,  kritisiert  habe,  sondern  die  exeku- 
tiven Behörden,  von  welchen  er  nachwies,  daß  sie  sich  an  di.ese 
Urteile  nicht  kehren. 

Nach  sehr  kurzer  Beratung  bestätigte  der  Gerichtshof  (Landes- 
gerichtsrat Dr.  G rohmann)  das  erstrichterliche  Urteil.  (,, Arbeiter- 
Zeitung"  Nr.  41  vom  22.  Mai  1894.) 


Die  Ehrenbeleidigungsklage  eines  Gesinnungs- 
lumpen. 

Emil  K  r  a  1  i  k,  der  geniale  Humorist  der  ,, Arbeiter-Zeitung", 
hatte  im  Juli  1894  im  „Vorwärts",  Fachorgan  der  Buchdrucker,  einen  Artikel 
über  Gewerkschaften  und  Partei  veröffentlicht  und  dabei  von  „geistigen 
Lumpenproletariern"  gesprochen,  die  sich  den  Gewerkschaften  aufdrängen 
und  in  Fachblätlern  in  der  „radikalsten"  Weise  schreiben,  während  sie  in 
anderen  Fachblättern  „besonnene  Mäßigkeit"  verfechten.  Darauf  nannte  die 
„Arbeiter-Zeitung"  (Nr.  60  vom  27.  Juli  1894)  den  Namen  des  Betreffenden 
und  bezeichnete  ihn  als  „einen  Lumpen,  der  nicht  nur  mit  dem  Sozialismus 
und  der  Gewerkschaftsorganisation  Geschäfte  macht,  sondern  auch  mit 
anderen   Gesinnungen"   und   als   „Allerweltstintenkuli".    Darauf   erstattete   er 


208  Der  unbefangene  Holzinger 

die  „Anzeige"  beim  Landesgericht  „behufs  Erhebung  der  Anklage  auf  Ehren- 
beleidigung". Doch  kam  es  nie  zur  Verhandlung,  obwohl  sich  Adler  sofort 
als  Verfasser  des  Artikels  bekannte  .  .  .*)  Der  Mann  hat  schließlich  ein 
schreckliches  Ende  genommen:  er  wurde  Redakteur  der  christlichsozialen 
„Reichspost"  und  bekam  das  päpstliche  Ehrenkreuz  pro  ecclesia  et  pontifice, 
für  Kirche  und  Papst  ...  '  ' 


Der  unbefangene  Holzinger. 

Am  20.  August  1894  fand  vor  dem  Erkenntnissenat  des  Wiener  Landes- 
gerichts die  Verhandlung  gegen  Dr.  Adler  als  Herausgeber  der 
„Arbeiter-Zeitung"  wegen  Vergehens  nach  §  24  Pr.-G.  statt;  dieses  Delikt 
sollte  dadurch  begangen  sein,  daß  der  Angeklagte  die  zweite  Auflage 
der  Nummer  45  der  „Arbeiter-Zeitung"  hergestellt  hatte.  In  jener  Nummer 
waren  zwei  Notizen:  „Heiteres  aus  Galizien",  behandelnd  die  Eröffnung  der 
Lemberger  Landesausstellung,  und  „88  Monate  schweren  Kerkers",  behandelnd 
die  Verurteilung  von  vierzig  streikenden  Tischlern  durch  den  Herrn  Vize- 
präsidenten Holzinger,  weiters  zwei  Artikel,  der  eine  über  die  Abschieds- 
rede 'des  Chlumetzky  im  Abgeordnetenhaus,  der  andere  über  die  Be- 
handlung der  Vorgänge  von  Falkenau  und  Ostrau  im  Parlament,  konfisziert 
worden.  Es  war  in  jener  einige  Monate  dauernden  Zwischenzeit,  in  welcher 
einem  Erlaß  des  Justizministers  gemäß  nicht  die  einzelnen  kon- 
fiszierten Stellen,  sondern  die  Artikel,  in  welchen  der 
Redakteur  die  konfiszierten  Stellen  zu  suchen  habe,  vom  Staatsanwalt 
angegeben  wurden.  Es  war  nun  dem  Dr.  Adler  nicht  gelungen,  die  Gedanken 
des  Staatsanwalts  vollständig  zu  erraten,  und  es  passierte  ihm,  daß  in  einigen 
dieser  Artikel  einzelne  Sätze  Aufnahme  fanden,  welchen  der  Staatsanwalt 
die  Konfiskation  zugedacht  hatte.  Die  zweite  Auflage  wurde  nun  abermals 
konfisziert  und  zugleich  die  Anklage  erhoben,  es  sei  durch  ihre 
Herstellung  der  Inhalt  einer  mit  Beschlag  belegten  Druckschrift  veröffentlicht 
worden. 

In  der  Voruntersuchung  verantwortete  eich 
Dr.  Adler  dahin,  es  sei  das  Delikt  nach  §  24  des  Preß- 
gesetzes weder  subjektiv  noch  objektiv  gegeben.  Subjektiv 
nicht,  w^eil  die  einzige  Absicht  bei  der  Herstellung  einer  zweiten 
Auflage  die  sei,  alles  zu  entfernen,  was  wieder  eine  Konfis- 
kation herbeiführen  könne;  das  müsse  notwendigerweise  be- 
absichtigt werden,  weil  die  zweite  Auflage  nicht  wie  die  erste 
vor  den  Händen  der  Sicherheitsbehörden  zu  bergen  möglich 
sei,  sondern  regelmäßig,  falls  sie  konfisziert  werde,  ziemlich 
dem  ganzen  Umfang  nach  weggenommen  werde.  Objektiv  sei 


*)     Vergleiche     1.     Heft     „Victor     Adler      und      Friedrich 
Engels".  Seite  122:  Brief  Adlers  vom  22.  Jänner  1895. 


Der  unbefangene  Holzinger  209 

der  Tatbestand  nicht  ^e^eben,  weil  die  zweite  Auflage  eine 
vollständig'  neue  Nummer,  die  Artikel  durch  Wegdassunu  der 
einzelnen  Stellen  vullständig  neu  und  deshall»  als  solche  /u  l«e- 
handeln  seien. 

Es  sei  auch  bei  früheren  Gelegenheiten  vor  jenem 
iMinistererlaß,  wo  die  zweite  Auflage  wieder  konfisziert  wurde, 
niemals  eine  Anklage  auf  §  24  geführt  worden. 

Die  Verhandlung  fand'  unter  dem  Vorsitz  des  Vizepräsidenten  Ritter 
V  Holzinger  statt.  Vor  Verles'ung  der  Anklageschrift  erbat  sich  der  An- 
geklagte das  Wort  zur  Stellung  i1es  prozessualen  Antrages,  die  Verhandlung 
zu  vertagen. 

Adler 

begründete  diesen  Antrag  folgendermaßen:  Die  Vorladunti'  sei 
ihm  während  seiner  Abwesenheit  von  Wien  zugestellt  worden 
und  er  habe  nicht  gewußt,  w  e  1  c  h  e  m  E  r  k  e  n  n  t  n  i  s  s  e  n  a  t 
die  Verhandlung  zugewiesen  sei.  Ich  habe  durch  meinen  Ver- 
treter, Herrn  Dr.  Karl  Ornstein,  die  Vertagung  der  Verhand- 
lung angestrebt,  die  aber  vom  Vorsitzenden  nicht  bewilligt 
wurde.  Ich  habe  erst  am  gestrigen  Tage  erfahren,  daß  Herr 
V.  Holzinger  Vorsitzender  des  Senats  ist.  Ich  halte  es  nun  für 
mein  Eecht  und  meine  Pflicht,  die  Ablehnung  des  Vor- 
sitzenden zu  erwirken,  weil  im  Sinne  des  §  72  der  Straf- 
prozeßordnung Gründe  vorliegen,  welche  geeignet  sind,  die 
volle  Unbefangenheit  des  Abzulehnenden  i  n 
Zweifel  zu  ziehen.  Ich  weiß  wohl,  daß  die  Straf gesetz- 
ordnung  verlangt,  das  Gesuch  an  das  Oberlandesgericht  um  die 
Ablehnung  müsse  24  Stunden  vor  Beginn  der  Verhandlung 
eingebracht  werden.  Da  dies  aber  aus  erwähnten  zufälligcji 
Ursachen  nicht  möglich  war,  ersuche  ich  den  Gerichtshof  um 
die  V  e  r  t  a  g  u  n  g  der  Verhandlung,  um  die  Frist  zu  gewinnen, 
das  Gesuch  rechtzeitig  einzubringen.  Die  Zweifel  in  die 
Unbefangenheit  des  Vorsitzenden  Ritter  v.  H  o  1- 
zinge  r  sind  aber  durchaus  begründete;  das  Blatt,  welches  in 
Frage  steht,  die  „Arbeiter-Zeitung",  und  insbesondere  ich 
selbst  haben  wiederholt  die  richterliche  Tätigkeit  des  Herrn 
H  o  1  z  i  n  g  e  r  einer  scharfen,  aber  durchaus  be- 
gründeten Kritik  unterzogen.  Insbesondere  habe 
ich  in  der  Nummer  3  der  „Arbeiter-Zeitung"  vom  9.  Jänner 
1894,  welche  ich  dem  Gerichtshof  zur  Einsicht  übergebe,  in 
dem    Artikel,    betitelt    „Herr    Ritter    v.    H  o  1  z  i  n  g  e  r", 

14 


210  Die  Schüsse  in  Falkenau  und  Ostrau 

dessen  Tätigkeit  so  austührlich  bebandelt,  daß  icb  einen  Zweifel 
in  der  Befangenheit  des  Richters  nicht  haben  kann.  Diese 
Nummer  ist  amtlich  ;?ur  Kenntnis  des  Herrn  Präsidenten  ge- 
kommen, überdies  liegt  sie  vor. 

Der  Slaalsanwalt  murmelte  den  Satz,  er  finde  Iceinen  Grund  zur  Ver- 
tagung. Der  Gerichtshof  zog  sich  zurück  und  verkündete  nach  längerer  Be- 
ratung, der  Antrag  auf  Vertagung  sei  abgelehnt.  Herr  v.  Holzinger 
hat  also  gefunden,  es  sei  ihm  nicht  erwünscht,  dem  Angeklagten  die  Gelegen- 
heit zu  geben,  das  Oberlandesgericht  über  seine  Unbefangenheit  entscheiden 
zu  lassen.  Nach  Verkündigung  dieser  Ablehnung  t' n  t  f  e  r  n  t  e  sich 
der  Angeklagte  und  überließ  die  Verteidigung  seinem  Vertreter  Doktor 
Ornstein.  Dieser  machte  die  bereits  angeführten  Momente  geltend  und 
beantragte  zur  Feststellung  der  Tatsache,  daß  nicht  die  Artikel  in  ihrem  ge- 
samten Umfang  als  konfisziert  angegeben  wurden,  sondern  nur  einzelne  Sätze 
ihres  Inhalts,  die  Vorladung  des  Herrn  Staatsanwalts  Dr.  Hawlath. 
-Auch  dieser  Antrag  wurde  vom  Gerichtshof  abgelehnt  und  der  Angeklagte 
zu  50  fl.  Geldstrafe  verurteilt.  („Arbeiter-Zeitung'"  Nr.  68  vom 
2-i.  August  1894.) 


Die  Schüsse  in  Falkenau  und  Ostrau. 

Die  Bergarbeiter  im  Falkenauer  und  Ostrauer  Kohlenrevier  waren 
Anfang  Mai  1894  in  den  Streik  getreten,  um  die  A  c  h  t  s  t  u  n  d  e  n  s  c  h  i  c  h  t 
zu  erringen.  Mit  allen  Mitteln  der  Einschüchterung  und  Unterdrückung 
arbeiteten  alle  staatlichen  Behörden  Hand  in  Hand  mit  den  Grubenbesitzern 
Bothschild,  Gutmann,  Wilczek,  Larisch,  um  den  Streik  zu  brechen.  Am 
3.  Mai  schössen  Gendarmen,  die  von  der  Werksleitung  mit  Bier  und  Wein 
traktiert  worden  waren,  in  Bergarbeiter,  die  ruhig  von  einer  Versammlung 
am  Berg  Han  bei  Falkenau  heimkehrten,  wo  sie  beschlossen  hatten,  die 
Arbeit  wieder  aufzunehmen,  von  rückwärts  hinein;  vier  Tote, 
neun  Verwundete  blieben  liegen.  Am  9.  Mai  schössen  Gendarmen  beim 
Dreifaltigkeitsschacht  in  Polnisch-Ostrau  auf  die  Bergarbeiter,  die  wie  jeden 
Tag  gekonunen  waren,  um  nachzufragen,  ob  sie  acht  Stunden  oder  zwölf 
Stunden  arbeiten  müßten,  und  umkehrten,  als  die  Achtstundenschichl  abge- 
lehnt wurde;  2  2  Bergarbeiter  blieben  auf  dem  Schlachtfeld,  zehn 
tot,  zwölf  mehr  oder  minder  schwer  verwundet.  Ein  Aufschrei  der  Ent- 
rüstung entrang  sich  der  Brust  der  Arbeiterschaft.  Im  Parlament  brachte 
P  e  r  ne  r  s  t  o  r  f  e  r  einen  Antrag  auf  gesetzliche  Einführung  des  Achtstunden- 
tages im  Berghau  ein,  der  „natürlich"  von  Regierung  und  Parlament 
abgelehnt  wurde.  In  Wien  fanden  am  21.  Mai  zwölf  sozialdemokratische 
Vorsammlungen  mit  der  Tagesordnung  „Das  Koalitionsrecht  und  die  Regie- 
rung" statt,  die  Protest  gegen  die  Vergewaltigung  des  Koalitionsrechtes  in 
Ostrau  und  Falkenau,  aber  auch  in  Wien  bei  den  Streiks  der  Maurer  und 
Tischler  erhoben  und  den  Achtstundentag  für  die  Bergarbeiter  verlangten. 
Fünf  von  diesen  zwölf  Versammlungen  wurden  von  den  Regierungsvertretern 
aufgelöst,    darunter  auch    die  Versammlung    in   Ottakring,    wo    Dr.    Adler 


Die  Schüsse  in  Faikenau  und  Ostraii  211 

^jprach.  Wegen  seiner  Rede  wurde  gegen  ihn  die  strafgerichtliche  Inlei- 
suchung  eingeleitet. 

Am  18.  Dezenüjer  stand  Adler  vor  dem  Bezirksgericht  Ottaknng, 
augeklagt  der  Ehrenbeleidigung  (§  491  u.  Art.  V,  Gesetz  vom  Jahie  1862). 
Adler  hatte  seine  Ausführungen  mit  der  Erklärung  begonnen,  daß  er  das 
Vorgehen  der  Behörden  im  einzelnen  kritisieren  werde,  aber  sich  dagegeii 
verwahre,  einzelne  Beamte  oder  Behörden  persönlich  beleidigen 
zu  wollen;  es  könne  bei  der  Heiklichkeit  des  Themas  passieren,  Anordnungen 
oder  Entscheidungen  von  Behörden  im  Sinne  des  §  300  „herabzuwürdigen", 
aber  die  „Ehre"  der  Betreffenden  komme  nicht  ins  Spiel,  und  er  verwahre 
sich  dagegen,  wieder  vor  ein  Bezirksgericht  wegen  Ehren- 
beleidigung gestellt  zu  werden.  Dieser  Protest  hatte  nichts  genützt,  denn 
wenn  auch  die  Auflösung  der  Versammlung  wegen  §  300  erfolgte  und  eine 
Untersuchung  gegen  den  Redner  auf  Grund  desselben  Paragraphen  eingeleitet 
wurde,  fand  es  das  Wiener  Landesgericht,  wie  es  scheint,  denn  doch  nicht 
geraten,  es  «bei  den  Wiener.  G  e  s  c  h  w  o  r  n  e  n  zu  probieren'",  und  wählte 
den  bequemen  und  sicheren  Weg  des  Artikels  V  und  des  Bezirks- 
gericht s, 

Der  staatsanwaltschaftliche  Funktionär  hatte  eine  Reihe  von  Stellen 
der  Rede  inkriminiert,  in  welchen  der  Angeklagte  die  Vorgänge  von  Ostrau 
und  Faikenau  geschildert,  die  Unterdrückung  des  Versammlungs-  und  Vereins- 
rechtes in  den  Bergarbeiterbezirken  kritisiert  und  die  Massenverhaftungen 
bei  den  Wiener  Arbeitseinstellungen  als  ungesetzlich  bezeichnet  hatte. 

Für  alle  diese  Äußerungen  bot  bei  der  Verhandlung 
Adler  einen  umfänglichen  Wahrheit  .s  b  e  w  e  i  s  an.  und 
Dr.  Orn  stein,  welcher  zufällig  im  Laufe  der  Verhandlung 
er.schien  und  die  Verteidigung  übernahm,  .-^teilte  zu  diesem 
Zweck  eine  Eeihe  von  Anträgen,  darunter  die  Reiiuisitiun  einer 
A  u  f  f  o  r  d  e  r  u  n  g,  worin  vom  Wiener  Polizeipräsidium  allen 
unterstehenden  Behörden  ein  gesetzliches  Vorgehen  für  die 
Zukunft  zur  Pflicht  gemacht  wird.  Auch  in  bezug  auf  die  in- 
kriminierten Äußerungen:  ..In  den  Wachstuben  werden  mehr 
Arbeiter  geprügelt  als  auf  der  IStraße"  und  ..Ks  wurden  in  Wien 
Dutzende  von  Arbeitern  ohne  jeden  Grund  verhaftet"  wurde 
der  Wahrheit.sbeweis  angeboten.  Weiters  war  eine  Eeihe  von 
Stellen  inkriminiert,  welche  mit  Bezugnahme  auf  die  früher 
angeführten  einzelnen  Tatsachen  eine  Kritik  dos  Vorgehens 
der  Behörden  enthielten. 

Der  Pichter.  Adjunkt  P  a  u  ni  g  ;i  r  t  e  n.  stellte  sich 
auf  den  Standpunkt,  der  §  491  verfolge'  Beleidigungen  ohne 
Anführung  bestimmter  Tatsachen.  Es  seien  also  alle  jene 
Stellen  der  Rede,  in  welchen  die  Tatsachen  angeführt  wurden, 
auszuscheiden  und  der  angebotene  Wahrheitsbeweis  als  gegen- 

14* 


212  Die  Schüsse  in  Fallcenau  und  Ostrau 


standslos  abzulehnen.  Wegen  jener  Stellen  der  Rede  aber,  in 
welclien  er  sieb  l:)loß  auf  die  früher  antreführten  Tatsachen 
berufen  liabe.  ohne  sie  nochmals  anzuführen,  wurde  Adle  r 
zu  eine  ni  M  o  n  a  t  Arrest  verurteilt,  woliei  der  Kieliter 
als  mildernd  annahm,  daß  sieli  A  d  1  e  r  infolge  der  Ereignisse 
von  Ostrau  in  großer  Erregung  befand.  Die  Stellen,  welche 
eine  Beleidigung  öffentlicher  Behörden  „ohne  Anführung  be- 
stimmter Tatsachen'"  entbaltcui  soll,  lauten:  „Ein  schiefer  Blick 
streikender  Arbeiter  wird  von  der  Behörde  schon  überwacht. 
Wer  nicht  verhaftet  werden  wolle,  dürfe  sich  in  der  Xiiiie 
einei-  Werkstätte  überhaupt  nicht  blicken  lassen."  „Die  Ab- 
geordneten sind  wohl  gegen  den  Terrorismus  der  Arbeiter,  aber 
nicht  gegen  den  Terrorismus  der  Behörden  aufgetreten;" 
„Nichts  ist  empörender,  nichts  greift  uns  so  ans  Herz,  als 
wenn  man  in  die  Menge  hineinpfeffert,  wenn  man  Proletarier 
wählt  zum  Probieren  der  Mannlichergewehre."  Endlich:  „Die 
Arbeiter  werden  zusammengefangen  wie  die  Hunde  und  in  den 
Arrest  gebracht,  sie  werden  abgeschoben  und  sie  werden  nieder- 
geschossen, und  das  alles,  wie  Oraf  Wurmbrand  sagt,  um  die 
»Freiheit  der  Arl)eit«  zu  sichern."  Der  Freispruch  betraf  zehn 
Stellen. 

Der  Verteidige)'  meldete  den  Eekurs  und  die  Xicli- 
t  i  g  k  e  i  t  s  b  e  s  c  h  w  e  r  d  e  gegen  das  Urteil  an,  ebenfalls 
der  'Staatsanwalt  gegen  den  freisprechenden  Teil  des  I^rteils. 

Die  Berufungsverhandlung. 

Am  2.  März  1895  fand  vor  dem  Landesgericht  die  Bt-riifirngsverhaAid- 
lung  statt.  Vorsitzender  war  Landesgericlitsrat  Dr.  (t  roll  mann,  Dr.  0  rn- 
stein  vertrat  den  Angeklagten. 

Dr.  Adler 

blieb  bei  seiner  Verantwortung  und  wies  nach,  daß  er  sicli  in 
jedem  Satz  seiner  Rede  auf  bestimmte  Tatsachen  bezogen  und 
aus  denselben  nur  die  logischen  Schlüsse  gezogen  habe. 

Die  Staalsanwaltschafl  erklärte  gleich  zu  Beginn  der  Yerhandluntr. 
daß  sie  die  ihrerseits  erfolgte  Berufung  nur  bezüglich  eines  Punktes  aufrecht- 
halte, die  übrigen  neun  aber  fallen  lasse.  Hierauf  nahm  das  Wort  zu  folgenden 
Aijsführungen 

Adler : 

Ich  bekenne  mich  als  nichtschuldig.  Die  Versammlung 
wurde  infolge  der  ganz  konkreten  Vorgänge  in  Falkenau  und 


Die  Schüsse  in  F'alkenau  und  üstrau  -13 


Ostrau,  chmii  während  des  Tischler-  und  Gasarbeiterstreiks  ein- 
berufen. Sie  bezweckte  einen  öffentlichen  Protest  gegen 
die  llaudliabun^  des  Koalitionsrechtes  in  einzelnen  .:!,•  a  n  z 
b  e  s  t  i  ni  m  t  e  n  Fällen.  Ich  habe  in  jener  Kede  «leich  anfangs 
gesagt,  daß  ich  nicht  .»beleidigen",  sondern  Tatsachen  vor- 
bringen werde.  Es  ist  O-epflogenheit,  daß  die  l\ritik  der  Be- 
hörden, welche,  wenn  sie  das  ^laß  überschreitet,  v  o  r  d  i  e 
G  e  s  c  h  w  I)  r  n  e  n  bringen  muß,  äh  Beleidigung  derselben 
angesehen  und  dem  Bezirksgericht  übergeben  wird.  Ich  habe 
deshalb  in  diesem  Tiill  in  der  ersten  Verhandlung  eine  Keihe 
von  Wahrheitsbeweisen  angeboten.  Dies  wurde  abgelehnt,  und 
ich  wurde  bezüglich  aller  Stellen,  welche  ich  mittels  Wahr- 
heitsbeweises erhärten  wollte,  freigesprochen,  aber  wegen  der 
allgemeinen  Stellen  verurteilt.  Das  Gericht  sagt  also:  Wii 
lassen  uns  auf  einen  Wahrheitsbeveis  unter  keiner  Be- 
dingung ein,  sondern  sprechen  ihn  lieber  in  den  betretteu- 
den  Tunkten  frei;  wo  er  abei-  die  Schlüsse  aus  den  Tatsachen 
ziehen  will,  da  verurteilen  wir  und  umgehen  auf  diese  Weis.- 
den  Wahrheitsbeweis.  Dadurch  weiter,  daß  die  Belation  des 
Regierungsvertreters  mich  in  I^riisens  anstatt,  wie  es  tatsäch- 
lich der  Fall  war,  im  Perfektum  sprechen  ließ,  gewinnt  alles 
den  allgemeinen  Charakter,  den  es  tatsächlich  nicht  hatre. 
Wenn  ich  beispielsweise  sagte:  „Ein  schiefer  P)lifk  des  Ai- 
iteiters  genügte,  um  seine  Arretierung  zu  \  (Manlassen".  so 
liabi'  ich  spezielle,  in  der  Vergangenheit  voigefallene  Tat- 
sachen im  Auge  gehabt.  Wüi-de  ich  aber  sagen:  ..Ein  schiefer 
Blick  des  Arbeiters  genügt..  .",  dann  ist  dem  Ausspruch  ein 
verallgemeinernder  Charakter  gegeben  und  das  Substrat  zu 
einer  A'nklage  konstruiert.  Adle  r  wendet  sich  dann  zu  den 
übrigen  Punkten,  bezüglich  deren  er  \erurteilt  wurue,  weist 
nach,  daß  das  Wort  .,  Tcrrorismus  der  Behörden"  auf  die 
Gendarmerie  gemünzt  war,  für  deren  Vorgehen  es  noch  d;e 
mildeste  Bezeichnung  sei.  Der  Ausspruch:  ..Die  Arbeiter  wur- 
den zusammengefangen  wie  Hunde",  sei  ebenfalls  nicht  zu 
stark  angesichts  des  Vorgehens  der  Polizei,  die  bei  den  Str-üks 
auf  die  nichtigsten  (Jründe  hin  unzählige  Arbeiter  verhaftete, 
deren  Fnschuld  sich  dann  vov  dem  Biditer  herausstellte.  Der 
Staatsanwalt  hat  die  Berufung  bezüglich  ^ämtlicher  Punkte 
mit  Ausnahme  des  Punktes  der  ursprünglichen  Anklage,  wo 
es  heißt :    ..\)  i  e   B  e  h  ö  i'  d  e  n  v  f  r  <  ü  n  d  igen  sich  n  i  c  h  t 


214  Die  Schüsse  in  Falkenau  und  Ustrau 

bloß  an  d  0  in  TJ  e  c  li  t,  sondern  auch  an  dem  Leben 
der  Ar  h  e  i  t  e  r".  fallen  gelassen.  Und  doch  hatte  ich  sehr 
wohl  ein  Recht,  diesen  Satz  zu  sprechen  im  Hinblick  auf  die 
Versuche  der  Behör<^en,  die  Organisierung  der  Arbeiter  zu 
verhindern.  Denn  wo  die  Arbeite]-  nicht  organisiert  sind,  wo 
es  ihnen  nicht  möglich  wird,  bessere  Lebensbedingungen  zu 
erringen,  da  ist  ihre  und  besonders  ihrer  Kinder  Mortalität, 
wie  die  Statistik  nacliweist,  viel  größer  als  in  Bezirken,  w'o  sich 
mächtige  Arbeiterorganisationen  befinden.  Ganz  besonders  ist 
dies  in  den  Kohlenrevieren  der  Fall.  Ich  habe  also  auch  hier 
die  Behörden  nicht  beleidigt,  sondern  bloß  kritisiert,  und  zwar 
vom  g]-ößten  (Jesiclitsi^unkt  aus,  der  möglich  ist.  Findet  man 
eine  solche  Kritik  ungesetzlich,  dann  möge  man  die  Courage 
hallen,  mich  vor  die  Oeschwornen  zu  stellen.  Das  Vorgehen  des 
Gerichtes  ist  in  diesem  Fall  so,  als  wenn  ich  zu  jemand  sagte: 
„Du  hast  geraubt,  du  hast  gemordet,  folglich  bist  du  ein  Raub- 
mörder!" und  ich  würde  wegen  der  letzten  Äußerung  wegen 
Ehrenbeleidigung  verurteilt,  ohne  daß  es  mir  gestattet  wäre, 
durch  die  Richtigkeit  der  beiden  ersten  Bemerkungen  die 
Richtigkeit  dieses  Schlusses  zu  beweisen.  Ich  habe  von  den 
§§  805  und  401  schon  vi(d  zu  leiden  gehabt,  ich  habe  nie  fhis 
Gefühl  gehabt,  daß  mir  recht  geschieht,  aber  das  Gefühl,  daß 
mir  so  unrecht  geschieht,  habe  ich  nie  gehabt. 

Der  Verleidiger,  Dr.  Ornstein,  wcm^I  darauf  hin,  daß  nian,  wäre  die  Ver- 
folgung des  Staatsanwalts  ihren  natürlichen  Weg  gegangen,  den  Angeklagten 
vor  das  Schwurgericht  stellen  müßte.  Aber  der  Staatsanwalt  wähle 
sich  das  Kampffold  dort,  wo  es  ihm  bequemer  und  leichter  werde,  und  brachte 
deshalb  den  Angeklagten  vor  das  Bezirksgericht.  Der  Verteidiger  legt  eine 
Anzahl  Akten  über  das  ungesetzliche  Vorgehen  der  Wiener  Polizei  und  d"r 
Behörden  in   Ostrau   und   Falkenau  bei  den  Streiks  vor. 

In   seinem   SchlufUvort   antwor'ef(> 

Adler 

iiuf  die  Austiiln  iiiigen  ck's  b^  t  a  a  t  s  it  n  w  a  1  t  s,  welcher  unter 
;mderem  gesagt  hatte,  es  sei  geradeso,  als  ob  der  Angeklagte 
mit  seiner  Behauptung  bezüglich  der  Kindersterblichkeit 
sagen  wollte:  der  Bezirkshauptmann  bringe  die  Kinder  uin  -- 
es  sei  ihm  um  den  Naclnveis  zu  tun,  diiÜ  er  nicht  generalisiert, 
am  allerwenigsten  gos(*liim]ift,  sondern  bestimmte  Hand- 
lungen bestimmter  Behörden  kritisiert  habe.  Nicht  ein- 
mal der  Staatsanwalt  werde  glauben,  daß  er  gesagt  habe,  diiß 


Beleidigung-  eine>  Krzherzogs.  215 


ein  Bezirkshauptmanii  direkt  Kinder  umbringe.  Nicht  um  eine 
Beschimpfung,  sondern  um  eine  Kritik  der  Amtsführung, 
welchem  Worte  der  Staatsanwalt  so  ängstlich  ausweichen  muß. 
sei  es  ihm  zu  tun  gewesen.  „Ich  habe",  fuhr  Dr.  Adler  fort, 
j.eine  ganze  Eeihe  von  Behörden  auf  Grund  bestimmter  Tat- 
sachen, die  ich  beweisen  kann,  kritisiert.  Ich  habe  selbst- 
verständlich mit  dem  Zeitmangel  des  Gerichtshofes  zu  kämpfen: 
hätte  ich  aber  meine  Verteidigung  richtig  führen  wollen,  so 
hätte  ich  die  acht  Jahrgänge  der  ,,Arbeiter- 
Zeitung"  hieher  bringen  müssen;  in  jeder  hätten  sich  Bei- 
spiele für  meine  Behauptungen  gefunden.  Es  ist  einfach  eine 
Unwahrheit,  die  mir  das  Urteil  unterschiebt.  Wir  schmähen 
nicht,  wir  schimpfen  nicht,  wir  lassen  Tatsachen  sprechen,  und 
leider   sind   diese   danach   angetan.    <laß  sie   aufreizen   müssen." 

Hierauf  zog  sich  der  Senat  zur  Beratung  zurück,  um  nach  einstündiger 
Beratung  das  Urteil  zu  verkünden,  demzufolge  die  Berufung  der  Staats- 
anwaltschaft zurückgewiesen  erscheint,  der  Berufung  des 
Angeklagten  in  zwei  Punkten  der  Anklage  („Terrorismus  der  Behörden" 
und  „das  Versammlungsrecht  wird  vielfach  zugunsten  der  Unternehmer 
gehandhabt"';  Folge  gegeben  wurde.  Dagegen  wurde  bezüglich  zweier 
Punkte  („wenn  man  Proletarier  wählt  zum  Probieren  der  Männlicher"  und 
::die  Arbeiter  werden  zusammengefangen  wie  Hunde"  usw.j  das  erst- 
lich t  e  r  1  i  r  h  e  Urteil  bestätigt  und  die  Berufung  bezüglich  des 
StiafausmaBes  zuiückgewiesen.  Die  Begründung  besagt,  daß  in  einem  Punkte 
die  Behörden  tatsächlich  eines  frivolen  Vorgehens  gegenüber  der  Arbeiter- 
schaft beschuldigt  erscheinen.  Im  anderen  Punkt  ist  ebenfalls  eine  ganz 
bestimmte  Behörde  durch  Generalisierung  einzelner  Handlungen  beleidigt 
worden.  Wenn  selbst  Inkorrektheiten  der  Behörde  in  Falkenau 
vorgekommen  sind,  so  ist  es  doch  nicht  gestattet,  eine  Äußerung  zu 
machen,  welche  über  den  Bahmen  einer  erlaubten  Kritik  hinausgeht.  In  allen 
übrigen  Punkten  ist  die  Verantwortung  des  Angeklagten,  daß  er  nur  Kritik 
übte,  glaubwürdig. 

Es  blieb  also  bei  dem  Monat  .\  r  r  e  s  t  (.,Arbeiter-Zeitun?"  Nr.  62 
vom  i.  März  1895  . 


Beleidigung  eines  Erzherzogs  und  des 
Kaisers. 

Am  26.  Februar  1895  fand  das  Begräbnis  des  Erzherzogs  AI  brecht, 
der  bekanntlich  am  13.  März  1848  als  Militärkommandierender  von  Wien  ins 
Volk  hatte  feuern  lassen,  statt,  wobei  es  durch  die  Brutalität  der 
k.  u.  k.  Armee,  die  da  aufgeboten  war,  zu  argen  Szenen  mit  den  neugierigen 
und  schaulustigen  Massen  kam.   Berittene  Wachmänner  und  Husaren  ritten 


216  Beleidigung  eines  Erzherzogs. 


in  die  schaulustige  Menge  hinein,  so  daß  es  zu  einer  Panik  kam  und  viele 
verletzt  wurden. 

Im  Abendblatt  der  „Arbeiler-Zeitung''  vom  28.  Februaj'  erschienen 
darüber  folgende  zwei    Glossen : 

Der  Servilismns  der  Wiener  Bevölkerung  war  diese  Woche  wieder 
einmal  deutlich  zu  sehen.  Wenn  wir  sagen  „Wiener  Bevölkerung",  so  meinen 
wir  selbstverständlich  nicht  die  Arbeiter,  sondern  jenen  schaulustigen  Mob. 
der  überall  dabei  sein  muß  und  sich  als  Patenlwiener  ausgibt.  Das  waren 
dieselben  Leute,  nur  ins  Tausendfache  vermehrt  und  auf  einejn  Platze 
konzentriert,  die  von  weitem  schon  vor  einem  Hofwagen  und  einem  gold- 
betreßten Kutscher  ihre  Hüte  herabreißen,  die  sich  glücklich  fühlen,  wenn 
eine  „hoh(>"  Persönlichkeit  an  ihnen  vorbeigehl,  und  die  mit  Wonne  ein 
.hihr  iiires  Lebens  hingäben,  wenn  ihnen  diese  „hohe"  Persönlichkeit  ins 
(lesicht  spucken  würde.  Lind  sie  ließen  sich  am  Dienstag  aus  lauter 
Patriotismus  von  Pferdehufen  treten,  die  Kleider  vom  Leibe  reißen,  mit 
(lewehrkolben  prügeln,  und  wenn  es  ihnen  auch  nicht  gelang,  mehr  zu  seh<'n 
als  etliclie  Tschakos  und  Helme,  sie  waren  dabei  gewesen  und  hatten  demon- 
striert, daß  sie  echte  Österreicher,  .,echte  Wiener'',  das  heißt  die  servilsten 
Knechte  der  Welt  sind.  Das  Schauspiel  mag  für  die  hohen  Herrschaften  recht 
erhebend  gewesen  sein,  als  sie  gesehen  haben,  wie  zahlreich  diese  ...Stützen" 
der  „Ordnung"  noch  sind.  Aber  es  sind  doch  nur  morsche  Stützen.  Die 
llurracanaille  ist  zugleich  so  feig,  daß  sie  nicht  ernst  genommen  werden 
kann.  Vielleicht  weiß  man  es  auch  „oben",  und  die  schaulustige  Mengi3  mul.i 
zu  den  Kolbenstößen  auch  noch  die  Verachtung  ihrer  Herren  in  den  Kauf 
nehmen. 

In  die  dichtgedrängte  Menge  dringt  die  Polizei  zu  Fuß  em,  in  die  eng- 
gepreßte  Masse  lenken  die  Schutzmänner  ihre  Pferde,  in  die  Haufen,  die 
nicht  zurück  können,  reiten  Husaren  ein.  Männer  und  Krauen  werden  nieder- 
geworfen, getreten,  gestoßen,  verwundet.  Blut  fließt,  .Jammern.  Angst-  uiul 
Wehschreie  steigen  zum  Himmel  empor. 

Im  .Sarge  liegt  der  Wiener  Kommandierende  von  bSiiS.  Ein  verklärtes 
Lächeln  liegt  auf  seinem  bleichen  Antlitz. 

-X- 

Die  Konfiskatit)!!  der  bitterbösen  Notizen  war  natürlich  zweifellos;  sie 
wurden  deshalb  auch  im  Abendblatt  untergebracht,  dessen  ganze  Aul- 
lage ja  durch  die  Kolporteure  vor  der  zugreifenden  Polizei  stets  in  Sicherheit 
gebracht  wurde.  .Adler  hatte  sie  nicht  geschrieben  —  der  Verfasser  der 
ersten  wai-  Emil  Kralik,  der  Verfasser  der  zweiten  war  der  Herausgeber 
dieses  Heftes.  .\ber  da  auch  eine  subjektive  Verfolgung  zu  erwart. 'U 
war,  wurden  sie  .Vdler  gezeigt  und  er  gab  unbedenklich  seine  Zu- 
stimmung. Die  Wirkung  war  stark.  Im  Reichsrat  ließ  der  feudalklerikale 
.luslizminisler  Graf  Schönborn,  vor  loyaler  Emjiörung  bebend,  eine  Rede 
gegen  die  „Arbeiter-Zeitung"  und  diese  „Verletzung  der  Majestät  ih's  TcmIcs" 
vom  Stapel.  Außerdem  aber  wurde  wegen  dieser  Notizen  gegen  Adler  als 
Iferausgebei-  und  B  r  e  t  s  c  h  n  e  i  d  e  r  als  verantwortlichen  Redakteur  die 
Anklage  nach  S  M,  Verbiechen  di^r  Beleidigung  eines  .Mitgliedes  des  kaiser- 
lichen   Hauses   sowie   wegen    drei    anderer    .Artikel    in   der  gleichen    Nummer 


Die  Wienerberger  Zie.arelfabriken  und  die  Behörden  217 

ob  Verbrechens  der  Beleidigung  der  lebendigen  Majestät  Franz  Josefs  1. 
und  ob  Vergehens  der  Aufreizung  gegen  Behörden  und  einzelne  Klassen  der 
bürgerlichen  Gesellschaft  erhoben.  Da  die  Sache  aber  vor  die  Wiener  G  e- 
schwornen  hätte  kommen  müssen,  zog  es  der  Justizminister  \ni,  ■Vi<- 
Entrüstung    hinunterzuschlucken,    und    die    Untersuchung    wurde    eingesteltt. 


Die  Wienerberger  Ziegelfabriken  und  die 
Behörden. 

Das  heute  wie  eine  Unmöglichkeit  erscheinende  und  auch  im 
Jahre  1S95  doch  nur  mehr  seltene  Elend  der  Ziegelarbeiter,  die  eine  Stunde 
vor  den  Toren  Wiens  in  vollkommener  Recht-  un'd  Schutzlosigkeit  den  Aus- 
heutun^gspraktiken  der  Wienerberger  Ziegelfabriks- Aktie  n- 
undBaugesellschaft  ausgeliefert  waren,  hatte  frühzeitig  das  Interesse 
Adlers  erregt.  Schon  im  Jahre  1888  liatte  die  --Gleichheit"  über  die  Zu- 
stände in  Inzersdorf  geschrieben,  und  Pernerstorfer  hatte  im  Reichsrat 
eine  Interpellation  eingebracJit.  Es  hatte  nichts  genützt.  Am  15.  April  1895 
traten,  wie  fast  alljährlich  in  dieser  Zeit,  die  Ziegelarbeiter,  über  viertausend 
Männer  und  Frauen,  in  Streik,  weil  ihnen  im  Winter  die  Akkordlöhne  gekürzt 
wurden  und  sie  sich  erst  im  Frühjahr  infolge  der  erhöhten  Bautätigkeit  wieder 
höhere  «Löhne  erkämpfen  konnten.  .Sie  erhielten  so  wie  die  Arbeiter  des 
Hernalser  Werkes  für  eine  ganze  Ziegelarbeiterfamilie  bei 
einer  täglichen  Arbeitszeit  von  4  Uhr  f  r  ü  h  ■  b  i  s  9  U  h  r  a  1)  e  n  d  s 
wöchentlich  12  Gulden....  Nun  verlangten  sie  1 8  Gulden  sowie 
die  Abschaffung  der  sogenannten  Prämien,  die  eigentlich  Abzüge  vom 
Lohn  waren  —  das  genügte,  um  Gendarmerie  und  Militär  gegen 
sie  in  Bewegung  zu  setzen.  Eine  Reihe  blutiger  Zusammenstöße,  wobei 
.\rbeiter  und  Arbeiterinnen  lebensgefährliche  oder  wenigstens  schwere  .Säbel- 
liiebe  bekamen,  ereignete  sich,  ohne  daß  die  Regierung  mehr  tat,  als  eljen 
ihre  bewaffnete  Macht  in  den  Dienst  des  Kapitals  zu  setzen.  Die  -,Arbeiter- 
Zeitung"  brachte  eine  Reihe  von  Artikeln,  die  mehr  oder  minder  konfisziert 
wurden.  Am  23.  .\pril  schrieb  sie: 

Der  Streik  der  Ziegelarbeiter  fordert  jeden  Tag  neue  blutige  Opfer.  Am 
D.  nnerstag  ^ind  in  Inzersdurl  zehn  Arbeiter  und'  Arbeiterinnen 
verwundet  worden;  Samstag  ist  der  Arbeiter  Urbanek  lebensgefähr- 
lich verletzt  worden  und  aus  seiner  tiefen  Ohnmacht  bis  heute  nicht  er- 
wacht; am  Montag  sind  im  Vösendorfer  Gebiete  zwei  schwere  und 
neun  leichtere  Verwundungen  M  ä  h  n  e  r  n  und  Frauen  zu- 
gefügt worden.  Das  alles  geschieht  in  Wien,  eine  Stunde  vom  Sitz  des  Mini- 
steriums, vor  den  Augen  der  Regierung!  Die  Regierung  sieht  nichts  und  hört 
nichts.  In  jedem  anderen  Lande  würde  das  Ministerium  die  lauten  und  be- 
weglichen Klagen  der  gepeinigten  Proletarier  hören  und  eine  energische  Untej*- 
•uchung  die.ser  Zustände  sofort  beginnen  müssen.  Dabei  sind  alle  Behörden 
von  der  Gerechtigkeit  und  Billigkeit  der  Forderungen  der  Arbeiter  i  m 
Innern  vollständig  überzeugt.  Jeder  Tag  Ifordert  neue  Opfer,  das 
Ministerium  bleibt  unbeweglich.  Blut  ist  geflossen,  Mensclienblut,  und 


218  Die  Wienei'bei'ger  Ziege  11  abriken  und  die  Behörden 


es  geselüelil  luclit?,  alt;  daß  der  Staatsanwall  die  Zeitungen,  clie  nicht  lügen. 
konfiszieren  läßt. 

Wegen  dieses  Artikels  leitete  die  k.  k.  Staatsanwaltschaft  ausnahm.-- 
weise  auch  die  subjektive  Verfolgung  ob  Verbrechens  der  Störung  der 
öffentlichen  Ruhe  ein,  und  Adler  meldete  sich  als  Verfasser.  Der  verant- 
wortliche Redakteur  Bretschneider  wurde  wegen  dieses  und  anderer  Artikel 
cb  Vernachlä^^i!^uno■  der  pflichtgemäßen  Obsorge  mitangeklagt.  Gegen 
Adler  wurde  gleichzeitig  die  Anklage  wegen  Vergehens  gegen  die 
öffentliche  Ruhe  und  Ordnung  erhoben,  begangen  durch  eine  Rede  am 
1.  Mai,  worin  er  sagte:  ..Der  Achtstundentag  ist  eine  revolutionäre 
Forderung,  nicht  weil  er  „die  Revolution'"  ist,  sondern  weil  er  sie  erst  mög- 
lich macht.'"  Der  Achtstundentag  läßt  den  Arbeiter  in  der  Ausbeutung,  abe;- 
er  gibt  ihm  die  Möglichkeit,  sich   von   ihr  zu  befreien." 

Der  Schwurgerichtsprozeß. 

Am  12.  November  1895  standen  Dr.  Adler  und  Bretschneider  vor  dem 
Wiener  Schwurgericht.  Nach  Verlesung  der  Anklage  erklärte 

Dr.  Adler: 

Meine  Herren  Geschwornen!  Ich  bekenne,  die  Worte  ge- 
sprochen und  den  Artikel  geschrieben  und  zum  Druck  beför- 
dert zu  haben.  Aber  ich  habe  damit  weder  das  Verbrechen  nach 
§  65  noch  das  Vergehen  nach  §  305  begangen.  In  der  ersten 
Sache,  die  einen  Preßprozeß  betrifft,  muß  ich  weiter  ausholen, 
um  den  Herren  Gesehwornen  zu  sagen,  in  welcher  Weise  die 
Wienerberger  Ziegelfabriksgesell.schaft  gegen  ihre  Arbeiter 
vorgeht,  warum  der  Artikel  geschrieben  wurde,  warum  er  ge- 
schrieben werden  mußte,  warum  es  nicht  ein  Verbrechen  war, 
den  Artikel  zu  schreiben,  sondern  warum  es  eine  Pflicht  war, 
ihn  zu  schreiben.  Die  Lage  der  Ziegelarbeiter  am  Wienerberg 
ist  eine  Angelegenheit,  die,  wie  sie  die  Bevölkerung  schon  seit 
Jahren  erregt  und  entrüstet  hat,  für  mich  eine  per.sönliche  Be- 
deutung hat,  weil  ich  seit  Jahren  die  Verhältnisse  aus  eigener 
Anschauung  kenne. 

Es  war  im  Jahre  1888  im  ?\ovember,  als  in  meine 
Wohnung  ein  junger  Mann  kam,  in  Fetzen  gehüllt.  Ich  lud 
ihn  ein  einzutreten.  „Das  ist  unmöglich,  Herr,"  sagte  er,  „icli 
bin  verlaust."  Der  Mann  hat  Kleider  bekommen,  hat  sich  ge- 
waschen, dann  haben  wir  gesprochen.  Er  war  ein  Arbeiter,  ein 
Ziegelarbeiter  von  der  Wienerberger  Ziegelfabriksgesellschaft. 
Er  hat  mir  erzählt,  was  wir  bis  dahin  nur  geahnt  haben,  was 
»iber   die   Behörden   damals   .>^clion    liiitten    wis.-^en   stdlen,   wissen 


Die  Wieuerbergei-  Ziegelfabrikt^n  und  die  Behörden  219 

können.  Aber  ich  war  vorsichtie:.  Ich  habe  nicht  geglaubt,  daß 
Hunderte,  ja  Tausende  von  Menschen  nackt  auf  Ringöfen 
schhifeu,  daß  fünftausend  Menschen,  Arbeiter  einer  reichen 
Aktiengesellschaft,  in  Wohnungen  hausen,  die  schlimmer  .ind 
als  alles,  was  in  der  Ik'ziehung  möglich  gedacht  werden  kann. 
Darum  habe  ich  mich  persönlich  von  den  Verhältnissen  über- 
zeugt. Ich  bin  bei  Nacht  hinein  ins  Werk.  A\'ir  mußten  uns 
einschleichen,  denn  so  ohneweiters  kann  man  in  dieses  Werk 
nicht  hinein.  Wir  haben  Fürchterliches  gesehen.  In  einer  Woh- 
nung, das  ist  in  einem  Raum,  der  ein  Zehntel  so  groß  ist  wie 
dieser  Saal,  wohnen  achtzig  Menschen  beisammen.  Auf 
verfaultem  Stroh  lagen  Menschen  zAisammengepfercht,  die  ihre 
Hemden  ausSparsamkeitsrücksichten  ausgezogen 
und  neben  sich  gelegt  hatten:  Männer,  Weiber.  Kinder  durch- 
einander. In  einer  Baracke  sahen  wir  eine  Frau,  die  ein  neu- 
geborenes Kind  neben  sich  liegen  hatte.  Ich  fragte  sie:  „Wo 
haben  Sie  entbunden?"  Die  Antwort  lautete:  „Hier."  Hier, 
mitten  unter  den  Männern  und  Kindern,  unter  sich  die  Glut, 
über  sich  die  Winterkälte.  Wir  sind  hinaus  nach  diesem  Wort. 
Ich  hatte  gesehen  und  habe  nun  begonnen  zu  schreiben. 

Den  Mann,  der  mich  damals  geführt  hat,  wollte  ich 
Ihnen,  meine  Herren  Geschwornen,  als  Zeugen  vorführen,  aber 
es  ist  nicht  möglich.  Er  wurde  auf  Grund  des  A  u  s  n  a  h  m  e- 
g  e  s  e  t  z  e  s  ausgewiesen,  und  er  hat  nichts  angestellt, 
als  daß  er  mich  herumgeführt  hat.  Der  Abgeordnete  Fern  e  r- 
s  t  o  r  f  e  r  hat  eine  Interpellation  eingebracht  im  Parlament 
wegen  dieser  fürchterlichen  Zustände.  Das  war  im  Jahre  1888. 
Ich  bin  heute  angeklagt,  daß  ich  aufgereizt  habe,  weil  ich  sagte, 
daß  die  Regierung  nichts  tut.  In  seinem  Bericlit  über  das  Jahr 
1888  erwähnte  der  Gewerbeinspektor  ausdrücklich,  daß  die 
Wohnungszustände  in  den  Wienerberger  Ziegeleien  durch  ein 
., Wochenblatt"  zur  Kenntnis  der  maßgebenden  Behörden  ge- 
bracht wurden.  Dieses  Wochenblatt  war  unsere  „Gleichheit*', 
die  dann  als  „anarchistisch"  unterdrückt  wurde.  Die  Aktion 
der  Behörden  ist  aber  erfolglos  geblieben.  Der  Gewerbe- 
inspektor hat  Vorschriften  gemacht,  die  Gesellschaft  hat  aber 
nichts  ausgeführt.  Ich  muß  nun  einen  großen  Sprung  machen. 

Im  Jahre  1804  haben  die  Ziegelarbeiter,  eine  Klasse  von 
Arbeitern,  die  viel  tiefer  stehen  als  die  Arbeiter  in  Wien  ode? 
sonstwo,   eine    Klasse,   die   viel    widerstandslosiM-   ist    als   andere 


220  Die  Wienerberger  Zieselfabriken  und  die  Behörden 

Arbeiter,  eine  Klasse,  die  der  Ausbeutung  unterliegt  wie  keine 
andere  hier  in  Wien,  im  Jahre  1894  also  haben  diese  Arbeiter 
versucht,  einen  Schritt  nach  vorwärts  zu  machen,  und  sie  haben 
erlangt,  daß  ihnen  eine  Lohnerhöhung  in  Aussicht  gestellt 
wurde,  und  daß  eine  spezielle  Manier,  sie  zu  bewuchern,  ab- 
geschafft wurde.  Die  Wienerberger  Ziegelfabriksgesellschaft 
zahlt  ihre  Arbeiter  im  Akkord.  Nun  hat  sie  für  jedes  Maß 
Ziegel,  das  fertiggestellt  wurde,  von  dem  Akkordlohn  Abzüge 
gemacht  und  diese  erst  im  Herbst,  wenn  die  Arbeit  beendet 
war,  als  P  r  ä  m  i  e  ausgezahlt.  Dieses  System  hat  zur  Folge, 
daß  ein  solcher  Arbeiter  nicht  fort  kann,  auch  wenn  er  eine 
andere  Arbeit  erhält,  bis  die  Saison  abgelaufen  ist.  Sonst  ver- 
liert er  die  Abzüge.  Die  Gewerbeinspektion  hat  diese  Abzüge 
zwar  als  gesetzlich  unanfechtbar  erklärt,  aber  zugleich  erklärt, 
daß  durch  dieses  System  d  i  e  A  r  b  e  i  t  e  r  auf  Gnade  u  n  d 
r  n  g  n  a  (1  e  der  Wienerberger  Z  i  e  g  e  1  f  a  b  r  i  k  s- 
g  e  s  e  1  1  s  c  h  a  f  t   ausgeliefert   sind. 

Dnrch  die  vorjährige  Arbeitseinstellung  wurden  die 
Prämien  also  abgeschafft.  Die  Wienerberger  Ziegelfabriks- 
gesellschaft verpflichtete  sich,  von  nun  an  den  Lohn  voll  aus- 
zuzahlen. Aber  mit  "Beginn  des  Jahres  1895  hat  sie  ihr 
Wort  gebrochen.  Sic  hat  die  Abzüge  wieder  gemacht, 
und  infolgedessen  ist  am  1.  April  der  Streik  ausgebrochen, 
zunächst  in  beschränktem  Umfang;  er  erstreckte  sich  aber  in 
kurzer  Zeit  über  das  ganze  Grebiet  von  Inzersdorf  bis  Vöslau. 
Das  war  am  Dienstag  den  10.  April.  Wenn  in  Wien  ein  Streik 
ausbricht,  dann  hal)en  die  Peliiu-dcn  das  Eigentum  der  ]\fen- 
schen,  die  in  Frage  kommen,  zu  schützen.  Welche  Menschen 
konmien  aber  in  1^'rage?  Das  Eigentum  der  Unternehmer  be- 
wacht massenhaft  Polizei  und  Militär.  Das  Eigentum  der  Ar- 
beiter, die  um  ihren  Lohn  kämpfen,  das  wird  nicht  geschützt, 
weil  die  Behörden  erklären,  daß  sie  nicht  das  Recht  haben,  in 
die  Lohnverhältnisse  einzugreifen. 

Wenn  Arl^eiter  die  Arbeit  einstellen,  um  bessere  Bedin- 
gungen zu  erreichen,  dann  haben  sie  das  Interesse,  daß  alle 
Arbeiter  ihr  gegebenes  Wort  auch  halten.  Um  sich  davon  zu 
überzeugen,  müssen  sie  an  den  Arbeitsstätten  nachsehen.  Das 
war  auch  hier  der  Fall.  Sie  wai-en  einzeln  oder  mit 
F  r  a  u  e  n  hingegangen,  um  zu  sehen,  ob  alle  Wort  iialten. 
•N  11  n  h  a  t  d  i  ('  I*  o  1  i  /.  (>  i  s  c  h  o  n  a  m  d  r  i  1 1  e  n  T  a  g  e  d  e  i 


Die  WienerberKt^i"  Zieyelfabiiken  und  die  Behürdeii  221 

r t . 

A  r  b  e  i  t  s  e  i  n  y  t  e  ]  1  u  n  <•  ii  i  c  li  t  \v  e  u  i  g  e  r  als  sie  li- 
zehn  Menschen  verwundet.  Es  ist  begreiflich,  dal;) 
die  Arbeiter  darüber  aufgeregt  sind.  Es  ist  auch  begreiflich, 
daß  die  Sicherheitswache  aufgeregt  ist,  weil  sie  für  ihren 
schweren  Dienst  eine  schlechte  Bezahlung  hat,  es  ist  begreif- 
lich, daß  sie  nervös  ist.  Wenn  sie  ohne  jedes  Recht,  ohne  jede 
Spur  gesetzlicher  Berechtigung  Arbeitern  verwehrt,  in  die 
Ziegelöfen  zu  gehen,  um  nachzusehen,  ob  gearbeitet  wird,  wenn 
sie  dann  einhaut,  wenn  die  Arbeiter  in  ihrer  Erregung  ein 
gutes  Tiecht  wahren  wollen  und  vorwärtsgehen,  dann  tut  sie 
etwas,  was  in  Österreich  niemals  mit  Strafen  verfolgt  wird. 
Nein,  die  verwundeten  Arbeiter  werden  vor  (lericht  gestellt, 
immer  die  Arbeiter,  nie  die  Sicherheitswache.  Am  Freitag  hat 
die  „Abendpost"  erklärt,  der  Bericht  in  der  ..Arbeiter-ZeituTig" 
ist  faisch ;  es  kamen  keine  schweren,  sondern  nur  leichte 
Verwundungen  vor.  Dieser  Unterschied,  meine  Herren  He- 
schwornen.  kommt  bei  Gericht  in  Frage.  Für  die  Arbeiter- 
schaft, insbesondere  für  die  einzelnen,  die  auch  verwundet 
wurden,  gibt  es  diese  Frage  nicht,  sie  werden  durch  leichte  Ver- 
wundungen geradeso  aufgeregt.  Der  Gewerbeinspektor  sagt, 
er  wolle  Verhandlungen  einleiten,  er  läßt  sich  den  General- 
direktor kommen.  Der  aber  sagt,  er  wolle  nicht  verhandeln, 
den  Arbeitern  gehe  es  ohnehin  gut.  Es  kommt  zii  nichts  — 
als  Blutvergießen. 

Am  Samstag  erklären  die  offiziösen  Blätter,  daß  die 
Wache  nur  im  Notfall  von  der  Waffe  Gebrauch 
machen  darf.  Das  wäre  am  !M  o  n  t  a  g  notwendig  g  c- 
w  e  s  e  n.  Aber  nun  beginnen  die  Verwundungen  außer  dem 
Polizeirayon.  Die  Gendarmen  treten  in  Aktion.  Die  Arbeiter 
fürchten  sich  nun,  weil  sie  von  den  Polizisten  Hiebe  bekommen 
haben.  Sie  beschließen,  trotzdem  wir  ihnen  abraten,  weil  wir 
wissen,  wozu  es  kommen  kann,  nicht  mehr  einzeln  zu  gehen, 
sondern  in  Haufen,  um  nicht  wieder  überfallen  zu  werden.  So 
gehen  sie  hinaus.  Samstag  kommt  es  in  Rothneusiedl  zu  einem 
Zusammenstoß  mit  der  Gendarmerie,  wobei  der  Ziegelarbeiter 
Franz  V  r  b  a  n  e  k  eine  schwere  Wunde  davonträgt.  Das 
offizielle  Telegramm  hierüber  sagt,  der  Ziegelarbeiter  Franz 
T^rbanek  habe  einen  Crendarmen  schwer  verletzt,  lebensgefähr- 
lich verletzt,  worauf  er  selbst  durch  einen  Bajonetthieb  ver- 
wundet wurde.  TJrbanek  ist  am  2.  Mai  im  Tnquisitenspital  des 


222  Die  Wienerborger  Ziegel fabriken  und  dio  Bebörden 


Wiener  Landesgerichtes  gestorben.  Von  dem  Gendarmen,  der 
\erwLindet  worden  sein  soll,  hat  niemand  etwas  gehört. 

Sonntag  den  21.  April  ist  eine  Verhandlung,  dio  der 
Gewerheinspektor  M  u  li  1  von  Wiener-Neustadt  in  Mödliug 
zwischen  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern  veranstaltet.  Die 
Arbeiter  sind  bereit,  die  Arbeit  wieder  aufzunehmen,  wenn  das 
Notwendigste  ihrer  Forderungen  bewilligt  wird.  Aber  die 
kleinen  Unternehmer  erklären,  sie  können  ohne  die  Wioner- 
l)erger  Ziegelfabriksgesellschaft  nichts  machen.  Die  kleineren 
Werke  sind  vom  Wienerberg  abhängig.  Da  hat  die  „Arbeiter- 
Zeitung"  von  der  Regierung  verlangt,  daß  sie  Verhandlungen 
einleite,  daß  sie  die  Gewerkschaft  zwinge,  in  Verhandlungen 
einzugehen.  Die  Regierung  wäre  gezwungen  gewesen,  die 
Werke  einfach  zu  schließen.  Am  Montag  gibt  es  wieder  einen 
Zusammenstoß  mit  der  Gendarmerie,  wobei  elf  V  e  r  w  u  n- 
dungen  vorkommen,  und  die  Dragoner  rücken  ein.  Das  war 
am  Montag,  an  dem  diese  Notiz  geschrieben  ist. 

Auf  der  einen  Seite  die  Gesellschaft,  die  seit  acht  eTahren 
nichts  getan  hat,  die  Löhne  gezahlt  hat,  die  unmenschlieh  zu 
nennen  sind  — ■  der  Erfolg  des  Streiks  bedeutete  Sommer- 
löhne für  Männer  von  1  fl.,  für  Frauen  80  Kreuzer;  W  i  n  t  e  r- 
löhne  aber  von  90  kr.  und  70  kr.  Auf  der  anderen  Seite  Ar- 
heiter,  die  sich  dafür  verwunden  lassen  mußten,  dafür  diesen 
Lohnkampf  führen  mußten.  Nun  ist  da  draußen  alles  von 
Polizei,  Gendarmen  und  Dragonern  besetzt.  Nicht  nur  zum 
Schutze  des  Eigentums  sind  die  Dragoner  kommandiert,  son- 
dern auch  um  zu  arbeiten;  sie  müssen  Ziegel  aufladen. 

Unter  diesen  Umständen  haben  wir  geschrieben,  und  wir 
haben  die  Pflicht  gehabt,  zu  schreiben.  Vor  den  Augen  der 
Regierung  bestehen  menschenunwürdige  Zustände,  geschehen 
ungesetzliche  Handlungen,  werden  die  Arbeiter  gezwungen  — 
und  dadurch  aufgereizt  —  sich  einer  unmenschlichen  Behand- 
lung zu  fügen,  vor  den  Augen  der  Regierung  kommt  es  zu 
Blutvergießen  und  die  Regierung  tut  nichts.  Was  hätte  sie 
jedoch  tun  sodlen?  Sie  hat  nichts  zu  tun  gehabt,  als  was  säe 
zwei,  drei  Tage  später  wirklich  getan  hat.  Wir  haben  ja  nicht 
verlangt,  daß  die  Regierung  zum  Schutze  der  Arbeiter  ernst- 
haft vorgehe,  nur  daß  sie  vernünftig  und  mit  einiger  Energie 
vorgehe,  denn  die  Regierung  hat  die  Überzeugung  gehabt,  daß 
die  Forderungen  der  Arbeiter  gerecht  und  billig  sind.  Ist  das 


Die  Wienerberger  Ziegeltabriken  und  die  Behörden  223 


eine  Aufreiziina:  gegen  die  Staatsverwaltung;!  Oder  etwa  wenn 
ich  verlange,  dai3  die  Regierung  ihre  Pflicht  erfüllet  Wir 
wollten  nicht  gegen  die  Eegierung,  sondern  die  Regierung 
aufreizen,  das  endlich  zu  tun,  was  sie  schon  längst  hätte  tun 
müssen,  diesen  10.000  Menschen  die  Möglichkeit  zu  ver- 
schaffen, halbwegs  wie  Menschen  zu  leben.  Wenn  aber  die 
Staatsverwaltung  sich  nicht  aufreizen  läßt,  wenn  sie  in  ihrent 
Nichtstun  verharrt,  dann  sind  nicht  wir  diejenigen,  die  auf- 
gereizt haben,  sondern  die  Tatsachen,  die  Zustände,  die  solche 
Tatsachen  schaffen,  sie  reizen  auf. 

Aber,  meine  Herren  Geschwornen,  Sie  könnten  vielleicht 
sagen,  daß  man  das  auch  in  anderer  Form  hätte  sagen  können. 
Ich  sage  Ihnen,  die  Form  war  nicht  zu  stark.  Der  Staatsanwalt 
hätte  die  Xummer  nie  konfisziert,  wenn  er  sich  je  hätte 
träumen  lassen,  daß  er  sie  subjektiv  werde  verfolgen  und  des- 
halb vor  Ihnen  werde  vertreten  müssen.  Der  S  c  h  ö  n- 
b  0  r  n  sehe   Erlaß   ist  späteren  Datums. 

Diensta<i  ist  eine  Krise  eingetreten,  Mittwoch  hat  der 
Statthalter  die  Polizei  zurückgezogen,  die  Gendarmerie  und 
das  Militär  verschwanden  vom  Schauplatz.  Von  dem  Moment, 
da  die  bewaffnete  Macht  fort  war,  ist  auch  nicht  der  leiseste 
Versuch  auch  nur  einer  Übertretung  des  Gesetzes  vorgekom- 
men. Von  dem  Moment  an  war  draußen  Ruhe  und  Ordnung. 

Die  Unternehmer  kommen  zum  Statthalter  und  verlan<;er! 
l'olizei  und  Militär.  Er  weist  sie  ab,  weil  sie  nicht  bedroht  sind, 
und  sichert  ihnen  Schutz  zu  für  den  Fall,  daß  sie  wirklicii  be- 
droht werden.  In  den  Lohnkampf  selbst  hat  sich  die  politische 
I3ehörde  nicht  einzulassen.  Das  wird  am  selben  Tag  erklärt,  an 
dem  die  inkriminierte  Xotiz  erscheint  und  konfisziert  wird.  Am 
Mittwoch  gehen  Abgeordnete  nach  Inzersdorf  hinaus,  am 
Donnerstag  bringt  Abgeordneter  Pernerstorfer  einen 
Dringlichkeitsantrag  im  Parlament  ein,  in  dem  die  Regierung 
aufgefordert  wird,  die  Dinge  zu  untersuchen  und  dem  Hause 
darüber  zu  berichten.  Minister  B  a  c  q  u  e  h  e  m  erklärt,  er  weiß, 
daß  die  Sachen  so  stehen,  aber  die  Behörden  können  nichts 
machen,  weil  die  Wienerberger  Ziegelfabriksgesellschaft  fort- 
während rekurriert.  Die  Zustände  zählen  zu  den  schlechtesten 
in  Österreich,  alle  Beamten  melden  es,  aber  es  läßt  sich  nichts 
machen,  weil  die  Gesellschaft  rekurriert.  In  bezug  auf  die 
Arbeitseinstellung  wird  die  Regierung  sofort  das  Notwendige 


224  Die  Wienerberger  Ziegelfabriken  und  die  Beliörden 

\eranlassen.  Es  ist  in  diesen  Tagen  der  Bürgernieistor 
von  Wien  aufgefordert  worden  zu  inter\enieren,  und.  so  sagte 
der  Minister,  soeben  konuiit  mir  die  Mitteilung,  dal')  der 
Statthalter  sich  mit  dem  Magistrat  ins  Einvernehmen  gesetzt 
habe. 

Diese  Verhandlungen  kamen  tatsächlich  am  Freitag  zu.- 
staude  und  damit  die  Einigung. 

Tu  diesem  Streik  war  nichts  zn  gewinnen,  nichts  zu  er- 
reichen o  h  11  e  fl  i  e  ..  A  r  b  e  i  t  c  r  -  Z  e  i  t  u  n  g".  Die  übrige 
Presse  ist  mit  wenigen  Ausnahmen  durchaus  auf  Seite  der 
Werksbesitzer  gestanden,  und  erst  als  sich  die  Dinge  niclit 
mehr  \erheimlichen  lieLien.  sclirieben  auch  andere  Blätter  iti 
dem  Silin.  Die  ..Xeue  l'reie  Presse"  sogar,  das  Organ  des  (leld- 
sacks,  der  Unternehmer,  auch  dieses  Blatt  konnte  solch  auf- 
reizende Tatsachen  berichten.  Sie  haben  das  größere  Aufsehen 
gemacht,  weil  sie  die  „Xeue  Freie  Presse"  berichtet  hat.  Es 
ist  also  schließlich  geschehen,  was  wir  verlangt  haben. 

Ich  würde  hier  lügen,  wenn  ich  sagen  wollte,  die  Regie- 
rung hat  ihre  Pflicht  bereits  vollständig  erfüllt,  wenn  ich  sagen 
wollte,  daß  sie  schon  heute  ihre  Pflicht  erfüllt  habe.  Sie  wurde 
beauftragt,  energisch  zu  untersuchen.  Ich  war  vorgestern  auf 
dem  Wienerberg  draußen,  um  mir  alles  an  Ort  und  Stelle  so 
reclit  deutlich  ins  Gedächtnis  zurückzurufen.  Ich  kann  sauen, 
es  schaut  noch  nicht  besser  aus.  Die  Löhne  sind  etwas  gebessert. 
Aber  was  die  Wohnungen  anlangt,  hat  sich  so  gut  wie  gar 
nichts  gebessert. 

Für  5000  bis  OOOO  jMenschen  sollen  Wohnungen  ge- 
schaffen werden,  und  da  baut  man  vier  Häuser  mit  je  vierzig 
I'amilienwohnungen.  Das  ist  alles,  was  mau  seit  acht  Jahren 
draiif.ten  gebaut  hat.  Aber  wie  schauen  diese  Arbeiterliä:iser 
aiis^  Ich  war  schon  in  Aerschiedenen  Arresten.  Ich  habe  hier 
im  l.andesgerieht  eine  Zelle  gehabt,  die  genau  so  groß  ist,  wie 
eine  solche  Zelle  der  Arbeiter  in  Inzersdorf  für  sich  und  seine 
l-'aniilie  erhält.  5;5  Kubikmeter  Luftraum  hat  eine  solche  Zelle. 
I)ort  schlafen  aber  nicht  etwa  nur  drei  oder  \ierPersonen,  wie's 
der  Gewerbeinsi)ektor  ^•orschreibt,  sondern  V^ater  und  Mutter, 
Erwachsene  und  Kinder,  acht  bis  neun  Personen,  schlafen  zu- 
sammen in  einer  solchen  Zelle.  Und  eine  Zelle  ist  neben  der 
anderen.  Es  sieht  aus  wie  ein  Arrest.  Wir  haben  Arbeiter  l»e- 
sucht    und    mit   ihnen   gesprochen.   Als   uns   der   Inspektor   er- 


Die  Wienerberger  Ziegelfabriken  und  die  Behörden  225 

blickte,  wollte  er  uns  hinauswerfen.  Das  ist  ihm  freilich  nicht 
gelungen.  Sie  müssen  nämlicli  wissen,  meine  Herren  Geschwor- 
nen,  daß  zu  den  Inzersdorfer  Arbeitern  nur  Verwandte,  und 
zwar  mit  Erlaubnis  des  Inspektors,  zu  Besuch  kommen  dürfen. 
Das  heißt,  die  Arbeiter  sind  dort  genau  so  gehalter  wie  hier 
Sträflinge  im  Arrest.  Auch  hier  ist  das  mit  den  Besuchen  so 
geregelt.  Aber  die  große  Majorität  wohnt  noch  in  den  alten 
Eingöfen  wie  im  Jahre  1888.  Fünf  bis  sieben  Familien  in 
einem  Eaum,  Männer,  Weiber,  Kinder  untereinander.  Wie  das 
aussieht,  kann  man  sich  vorstellen.  Für  jede  Familie  ein  Bett, 
die  Wohnungen  naß,  die  Erdäpfel  verfault,  das  Stroh  verfault, 
die  Schuhe  verschimmelt  —  der  Arbeiter  geht  zugrunde.  Und 
damit  auch  nicht  das  kleinste  Detail  fehlt:  Im  Ringofen  Nr.  52 
wohnt  eine  Frau  mit  fünf  anderen  Familien  zusammen.  Die 
Frau  ist  hoch  schwang  e  r.  In  nächster  Woche  noch  wird 
sie  entbinden,  mitten  unter  den  Männern  und  Kindern.  Und 
die  Regierung,  die  beauftragt  wurde,  dem  Hause  Bericht  zu 
erstatten,  hat  bis  heute  noch  nicht  berichtet.  Die  Regierung 
hat  verfügt,  daß  die  Gesellschaft  Arbeiterhäuser  baue.  Aber  die 
Gesellschaft  hat  sich  der  Verfügung  zu  entziehen  verstanden. 
Was  sie  über  den  Sommer  hätte  leisten  können,  tat  sie  nicht. 
Jetzt  erst  erinnert  sie  sich  des  Regierungsauftrages  und. 
kündigt  den  Leuten  und  will  sie  delogieren  —  dies  Mitte 
November  —  sie  will  sie  jetzt  zu  Beginn  des  Winters  ohne 
Wohnung  und  Arbeit  lassen,  damit  sie  im  Winter  neue  Häuser 
bauen  könne  —  sagt  sie! 

Die  Regierung  hat  aber  auch  in  anderer  Beziehung 
Augen  und  Ohren  geschlossen.  Das  Verhalten  der  Gesellschaft 
in  bezug  auf  den  Unterstützungsverein  läßt  sie  ganz  kalt.  Jeder 
Arbeiter,  der  die  Ehre  hat,  sich  von  der  Wienerberger  Zieg(d- 
fabriksgesellschaft  ausbeuten  zu  lassen,  ist  gezwungen,  diesem 
Verein  beizutreten,  den  die  Gesellschaft  von  dem  Gelde  der 
Arbeiter  errichtet  hat  und  mit  diesem  (iclde  erhält.  Dieser 
Verein  hat  nach  den  Statuten  arbeitsunfähig  Gewordene  mit 
Aushilfen  zu  versehen.  In  dem  „Ausweis  über  die  bei  der 
Wienerberger  Ziegelfabriksgesellschaft  zugebraclite  Arbeits- 
zeit" —  es  ist  ein  ganzes  Buch  —  heißt  es:  „Die  Beibringung 
dieses  Buches  ist  unbedingt  notwendig,  wenn  sich 
ein  Arbeiter  um  eine  Abfertigung  etc.  auf  Grund  des  §  16  der 
Statuten  etc.  bewerben  will.  Nun  existiert  in  den  Statuten  des 

.     15 


226  Die  Wienerberger  Ziegelfabriken  und  die  Behörden 


„Unterstützungsvereines"  gar  kein  §  16,  sondern  die  Statuten 
haben  nur  vierzehnParagraphen.  Ich  mache  aufmerk- 
sam, daß  dieses  Arbeitsbuch  und  dieses  Statut  von  den  Behör- 
den gesehen  und  genehmigt  worden  sind.  (Bewegung.)  Nun  erst 
das  Statut.  Jeder  muß  Mitglied  werden,  jeder  verliert  un- 
bedingt die  Mitgliedschaft,  wenn  er  aus  was  immer  für 
einer  Ursache  aus  dem  Dienst  der  Gesellschaft  scheidet;  damit 
erlischt  jeder  Anspruch.  Rückersatz  in  keinem  Fall,  von  jedem 
Gulden  muß  jeder  einen  halben  Kreuzer  zahlen.  Die 
Leistungen  des  Vereines  liegen  natürlich  ganz  im  Ermessen  des 
Vereinsausschusses.  In  diesem  Ausschuß  sitzen  Verwaltungs- 
räte und  drei  Arbeiter  oder  Beamte,  die  vom  Verwaltungsvat 
hincingewählt  werden.  Den  Vorsitz  führt  ein  Direktor.  Ver- 
sammlungen des  Vereines  haben  noch  nie  stattgefunden.  Alles 
regelt  der  Ausschuß.  Sie  können  sich  die  Folgen  denken.  Cnd 
diese  Statuten  hat  dieselbe  Statthalterei  bestätigt,  die  Arbeiter- 
vereinen die  größten  Schwierigkeiten  macht.  Wir  haben  also 
nicht  zuviel  gesagt,  wenn  wir  gesprochen  haben:  „Es  geschieht 
nichts." 

Was  den  zweiten  Anklagepunkt  betrifft,  soll  ich  am 
1.  Mai  in  einer  Rede  das  Vorgehen  der  Gutheißung  ungesetz- 
licher Handlungen  begangen  haben.  Ich  sprach  über  die  Be- 
deutung des  Achtstundentages.  Noch  vor  zehn  Jahren,  sagte 
ich,  hielt  man  die  Abkürzung  der  Arbeitszeit  auf  acht  Standen 
für  etwas  höchst  Revolutionäres.  Heute  dagegen  fordern  schon 
Ärzte,  Professoren,  Nationalökonomen  den  Achtstundentag,  ja 
eine  Reihe  von  Arbeitern,  die  nicht  auf  dem  sozialdemokra- 
tischen Standpunkt  stehen,  sagt,  der  Achtstundentag  sei  gar 
nichts  Revolutionäres.  Demgegenüber  suche  ich  den  Acht- 
stundentag zu  verteidigen  und  sage,  er  sei  revolutionär,  weil 
er  die  Revolution  möglich  mache.  Was  ist  die  Revolution^  Wir 
wollen  allerdings  die  Revolution,  wir  wollen,  daß  an  Stelle 
dieser  Gesellschaft  der  Ausbeutung  eine  vernünftige  Gesell- 
schaft gesetzt  werde,  daß  die  ganze  Gesellschaft  die  Früchte 
ihrer  Arbeit  genieße.  Aber  diese  Umwälzung  ist  nicht  bloß 
wünschenswert,  sondern  eine  andere  Revolution,  die 
technische,  macht  sie  notwendig;  sie  bewirkt,  daß  sich  auf 
der  einen  Seite  immer  mehr  Besitzlose  ansammeln,  auf  der  an- 
deren Seite  immer  weniger  Besitzende.  Da  die  Arbeitenden  die 
große  Mehrzahl  der  Menschheit    ausmachen,    müssen    sie  die 


Die  Wienerberger  Ziegelfabriken  und  die  Behörden  227 

Träger  der  Umwälzung  sein.  Und  da  ist  wichtig,  wie  dieses 
Proletariat  aussieht.  Die  Umwälzung  kommt,  aber  es  hängt 
davon  ab,  ob  sie  ein  versklavtes,  tiefgesunkenes,  degeneriertes 
Proletariat  findet  oder  ein  intelligentes  und  fähiges,  das  sich 
hohe  Ziele  setzen  und  vernünftig  verfolgen  kann.  Eines  der 
wichtigsten  Mittel  nun,  das  Proletariat  physisch  und  geistig  zu 
heben,  ist  der  Achtstundentag,  der  symbolisch  für  den  Arbeiter- 
schutz genommen  wird.  In  dieser  Hinsicht  ist  der  Achtstunden- 
tag revolutionär,  weil  er  das  Proletariat  für  die  mit  oder  ohne 
sein  Zutun  kommende  Umwälzung  reif  macht.  Wenn  der 
Staatsanwalt  in  der  Revolution  den  Dreschflegel  und  die 
Bombe  sieht,  so  möchte  ich  ihm  nur  sagen:  Es  ist  doch  eine 
ganz  merkwürdige  Sache,  dieser  gewaltsame  Umsturz  auf 
gesetzmäßigem  Wege.  Wozu  kommt  die  Arbeiterschaft  am 
1.  Mai  zusammen?  Um  die  gesetzliche  Feststellung  des 
Achtstundentages  zu  fordern.  Das  sieht  nicht  sehr  nach  Gewalt- 
samkeit aus!  Der  gesetzliche  Achtstundentag  soll  dazu  dienen, 
das  Proletariat  physisch  und  geistig  kampfähig  zu  machen. 
Das  ist  das  Programm  der  Sozialdemokratie,  das  sie  mit  allen 
Mitteln  anstrebt,  die  zweckdienlich  sind  und  dem  natürlichen 
Rechtsbewußtsein  des  Volkes  entsprechen.  So  steht  es  in  un- 
serem Programm.  Mit  gutem  Bedacht  steht  nicht  das  Wort 
„gesetzliche"  dabei.  In  einem  Staate,  wo  es  noch  einen  §  23 
gibt,  auf  Grund  dessen  jeder  Mensch,  der  einem  anderen  eine 
Zeitung  gibt,  eingesperrt  wird,  spricht  man  nicht  vom  Gesetz, 
sondern  man  muß  sich  an  das  natürliche  Rechtsbewußtsein  des 
Volkes  wenden,  und  wir  wünschen,  daß  die  Gesetzgebung 
diesem  natürlichen  Rechtsbewußtsein  angepaßt  werde.  Ich  habe 
also  nicht  zu  ungesetzlichen  Handlungen  aufgefordert  und 
glaube,  weder  in  dem  ersten  noch  in  dem  zweiten  Falle,  das 
Gesetz  verletzt,  sondern  meine  Pflicht  getan  zu  haben. 

B  re  l  s  c  h  n  e  i  d  e  r;  Die  Art  und  Weise,  wie  'die  Bezirkshauptmann- 
sehaften  bei  Erledigung  von  Versammlungsanzeigen  vorgehen,  bringt  es  mit 
sich,  daß  wir  schon  acht  Jahre  einen  Kampf  gegen  diese  gesetzwidrigen  Prak- 
tiken führen  müssen.  Wir  führen  diesen  Kampf  nicht  ohne  Erfolg,  und  wir 
haben  gerade  durch  die  von  der  Staatsanwaltschaft  beanstandete  schärfere 
Tonart  unserer  Kritik  schon  manche  Besserung  'der  Verhältnisse  erzielt.  Aber 
eines  muß  ausgesprochen  werden:  Was  sich  viele  Bezirkshauptleute  in  der 
Provinz  trotzdem  noch  immer  herausnehmen,  ist  der  reinste  Hohn  und  Spott 
auf  das  Gesetz.  Es  kommt  buchstäblich  vor,  daß  sie  unseren  Genossen  zu- 

16' 


228  Die  Wienerberger  Ziegelfabriken  und  die  Behörden 

rufen:  „Was  kümmert  micli  das  Gesetz!"  Wenn  Sie  Redakteure  einer  Zeit- 
schrift wären,  wie  es  die  unsrige  ist,  und  diese  Haufen  von  Zuschriften  über 
eklatant  gesetzwidrige  Maßregeln  'der  Bezirksbehörden  durchlesen  müßten, 
Sie  würden  sich  an  den  Kopf  greifen  und  sich  fragen,  ob  dies  überhaupt 
möglich  ist;  Wenn  wir  da  nun  einmal  ein  kerniges  deutsches  Wort  sprechen, 
werden  wir  zur  Verantwortung  gezogen.  Es  ist  aber  unsere  einzige  Absicht, 
die  Verhältnisse  zu  bessern,  und,  wie  gesagt,  das  ist  uns  auch  vielfach  ge- 
lungen. Selbst  im  Parlament  sind  von  uns  nachgewiesene  Gesetzwidrigkeiten 
zur  Sprache  gekommen  und  zugegeben  worden.  Es  mußte  so  geschrieben 
werden,  denn  die  deutsche  Sprache  duldet  für  derlei  ungesetzliche  Schikanen, 
wie  wir  sie  anzunageln  gezwungen  sind,  keine  anderen  Bezeichnungen. 

Es  woirde  nun  als  einziger  Zeuge  der  Polizeikonzipist  Alois  D  u  s  i  c, 
der  in  der  Maiversammlung  als  Regierungsvertreter  anwesend:  war  und  die 
Relation  hierüber  verfaßt  hat,  einvernommen.  Er  skizzierte  auf  Aufforderung 
des  Vorsitzenden  den  Gedankengang  der  von  Dr.  Adler  gehaltenen  Rede.  — 
Vorsitzender:  Welchen  Eindruck  machte  auf  Sie  das  Wort  Revolution? 
—  Zeuge:  Daß  der  Redner  eine  gewaltsame  Erhebung  im  Sinne  habe, 
konnte  ich  mir  hiebei  nicht  denken.  —  Vorsitzender:  Wollen  Sie  das 
genauer  präzisieren.  Hatten  Sie  den  Eindruck,  daß  der  Redner  die  wirtschaft- 
liche Umgestaltung  oder  den  gewaltsamen  Umsturz  meinte?  —  Zeuge:  Das 
erstere.  Er  sagte,  der  Achtstundentag  vertrage  sich  ganz  gut  mit  dem  Kapi- 
talismus, er  ändere  an  der  gegenwärtigen  Produktionsweise  nichts.  Er  be- 
wirke aber,  daß  die  Lage  der  Arbeiter  sich  auf  ein  menschliches  Niveau  er- 
hebe, und  nur  Menschen  werden  in  der  Lage  sein,  die  große  Verände- 
rung herbeizuführen,  die  die  Aufgabe  des  Proletariats  ist. 

Verteidiger  Dr.  Harpner  beantragte  nun  die  Verlesung  einer  Stelle 
aus  der  Relation,  aus  der  herv-orgehe,  was  der  Redner  unter  Revolution  ver- 
stehe. Dem  Antrag  wurde  stattgegeben.  Seine  weiteren  Anträge  auf  Ver- 
nehmung der  im  Hause  anwesenden  Abgeordneten  Pernerstorfer  und  Steiner, 
auf  Verlesung  einiger  Stellen  aus  den  Parlamentsprotokollen,  besonders  aus 
der  Rede  des  Marquis  Bacquehem,  ferner  auf  die  Verlesung  eines  Artikels 
aus  der  „Neuen  Freien  Presse"  zog  Dr.  Harpner  wieder  zurück,  nachdem  der 
Staatsanwalt  erklärt  hatte,  daß  er  d'ie  vom  Angeklagtenan- 
gezogenen  Tatsachen  zugebe. 

,  Nach    dem    Plädoyer    des    Staatsanwalts     und     Dr.    Hai-pners     spricht 
zum  Schluß  nochmals 

Dr.  Adler: 

Mein  Herr  Verteidiger  hat  dargelegt,  wie  nach  seiner 
Meinung  die  Regierung-  hätte  handeln  müssen.  Ich  bin  nicht 
so  sanguinisch.  Wir  verlangen  heute  in  Österreich  von  der 
Regierung  und  dem  Staatsanwalt  nicht,  daß  man  die  T  e  i  r  i  c  h 
einsperre.  Das  verlangte  ich  auch  in  dem  Artikel  nicht.  Wir 
verlangten    nur    von   der    Regierung,   was    sie   am    Donnerstag' 


Die  Wienerberger  Ziegelfabriken  und  die  Behörden  229 


wirklich  getan  hat,  was  sie  hätte  früher  tun  sollen.  Die  Kegie- 
rung  hätte  den  Bürgermeister  früher,  vor  dem  Blut- 
vergießen, zum  Eingreifen  auffordern  können,  sie  hätte 
die  Eekurse  der  Wienerberger  Ziegelfabriksgesellschaft 
schneller  erledigen  können,  aber  sie  hätte  noch  viel  melir  tun 
können.  Sie  schließt  mit  der  Gesellschaft  fortwährend  große , 
Geschäfte  ab,  sie  hat  die  Herren  bei  den  Lieferungen  für  die 
ärarischen  Bauten  in  der  Hand  und  hätte  nur  sagen  brauchen: 
mit  einer  so  schmutzigen  Gesellschaft  mache  ich  kein  Geschäft, 
und  die  Gesellschaft  wäre  zu  Kreuz  gekrochen.  Das  hätte  die 
Regierung  tun  können.  Nun  noch  eine  kleine  Berichtigung 
zum  §  305.  Der  Herr  Staatsanwalt  verlangt  von  uns,  wir  sollen 
ausdrücklich  sagen:  „Wir  perhorreszieren  die  Gewalt."  Ich 
bedaure,  ich  kann  kein  Obligo  übernehmen  für  die  ganze 
Weltgeschichte,  weder  für  die  Vergangenheit  noch  für  die 
Zukunft.  Ich  sage  einfach:  Der  Herr  Staatsanwalt  hat  selbst 
zugegeben,  daß  die  Sozialdemokratie,  soweit  sie  vermag,  die 
Arbeiter  auf  dem  Wege  der  Gesetzlichkeit  nnd  der  Ordnung 
führt.  Durchaus  nicht  aus  Achtung  vor  diesen  Gesetzen,  die 
wir  gar  nicht  für  gerecht  halten,  sondern  weil  dieser  Weg  der 
zweckdienlichste  ist,  auf  dem  die  Arbeiterschaft  leichter  ihr 
Ziel  erreicht,  weil  wir  ihn  für  den  vernünftigsten  halten.  Wenn 
der  Herr  Staatsanwalt  meint,  daß  ihm  das  natürliche  Eechts- 
bewußtsein  des  Volkes  nicht  genug  Garantien  biete,  und  er  von 
uns  Anerkennung  der  bestehenden  Gesetze  verlangt,  so  sagen 
wir,  daß  die  Gesetze  nur  insofern  Bestand  haben  sollen,  als  sie 
dem  natürlichen  Eechtsbewußtsein  des  Volkes  entsprechen. 
Die  Gesetze  müssen  dem  natürlichen  Rechtsbewußtsein  an- 
gepaßt werden.  Das  Rechtsbewußtsein  des  Volkes  ist  das 
Höhere,  dem  sich  das  Gesetz  unterordnet.  Eas  natürliche 
Rechtsbewußtsein  des  Volkes,  das  begreiflicherweise  dem 
Herrn  Staatsanwalt  nicht  als  genügender  Schutz  erscheiut,  ich 
schätze  es  hoch  genug  und  verlasse  mich  auch  bei  dieser  An- 
klage auf  das  natürliche  Rechtsbewußtsein  des  Volkes. 

Nach  einem  objektiven  Resümee  des  Vorsitzenden  zogen  sich  die  Ge- 
schwornen  zur  Beratung  zurück.  Sie  verneinten  vier  Schuldfragen  ein- 
stimmig, nur  die  den  Genossen  Dr.  Adler  betreffende  zweite  Schuldfrage 
auf  Vergehen  des  §  30.5  mit  elf  Stimmen.  Adler  und  Bretschneider 
wurden  demgemäß  freigesprochen  („Arbeiter-Zeitung"  Nr.  312  vom  13.  No- 
vember 1895). 


230  Pater  Stojalowski 


Pater  Stojalowski. 


In  das  Zimmer  Adlers  in  der  Redaktion  der  „Arbeiter-Zeitung" 
huschte  im  Jahre  1895  oft  ein  hagerer  Mann  in  der  Kutte:  Es  war  der 
galizische  Kaplan  Stojalowski,  der  bei  ihm  Schutz  gegen  seine  Ver- 
folger, die  Schlachzizen  und  ihre  Diener,  die  k.  k.  Behörden,  suchte  und  auch 
fand. 

Eine  seltsame  Erscheinung,  dieser  galizische  Geistliche,  der  durch 
Jahre  die  Großgrundbesitzer  erzittern  gemacht  hat,  indem  er  den  Bauern  die 
Bibel  im  Sinne  des  urkornmunistischen  Christentums  auslegte.  Sie  ver- 
folgten und  hetzten  ihn  aber  auch  mit  allen  Hunden,  und  ein  Prozeß  folgte 
dem  anderen.  Aus  dem  Gefängnis  schrieb  er  im  Juli  1895  einen  Brief  an 
Adler,  der  ihn  am  10.  Juli  in  der  „Arbeiter-Zeitung"  veröffentlichte  und 
deshalb  wegen  Aufreizung  zu  Haß  und  Verachtung  gegen  die  Staatsbehörden 
angeklagt  wairde.  Aus  der  Verantwortung  Adlers  ist  zu  ersehen,  was  der  Brief 
enthielt. 

Am  16.  Jänner  1896  fand  die  Verhandlung  vor  dem  Schwurgericht 
gegen  Dr.  Adler  und  Bretschneider  statt.  Adler  war  nach  §  300 
Strafgesetz  angeklagt,  Bretschneider  als  verantwortlicher  Redakteur  wegen 
Vernachlässigung  der  pflichtgemäßen  Obsorge  in  diesem  Falle  und  wegen 
zwei  anderer  Artikel  über  steirische  Behörden.  Den  Vorsitz  in  der  Ver- 
handlung führte  Landesgerichtsrat  Fe  i  g  1,  Staatsanwalt  war  Ritter  von 
C  i  s  c  h  i  n  i,    Verteidiger    Dr.  H  a  r  p  n  e  r. 

Die  Schwurgerichtsverliandlung. 

Die  Geschwornenbank  war  gebildet  aus  den  Herren  Peter  Zwieauer, 
Hugo  Wilhelm  Riha,  Karl  Fei.  Job.  Kellermann,  Anton  Frey,  Hermann 
Schuh,  Emmerich  v.  Genzinger,  Adolf  Ruhmkorf,  Jakob  Lind,  Franz  Jaschke, 
Franz  Nowotny,  Karl  Kleiner  und  Richard  Baumgarten. 

Der  Verhandlung  wohnte  ein  zahlreiches  Auditorium  an,  unter  dem 
man  den  Abgeordneten  Pernerstorfer  und  den  Paler  Stojalowski 
bemerkte. 

Die  Anklageschrift  führt  in  den   Gründen  aus: 

In  den  in  der  Nummer  186  der  „Arbeiter-Zeitung"  vom  10.  Juli  1895 
(Abendblatt)  beanstandeten  Artikeln  werden  durch  Schmähungen  und  Ver- 
spottungen die  Anordnungen  der  Behörden  herabzuwürdigen  und  auf  solche 
Weise  andere  zum  Haß  und  zur  Verachtung  gegen  Staatsbehörden  und  gegen 
einzelne  Organe  der  Regierung  in  Reziehung  auf  ihre  Amtsführung  auf- 
zureizen gesucht. 

So  wird  in  dem  Artikel  „W  i  e  die  s  t  c  i  e  r  m  ä  r  k  i  s  c  h  e  S  t  a  1 1- 
halterei  Rekurse  erledigt"  der  Bezirkshauptmannschaft  Pettau 
„Blödsinn,  Unwissenheit,  Böswilligkeit",  der  Stalthalterei  „plumpe  Bauern- 
fängerei" zum  Vorwurf  gemacht;  in  dem  Artikel  „Wie  man  uns  be- 
handelt" wird  ein  Bezirkskommissär  fälschlich  des  Mißbrauches  der 
Amtsgewalt  beschuldigt  und  gesagt,  man  sollte  ihn  davonjagen!  In  dem 
Artikel  „A  u  s  n  a  h  m  s  z  u  s  t  a  n  d  in  G  a  1  i  z  i  e  n"  wird  das  Vorgehen  des 
k.  k.  Ministeriums  der  Justiz  und  dessen  Chefs,  des  Grafen  Schön  born. 


Pater  Stojalowski  231 

als  „ehrlos"  bezeichnet,  es  wird  behauptet,  er  habe  ungesetzlichen  und  wider- 
gesetzlichen Druck  ausgeübt,  er  habe  die  Justizehre  und  seine  eigene  preis- 
gegeben; im  weiteren  wird  das  Verhalten  des  Justizministors  in  der  Straf- 
sache des  Pater  Stojalowski  als  ein  niederträchtiges  bezeichnet,  von  seiner 
Amtstätigkeit  als  von  einer  „sau — beren"  Wirtschaft  gesprochen  und  behauptet, 
er  habe  seine  Untergebenen  zu  Pflicht-  und  Gewissensverletzungen  gedrängt. 
Es  ist  dies  eine  Reihe  von  Schmähungen  und  Verspottungen,  die  in  der 
Person  des  Repräsentanten  des  Justizministeriums  gegen  diese  Staatsbehörde 
selbst  gerichtet  und  in  eminentester  Weise  geeignet  sind,  andere  zum  Haß 
und  zur  Verachtung  gegen  diese  Staatsbehörde  sowie  gegen  einzelne  Organe  der 
Regierung  aufreizen,  und  diesen  Zweck  mit  Rücksicht  auf  die  bekannte 
Tendenz  der  „Arbeiter-Zeitung"  und  deren  Leserkreis  auch 
tatsächlich  beabsichtigten.  In  dem  letztgenannten  Artikel  wird'  überdies  auch 
noch  die  Amtstätigkeit  des  Statthalters  von  Galizien  in  unverkennbar 
spöttischer  und  schmähender  Weise  als  ein  „Bewirtschaften  Galiziens" 
bezeichnet. 

Vorsitzender  (zu  Dr.  Adler  gewendet):  Bekeniion  Sie  sich 
schuldig? 

Adler:  Ich  habe  den  Artikel  nicht  ge.^chrieben,  gebe 
aber  zu,  daß  ich  ihn  gelesen  und  zum  Drucke  befördert  habe. 
Trotzdem  erkläre  ich  mich  nichtschuldig. 

Vorsitzender:  Es  steht  Ihnen  frei,  sich  zu  verantw^orten. 

Adler:  Hoher  Gerichtsshof !  Ich  habe  mich,  als  ich  diesen 
Brief  von  absolut  verläßlicher,  obgleich  nicht  p  a  r  t  e  i- 
genössischer  Seite  empfing,  ver])f lichtet  gefühlt,  ilin  zu 
veröffentlichen,  weil  es  ein  Prinzip  unserer  Partei  ist,  jedes 
Unrecht,  jede  Ve  rgew  altig  ungzu  bekämpfen. 
Insbesondere  sind  es  die  Zustände  in  Galizien,  die  offen  ge- 
brandmarkt werden  müssen,  da  dies  in  Galizien  selbst  nicht 
möglich  ist,  weil  dort  mehr  noch  als  hier  das  Wort  und  die 
Presse  <]en  behördlichen  Verfolgungen  ausgesetzt  sind.  Ich 
könnte  mir  die  vSache  leicht  macheu.  weil  der  Angegriffene,  Graf 
Schönboru,  zu  jener  Zeit  nicht  nu'lir  iui  Amte  war.  Graf  Schön- 
born war  nicht  mehr  Minister.  Die  Koalition  war  unter  dem 
Hohngelächter  der  ganzen  Bevölkerung  zusammengebrochen  und 
es  war  also  eigentlich  ganz  ungefährlich,  über  Vorgänge  aus  der 
Zeit  dieses  }{('gime>-  zu  s]>reehen.  Aber  ich  erkläre  ganz  offen, 
daß  ich  auch  dann  diesen  Artikel  zum  Di-uck  befördert  hätte, 
wenn  Graf  S  c  h  ö  n  b  o  r  n  noch  ^linister  gewesen  wäre.  Ich 
hätte  mich  verpflichtet  gefiiiilt,  dies  zu  tun.  Die  Zustände, 
unter  denen  das  galizische  Volk  leidet,  sind  allgemein  bekannt, 
und  ich  brauche  sie  nicht  zu  schildern.  Weniger  bekannt  aber 
ist,   daß  die  Bewegung,  die   in   Galizien  langsam   anfängt,  sich 


232  Pater  Stojalowski 

geltend  zu  machen,  die  die  armen  Knechte  der  Großgrund- 
besitzer zu  ergreifen  beginnt,  daß  diese  Bewegung  geleitet  wird 
einerseits  von  den  Sozialdemokraten,  anderseits  von  einem 
Manne,  der  wohl  Sozialist  ist,  aber  keineswegs  Sozialdemokrat. 
Und  diese  Bewegung  wächst  fort  und  fort  und  fängt  an,  un- 
bequem zu  werden. 

Und  darum  hat  Graf  (Schönborn  sich  beteiligt  an  der  Hetze 
gegen  den  Pater  Stojalowski. 

Es  ist  eine  Erscheinung  in  Galizien,  in  Österreich  und  in 
anderen  Ländern,  daß  im  niederen  Klerus  einzelne  Männer  auf- 
treten, die  ein  evangelisches  Christentum  pre- 
digen. Diese  Männer,  die  alle  Sozialieten  sind  —  wenn  auch 
nicht  Sozialdemokraten  —  werden  von  ihren  kirchlichen  Oberen, 
den  Bischöfen,  anfangs  geduldet,  in  der  Hoffnung,  daß  sie  der 
immer  mehr  um  sich  greifenden  Glaubenslosigkeit  halt  bieten 
und  die  Autorität  der  Kirche  festigen  werden,  werden  aber  ver- 
folgt, so  wie  sie  ein  evangelisches  Christentum  propagieren.  Die 
Verfolgung  beginnt,  wo  die  Bewegung  anfängt,  über  die  heutige 
Kirche  hinauszugehen,  wo  sie  aufhört,  eine  kirchliche  und  an- 
fängt, eine  evangelische  zu  sein.  In  diesem  Moment  richtet  sich 
die  Verfolgung  der  kirchlichen  Oberen  in  solidarem  Einver- 
nehmen mit  den  Herrschenden  und  den  Behörden  gegen  diese 
Priester.  Ein  solcher  Mann,  der  in  besonderem  Maße  solche  Ver- 
folgungen seitens  der  Bischöfe  und  Behörden  zu  erdulden  hatte, 
ist  Pater  Stojalowski.  Vier  und  zwanzigProzesse 
wurden  gegen  ihn  anhängig  gemacht,  viele  Monate  hindurch 
wurde  er,  obgleich  keineswegs  fluchtverdächtig,  in  Unter- 
suchungshaft gehalten,  die  von  ihm  herausgegebenen  Blätter 
wurden  konfisziert  und  ihre  Verbreitung  selbst  dann  ver- 
hindert, wenn  sie  nicht  konfisziert  wurden.  In  Galizien  wurde 
ein  eigener  Hirtenbrief  von  drei  Bischöfen  erlassen,  in  dem  die 
Boykottierung  der  Blätter  Stojalowskis  und  der  beiden  pol- 
nischen sozialdemokratischen  Blätter  außgesprochen  war.  Das 
war  zur  selben  Zeit,  wo  in  Wien  unter  dem  Vorsitz  eines 
Bruders  des  Justizministers  Grafen  Sehönborn,  unter  Vorsitz 
des  Kardinals  Sehönborn,  ein  Hirtenbrief  ausgearbeitet 
wurde,  der  sich  gegen  die  evangelischen  Bestrebungen  des 
niederen  Klerus  richtete,  der  allerdings  von  denBischöfen  nicht 
veröffentlicht  wurde,  weil  die  „Arbeiter-Zeitung"  in  der  Lage 
war,  ihn    früher    zu    veröffentlichen.   (Heiterkeit.) 


Pater  Stojalowski  233 

Vom  Grafen  Schönborn,  dem  Justizmiuister,  ist  es,  wie 
von  seinem  Bruder,  dem  Kardinal,  seit  Jahren  bekannt,  daß 
er  einer  der  engsten  Verbündeten  jenes  plutokratischen 
Klerus  ist.  Es  ist  daher  für  mich  nicht  nur  wahrscheinlich  ge- 
wesen, sondern  ich  konnte  es  mit  absoluter  Sicherheit  aus- 
sprechen, daß  bei  den  Verfolgungen  gegen  Stojalowski  Graf 
Schönborn  direkt  als  Urheber  mitgewirkt  hat,  ebenso  wie  Graf 
Badeni,  der  ja  ausführendes  Organ  war,  und  ich  habe  den 
Artikel  zum  Druck  befördert,  weil  ich  seinen  Inhalt  für  wahr 
hielt  und  halte. 

Die  andere  Stelle  bezieht  sich  auf  die  Gefängnishaft 
Pater  ßtojalowskis.  Hoher  Gerichtshof!  Aus  meiner  zur  Ver- 
lesung gelangten  Leumundsnote  ist  bekannt,  daß  ich  eine  ziem- 
liche Anzahl  von  Strafen  abgebüßt  habe.  Ich  bin  in  der  Lage  zu 
wissen,  wie  es  in  den  Gefängnissen  zugeht,  welche  Behand- 
lung einem  Sträfling  gebührt.  Wenn  ich  nun  höre,  daß  je- 
mand, der  wegen  eines  Preßdelikts,  wegen  desselben  §  300, 
wegen  dessen  ich  heute  angeklagt  bin,  in  Haft  ist,  die  ihm  ge- 
setzlich zustehenden  JMilderungen  entzogen  werden,  daß  man 
ihm  verwehrt,  daß  er  sich  selbst  verköstige,  daß  er  rauchen 
kann,  daß  man  ihm  seine  Lektüre  entzieht;  wenn  ich  nun  höre, 
daß  es  einem  Priester  schon  so  ergeht,  eo  drängt  sich  mir  die 
Frage  auf:  Wie  würde  es  erst  einem  Arbeiter  ergehen?  Es  han- 
delt sich  hier  nicht  um  einen  einzelnen  Fall,  obwohl  das  hin- 
reichen würde,  hier  handelt  es  sich  um  Verübung  eines  Un- 
rechts, das  eine  ganze  Eeihe  von  achtbaren  Menschen  trifft, 
die  nur  wegen  des  offenen  Aussprechens  der  Wahrheit  in  die 
Hände  der  galizischen  Behörden  fallen  und  eine  solche  Be- 
handlung erdulden  müssen.  Ich  und  meine  Freunde  sind  wieder- 
holt gesessen,  und  es  ist  nichts  Angenehmes.  Aber  sowohl  hier 
als  auch  in  den  Provinzen  —  außerhalb  Galiziens  —  hat  man 
eö  uns  niemals  fühlen  lassen  und  uns  niemals  behandelt,  als  ob 
wir  gemeine  Verbrecher  wären.  Man  hat  uns  immer  mit  dem 
Kespekt  behandelt,  der  uns  gebührt.  Das  Gegenteil  zu  hören 
mußte  auf  micli  den  tiefsten  Eindruck  machen.  Aber  die  Sache 
geht  noch  weiter.  Daß  man  einem  Mann  verwehrt,  daß  er  sich 
seiner  Gewohnheit  gemäß  nährt,  ist  eine  Quälerei  für  den  ein- 
zelnen —  es  mag  ein  Racheakt  sein  —  wenn  man  aber  die  Haft 
eines  Mannes  über  die  Zeit  hinaus  verlängert,  die  er  eigentlich 
nach  Recht  und  Gesetz  hätte  sitzen  müssen,  dann  ist  das  kein 


234  Pater  Stqjalowski 

Akt  mehr,  der  von  einem  einzelnen  Gericht  oder  Eichter  voll- 
zogen wird,  dann  ist  das  ein  politischer  Akt.  Bei  der  Ge- 
fährlichkeit, die  dem  Pater  Stojalowski  zugeschrieben  wird, 
und  bei  der  Unbeliebtheit,  deren  er  sich  in  den  oberen  Kreisen 
erfreut,  ist  ja  die  Sache  klar:  „Wir  behalten  den  Mann  nur 
um  sechs  Wochen  länger  im  Gefängnis"  —  haben  sich  diese 
Herren  gesagt  —  „damit  wir  wenigstens  sechs  Wochen  länger 
vor  ihm  Ruhe  haben."  Um  so  mehr  haben  sie  sich  das  gesagt, 
weil  in  dieselbe  Zeit  die  galizische  Wahlagitation  fiel,  wo  es 
dem  Badeni  und  dem  Schönborn  in  höchstem  Grade  unange- 
nehm gewesen  wäre,  wenn  Pater  Stojalowski  mit  \olieu 
Kräften  hätte  agitieren  können. 

Hoher  Gerichtshof!  Im  folgenden  appelliere  ich  an  Ihre 
Gesetzeskenntnis.  Wenn  jemand  sieben  Monate  Haft  hat  und 
er  verlangt  Einzelhaft,  so  ist  sie  ihm  nach  dem  Wortlaut  des 
Gesetzes  zu  gewähren.  Es  wurde  zwar  abgelehnt,  den  Pater 
Stojalowski  als  Zeugen  zu  vernehmen,  ich  glaube  aber,  der  hohe 
Gerichtshof  wird  anderer  Ansicht  werden  und  die  Vernehmung 
zulassen.  Es  wird  dann  allerdings  vorkommen,  daß  ihm  die  Ein- 
zelhaft verweigert  wurde,  weil  er  leidend  ist.  Ein  Herzleiden 
wurde  bei  ihm  herausgefunden  und  es  sei  wegen  seines  Ge- 
sundheitszustandes nicht  möglich,  hieß  es,  ihn  in  Einzelhaft  zu 
lassen  und  ihm  die  dadurch  bedingte  Abkürzung  der  Haft  zu 
vergönnen.  Ee  muß  für  jedermann,  speziell  aber  für  jeden  Arzt 
klar  sein,  daß  die  kürzere  Einzelhaft  für  einen  solchen  Kranken 
vorzuziehen  ist,  daß  ihm  die  sechs  Wochen  Freiheit,  die  ihm  ent- 
zogen wurden,  in  frischer  Luft  mehr  genützt  hätten.  Nun 
kommt  aber  das  unsagbar  Empörende  an  der  Sache.  Die  Ein- 
zelhaft wird  ihm  verweigert,  er  ist  gezwungen,  sechs  Wochen 
länger  zu  sitzen,  und  dann  läßt  man  ihn  erst  recht  einzeln 
sitzen.  Das  heißt,  er  hat  alle  Nachteile  der  Einzelhaft,  aber 
den  ilim  vom  Gesetz  eingeräumten  Vorteil  hat  er  niciir.  Er  wird 
ihm  widerrechtlich  entzogen.  Ein  solches  Eingreifen  in  die 
KecLte  eines  Gefangenen  geht  nicht  von  einem  einzelnen  Ge- 
richt aus ;  es  ist  wahr,  was  die  dortigen  Geriehtsbeamten  ge- 
sagt haben,  daß  da  höherer  Einfluß  sich  geltend  gemacht  habe. 
EiS  ist  wahr,  daß  Graf  S  c  h  ö  n  b  o  r  n  in  seinem  doppelten 
Haß  als  Hochklerikaler  und  als  Mitglied  der  Koalitions- 
regierung den  Pater  (Stojalowski  verfolgte.  Die  Öffentlichkeit 
hat   die  Pflicht  gehabt,   sich  des  Wehrlosen  anzunehmen.   Die 


Pater  Stojalowski  235 

Ausdrücke  des  Artikels  sind  durchaus  nicht  übertrieben,  sie  ent- 
sprechen dem,  was  geschehen-  ist. 

Noch  einee:  Es  war  dem  Staatsanwalt  klar,  daß  die  An- 
klage, nachdem  Graf  Schönborn  zur  Zeit  des  Erscheinens  des 
Artikels  nicht  mehr  Minister  war,  auf  schwachen  Füßen  stand, 
er  mußte  also  deduzieren,  daß  es  sich  nicht  um  den  Minister, 
sondern  um  das  ganze  Ministerium  handle  .  .  . 

Vorsitzender:  Das  ist  nicht  richtig.  Es  heißt  in  der  Anklage 
wörtlich  (liest) :  .  .  .  wird  das  Vorgehen  des  k.  k.  Ministeriums  der  Justiz 
und    dessen    Chefs,    des    Grafen    Schönborn,    als    „ehrlos"    bezeichnet  .  .  . 

Dr.  Adler:  Das  ist^e  ja,  was  ich  sage.  (Fortfahrend:) 
Der  Staatsanwalt  mußte  das  ganze  Justizministerium  dafür  ver- 
antwortlich machen,  er  mußte  mich  beschuldigen,  ich  hätte 
nicht  den  Minister  allein,  sondern  ich  hätte  das  ganze  Mi- 
nisterium angegriffen.  Es  ist  ein  tragisches  Geschick  der 
Staatsanwaltschaft,  daß  sie  andere  Stellen  des  Aufsatzes,  die 
viel  mehr  als  die  inkriminierten  Stellen  das  ganze  System  der 
Justiz  betreffen  und  die  ebenso  schwer  «und  heftig  sind,  voll- 
kommen unbeachtet  gelassen  hat  und  daß  sie  nicht  mit  der 
Wimper  zuckt,  wenn  es  heißt,  daß  Graf  Schönborn  das  Mi- 
nisterium zwar  nicht  mehr  leitet,  aber  daß  seine  Richtung  fort- 
leben wird,  bis  sich  der  Herkules  findet,  der  diesen  Augiast^tall 
reinigen  wird.  Diese  Stelle  ist  nicht  inkriminiert.  Ich  zeige 
damit,  wie  zufällig  einzelnes  herausgegriffen  und  der  Anklage 
zugeführt  wird. 

Bei  der  zweiten  Auflage  der  Konfiskation  war  ich  in  der 
Lage,  anstatt  der  konfiszierten  Stellen  einfach  die  Inter- 
pellation abzudrucken,  die  der  Abgeordnete  Pernerstorfer  be- 
reits sechs  Wochen  vorher  an  den  damals  noch  im  Amt  be- 
findlichen Justizminister  gerichtet  hat  und  in  welcher  alle  Tat- 
sachen, die  hier  angeführt  sind,  dem  Justizminister  vorgelegt 
wurden  und  wo  er  gefragt  wurde,  ob  er  diese  Mißstände  nicht 
beheben  will.  Diese  Interpellation  war  nicht  nur  die  sechs 
Wochen  später,  da  der  Aufsatz  erschien,  unbeantwortet, 
sondern  t^ie  ist  dies  noch  heute.  Graf  Schönborn  hat  noch  drei 
Wochen  Zeit  gehabt.  Er  hat  es  trotzdem  unterlassen,  sich  über 
diese  Beschuldigungen  zu  rechtfertigen,  und  wir  sind  gewiß  be- 
rechtigt, anzunehmen,  daß  dann,  wenn  eine  solche  Auskunft 
verweigert  wird,  ein  eigenes  Geständnis  des  Angeklagten  vor- 
liegt. Ich  kann  also  ruhig  sagen,  ich  habe  dae,  was  im  Artikel 


23G  Pater  Stojalowski 


gesagt  war,  nicht  nur  darum  veröffentlicht,  weil  ich  es  für 
ineine  Pflicht  gehalten  habe,  sondern  auch  darum,  weil  ich  von 
der  Wahrheit  dessen  überzeugt  war,  was  in  dem  Artikel  stand. 

Vorsitzender:  Ich  mache  Sie  aufmerksam,  daß  Sie  sich  nicht 
nur  wegen  der  Angriffe  gegen  den  Grafen  Schönborn  zu  verantworten 
haben,  sondern  auch  wegen  der  gegen  die  Gerichtsbehörden  gerichteten 
Anwürfe. 

Dr.  Adler:  Graf  Schönborn  hat  seine  Untergebenen  da- 
zu gedrängt. 

Vorsitzender:  Sie  sprechen  nicht  nur  vom  Grafen  Schönborn  und 
vom  Ministerium,  sondern  Ihre  Angriffe  gelten  auch  den  Gerichtsbeamten, 
die  sich  zu  diesen  Gesetzesverletzungen  hergegeben  haben. 

Dr.  Adler:  Es  wird  hier  sogar  mehr  erzählt,  nämlich 
daß  Pater  Stojalowski  früher  die  eigene  Kost,  die  Begünstigung 
des  Rauchen  usw.  gehabt  hat,  daß  dae  alles  aber  eingestellt 
wurde,  „weil  der  S  c  h  ö  n  b  o  r  n  ihnen  e  i  n  e  N  a  s  e  ge- 
schickt hat". 

Vorsitzender:    Sie   deduzieren    daraus    deren    Mitschuld. 

Dr.  Adler:  Gerichtsbehörden,  die  sich  zwingen  lassen, 
solches  zu  tun,  machen  sich  entschieden  mitschuldig  an 
den  Gesetzes  Verletzungen,  aber  sie  haben 
einen  ]\I  i  1  d  e  r  u  n  g  e  g  r  u  n  d  für  sich...  den  un- 
widerstehlichen Zwang  ... 

Vorsitzender:  Daß  durch  Schmähungen  und  Verspottungen  andere 
aufgereizt  werden,  deshalb  ist  der  Artikel  inkriminiert.  Die  Behörden  werden 
herabgesetzt    und    beschimpfende    Ausdrücke    gebraucht. 

Dr.  Adler:  Auch  nicht  von  der  Form  des  Artikels  kann 
ich  das  gelten  lassen.  Behörden,  die  solche  Dinge  tun,  haben  sich 
selbst  dem  Haß  und  der  Verachtung  übergeben.  Nicht  wir 
morden  ihren  Ruf,  sie  sind  Selbstmörder.  Von  Spott  ist  in  dem 
ganzen  Brief  keine  Spur.  Er  ist  im  tiefsten  Ernst  geschrieben. 
Nicht  einmal  Ironie  kommt  zum  Wort;  Bitterkeit  und  Ent- 
rüstung spricht  daraus.  Eine  Schmähung  kommt  nicht  vor.  Ehr- 
losigkeit ist  kein  Schmähwort. 

Vorsitzender:  Es  kommt  auch  das  Wort  „Niederträchtigkeit"  vor. 
Das  ist  doch  wohl  Hohn.  ' 

Dr.  Adler:  Die  Unterdrückung  des  galizischen  Volkes 
ruft  nicht  Hohn,  sondern  Entrüstung  hervor. 

Vorsitzender:  Es  handelt  sich  nicht  um  das  galizische  Volk. 

Dr.  Adler:  Ja,  es  handelt  sich  um  die  Leiden  der  unter- 
drückten Klasse,  die  dieser  Artikel  zum  Ausdruck  bringt .  .  . 


Pater  Stojalowski  237 

Landesgerichtsrat  F  e  i  g  1  wendet  sich  nun  plötzlich  an  das  Publikum 
und  apostrophiert  es,  trotzdem  weder  auf  der  Anklagebank  noch  in  der 
Journalistenloge  irgendwelche  Äußerung  des  Publikums  vernehmlich  war,  sehr 
scharf:  „Ich  bitte,  sich  ruhig  zu  verhalten,  sonst  lasse  ich  sofort  den  Saal 
räumen.  Noch  einmal  eine  solche  Äußerung,  und  ich  lasse  augenblicklich 
den  Saal  räumen!  Das  Publikum  hat  sich  ruhig  zu  verhalten  .  .  .  Ich  bitte, 
Herr  Angeklagter,  fortzufahren." 

Dr.  Adler:  Hier  ist  nicht  eine  Schmähung,  sondern  eine 
trockene  Bezeichnung  des  Vorgehens  ausgedrückt;  es  war  ehr- 
los, anders  läßt  es  sich  nicht  richtig  kennzeichnen. 

Der  Vorsitzende  wendet  sich  nun  dem  mitangeklagten  Redakteur 
Bretschneider  zu,  der  angeklagt  ist,  betreffs  zwei  gleichfalls  konfiszierter 
Notizen  die  pflichtgemäße  Obsorge  außer  acht  gelassen  zu  haben. 

Vorsitzender:  Herr  Breischneider,  Sie  sind  Redakteur  der 
..Arbeiter-Zeitun  g'". 

Bretschneider:  Ja! 

Pater  Stojalowski,  der  in  einer  der  ersten  Bänke  des  Zuschauer- 
raumes  der   Verhandlung  beiwohnt,     schneuzt    sich. 

Vorsitzender  Landesgerichtsrat  F  e  i  g  1  izum  Publikum) :  B  i  1 1  e  sich 
möglichst    geräuschlos     zu    benehmen.     (Stille    Heiterkeit.) 

Bretschneider:  Meine  Herren  Geschwoinen!  Ich  stehe 
heute  nicht  zum  erstenmal  wegen  dieser  Übertretung  vor  den  Geschwornen, 
sondern  bereits  zum  viertenmal.  Im  Hinblick  auf  meine  konsequente  Ver- 
antwortung nimmt  mich  dies  wunder.  Bei  den  November-Geschwornen  ist 
es  mir  gelungen,  ihnen  begreiflich  zu  machen,  wie  ich  mein  Amt  ausgeübt 
habe.   Hier  habe  ich  zwei  Entscheidungen  .  .  . 

Vorsitzender:  Ich  bitte  bei  der  Sache  zu  bleiben. 

Bretschneider:  (fortfahrend):  Diese  Dekrete  der  Be- 
hörden werden  meistens  mir  zugesendet;  ich  sehe  mir  diese  merkwürdigen 
Entscheidungen  an,  bilde  mir  ein  Urteil  darüber  und  bespreche  dann  mit  dem 
betreffenden  Redakteur  die  Art  und  Weise,  wie  er  das  betreffende  Dekret 
beurteilen  und  behandeln  werde.  Ich  habe  es  dann  hinterher  natürlich  nicht 
notwendig,  die  Manuskripte  nachzulesen.  Wir  kennen  ja  diese  Bezirks- 
hauptmannschaften; ich  muß  also  sagen,  daß  ich  mich  ruhig  auf  die 
Redakteure  verlassen  kann.  Ich  kann  mich  heute  nicht  mehr  erinnern,  ob 
ich  die  Notizen  vor  der  Drucklegung  gelesen  oder  zum  Druck  befördert  habe, 
aber  die  merkwürdigen  Dekrete  habe  ich  vorher  gelesen  und  mich  darüber 
besprochen.    Wir   kennen    diese  sonderbaren    Bezirkshauptmannschaflen  .  .  . 

Vorsitzender  (unterbrechend) :  Lassen  Sie  die  Ausfälle.  Be- 
sprechen Sie  den  Tatbestand  ohne  die  Adjektive. 

Bretschneider:  Ich  werde  mich  danach  richten.  (Fort- 
fahrend:) Uns  klagt  man  an,  und  wir  glauben  uirs  gerade  durch  Veröffent- 
lichung solcher  Tatsachen  um  das  öffentliche  Interesse  mehr  verdient  zu 
machen  als  der  Staatsanwalt,  der  jede  solche  Sache  rügen  und  auf  die  An- 
klagebank bringen  sollte.  Der  Staatsanwalt  sollte  den  Mut  haben,  nicht  die 
Redakteure,  die  solches  wahrheitsgetreu  schreiben,  auf  die  Anklagebank  zu 
bringen,  sondern  endlich  damit  anzufangen,  daß  solche  Organe  der  politischen 


238  Pater  Stojalowski 


Behörden,  die  bewußt  und  immer  den  Sozialdemokraten  gegenüber  ungesetz- 
liche Amtshandlungen  begehen,  auf  die  Anklagebank  kommen.  Er  sollte  den 
Mut  haben,  sie  wegen  Mißbrauchs  der  Amtsgewalt  anzu- 
klagen. 

Vorsitzender:  Das  gehl  über  den  Rahmen  Ihrer  Verteidigung 
hinaus.  Sie  haben  nicht  dem  Staatsanwalt  vorzuschreiben,  was  er  tun  soll. 
Es  muß  Ihnen  genug  sein,  wenn  er  nur  Ihnen  gegenüber  seine  Pflicht  erfüllt. 

Bretschneider;  Ich  bin  überzeugt,  die  Geschwornen 
werden  darin  mit  uns  einig  sein,  daß  sich  unsere  Delikte  auf  ein  Vorgehen 
reduzieren,  das  dem  Gesetz  entspricht,  und  ich  erwarte  zuversichtlich,  daß 
sie  uns  freisprechen  werden. 

Dr.  Harpner  bittet,  nachdem  der  Vorsitzende  die  aktengemäße  Vor- 
geschichte des  Prozesses  kurz  skizziert  hatte,-  das  Erkenntnis  der  Kon- 
fiskationsbestätigung der  Nummer  186  der  „Arbeiter-Zeitung'"  zu  verlesen. 
Der  Vorsitzende  willfahrt  diesem  Wunsch  und  konstatiert  unter  einem,  daß 
in  diesem  Erkenntnis  von  „Entstellung  der  Tatsachen"'  die  Rede  ist,  eine 
Beschuldigung,  die  in  der  Anklageschrift    nicht    mehr    vorkommt. 

Verteidiger:  Ich  habe  schon  in  der  Voruntersuchung  die  Ein- 
vernehmung des  im  Hause  anwesenden  Pater  Stojalowski  als  Zeugen 
beantragt  und  wurde  abgewiesen.  Es  wurde  gesagt,  daß  diese  Einvernahme 
von  keiner  Relevanz  sei.  Die  Staatsanwaltschaft  steht  regelmäßig  auf  dem 
Standpunkt,  daß  es  beim  §  300  keinen  Wahrheitsbeweis  gebe.  Wenn  aber 
behauptet  wird,  daß  Unwahrheiten  und  Entstellungen  von  Tatsachen  in  dem 
inkriminierten  Artikel  vorkommen,  dann  muß  es  doch  dem  Angeklagten 
unbenommen  bleiben,  nachweisen  zu  dürfen,  daß  er  keine  Unwahrheiten  ge- 
schrieben und  keine  Tatsachen  entstellt  hat. 

Der  Staatsanwalt  spricht  gegen  diesen  Antrag  und  sagt,  daß 
der  Angeklagte  nicht  beschuldigt  sei,  „Tatsachen  entstellt"",  sondern  bloß 
„geschmäht"  zu  haben. 

Der  iGerichtshof  gibt  dem  Antrag  keine  Folge,  mit  der  Begründung, 
daß  der  Staatsanwaltschaft  das  Recht  zustehe,  die  Anklage  zu  begrenzen,  und 
daß  sie  wirklich  bloß  den  Artikel  wegen  der  darin  vorkommenden 
Schmähungen   verfolge. 

Verteidiger:  Ich  bringe  somit  dem  hohen  Gerichtshof  folgendes 
zur  Kenntnis.  Der  Verfasser  des  inkriminierten  Artikels 
ist  zu  mir  gekommen,  um  mir  zu  sagen,  daß  er  sich  verpflichtet  fühle,  die 
Verantwortung  mitzuübernehmen  und  neben  Dr.  Adler  seine  Sache  zu  ver- 
treten. Ich  bin  ermächtigt,  mitzuteilen,  daß  Pater  Stoja- 
lowski der  Verfasser  ist  und  den  Gerichtshof  bittet, 
sofort  gegen  ihn  die  Verhandlung  durchzuführen,  indem 
er  auf  alle  Fristen  und  jedeji  Einspruch  verzichtet.  Der  Staatsanwalt  erhebt 
sich  und  erklärt,  daß  er  sich  die  Verfolgung  des  Pater  Stojalowski  vorbehalte, 
aber  nicht  in   derLage   sei,  heute   die  Anklage  zu   erheben. 

Es  werden  hierauf  den  Geschwornen  die  Schuldfragen  vorgelegt,  und 
zwar :  Erste  Hauptfrage :  Ist  Dr.  Adler  schuldig,  durch  Schmähungen  zu  Haß 
und  Verachtung  gegen  die  Behörden  aufgereizt  zu  haben?  Zweite  Hauptfrage: 
Ist  L.  A.  Bretschneider  schuldig  der  Vernachlässigung  der  pflichtgemäßen 
Obsorge? 


Pater  Stojalowski  .  239 

Nachdem  der  Staatsanwalt  gesprochen  und  der  Verteidiger  sein 
Plädoyer  gehalten  hat,  suchte  der  Staatsanwalt  in  seiner  Replik  zu  beweisen, 
daJ3  faktisch  das  Justizministerium  angegriffen  sei,  weil  die  Erlässe  und  Ver- 
fügungen des  gewiesenen  Justizministers  noch  zu  Recht  bestehen.  Er  meint 
ferner,  daß  die  „Arbeiter-Zeitung"'  sich  sehr  unästhetisch  benehme,  indem 
sie  nach  dem  Sturz  eines  jeden  Ministeriums  ein  förmliches  Wutgeheul 
ausstoße,   entgegen   dem  Satze,  daß   man   von   Toten  nur    Gutes  sagen   solle. 

Dr.  Adler: 

Meine  Herren  Geschwornen!  Ich  würde  nicht  mehr  ge- 
sprochen haben,  um  Sie  nicht  zu  ermüden,  aber  der  Vorwurf, 
den  der  Staatsanwalt  gegen  die  „Arbeiter-Zeitung"  gemacht  hat, 
zwingt  mich  hiezu.  Es  beliebt  dem  Staatsanwalt,  der  „Arbeiter- 
Zeitung"  nachzusagen,  daß  sie  den  Minister  angreift,  nachdem 
er  nicht  mehr  im  Amt  ist,  und  er  bezeichnet  das  als  Geschmack- 
losigkeit. Ich  glaube,  es  gibt  niemand  im  Saal,  der  so  genau 
wie  der  Staatsanwalt  selbst,  es  weiß,  daß  die  „Arbeiter-Zeitung" 
von  diesem  Vorwurf  vollständig  frei  ist,  und  insbesondere 
Minister  Schönborn  und  die  Regierung,  der  er  angehört  hat,  die 
Koalitionsregierung,  ist,  solange  sie  bestanden  hat,  von  der  „Ar- 
beiter-Zeitung" mit  der  ihr  gebührenden  Kritik  verfolgt  worden, 
und  die  Staatsanwälte  haben  uns  genugsam  konfisziert  und 
eventuell  vor  die  Geschwornen  gebracht.  Anders  ist  die  Sache 
bei  der  Anklagebehörde  selbst.  Ich  habe  nicht  nur  diesen  Pro- 
zeß, sondern  auch  noch  eine  Anzahl  von  anderen  Anklagen  .^ur 
Verfügung,  um  zu  zeigen,  wie  die  Anklagebehörde  .  .  . 

Landesgerichtsrat  Feigl:  Andere  Prozesse  gehören  nicht  hieher.  Ich 
bitte,  sie  nicht  in  den  Rahmen  dieses  Prozesses  zu  ziehen. 

Dr.  Adler:  Der  Staatsanwalt  hat  in  diesem  Falle  erklärt, 
daß  eine  Aufreizung  gegen  Institutionen  und  Behörden  vorliegt. 
In  zwei  anderen  Fällen,  wo  ich  dieselben  Anklagen  gegen  das 
System  Badeni  mündlich  vorbrachte,  sieht  der  Staatsanwalt 
darin  nur  eine  Ehrenbelcidigung,  eine  persönliche  Angelegen- 
heit, und  bringt  die  Sache  vor  das  Bezirksgericht  und  nicht  vor 
die  Geschwornen.  Man  changiert,  wie  man's  braucht.  DerStaats- 
anwalt  sagt,  die  „Arbeiter-Zeitung"  untergrabe  die  Autorität 
der  Behörden,  die  das  Gerüst  des  Staates  seien.  Ich  erkläre 
demgegenüber,  die  „Arbeiter-Zeitung"  hat  allerdings  die  Ten- 
denz, die  Autorität  jener  Beamten,  die  die  Gesetze  übertreten, 
zu  untergraben,  und  hat  die  Pflicht,  das  zu  tun,  um  so  mehr  in 
einem  Lande,  von  dem  der  Staatsanwalt  selbst  sagt,  daß  »nan 


240  •  Pater  Stqjalowski 

nicht  genug-  Gerichtehöfe  finden  würde,  um  alle  Beamten,  die 
das  Gesetz  übertreten,  anzuklagen.  Es  ist  dies  die  Pflicht,  Ten- 
denz einer  „Arbeiter-Zeitung",  des  Organs  der  Arbeiter,  die 
ja  am  meisten  darunter  zu  leiden  haben.  Die  angemaßte,  falsche 
und  auf  Ungesetzlichkeit  beruhende  Autorität,  die  so  oft  „da- 
neben haut",  untergräbt  sie  allerdings.  Wenn  Sie  diese  Tat- 
sachen ins  Auge  faesen,  sehen,  wie  Pater  Stojalowski  von  dieser 
Autorität  behandelt  wurde,  wäe  ein  ganz  armes,  ausgebeutetes 
Volk  dort  behandelt  wird,  da  müssen  Sie  sich  sagen,  daß  die 
Autorität  von  den  Behörden  untergraben  wird.  Die  Bürokratie 
wird  da  eine  Maschine  zur  Unterdrückung  des  arbeitenden 
Volkes  in  Galizien,  eine  ]\[aschine  in  der  Hand  der  Großgrund- 
besitzer, der  Schlachzizen,  der  Leute,  die  das  arme  Volk  aus- 
beuten, an  deren  Spitze  die  Badenie  gestanden  haben  und 
stehen.  Diese  unrechtmäßige  Autorität  wollen  wir  allerdings 
untergraben.  Das  Wort:  „Wer  über  gewisse  Dinge  den  Ver- 
stand nicht  verliert,  hat  keinen  zu  verlieren",  läßt  sich  auch  auf 
die  Gerechtigkeit  anwenden;  wer  gegenüber  so  haarsträuben- 
den Dingen  objektiv  und  maßvoll  bleibt,  hat  nie  Gerechtigkeit 
besessen,  wen  gegenüber  dem  Rechtsbruch  nicht  die  Entrüstung 
fortreißt,  der  hat  nie  die  Billigkeit  gekannt. 

Wir  fürchten  die  Wahrheit  nicht.  Aber  der  Staatsanwalt 
fürchtet  sie,  der  den  Pater  Stojalowski  nicht  als  Zeugen 
und  nicht  als  Angeklagten  hier  haben  will.  Der 
Staatsanwalt  hat  dadurch  gezeigt,  wie  notwendig  es  ist,  in 
offenen,  starken  und  kräftigen  Worten  aufzutreten,  damit  man 
gehört  werde.  Bei  abwägenden,  gemessenen,  akademischen  Aus- 
einandersetzungen wüßten  Sie,  meine  Herren  Geschwornen,  und 
andere  Leute  nichts  von  den  Dingen,  die  bürgerliche  Presse  ver- 
schweigt sie.  Weder  die  liberalen  noch  die  antisemitischen 
Blätter  haben  darüber  geschrieben.  Sie  wußten  davon  nichts. 
Und  doch  ist  die  Öffentlichkeit  unsere  einzige  Zuflucht.  Gibt  es 
ein  einziges  Gericht  in  Österreich,  das  nur  ein  einziges  Mal  über 
solche  Vergehen  eines  Beamten  zu  verhandeln  gehabt  hätte? 
Nein!  Scharf  und  rücksichtslos  muß  man  also  diesen  Kampf 
führen.  Es  ist  nötig,  daß  man  die  unaufgeklärte,  leidende  Menge 
anreizt,  aufreizt  und  aufklärt,  daß  sie  helfe,  endlich  dieses 
System  zu  beseitigen,  das  die  Behörden  nicht  beseitigen.  Darum 
habe  ich  mit  vollem  Bewußtsein,  eine  heilige  Pflicht  zu  tun,  den 
Brief  des  Pater  Stojalowski  abgedruckt  und  habe  nicht  ein  ein- 


Die  galizischen  Wahlgreuel  24:1 

zigee   Wort    daraus   zurückzunehmen.    Ich   bin   überzeugt,   Sie, 
meine  Herren  Geschworneu,  werden  mir  nicht  unrecht  geben. 

Nach  dem  Resümee  des  Vorsitzenden  zogen  sich  die  Geschwornen  zur 
Beratung  zurück.  Ihr  Verdikt,  das  der  Obmann  Emmerich  v.  G  e  n  z  i  n  g  e  r 
verkündete,    lautete: 

Erste  Frage  (Dr.  Adler :  Vergehen  nach  §  300)  v  i  e  r  Ja  — ■  acht  Nein. 

Zweite  Frage  (Bretschneider:  Vernachlässigung  der  pflichtgemäßen 
Obsorge)    sechs    Ja    —    sechs    Nein. 

Adler  und  Bretschneider  mußten  somit  freigesprochen  werden. 

Der  Gerichtshof  erklärte,  daß  er  über  den  Antrag  des  Staatsanwalts, 
das  Verbot  der  Weiterverbreitung  der  konfiszierten  Nummern  der  „Arbeiter- 
Zeitung"  auszusprechen,  in    geheimer  Sitzung   entscheiden  werde. 

Trotz  des  Freispruches  wurde  dann  die  Konfiskation  der 
Artikel  ausgesprO'Chen     („Arbeiter-Zeituag"  Nr.   16  vom  17.  Jänner  1896). 

Pater  Stojalowski  entpuppte  sich  später  als  unwürdig  des  Schutzes, 
den  ihm  Adler  angedeihen  ließ.  Er  wurde  ein  Werkzeug  der  Schlachzizen 
und  beschimpfte  die  Sozialdemokraten  aufs  gemeinste.  Aber  das  ist  Adler 
öfter  passiert  und  konnte  ihn  nicht  abhalten,  das  Unrecht  zu  geißeln,  wenn 
er  auch  Undank  dafür  erntete. 


Die  galizischen  Wahlgreuel. 

Nach  den  Freisprüchen  beim  Schwurgericht  mied  der  Staatsanwalt 
diese  unverläßlichen  Richter  und  zog  sich  auf  das  Bezirksgericht  zurück. 
Am  17.  April  1890  stellte  er  Adler  wegen  einer  Rede,  die  er  in  einer  Ver- 
sammlung auf  der  Feuerwerkswiese  im  Prater  am  22.  September  1895,  also 
siel)en  Monate  vorher,  über  das  gewalttätige  Vorgehen  der  k.  k.  Behörden 
bei  den  galizischen  Wahlen  gehalten  hatte,  vor  das  Bezirksgericht 
Leopoldstadt.  Zuerst  hatte  man  die  Rede  als  Vergehen  nach  §  300  inkri- 
miniert, dann  aber,  um  die  Geschwornen  zu  vermeiden,  die  Anklage  auf 
Übertretu'ng  reduziert. 

Dr.  Adler  hatte  die  Vorgänge  in  folgenden  Sätzen  erörtert: 
„In  Galizien  stehen  jetzt  die  Landtagswahlen  bevor;  was  da  ge- 
leistet wird  an  Unterdrückung  des  Rechtes  (Zuruf:  Schwindel!) 
—  Schwindel  ist  ein  schwaches  Wort  —  das  ist  bekannt.  Daß 
aber  die  Fälschung,  die  gemeinste  Unterdrückung  geradezu  die 
Grundlage  der  Wahl  wird,  und  daß  der  Landtag  nicht  auf  der 
Abstimmung  des  Volkes,  sondern  auf  der  Abstimmung  der  Gen- 
darmen beruht,  das  ist  das  Niederträchtigste  .  .  ."  Dann  später, 
vom  Grafen  Badeni  sprechend:  In  allen  Provinzen  hatten  wir 
mit  Bezirkshauptleuten  zu  tun,  die  eine  „eiserne  Hand"  besaßen. 
Man  könnte  sie  brutal  nennen,  wenn  es  nicht  verboten  wäre. 
Aber  die  Herren  wissen  auch,  daß  wir  diese  brutalen  Bezirks- 

16 


242  Die  galizischen  Wahlgreuel 

hauptleute  Mann  für  Mann  zur  Gesetzlichkeit  erzogen  haben, 
und  wir  fühlen  erzieherische  Kraft  genug  in  uns,  um  auch 
polnische  Ministerpräsidenten  zu  erziehen."  In  diesen  Stellen 
mm  erblickte  die  Anklage  eine  Beleidigung  von  Behörden. 

Auf  Befragen  des  Eichters,  Ratssekretär  Dr.  Sedlaczek, 
erklärte  sich  der  Angeklagte  für  nichtschuldig,  konstatierte  aber 
zugleich,  daß  die  von  ihm  behaupteten  Tatsachen  nicht  nur 
wahr,  sondern  auch  erweislich  seien. 

Richter:  Warum  haben  Sie  sich  aber  der  Ausdrücke  ..lüedor- 
trächtig"  und  „brutal"  bedient? 

Adler;  Derartige  Gesetzes  Verletzungen 
durch  Behörden  lassen  eich  nicht  mit  anderen  Ausdrücken 
I  ezeichnen. 

Richter:   Wen  haben  Sie  denn  eigentlich  gemeint? 

Adler:  Wer  sich  beleidigt  fühlt,  soll  sich  melden, 
f^brigens  kann  ich  konstatieren,  daß  ich  alle  Organe  in  ihrer 
Gesamtheit,  vom  Statthalter  bis  zum  Bezirkskommissär,  und 
zwar  ausschließlich  in  ihrer  Amtsführung,  kritisiert  habe,  ihre 
„Ehre"  ist  mir  ganz  gleichgültig. 

Richter;  Wie  haben  Sie  die  Stelle  mit  den  brutalen  Bezirkshaup!- 
Iputen  gemeint? 

Adler:  Ich  habe  an  dieser  Stelle  den  Bezirkshaupt- 
leuten das  Kompliment  gemacht,  daß  unter  unserem  Einfluß  ihre 
Amtsführung  eine  legale  geworden  ist,  und  daß  es  uns  wohl  ge- 
lingen wird,  auch  den  Badeni  dazu  zu  erziehen. 

Der  Zeuge  Polizeikommissär  Dr.  N  a  t  k  i  s  kann  den  Eindruck,  den  die 
Rede  auf  ihn  machte,  nicht  mehr  schildern,  weil  seitdem  ein  halbes  Jahr 
\ergangen  sei. 

Adler  erklärte  nun,  bezüglich  der  Ungeeetzlichkeiten 
fleu  Wahrheitsbeweis  antreten  zu  wollen.  ITauptsächlich 
könne  er  sich  hiebei  auf  das  M  e  m  o  r  a  n  d  u  m  stützen,  das  die 
in  jener  Versammlung  anwesenden  ruthenischen  Bauern  dem 
Ministerpräsidenten  Grafen  Kielniansegg  überreichen 
wollten.  Als  der  Sektionschef,  der  die  Bauern  empfing,  dieses 
Memorandum  gelesen  hatte,  sagte  er,  daß  hier  offenbar  das  Ver- 
brechen des  Mißbrauchs  der  Amtsgewalt  vorliege. 
Ferner  lege  er  eine  Depesche  vor,  aus  der  hervorgehe,  daß  der 
Bezirkshauptmann  Dobrowolski  einen  Wahlmann  in 
Ketten  schlagen  ließ,    weil    er    unzufrieden    mit    seiner    Ab- 


Die  galizisc'hen  Wahlgreuel  243 


ötimmung  war.  Ich  bin  in  der  Lage,  alles  zu  erweisen,  und  das 
Gericht  braucht  nur  den  damaligen  Statthalter  von  Galizien, 
Grafen  Badeni,  vorzuladen,  der  die  Dinge  genau  kennt. 

Verteidiger  Dr.  Harpner:  Wenn  eine  Ehrenbeleidigung  vorliegt,  so 
muß  auch  der  Wahrheitsbeweis  zulässig  sein.  Ich  beantrage  daher 
die  Verlesung  dieses  Memorandums,  dann  die  des  anderen  Memorandums, 
das  die  ruthenische  Massendeputalion  dem  Kaiser  überreichte,  Verlesung  der 
Iiiterpellation  des  Abgeordneten  Romanczu?,  die  noch  unbeantwortet  ist,  und 
die  Einvernehmung  der  betroffenen  Personen  und  schließlich  Einver- 
nehmung des  Grafen  Badeni. 

Der  Richter  erklärte,  den  Wahrheitsbeweis  nicht  zuzulassen,  weil  bei 
IBeschimpfungen  wie  „niederträchtig'"  und  -hrutar  kein  Wahrheitsbeweis  zu- 
lässig sei. 

Nachdem  der  Staatsanwalt  die  Bestrafung  beantragt  und  der 
Verteidiger  für  den  Freispruch  eingetreten  war,  sagte 

Dr.  Adler: 

Nur  ganz  kurz  konstatiere  ich.  daß  die  Geschichte 
der  galizi  sehen  Land  tags  wählen  eines  der 
schmutzigsten  Blätter  in  der  österreichischen  Verwaltungs- 
geschichte ist.  Die  Regierung  weiß  das  ganz  genau,  und  ich  habe 
sie  wiederholt  in  Versammlungen  und  in  der  Presse  provoziert, 
um  einmal  eine  Erörterung  hierüber  vor  den  Geschwornen 
durchzusetzen.  Die  Regierung  ist  dem  aber  ausgewichen,  und 
aus  diesem  Grunde  sind  drei  Prozesse  gegen  mich 
eingestellt  worden.  Auch  hier  wird  der  Wahrheits- 
beweis nicht  zugelassen.  Die  Ursache  alle.^  dessen  ist  klar.  Graf 
Badeni  hat  Butter  am  Kopf  und  will  daher  nicht  an 
die  Sonne  des  Schwurgerichtes  gehen.  Ich  hoffe,  daß  der  u  n  a  b- 
h  ii  n  g  i  g  e  Richter  dies  würdigen  wird. 

Der  Richter  verurteilte  den  Angeklagten  zu  zweihundert 
G\ilden  Geldstrafe,  im  Nichteinbringungsfalle  zu  acht  Tagen 
Airests,  und  zwar  mit  folgender  „Begründung":  Es  seien  offenbar  die  Be- 
hörden beleidigt,  die  beauftragt  waren,  die  Wahlen  zu  leiten.  Die  Ausdrücke, 
deren  sich  der  Angeklagte  bediente,  seien  aber  offenkundige  Beschimpfungen, 
für  die  auch  kein  Wahrheitsbeweis  erbracht  werden  könne. 

Bezüglich  der  zweiten  inkriminierten  Stelle  wurde  Adler 
fieigesprochen. 

Der  Verteidiger  erhob  die  Nichtigkeitsbeschwerde  und  die  Berufung 
gegen  das  Strafausmaß.  Auch  der  staatsanwaltschaftliche  Funktionär  meldete 
die  Nichtigkeitsbeschwerde  und  die  Benifung  an.  („Arbeiter-Zeitung"  Nr.  108 
vom   19.  April  1896.) 

16* 


244  Die  galizischen  Wahlgreuel 

Bei  der  Berufungsverhandlung  freigesprochen. 

Gegen  das  Urteil  legte  Adler  die  Berufuag  ein.  Die  Verhandlung  dar- 
über fand  am  2.  Juli  1896  statt.  Der  Verteidiger  Dr.  H  a  r  p  n  e  r  wiederholte 
lien  in  der  ersten  Verhandlung  gestellten  Antrag  auf  Zulassung  des  Wahrheits- 
beweises, Verlesung  der  Interpellation  Romanczuk,  Einvernehmung  der 
betroffenen  Person  und  schließlich  Einvernehmung  des  Grafen  B  a  d  e  n  i.  -- 
Der  Gerichtshof  lehnte  den  Antrag  ab,  mit  der  Begründung,  daß  für  Be- 
schimpfungen ganz  allgemeiner  Naiur  ein  Wahrheitsbeweis  nicht  zulässig 
.' ei.  —  Der  Staatsanwalt  Dr.  v.  Sauer  erklärt,  daß  er  auch  den  Frei- 
spruch bezüglich  der  :,Beleidigung"  der  früheren  Bezirkshauptleute  an- 
fechte. Der  Freispruch  sei  aus  formalen  Gründen  unrichtig.  Eine  Behörde 
sei  etwas  kontinuierlicii  Fortwirkendes,  und  in  den  früheren  Bezirkshaupt- 
leuten  seien  die  bestehenden  Bezirkshauptmannschalten  mitgetroffen.  Es  sei 
unzweifelhaft,  daß  dem  Angeklagten  der  „animus",  die  Absicht  der  Be- 
leidigung zuzuschreiben  sei.  Bei  seinen  Ausführungen  unterlief  dem  Staats- 
anwalt der  Irrtum,  daß  unter  den  „brutalen  Bezirkshauptleuten,  die  man 
erzogen  habe",  die  galizischen  gemeint  seien. 

Nach  den  Ausführungen  Harpners  und  des  Staatsanwalts 
erklärte 

Adler: 

Ich  hätte  die  Führung  meiner  Sache  ganz  meinem  Ver- 
teidiger überlassen,  wenn  der  Staatsanwalt  nicht  über  den 
Animus  der  Beleidigung  gesprochen  hätte.  Darüber  kann  ich 
nur  selbst  Auskunft  geben.  Nun  bin  ich  verpflichtet,  zu  sagen, 
daß  uns  die  Ehre  der  Beamten  ganz  gleichgültig  ist.  Nicht  von 
unserem  Animus  kann  hier  die  Eede  sein,  sondern  bloL5  vom 
Animus  des  Gerichtes,  das  nicht  wünscht,  daß  die  galiziselien 
Wahlen  vor  den  Geschwornen  besprochen  .  .  . 

(Unterbrechung  des  Vorsitzenden:  Ich  bitte,  nicht  an  der  Objeklivitiil 
der  Staatsanwaltschaift  in  dieser  Weise  Kritik   zu  üben  .  . .) 

Adler:  Ich  bin  der  Ehre  dieser  Herren  in  keiner  Weise 
nahegetreten,  es  war  meine  Absicht,  das  öffentliche  Gewissen 
wachzurütteln,  und  nichts  anderes.  Es  wird  uns  immer  der 
Wahrheitsbeweis  abgeschnitten  aber  die  Wahrheit  läßt  sich 
nicht  auf  die  Dauer  unterdrücken;  zum  Teil  sind  die  gali- 
zischen Wahrheiten  auch  schon  im  Parlament  öffentlich  fest- 
gestellt worden.  Es  hat  sich  also  durchaus  nicht  um  die  Ehre  ge- 
liandelt,  wozu  mir  auch  jeder  Animus  fehlt;  wenn  ich  etwas 
getan  habe,  so  habe  ich  „aufgereizt".  Ein  Mißverständnis  muß 
ich  noch  berichtigen,  das  dem  Herrn  Staatsanwalt  unterlaufen 
ist.  Der  Staatsanwalt  mutet  mir  nämlich  zu,  daß  ich  gemeint 
habe,  es  seien  die  galizischen  Bezirkshauptleute,  die  früher 
brutal  waren  und  von  uns  erzogen  worden  sind.  Da  muß  ich 


Adler  wegen  Mißhandlung  eines  Arbeiters  angeklagt  I  .     .  245 

nun  konstatieren,  daß  ich  unter  den  bereits  e  r  z  o  g-  e  n  e  n 
Bezirkshauptleuton  die  o-  a  1  i  z  i  s  c  h  e  n  leider  nicht  meinen 
konnte. 

Nach  kurzer  Beratuiig  verwarf  der  Gerichtshof  die  Berufung  des  Staats- 
anwalts, gab  dagegen  der  Berufung  Adlers  statt  und  sprach  ihn  frei. 

Die  Begründung  besagt  folgendes:  Nachdem  die  Anklage  nicht  nach 
•?  300  erhoben  wurde,  blieb  allerdings  nur  der  Artikel  V  übrig,  aber  der  Tat- 
bestand deckt  sich  nicht  mit  'dem  Wortlaut  dieses  Gesetzes.  Die  Äußerungen 
des  Angeklagten  waren  ganz  allgemeiner  Natur  und  hatten  keine  bestimmte 
Behörde  zum  Ziel.  Der  Artikel  V  setzt  aber  voraus,  daß  e  i  n  (> 
licstimmte,  näher  bezeichnete  oder  wenigstens  mit  einer 
jeden  Zweifel  über  ihre  Identität  ausschließenden 
Deutlichkeit  gekennzeichnete  Behörde  beleidigt  wor- 
»i  nn  ist.  Das  hat  der  Angeklagte  nicht  getan,  und  er  hätte  daher  nur  nach 
ij  80(1  verfolgt  werden  können.    ..Arbeiter-Zeitunsr"  Nr.  181  vom  3.  .luli   1896. 


Adler   wegen    Mißhandlung    eines    Arbeiters 
angeklagt !  .  .  . 

.Ja  wer  hätte  das  von  ihm  erwartet?  Die  Christlichsozialen  haben  c- 
i;-i  zahllosen  Versammlungen  erzählt,  ihr  „Witzblatt"  hat  Adler  abgebildet, 
wie  er  einen  christlichen  Arbeiter  mit  dem  Stocke  prügelt,  der  getaufte  Jude 
und  Antisemit  Dr.  Anton  Low  (an  der  Kralle  erkennt  man  den  Löwen' 
hat  die  Strafanzeige  erstattet,  die  Staatsanwaitschaft  erhob  tatsächlich  die 
Anklage  und  am  26.  Februar  1897  stand  Adler  vor  dem  Bezirksgericht  Alser- 
■trund.    Wahrhaftig,    Victor   Adler,    wegen    .Mißhandlung   eines   Arbeiters! 

Bei  der  Verhandlung  stellte  sich  natürlich  sofort  heraus,  daß  es  sich 
um  einen  frechen  Bubenstreich  der  Christlichsozialen  handelte.  Die  Verhand- 
lung ergab  folgendes: 

Am  23.  Jänner  stand  ein  Haiidlungsdienor  namens  Franz  Josef  K  n  o  I  l 
vor  Gericht,  weil  er  einen  jüdischen  Hausierer  mißhandelt  haben  sollte.  Die 
Szene,  die  sich  in  der  Inneren  Stadt,  in  der  Nähe  des  erzbischöflicheii 
Palais  abspielte,  erregte  unliebsames  Aufsehen.  Es  nahmen  sich  mehrere 
Pa,ssanten  des  geschlagenen  Hausierers  an  und  vörfolgten  den  Knotl. 
K  i  n  e  r  von  den  Verfolgern  schlug  ihn  mit  einem  Stock  über  den  Kopf,  so 
daß  er  einen  Moment  halbbetäubt  stehen  blieb.  Dieser  schlagfertige  Passant 
soll  nun,  wie  ein  Herr  .Anton  Reis  und  der  Wachmann  Graf  erzä-hlt 
haben  sollen,  der  Dr.  Victor  Adler  gewesen  sein.  Auf  dieses  „Soll' 
hin  erstattete  nun  Dr.  Low,  der  in  der  ersten  Verhandlung  'den  Knott  ver- 
trat, gegen  Dr.  Adler  die  Strafanzeige  und  führte  den  Reis  und  den 
Wachmann  Graf  als  Zeugen.  Dann  aber  wurde  die  Sache  sofort  ausgetrommelt, 
in  christlichsozialen  Versammlungen  besprochen  und  breitci-treten,  im 
„Kikeriki"  illustriert. 

Zur  Verhandlung  erschienen  nur  der  Privatbeteiligte  Knott  und  der 
Buchhalter   Anton    Reis.      Der   Kronzeuge,     Wachmann    (i  r  a  f,     war 


246  Adler  wegen  Mißhandlung  eines  Arbeiters  angeklagt ! 


merkwürdigerweise  nicht  erschienen,  und  Dr.  Low  beeilte  sich,  ihn  mit 
Krankheit  zu  entschuldigen.  Jedenfalls  kam  ihm  die  Krankheit  des  Herrn 
Graf  sehr  gelegen. 

Adler  erklärte,  nachdem  er  die  Anklage  gehört  hatte, 
daß  er  von  der  ganzen  Geschichte  nichts  wisse  und  ihr  absolut 
fernstehe.  Er  bleibe  bei  dieser  Erklärung  stehen  und  lasse  sich 
nicht  einmal  auf  einen  Alibibeweis  ein,  weil  er  sich  gar  nicht 
die  Mühe  machen  wolle,  nach  so  langer  Zeit  zu  konstatieren, 
wo  er  sich  damals  aufgehalten  habe. 

Es  wird  nun  festgestellt,  daß  sich  die  ganze  Prügelszene  zwischen 
9  und  10  Uhr  vormittagsi  abspielte. 

Adler:  Nun,  da  würde  es  mir  auch  nicht  einmal  schwer, 
ein  Alibi  nachzuweisen.  Um  diese  Zeit  kann  ich  nicht  in  der 
Inneren  Stadt  gewesen  sein,  denn  schon  seit  mehr  als  einem 
Jahre  komme  ich  nicht  vor  halb  10  Uhr  vom  Hause  weg. 
Ich  komme  nämlich  nie  vor  3  Uhr  früh  ins  Bett,  und  es 
ist  daher  begreiflich,  daß  ich  auch  nicht  vor  9  I^hr  vormittaüs 
ausgehe. 

Der  Privatbeteiligte  K  n  o  1 1  weiß  gar  nichts.  Er  ging 
zirka  vierzehn  Tage,  nachdem  er  den  Schlag  bekommen 
hatte,  durch  die  Köllnerhofgasse.  Da  klopfte  ihm  plötzlich 
jemand  rückwärts  auf  die  Schulter  und  sprach  ihn  an.  Es  war 
der  Buchhalter  Anton  Reis,  der  am  1.  Dezember  Zeuge  des 
Vorfalles  war.  D  e  r  habe  ihm  nun  gesagt,  daß  der  schlagfertige 
Herr  der  Dr.  Adler  gewesen  sein  soll.  Wenigstens  be- 
haupte dies  der  Wachmann  G  r  a  f.  Knott  erzählt  weiter, 
daß  er  sich  dann  beim  Wachmann  Graf  erkundigte,  und  der 
sagte,  er  g  lau  b  e,  der  Täter  sei  der  Dr.  Adler  gewesen. 
Merkwürdig  war,  daß  der  gute  Wachmann  diesen  seinen 
Glauben  durch  vierzehn  Tage  als  Geheimnis  in  seiner  Brust 
bewahrt  haben  sollte,  während  er  docli  pflichtgemäß  hätte  die 
Anzeige  machen  müssen. 

Der  staatsanwaltschaftliche  Funktionär  wartete  gar  nicht,  bis  der 
zweite  Zeuge  vernommen  war,  sondern  sah  ein,  daß  er  düpiert  w^ordon  sei, 
erhob  sich  und  erklärte,  daß  er  die  Ankla.ge  mangels  jeglichen  Tat- 
bestandes zurückziehe. 

Der  Richter  Adjunkt  Dr.  Langer  verkündete  nun  das  frei- 
sprechende Urteil,  worauf  der  Vertreter  des  Angeklagten,  Doktor 
IFarpner,  bekanntgab,  daß  sich  Adler  die  Verfolgung,  insbesondere  audi 
des  Herrn  Dr.  Low,  wegen  Verbreitung  einer  falschen  Be- 
schuldigung    vorbehalte. 


Er  darf  kein  Verbrechen  begangen  haben  I  24  t 

Auf  dem  Gange  trat  vor  allem  Herr  Reis  auf  Adler  zu  und  sagte: 
„Herr  Doktor,  ich  sehe  Sie  heute  zum  erstenmal.  Sie  waren  es  b  e- 
stimmt  nich  t.'" 

Dr.   Adler:    Warum  haben   die   Herren   dann   so   etwas 

verbreitet? 

Inzwischen  trat  Dr.  Low  hinzu  und  wollte  erzählen,  daß  er  mit  der 
Sache  in  gar  keinem  Zusammenhang  stehe  und  sehr  loyal  vorgegangen  sei. 

Dr.  Adler:  Na  freilich.  Deswegen  ist  der  Kronzeuge 
auch  krank  geworden.  Und  warum  haben  Sie  die  G'schicht' 
in  allen  Versammlungen  erzählt?  Wir  kennen  Sie  geuMU. 
AVir  werden  aber  schon  noch  sprechen  miteinander.  Merken 
Sie  sich  das. 

Dr.  Low  versuchte  noch  einige  Beteuerungen  und  schlich,  als  er  ^ai1, 
daß  er  damit  keinen  Effekt  erziele,  sehr  kleinlaut  und  verzagt  ab. 

Adler  erhob  dann  gegen  Dr.  Low  die  Ehrenbeleidigungsklage,  doch 
konnte  der  beleidigende  Wortlaut  der  in  einer  Versammlung  gehaltenen  Rede 
nicht  festgestellt  werden,  weshalb  der  christlichsoziale  Ehrenmann  frei- 
'üesprochen  wurde,  wenn  er  und  seine  Partei  auch  moralisch  ver- 
urteilt blieb. 


Er   darf  kein  Verbrechen   begangen    haben! 

In  einer  Versammlung  des  Sozialdemokratischen  Wahlvereines  am 
8.  November  1897,  als  die  Erbitterung  gegen  das  Ministerium  Badeni  vor  d;M- 
Explosion  stand,  hatte  Adler  eine  Rede  über  die  politische  Lage  gehalten 
und  den  polnischen  Ministerpräsidenten  scharf  angegriffen.  Da  Adler  voraus- 
gesehen hatte,  daß  eine  Verfolgimg  eintreten  werde,  hatte  er  absichtlich  sr» 
gesprochen,  daß  nur  eine  Verfolgung  wegen  Verbrechens  der  Aufreizung 
gegen  die  Staatsgewalt  erfolgen  könnte,  worüber  das  Schwurgericht  zu 
entscheiden  hätte.  Aber  es  nützte  nichts,  die  Anklage  wurde  auf  eine  Über- 
tretung der  „'Amtsehrenbeleidigung"  redressiert,  um  Adler  vor  den  tisicheren" 
Bezirksrichter  zu  bringen. 

Nach  dem  Bericht  des  Regierungsvertroters,  der  die  Versammlung  auch 
während  der  Rede  Adlers  auiflöste,  hatte 

Adler 

unter  anderem  gesagt:  „Solange  Badeni  am  linder  ist,  werden 
Sie  »Brot«  nicht  bekommen  .  .  .  Badeni  steht  an  der  Spitze  von 
Verbrechern  und  man  muß  eine  solche  verbrecherische  Re- 
gierung hassen." 

In  diesen  Äußerungen  erblickte  der  P  o  1 1  z  e  i  k  o  n  z  i  p  i  s  l  den  Tat- 
bestand des  Verbrechens  der  Aufreizung  zu  Haß  und  Verachtung  gegen  üe 
Staatsverwaltung  nach  §  65  a  Strafgesetz.  Dir  Staat-anwaltschafl   fand   sicli 


24 K  Er  darf  kein  Verbrechen  begangen  haben  ! 


aber  nicht  veranlaßt,  die  Auffassung  des  noch  unerfahrenen,  jungen  Beamten 
7.U  teilen,  und  meinte:  Besser  eine  sichere  Ehrenbeleidigung  als  die  sichönstc 
Aufreizung  zu  Haß  und  Verachtung,  die  aber  vor  die  Geschwornen  muß. 
Es  wurde  also  nach  bewährter  Praxis  vorgegangen,  und  Adler  hatte  sicli 
daher  am  9.  Dezember  1897  vor  dem  Bezirksgericht  Hernais  wegen 
--Beleidigung  von  Beliörden"   zu   verantworten. 

Adler 

machte  alle  Anstrenguug,  zu  verhindern,  daß  er  seinem  ordent- 
lichen Richter,  in  diesem  Falle  dem  Schwurgericht,  entzogen 
werde,  und  stellte  gleich  zu  Beginn  der  Verhandlung  fest,  daß 
er  unverhohlen  dem  H  a  ß  u  n  d  d  e  r  V  e  r  a  c  h  t  u  n  g  gegen 
die  Regierung  Radeni  Ausdruck  gegeben  habe.  Er  habe  in 
seiner  Rede  die  Sünden  dieser  Regierung  aufgerollt  und  aus- 
führlich dargelegt,  und  schließlich  in  wörtlich  folgendem  Satz 
resümiert :  „D  i  e  Regierung,  an  deren  Spitze 
Radeni  steht,  hat  sich  somit  einer  Reihe  von 
Verbrechen  schuldig  gemach  t."  Nun  erfolgte  eine 
Mahnung  des  Regierungsvertreters,  worauf  er  fortfuhr:  „Ja, 
o  h  n  e  Z  w  e  i  f  e  1,  jeder,  der  die  Taten  B  a  d  e  n  i  s 
k  0  11  11 1.  m  u  ß  H  a  ß  u  n  d  Vera  c  h  t  u  n  g  gegen  diese 
Regierung     empfinden." 

Der  als  Zeuge  vernommene  Polizeikunzipist  Ludwig  R  a  z  e  y  v.  R  a  z  a. 
tier  die  Rede  nicht  mitstenographiert,  sondern  bloß  burrent  mitgeschrieben 
Jiatte,  gibt  die  Möglichkeit  zu,  daß  dies  der  genaue  Wortlaut  der  inkrimi- 
nierten Äußerung  sei.  Der  Vorsitzende  der  Versammlung,  G  r  ö  b  n  e  r, 
erinnerte  sich  genau,  daß  der  Redepassus,  auf  den  hin  die  Versammlung  auf- 
gelöst wurde,  gelautet  habe:  .,Wer  'die  Taten  Badenis  kennt,  muß  Haß  und 
V  e  r  a  c  h  t  u  n  g  gegen  diese  Regierung  haben." 

Verteidiger  Dr.  H  a  r  p  n  e  r  (zum  Zeugen  Razey) :  Warum  haben  Sie  die 
Versammlung  aufgelöst?  —  Zeuge:  Weil  ich  seine  Worte  für  eine  Auf- 
reizung zum  Haß  hielt. 

Verteidiger:  Es  steht  fest  und  es  ist  nicht  zu  bezweifeln,  daß  die 
inkriminierte  Redewendung  eine  „Aufreizung  zu  Haß  und  Verachtung"  ist. 
K>  ist  unmöglich,  in  dieser  klaren  Äußerung  etwas  an- 
(I  e  r  e  s  z  ii  e  r  1'  1  i  c  k  e  n  als  il  a  s  V  e  r  1^  r  e  c  h  e  n  n  ach  i?  65  a,  o  der 
wenn  man  sie  schon  auf  eine  bestimmte  Behörde  be- 
ziehen will,  das  Vergehen  n  a^c  h  §  300.  Wie  die  Staatsanwaltschaft 
ihre  Auffassung,  daß  nur  eine  Ehrenbeleidigung  vorliege,  rechtfertigt,  kann 
uns  nicht  interessieren,  für  den  Richter  hat  nur  seine  tl  b  e  r  z  e  u  g  u  n  g. 
flicht  die  Auffassung  der  Staatsanwaltschaft  Bedeutung.  Er  ist  weder  Puppe 
nccii  ein  Unteroffizier,  der  auf  Befehl  der  Staatsanwaltschaft  einzuschwenken 
hat.  Ich  beantrage  also  die  Abtretung  des  Aktes  an  das  Landesgericht,  damit 
die  Anklage  wegen  Aufreizung  erhoben  und  der  Angeklagte  vor  seine 
ordentlichen   Richter,   vor  die    Geschwornen,   gestellt  werde. 


Er  darf  kein  \'erbrechen  begangen  haben  1  2'4S( 


Nun  erhob  ~ich  der  staatsanwaltschaftüche  Funktionär  Dr.  H  a  u  s  f-  r, 
um  diesen  Antrag  in  folgender,  höchst  einleuchtender  Weise  zu  bekämpfen: 
„Ich  spreche  mich  gegen  die  Abtretung  aus,  denn  ich  habe  meine  Weisung 
von  der  Staatsanwaltschaft,  die  den  Tatbestand  nach  §  6.5  in  den  inkrimi- 
nierten Worten  nicht  finden  kann.  Warum  sie  das  nicht  kann,  weiß  ich  nicht, 
sie  hat  es  aber  jedenfalls  genau  ausgetüftoll.  und  ihre 
Meinung  ist  für  mich  maßgebend." 

Der  Richter  Dr.  G  a  u  n  e  r  s  d  o  r  f  e  r  lehnte  den  Antrag  ab  mit 
der  seltsamen  Begründung,  daß  er  den  Akt  nicht  zurückleiten  könne,  da  nun 
einmal  die  Staalsanwaltschalft  das  Verfahren  nach  §  65  oder  §  300  ein- 
gestellt habe. 

Nach  dem  kurzen  Plädoyer  des  staatsanwaltschaftlichen  Funktionärs 
fühlte  der  Verteidiger  Dr.  Harpner  folgendes  aus:  Der  Vertreter  der  An- 
klage sagt,  er  wisse  nicht  die  Gründe,  die  den  Staatsanwalt  bewogen  haben, 
diesen  Fall,  der  eine  aufgelegte  Aufreizung  zu  Haß  un'd  Vorachtung  beinhalte, 
an  das  Bezirksgericht  zu  \-erweisen.  Ich  kenne  diese  Gründe  aber  ganz  genau 
und  werde  sie  offen  darlegen.  Man  will  einfach  den  Angeklagten  nicht  wegen 
,.Aufreizung"  vor  die  Geschwornen  bringen,  weil  eine  Verurteilung  wegen 
„Beleidigung"  vor  dem  Bezirksgericht  sicherer  zu  erzielen  ist.  Es  ist  eine 
aite  Geschichte,  doch  blcilit  sie  ewig  neu  —  und  wenn 
sie  just  passieret  —  dann  bricht  das  Recht  entz  w.e  i  .  .  . 
Richter  (unterbrechend):  Ich  kann  eine  Kritik  der  Staatsanwaltschaft 
nicht  zulassen!  —  Dr.  Harpn  er:  Daß  hier  keine  Beleidigung,  sondern  eine 
Aufreizung  vorliegt,  ist  klar  und  kann  nicht  bezweifelt  werden.  Würde  der 
-Angeklagte  wegen  Beleidigung  einer  Behörde  verurteilt,  so  wäre  das,  w  i  e 
Avenn  man  einen,  der  seinen  Gegner  mit  der  Hacke  tot- 
schlägt und  ihm  dabei  zuruft:  Pfui,  Schuft!  wegen  tät- 
licher Ehrenbeleidigung  verfolgen  wollte.  Was  der  Staatsanwalt 
meint,  ist  gleichgültig,  er  hat  nur  das  Recht,  anzuklagen  oder  nicht  anzu- 
klagen, die  Qualifikation  der  Tat  ist  aber  Sache  des  Richters.  Er  ist 
nicht  verpflichtet,  sich  einer  unrichtigen  Auffassung  des  Staatsanwalts  zu 
fügen,  am  allerwenigsten  in  einer  Sache,  wo  die  Absicht  des  Angeklagten  so 
klar  zutage  liegt.  Es  ist  lächerlich,  in  einer  so  bewegten  Zeit,  wo  alles  auf- 
reizend wirken  muß,  in  einem  Schulbeispiel  von  „Aufreizung"  ehre  Beleidi- 
gung von  Behörden  erblicken  zu  wollen.  Der  Verteidiger  wei^t  noch  nacb, 
daß  nach  dem  Sinne  der  Entscheidungen  des  Kassationshofes  die  Regierung 
überhaupt  nicht  als  eine  Behörde  angesehen  werden  kann,  wie  etwa  ein 
Gendarmeriepostenkoramando   oder  eine  Bezirkshauptmannschaff. 

Adler: 

Ich  liiiho  daiiial.-  mit  vollem  Bewußtsein  gesprochen,  und 
ich  rechne  es  mir  zum  Verdienst  an,  die  Ee^ierun^  Badcni  al> 
das  bezeichnet  zu  haben,  was  sie  gewesen  ist.  Den  Badeni  aber 
zu  ..beleidigen"  ist  mir  nicht  eingefallen,  das  wäre  tief  unter 
der  AVürde  meiner  Aufgabe  gewesen.  Jeder,  der  das  Verdienst  in 
Anspruch  nehmen  kann,  an  der  Beseitigung  Badenis  mitgewirkt 


250  Er  darf  kein  \'er brechen  begangen  haben  ! 

zu  haben,  kann  auf  flie  angebliche  „Milde"  verzichten,  die  darin 
liegen  soll,  sein  Handeln  zu  einer  Beleidigung  zu  degradieren. 
Ich  verlange  nichts  anderes  als  mein  Recht. 

Der  Richter  verurteilte  nun  Adler  zu  vierzehn  Tagen  mit 
einmaligem  Fasten  verschärften  Arrests,  mit  der  Begrün- 
dung, daß  'die  Verfolgung  wegen  Beleidigung  von  Behörden,  einer  zulässigen 
milderen  Auffassung  des  Tatbestandes  der  Aufreizung  geg^n  Bebörden 
entspreche.    („Arbeiter-Zeitung"    Nr.    339   vom    10.    Dezember    1897. 

Dr.  Adler  meldete  die  Berufung  an. 

Das  Urteil  aufgehoben. 

Die  Verhandlung  über  die  Berufung  fand  am  23.  März  1898  vor  dem 
Landesgericht  statt.  Vorsitzender  war  Landesgerichtsrat  F  e  i  g  1. 

Der  Verteidiger  Dr.  Harpner  trat  für  die  Aufhebung  des  Urteil?, 
Staatsanwalt  Coulon   für  die  Bestätigung  ein.  Dann  sprach 

Adler: 

Die  Anklage  sagt,  ich  hätte  ohne  An  f  ü  h  r  u  n  g  h  e- 
s  t  i  m  m  t  e  r  Tatsachen  die  Regiernng  beleidigt.  Das  ist 
nicht  richtig,  was  schon  aus  dem  Referat  des  Reg'ierungs- 
vertreters  hervorgeht.  Ich  habe  nicht  „beleidigt",  sondern  auf 
Grund  einer  ganzen  Reihe  von  Tatsachen  ein  politisches 
Urteil  über  diese  Regierung  gefällt.  Eine  Beleidigung  war 
das  nicht,  und  darüber  zu  urteilen,  ob  das  Aufreizung 
war,  ist  dieser  Gerichtshof  nicht  kompetent.  Ich  bitte,  mit  dies-.n- 
seit  einiger  Zeit  geübten  Methode,  bloß  um  das  Schwurgericht  zu 
umgehen,  das  Amt  des  Politikers  herabzuwürdigen,  indem  man 
ihn  wie  einen  schimpfenden  Buben  behandelt,  endlich  zu 
brechen.  Ich  bitte  den  Gerichtshof  nicht,  mich  freizusprechen, 
sondern  sich  für  i  n  k  o  m  p  e  t  e  n  t  zu  erklären. 

Nach  längerer  Beratung  kam  der  Gerichts  h  u  f  zu  folgender  E  n  l- 
scheidung:  Das  angefochtene  Urteil  des  Bezirksgerichtes  Hernais  wird 
anigehoben  und  der  Akt  an  das  Bezirksgericht  zurückgeleitet,  damit  dieses 
die  weitere  gesetzliche  Veranlassung  treffe. 

In  der  Urteilsbegründung  wird  ausgeführt,  daß  in  der  inkriminierten 
Stelle  nicht  die  einzelnen  Minister  in  bezug  auf  ihre  Amtsführung,  sonder?) 
die  Regierung  als  solche,  die  Staatsverwaltung,  angegriffen  sei.  Unter 
Regierung  könne  man  eine  bestimmte  Behörde  nicht  verstehen,  wie 
sich  schon  aus  dem  Gegensatz  ergibt  zwischen  §  65,  der  vom  Verbrechen 
der  Störung  der  öffentlichen  Ruhe,  begangen  durch  Aufreizung  wider 
die  Staatsverwaltung,  handelt,  und  §  300,  der  die  Aufreizung  gegen 
einzelne   Organe    der   Regierung   oder  Behörden   als   Vergehen    verfolgt; 


Kr  darl  kein  Verbrechen  begangen  haben !  251 

sei  aber  die  Regierung  nicht  identisch  mit  einer  bestimmten  Behörde,  so 
könne  von  einer  Verfolgung  nach  §  491  Str.-G.  und  Artikel  V  keine  Rede  sein. 
Die  Regierung  sei  unter  den  viel  ausgiebigeren  und  kräftigeren  Schutz  des 
§  65  Str.-G.  gestellt,  vergleichbar  dem,  den  die  Person  des  Monarchen  genießt. 
Wenn  der  vom  Angeklagten  angegebene  Wortlaut  richtig  sei,  liege  also  das 
Verbrechen  nach  §  65  a  vor. 

Bezüglich  der  Verfolgung  nach  §  65  lit.  a  liege  nun  allerdings  ein 
Antrag  der  Staatsanwaltschaft  nicht  vor.  .'Vber  nach  dem  Geist  unserer 
Strafprozeßordnung  könne  kein  Gericht  gezwungen  werden, 
eine  von  der  Staatsanwaltschaft  unter  Anklage  gestellte  Tat  anders  zu 
qualifizieren,  als  dies  der  Überzeugung  des  Gerichtes 
entspreche.  Es  sei,  sobald  eben  nach  Ansicht  des  Gerichtshofes  der  Tat- 
bestand des  vor  die  Geschwornen  gehörigen  Verbrechens  nach  §  65  vorliege, 
Sache  des  Gerichtes,  die  Zuständigkeit  ohne  Rücksicht  auf  die 
Qualifikation  der  Tat  seitens  der  Staatsanwallschaft  zu  wahren.  Aus  diesem 
Grunde  habe  der  Gerichtshof,  nachdem  er  eben  den  Tatbestand  einer  Amts- 
I  hrenbeleidigung  nicht  vorfinde,  das  Urteil  aufgehoben,  und  es  sei 
nun  Sache  des  Bezirksgerichtes,  die  weitere  Veranlassung  zu 
I  r  e  I  f  e  n,  die  eventuell  zur  Verfolgung  nach  §  65  lit.  a  führen  könne. 
..Arbeiter-Zeitung"   Nr.  82   vom  2i.  März    1898.> 

Die  Aufhebung  wieder  aufgehoben. 

Gegen  diese  vernünftige  Entscheidung  flüchtete  sich  die  Staatsanwalt- 
schaft zum  Obersten  Gerichts-  als  Kassationshof,  und  siehe 
da,  dies-e  oberste  Gerichtsbehörde  hatte  ein  Einsehen  mit  den  politischen 
Bedürfnissen  der  Regierung,  hob  am  .3.  Mai  die  Entscheidung  des 
Landesgerichtes  auf  und  tnig  dem  Landesgericht  die  neuerliche 
Verhandlung  auf. 

Das  Landesgericht  spricht  auf  einem    Umweg  frei. 

Das  Berufungsgericht  verhandelte  also  unter  ilem  Vorsitz  des  Landes- 
aerichtsrates  Dr.  Trinks  am  6.  Juni.  Es  wurde  die  Entscheidung  des 
Kassationshof'Cä  verlesen,  die  diese  neuerliche  Verhandlung  notwendig  machte. 
Sie  besagt,  daß  die  Aufhebung  des  erstrichterhchen  Urteils  und  die  Zurück- 
ieitung  behufs  eventueller  Verfolgung  wegen  Verbrechens  der  Störung  der 
Offeatlichen  Ruhe  eine  vei-pönte  :,Reformatio  in  peius"  sei,  das  heißt,  der 
Angeklagte,  der  zu  seinen  Gunsten  die  Benifung  ergriffen  habe,  sei  n  >i  n 
in  Gefahr,  unter  eine  noch  schwerere  Anklage  gestellt 
/;  u  werden.  Hiezu  konstatierte  der  Verteidiger  Dr.  H  a  r  p  n  e  r,  daß  er 
leim  Bezirksgericht  den  Antrag  gestellt  habe,  den  Akt  an  das  Landos- 
gericht  behufs  Verfolgung  des  Angeklagten  wegen  Verbrechens  nach  §  65  a 
abzutreten,  und  daß  er  sowohl  wegen  der  .Abweisung  dieses  Antrages  als  auch 
gegen  Schuld  und  Strafe  die  Berufung  anmeldete.  Daran  anknüpfend  beschloß 
der  Gerichtshof  die  Vertagung  der  Verhandlung. 

Am  11.  Juli  1898  wurde  die  Verhandlung  fortgesetzt. 

Rührend  war  es,  wie  der  Staatsanwalt  den  Angeklagten  gegen  den 
Angeklagten    selbst    verteidigte.    Sein    berufener   Verteidiger   konnte    sich 


Bei  den  sti-eikenden  Toxtilaiheitern  in  Brunn 


nämlich  nicht  entschließen,  in  den  inkriminierten  Äußerungen  etwas  anderes 
zu  erblicken  als  die  gewollte  und  bewußte  Störung  der  öffentlichen  Ruhe 
und  Ordnung.  „Nimmermehr!''  entgegnete  der  Staatsanwalt.  „So  was  tut  der 
Dr.  Adler  nicht.  Er  ist  ein  ernster  Politiker,  ein  milde  und  human  denkender 
Mann,  dem  es  fernliegt,  Haß  und  Verachtung  säen  zu  wollen."  Andere  Staats- 
anwälte haben  das  Gegenteil  behauptet  und  recht  schwarz  gemalt,  aber  in 
diesem  Falle  war  merkwürdigerweise  die  Verurteilung  desto  leichter  zu 
erzielen,  je  weißer  das  Unschuldskleid  des  Sünders  erglänzte. 

Sie  erfolgte  schließlich  doch  nicht,  und  der  Appellsenal  sprach  Adler 
frei  mit  der  Begründung,  daß  ihm  der  animus  injuriandi  (Absicht  zu  belei- 
digen; gefehlt  habe.  Die  Auffassung,  daß  die  Regierung  eine  Behörde  sei. 
die  man  beleidigen  könne,  müsse  zwar  festgehalten  werden,  und  es  liege 
der  Tatbestand  der  Ehrenbeleidigung  vor,  aber  der  Angeklagte  habe  die  Worte 
„Verbrechen"  und  „verbrecherisch'"  nicht  im  .Sinne  ehrenrühriger  Handlungen 
gebraucht,  sondern  damit  sagen  wollen,  daß  die  Regierung  schwere  poli- 
tische Sünden  begangen  habe.  r,,Arlieiter-Zeitnng"  Xr.  190  \oni 
12.  .Juli  1898.) 

Damit  war  zwar  vom  Gericht  -das  Prinzip'"  festgehalten,  aber  in  der 
Praxis  hatte  Adlers  Hartnäckigkeit,  lieber  ein  „Verbrecher""  zu  sein  als  ein 
Ehienbeleidiger,  gesiegt. 


Adler  übernimmt   sofort  die  Verantwortung. 

Im  April  1898  hatte  die  „Zeit"  einen  Vertrag  zwischen  dem  Minister- 
präsidenten Badeni  und  dem  Eigentümer  und  Herausgeber  der  „Reichswehr'', 
Gustav  David,  verüffentlicht,  wodurch  diesem  patriotischen  Blatt  nach- 
gewiesen war,  daß  es  von  der  Regierung  bezahlt  war.  Die  ..Arbeiter-Zeitung" 
druckte  den  Artikel  ab  und  erklärte  den  Herrn  David  für  einen  „aus- 
gepichten Lumpen"  und  sein  Verhalten  als  „Abgrund  sittlicher  Fäulnis".  Dv 
dieser  Herr  in  seiner  Zeitung  erklärte,  er  werde  die  Ehicnbeleidigungsklage 
einreichen,  teilte  die  „Arbeiter-Zeitung"  sofort  mit,  daß  der  Redakteur  Fritz 
Austerlitz  die  Artikel  geschrieben  und  A'dler  sie  voi'  der  Drucklegung 
gelesen  habe,  so  daß  beide  vor  dem  Schwurgericht  zur  Verantwortung  ge- 
zogen werden  konnten.  Der  Ehrenmann  hütete  sich  aber  davor,  er  brachte 
zunächst  scheinhalber  nur  eine  Ehrenbeleidigungsklage  beim  Bezirks- 
gericht ein,  und  zwar  nur  gegen  Austerlitz  und  mit  der  „Begründung", 
daß  die  Artikel  in  der  Redaktion  vorgelesei^  worden  seien,  also 
eine  mündliche  Ehrenbeleidigung  vorliege.  Als  die  Verhandlung  vor  dem  Be- 
zirksgericht für  den  f).  .Tuli  ausgeschrieben  war,  zog  der  Herr  aber  auch  diese 
Klage   zurück. 


Bei  den  streikenden  Textilarbeitern  in  Brunn. 

Um  eine  Stunde  Schlaf  traten  im  April  1899  die  Sklaven  von 
55  Textilfabrikanten  in  Brunn  und  Umgebung  in  den  Streik.  Der  elf- 
stündige    Arbeitstag    sollte    um  eine   Stunde    verkürzt    werden.     Über    zwei 


Bei  (Ion  streikenden  Textilarbeitern  in  Brünu  '2o3 

Monate  dauerte  der  Kampf,  bei  dem  sich  die  gesamte  k.  k.  Staatsgewalt  in 
hrutalster  Weise  in  den  Dienst  der  Unternehmer  stellte.  Gendarmerie  und 
Bezirkshauptmannschaft  übten  den  denkbar  größten  Druck  auf  die  hungern- 
den Weher.  Im  Juni  begab  sich  Victor  Adler  in?  Streikgebiet,  um  mitzuraten 
und  mitzuhelfen  und  auf  die  Behörden  einzuwirken.  Am  21.  Juni  kam  es 
zu  aufregenden  Szenen  vor  dem  Brünner  Arbeiterheim.  Die  Streikenden 
waren  versammelt  und  warteten  auf  die  zwei  Kilo  Mehl,  die  sie  als 
Streikunterstützung  erhielten.  Adler,  Dr.  Czech,  Habermann  sprachen  über 
den  Stand  des  Streiks.  Als  einige  erregte  Zwischenrufe  gegen  die  Streik- 
brecher fielen,  verhaftete  ein  Detektiv  einen  Arbeiter  mitten  aus  den 
6000  erbitterten  Menschen.  Die  Umstehenden  drangen  auf  den  Detektiv 
ein,  die  weiter  Stehenden  glaubten,  es  handle  sich  um  einen  „Fabrikspitzel" 
und  er  wurde  geprügelt,  konnte  aber  durch  das  Eingreifen  der  Ordner  noch 
rasch  genug  weggebracht  werden,  ohne  ernstlichen  Schaden  zu  erleiden. 
Alles  war  schon  wieder  ruhig,  als  zur  Sühnung  der  Tat  zwei  Züge  Wachleute 
mit  dem  Polizeikommissär  Zoubek  an  der  Spitze  vor  dem  Arbeiterheim 
aufmarschierten.  Dr.  Czech  hatte  die  Geistesgegenwart,  die  Tore  rasch 
schließen  zu  lassen,  um  der  Menge  den  aufreizenden  Anblick  zu  entziehen. 
Der  Polizeikommissär  drang  mit  vier  Wachleuten  in  den  Hof,  um  die  Ver- 
sammlung aufzulösen  und  als  er  sah,  daß  sie  bereits  beendet  sei,  wollte 
'■r  feststellen,  daß  das  Versammlungsgesetz  übertreten  worden  sei,  weil  die 
Versammlung  nicht  bei  der  Behörde  angezeigt  sei  (und  dann  wahrscheinlich 
verboten  worden  wäre).  Es  wurden  ihm  die  Redner  genannt  und  ihm  frei- 
gestellt, die  Amtshandlung  einzuleiten.  Gleichzeitig  wurde  er  auf  die 
ungeheure  Verantwortung  aufmerksam  gemacht,  die  er  auf  sich  lade,  wenn 
er  die  Wachleute  nicht  sofort  wegbringe.  Nach  längeren  Verhandlungen  mit 
.\dler,  Czech  und  anderen  Vertrauensmännern  zog  er  mit  der  Wache  ab, 
Adler  und  Genossen  gelang  es,  die  Arbeiter  dabei  zur  Ruhe  zu  verhalten, 
so  daß  kein  Schimpfwort  fiel.  Adler  und  Czech  wurden  dann  zum 
Polizeidirektor  vorgeladen,  der  ihnen  die  Strafanzeige  wegen  Verletzung  des 
Versammlungrgesetzes  in  Aussicht  stellte,  während  sie  ihm  ernsthafte  Vor- 
stellungen über  das  provokatorische  Verhalten  der  Polizei  machten,  mit 
dem  Erfolg,  daß  sie  beruhigende  Zusicherungen  erhielten. 

Ein  feudaler  Bezirksrichter. 

Am  1.  August  1899  standen  von  dem  Bezirksgericht  in  Brunn 
Dr.  Adler,  Dr.  Czech  und  Habermann,  angeklagt  der  Übertretung 
des  Versammlungsgesetzes,  begangen  dadurch,  daß  sie  am  21.  Juni  im 
Arbeiterheim  gesprochen  hatten. 

Die  Verhandlung  bot  ein  sehr  seltsames  Bild.  Als  Bezirksrichter 
fungierte  Landesgerichtsrat  Baron  Za  wisch,  der  Sprosse  eines  feudalen 
Geschlechts,  ein  Herr,  der  zwar  die  ererbte  Höflichkeit  vergessen,  aber 
nicht  gelernt  hatte,  die  Gegenwart  zu  verstehen.  Ein  Richter,  der  sich 
herausnimmt,  die  Mahnung  an  die  Textilarbeiter,  a  u  s  z  u  h  a  1  t  e  n,  als 
Hetzerei  zu  bezeichnen,  gehörte  selbst  damals  in  Österreich  zu  den 
seltensten  Raritäten.  Der  Verlauf  der  Verhandlung  war  folgender: 


254  Bei  den  streikenden  Textilarbeitern  in  Brunn 

Adler 

erklärte  zunächst,  er  sowie  seine  Mitbeschuldigten  hätten  aller- 
dings damals  zu  den  angesammelten  Arbeitern  gesprochen, 
jedoch  hätten  sie  keineswegs  eine  Versammlung  v  e  r  a  n  s  t  a  1- 
t  €  t,  was  allein  eine  strafbare  Handlung  sein  könnte.  Schon 
Adler  wurde  während  seiner  Veranwortung  vom  Richter 
mehrfach  angeschnauzt. 

Dr.  C  z  8  c  h  verantwortete  sich  in  derselben  Weise  und  erkläile 
die  schriftlich  vorliegende  Aussage  des  Polizeikommissärs  Zoubek  als 
unrichtig.  Zoubek  hätte  nämlich  berichtet,  auf  die  Frage,  wer  das  Präsi- 
dium geführt  und  die  Ordner  aufgestellt  habe,  habe  Dr.  Czech  geantwortet : 
Das  machen  wir  uns  alles  selber. 

Habermann  sagte,  es  seien  keine  eigentlichen  Reden  gehalten 
worden,  aber  die  Arbeiter  wären  begreiflicherweise  begierig  gewesen,  Neue? 
über  den  Stand  des  Streiks  zu  hören. 

Baron  Za  wisch:  Und  was  haben  Sie  ihnen  gesagt? 

Habermann:  Daß  alles  noch  beim  alten  sei,  und  daß  sie  noch 
weiter  aushalten  müssen. 

Za  wisch:  Und  das  nennen  Sie  eine  Neuigkeit?  Das  nenne  ich  eine 
Aufhetzung!  Neuigkeit,  das  ist,  wenn  etAvas  gestohlen  wird  oder 
ein   Hund   einen  beißt.  Das   ist  Hetzerei! 

Habermann:   Ich  verwahre  mich   gegen  diese  Bezeichnung. 

Zawisch:  Hier  rede  ich,  was  ich  will!  Angeklagter  Czech,  Sic 
bezeichnen  die  Aussage  des  Kommissärs  als  unrichtig.  Dann  werde  ich  die 
Verhandlung  vertagen,  um  ihn  einzuvernehmen. 

Czech:  Vor  allem  ersuche  ich,  die  Äußerungen  des  A'^orsitzenden. 
unsere  Reden   seien  Hetzereien,  zu  protokollieren! 

Zawisch:  Hier  wird  nichts  protokolliert,  ich  rede,  was  ich  will: 
jetzt  geht's  nicht  mehr  so  beim  Bezirksgericht  wie  früher  einmal!  .  .  . 

Adler:  Aber  wir  sind  doch  nicht  wehrlos  hier,  wie 
kommen  wir  dazu  ,  .  . ? 

Zawisch:  Meinen  Sie,  daß  Sie  im  Arbeiterheim  sind? 
Czech:  Aber  auch  nicht  im  gräflichen  Kasino! 
Zawisch:  Die  Verhandlung  ist  vertagt. 

Diese  Art  Verhandlungsführung  scheint  aber  doch  „oben'"  unangenehm 
l^erührt  zu  haben,  denn  bei  der  zweiten  Verhandlung  am  28.  August  war 
der  feudale  Richter  durch  den  Genchtssekretär  Rein  h  alter  ersetzt.  Die 
Angeklagten  waren  durch  Dr.  Weizmann  vertreten.  Der  Kronzeuge  Polizei- 
kommissär Dr.  Zoubek  mußte  zugeben,  daJß  derartige  Ansammlungen 
von  Streikenden  im  Arbeiterheim  täglich,  und  zwar  durchaus  nicht  heimlich 
oder  ohne  Wissen  der  Polizei  stattgefunden  haben,  daß  also  die  damalige 
Versammlung   nicht  erst  veranstaltet   worden   sei.   Die   Verteidigung   machte 


Wegen  Auflaut  verurteilt !  —  Steckengebliebene  \'erfolgungen  255 

geltend,  daß  das  Versammlungsgesetz  nur  die  Veranstalter  einer  Ver- 
sammlung, nicht  aber  die  Redner  für  deren  Anmeldung  bei  der  Behörde 
verantwortlich  mache. 

Der  Richter  konnte  sich  diesem  klar  zutage  liegenden 
Sachverhalt  nicht  verschließen.  Adler,  C  z  e  c  h  und  Habe  r- 
]n  a  n  n  wurden  freigesprochen. 


Wegen  Auflauf  verurteilt! 

Die  letzte  Anklage  und  Verurteilung  Adlers  erfolgte  am  21.  Juli  1899 
beim  Landesgericht  Wien  wegen  Vergehens  des  ^Auflaufs",  „begangen"  bei 
der  Arbeiterdemonstration  gegen  den  christlichsozialen  Schwindel  mit  der 
Oemeinderatswahlreform.  Adler  wurde  zu  einem  Monat  strengen 
Arrests  verurteilt.  Die  Vorgeschichte  und  der  Verlauf  der  Verhandlung  sind 
im  Kapitel  „Adler  bei  Demonstrationen"  geschildert.  Allgemein 
wurde  es  als  eine  Schande  empfunden,  daß  die  Richter  noch  zu  dieser  Zoll 
gegen  Adler  solch  ein  gehässiges  Urteil   fällten. 


Steckengebliebene  Verfolgungen. 

Die  Diskussion  über  den  Generalstreik  zur  Erringung  des  all- 
gemeinen Wahlrechts  erregte  das  Mißfallen  der  Regierung,  und  die  Staats- 
anwälte hatten  viel  zu  tun.  Wegen  eines  Artikels  am  8.  September  1893 
„Zur  Wahlrechtsbewegung'"  wurde  gegen  Dr.  Adler  und  Bret- 
schneider  die  Anklage  auf  Störung  der  öffentlichen  Ruhe  und  Ordnung 
erhoben.  Die  Anklageschrift  war  vom  10.  Oktober  1893  datiert,  aber  am 
19.  Jänner  189^  („Arbeiter-Zeitung")  beschwerte  sich  Adler,  daß 
noch  immer  keine  Verhandlung  ausgeschrieben  sei,  während  die  später 
erhobene  Anklage  gegen  Schrammel  wegen  eines  gleichen  Artikels  im 
Fachblatt  der  Drechsler  rasch  betrieben  und  zu  einer  Verhandlung  vor  dem 
Schwurgericht  (mit  Verurteilung  Schrammeis  zu  drei  Monaten  strengen 
Arrests)  führte.  Aber  der  Staatsanwalt  hatte  trotz  dieses  Erfolges  keine 
Lust,  es  mit  Adler  zu  versuchen,  und  der  Prozeß  kam  nicht  zustande. 

Wegen  einer  Rede,  die  Adler  am  31.  Mai  1895  in  Reichenberg  im 
Fachverein  der  Textilarbeiter  hielt,  leitete  die  Staatsanwaltschaft  beim 
Reichenberger  Kreisgericht  die  Verfolgung  nach  §§  300  und  302  (Vergehen 
gegen  die  öffentliche  Ruhe  und  Ordnung)  ein.  Doch  hat  man  es  sich  überlegt, 
weil  man  an  dem  ersten  Schwurgerichtsprozeß  doch  genug  hatte,  und  Adler 
hörte  nichts  mehr  von  der  Verfolgung. 

Am  31.  Juli  1899  hielt  Adler  in  Brunn  eine  Rede  gegen  den  Regierungs- 
absolutismus und  die  mit  dem  §  14  erfolgte  Erhöhung  der  Zuckersteuer. 
Wegen  dieser  Rede  leitete  das  Landesgericht  in  Brunn  die  Voruntersuchung 
gegen  Adler  wegen  Verbrechens  der  Aufreizung  gegen  die  Staatsgewalt 
(§  65)  und  wegen  Vergehens  der  Aufreizung  gegen  Behörden  (§  300)  ein. 
Man  überlegte  sich's  aber,  und  Adler  hörte  nichts  mehr  davon. 


256  Rechtsanwälte  über  Adler 


Rechtsanwälte  über  Adler. 

Von  den  Rechtsanwälten,  die  Adler  bei  seinen  Prozessen  vertreten 
haben,  sind  nur  mehr  einige  am  Leben.  Auf  meine  Bitte,  mir  einiges  über 
ihre  Erinnerungen  an  Adler  mitzuteilen,  sind  mir  die  folgenden  Briefe,  wo- 
für ich  hier  den  besten  Dank  ausspreche,  zugekommen.  Ich  drucke  die  betref- 
fenden .Stellen  mit  ihrer  Erlaubnis  hier  ab. 

Dr.  Haipner. 

Die  an  mich  gerichtete  Frage,  welche  Erfahrungen  ich  in  meiner  Eigen- 
schaft als  Verteidiger  des  unvergeßlichen  Victor  Adler  gemacht  habe  — 
und  ich  habe  in  den  neunziger  Jahren  recht  oft  Gelegenheit  gehabt,  ihn  zu 
verteidigen  —  kann  ich  nur  mit  dem  etwas  seltsam  klingenden  Salze  be- 
antworten: Es  war  ein  Vergnügen,  Victor  Adler  zu  verteidigen!  Er  hatte, 
möchte  ich  sagen,  alle  Eigenschaften,  die  sich  ein  Verteidiger  an  seinem 
Klienten  wünscht;  Er  war  ehrlich,  klug  und  furchtlos.  Seine  Ehrlichkeit 
veranlaßte  ihn,  auch  vor  Gericht  niemals  etwas  zu  beschönigen,  was  er 
getan  hatte,  niemals  seine  Gesinnung  zu  verleugnen,  die  in  seinen  Reden 
oder  in  seinen  Artikeln  zum  Ausdruck  gekommen  war,  niemals  zu  posieren 
oder  sich,  wie  das  so  manche  Politiker  vor  Gericht  tun,  in  der  Rolle  des 
Märtyrers  zu  gefallen.  Bewundernswert  war  seine  Furchtlosiigkeit  und  Kalt- 
blütigkeit. Auf  die  Delikte,  derentwegen  er  so  oft  angeklagt  war  —  ich  nenne 
hier  nur  die  damals  so  häufig  vorkommenden  Delikte:  Hochverrat,  Störung 
der  öffentlichen  Ruhe  und  dergleichen  mehr  —  waren  die  S'Chwersten 
Kerkerstralen  gesetzt;  und  wer  an  die  damaligen  Verhältnisse  denkt  —  ich  er- 
innere da  an  die  damalige  Gesinnungsart  der  Geschwornen  und  den  Vorsitzen- 
den Holzinger  —  mußte  sich  im  Falle  einer  Verurteilung  auf  schwere 
Strafen  gefaßt  machen.  Das  machte  aber  auf  Victor  Adler  nicht  den  geringsten 
Eindruck.  So  ruhig  wie  er  in  einer  Parteiversammlung  sprach,  verantwortete 
t-r  sich  vor  den  Geschwornen  oder  den  gelehrten  Richtern,  und  ich  habe 
niemals  bemerkt,  daß  er  nur  eine  Sekunde  lang  an  die  ihm  drohende  Strafe 
dachte.  Im  Gegenteil:  Für  ihn  war  jede  Verhandlung  eine  ihn  überaus  inter- 
essierende Gelegenheit,  seine  Ansichten  vor  einem  anderen  als  dem  gewohnten 
Forum  vorzutragen  und  zu  vertreten.  Er  dachte  nie  an  etwas  anderes,  als 
daran,  wie  er  durch  sein  Auftreten  vor  Gericht  seiner  geliebten  Partei  nützen 
könnte,  und  es  war  ihm  ganz  gleichgültig,  ob  er  durch  seine  Äußerungen 
dem  gefürchteten  Holzinger  gefiel  oder  nicht.  Seine  Klugheit,  die  natürlicli 
auch  vor  Gericht  nie  versagte,  hielt  ihn  nicht  ab,  gelegentlich  in  der 
schärfsten  Weise  gegen  Angriffe  des  Staatsanwalts  oder  des  Vortilzenden  zu 
reagieren,  wenn  er  diese  Angriffe  mehr  gegen  die  Partei  oder  deren  Pro- 
gramm, als  gegen  ihn  selbst  gerichtet  glaubte.  Ich  erinnere  mich  da  folgender 
Szene:  Holzinger,  der  bestrebt  war,  Victor  Adler  in  den  Augen  der 
Geschwornen  zu  diskreditieren,  auf  die  dieser  durch  seine  klugen  und  ruhigen 
Ausführungen  offenbar  Eindruck  gemacht  hatte,  richtete  an  Adler,  der  den 
Ge&chwornen  auseinandergesetzt  hatte,  welcher  Unterschied  zwischen  gewalt- 
samer Revolution  und  Revolution  der  Geister  sei,  die  Frage:  „Halten  Sie 
also  unter  allen  Umständen  Gewalt  zur  Durchsetzung  revolutionärer  Forde- 
rungen für  ausgeschlossen?",  eine  Frage,  wodurch  er  Adler  in  Verlegenheit 


Rechtsanwälte  über  Adler 


^u  bringen  glaubte.  Dieser  aber  zögerte  nicht  eine  Sekunde  und  antwortete 
einfach:  „Ich  kann  natürlich  für  die  Weltgeschichte  keine  Garantie  über- 
r.ehmfn."  Auch  wenn,  was  ja  hie  und  da  vorkam,  Victor  Adler  mehrere 
Wochen  Arrest  verbüßen  mußte,  trug  er  das  mit  der  größten  Seelenruhe. 
Er  erklärte  mir  öfters,  wenn  ich  ihn  im  Arrest  besuchte,  das  <ei  eigentlich 
.-^eine  schönste  Zeit,  denn  da  hätte  er  Ruhe,  zu  studieren  und  nachzudenken. 

Mit  einem  Worte:  das  Bild,  das  sich  jeder,  der  den  großen  Mann 
gekannt  hat,  von  ihm  machte,  verändert  sich  auch  nicht,  wenn  man  an 
Adler  als  Angeklagten  denkt.  Sein  Verteidiger  hatte  eigentlich  nur 
■eine  schwere  Aufgabe:  Er  mußte,  da  ja  Adler  kein  Kompromiß  kannte 
und  sich  auf  die  Gefahr  hin,  verurteilt  zu  werden,  vor  den  Geschwornen 
gar  kein  Blatt  vor  den  Mund  nahm,  trachten,  eine  Brücke  zu  der  Auf- 
fassung der  Geschwornen  zu  finden,  die  ja  damals  fast  ausschließlich  der 
rein  bürgerlichen  Klasse  angehörten.  In  der  Erfüllung  dieser  Aufgabe  zog 
ich  mir  nicht  selten  gutmütig-ladelnde  Bemerkungen  Adlers  zu,  der  mich 
manchmal  in  seiner  gemütlichen  Art  im  Privatgespräch  nach  einer  Ver- 
liandlung  einen  -,Schwindler"  nannte,  weil  ich  mich  bemüht  halte,  den 
■Ceschwornen  klarzumachen,  daß  doch  die  inkriminierten  Äußerungen  oder 
Artikel  Adlers  eigentlich  gar  nicht  so  gefährlich  seien.  Diese  Äußerungen 
hörte  ich  immer  sehr  gern,  denn  sie  erfolgten  zum  Glück  immer  nur,  wenn 
Adler  freigesprochen  worden  war. 

Ich  komme  also  auf  meine  Eingangsworte  zurück:  Es  war  ein  Ver- 
gnügen, Adler  zu  verteidigen,  und  es  ist  ein  wehmütiger  Genuß,  sich  an  die 
heute  fast  vergessene  Zeit  zu  erinnern,  da  auch  im  Gerichtssaal  die  Kämpfe 
.um  die  Zukunft  ausgefochten  wurden. 


Dr.  Karl  Ornstein: 

Ich  habe  Herrn  Dr.  Victor  Adler  \or  ungefähr  30  Jahren  in  mehreren 
kleineren  Prozessen  wegen  Beleidigung  verschiedener  Behörden  vertreten. 
Derlei  Anklagen  waren  bekanntlich  damals  stets  auf  der  Tagesordnung,  so 
daß  die  —  meist  bezirksgerichtlichen  —  Verhandlungen  kein  Aufsehen  mehr 
erregten.  Es  bot  sich  dabei  selbst  für  einen  Dr.  Victor  Adler  keine  Gelegen- 
heit, seine  Persönlichkeit  zur  Geltung  zu  bringen.  In  einigen  von  mir  ver- 
tretenen Fällen  erfolgten  Freisprüche,  in  einigen  Verurteilungen.  Beides 
nahm  Adler  mit  Gleichmut  entgegen.  Nur  bezüglich  des  Strafvollzuges 
äußerte  er  einmal  den  Wunsch,  nicht  in  den  Arrest  eines  Bezirksgerichts, 
ich  glaube  Leopoldstadt,  zu  kommen,  da  der  dortige  Arrest,  wie  er  aus  Er- 
fahrung wußte,  verlaust  war.  Es  gelang,  die  von  Adler  gewünschte  Dele- 
giening  des  Bezirksgerichts  Rudolfsheim  zu  erwirken.  Ich  besuchte  ihn  dort, 
er  erzählte,  daß  ihm  die  Ruhe  des  Arrests  nach  den  großen  Mühen  des 
Tages  gar  nicht  unerwünscht  sei,  da  er  Zeit  und  Muße  zum  Studieren  finde. 
Er  brachte  zu  der  Unterredung,  die  in  der  Wohnung  des  Gefangenaufsehers 
•stattfand,  das -Kapital"  von  Marx  mit,  und  wir  unterhielten  uns  längere  Zeit 
ober  eine  spezielle  Stelle  des  Buches. 


258  Rechtsanwälte  über  Adler 


Dr.  Emil  Postelberg: 

Als  junger,  frischgebackener  Anwalt  lernte  ich  Victor  Adler,  den  ich 
als  Versamnilungsredner  natürlich  schon  oft  gehört  hatte,  auch  persönlich 
kennen.  Es  geschah  dies  etwa  im  Jahre  1895.  Die  „Arbeiter-Zeitung"  —  die 
bekanntlich  als  kleines  Wachenblatt  begann  —  hatte  damals  ihre  Redaktion 
in  einem  Kellerlokal  der  Schwarzspanierstraße.  Herr  Dr.  Adler  hatte  ge- 
wünscht, daß  ich  ihn  dort  aufsuche,  um  das  Nötige  über  die  Führung  von 
Rechtsangelegenheiten  der  Partei  zu  besprechen.  Wenn  es  sich  auch  nur  um 
eine  Unterredung  mehr  oder  minder  gewöhnlichen  Inhaltes  handelte,  war  der 
Eindruck,  den  der  kleine  oder  kaum  mittelgroße  Mann  mit  dem  dichten  Haupt- 
haar, dem  buschigen  Schnurrbart,  dem  forschenden  Auge  hinter  den  scharfen 
Brillen  und  dem  ungewöhnlichen  Gesicht,  dieser  Mann  in  dem  unvermeidlichen 
schwarzen  Gehrock  auf  mich  machte,  ein  mächtiger.  Der  Gedanke,  daß  ein 
Kampfmensch  solchen  Zuschnittes,  daß  der  Führer  der  revolutionären  Partei 
Österreichs  —  und  Sozialdemokrat  sein,  hieß  damals  in  vollem  Sinne  des 
Wortes  Kämpfer  sein  —  vor  mir  stehe,  machte  mich  ein  wenig  befangen. 
Dr.  Adler,  der  Menschenkenner,  mußte  sich  w^ohl  nicht  zu  sehr  anstrengen,  um 
zu  erraten,  wieviel  jugendliche  Begeisterung  mich  erfüllte,  eine  Begeisterung, 
welche  damals  gerade  durch  lokale  Vorgänge,  durch  unglaublich  rohes  Benehmen 
der  Polizei  gegenüber  Arbeitermassen  —  ich  glaube  nach  Abhaltung  einer 
Versammlung  im  Ronacher-Saale  —  zu  hellen  Flammen  entfacht  war.  Das 
Ende  der  Unterredung  w^ar,  daß  sich  der  junge  Advokat  mit  dem  Hochgefühl 
entfernen  konnte,  daß  die  Parteileitung  ihm  die  Verteidigung  angeklagter 
Genossen- übertragen  hatte.  Die  Prüfung,  welcher  seine  Person  durch  diese 
scharfen  und  doch  gütigen  Augen  unterzogen  worden  war,  war  zu  seinen 
Gunsten  ausgefallen.  Von  Strafverhandlungen  politischer  Färbung  regnete  es 
ja  nur  so  —  war  es  doch  die  Zeit,  in  welcher  Worte  und  Ausrufe  wie  „Bel- 
gisch reden"  oder  „Hoch  die  internationale,  revolutionäre  Sozialdemokratie" 
sogleich  mit  der  Verhaftung,  Voruntersuchung  und  Anklageschrift  beantwortet 
wurden,  war  es  doch  die  Zeit  des  Triumphes  der  Haß-  und  Aüfreizungs- 
Kautschuk-Paragraphen  unseres  uralten  Strafgesetzbuches. 

Ich  habe  nie  die  Ehre  genossen,  Victor  Adler  selbst  zu  vertreten  und 
zu  verteidigen,  wohl  aber  hatte  ich  auch  in  der  Folge  in  Rechtsangelegen- 
heiten wiederholt  mit  ihm  zu  tun.  Ich  erstattete  Bericht  über  diese  oder  jene 
Verhandlung  und  so  sehe  ich  noch  sein  amüsiertes  Gesicht  vor  mir,  als  ich 
aus  Steyr  zurückgekehrt,  wo  ich  die  Verteidigung  der  Arbeiterführerin  Char- 
lotte Glas  vor  dem  dortigen  Schwurgericht,  das  in  einer  alten,  düsteren 
Fronfeste  tagte,  geführt  hatte,  von  einem  mir  widerfahrenen,  komischen 
Abenteuer  erzählte  —  der  Gendarmeriegewaltige  des  Bahnhofes  in  St.  Valen- 
tin hatte  mich  nämlich,  als  ich  auf  den  Zug  wartete,  vorführen  lassen  und 
mich  verhört. 

Im  „Anarchisten"-Prozeß  contra  Haspel  und  II  a  h  n  e  l,  bei  weldiem 
Dr.  II  a  r  p  n  e  r,  i  c  h,  merkwürdigerweise  auch  der  damals  noch  nicht 
•:Schwarze"  Dr.  Porzer,  der  spätere  christlichsoziale  Vizebürgermeisler, 
eine  ganze  Schar  von   .angeklagten  vertraten  —  .\rbeiter,   welche  unter  der 


Rechtsanwälte  über  Adler  259 


Führung  eines  gewissen  Valenta  und  unter  dem  Einfluß  tran-satlantischer 
Mostscher  Lehren  standen,  —  Jiarrte  Dr.  Adler  während  der  mehrtägigen 
Verhandlung  unermüdlich  im  Saale  aus,  um  mit  herzlicher  Anteilnahme  die 
Dinge  zu  verfolgen  und  befreit  aufzuatmen,  als  die  Geschwornen  wenigstens 
einen  Großteil  der  Angeklagten  freisprachen. 

E.s  i?t  ja  eine  bekannte  Tatsache,  daß  sich,  gewiß  aus  unerklärlichen 
Gründen,  gerade  Kleinigkeiten  mit  besonderer  Zähigkeit  im  Gedächtnis 
festzunageln  verstehen.  So  blieben  mir  denn  einige  Worte  Victor  Adlers  be- 
sonders haiten.  Ich  hatte  die  Broschüre  über  den  Reichenberger  Prozeß 
Adlers  gelesen  und  ihm  meine  Bewmiderung  über  den  Mut  ausgesprochen, 
mit  welchem  er  sich  vor  der  Jury  verantwortet  hatte.  Mit  einem  unwider- 
legbaren, aus  Bescheidenheit  und  Überlegenheit  gemischten  Lächeln  meinte 
Dr.  Adler:  ,.Man  tut,  was  man  kann."  Sicher  ein  an  sich  unbedeuten- 
ios  Wort  und  docJi  scliwang  allerlei  Eindrucksvolles,  Nachhaltiges  mit. 
•-Man  tut,  was  man  kann"  —  es  klingt  mir  heute  noch  wie  ein  unscliein- 
uares  und  doch  so  gehaltreiches  Motto  von  Victor  Adlers  Leben.  Es  scheint 
mir  als  das  Wort  eines  Mannes  der  Tat  und  des  Geistes,  eines  Mannes,  in 
welchem  der  Geist  die  Umbildung  zur  Tat  restlos  vollzog.  Dr.  Adler  hat  in 
Wirklichkeit  zeitlebens  getan,  was   er  konnte- 


Dr.  J,  Rosner: 

Was  den  P^indiuck  seiner  Persönlichkeit  auf  die  Richter  betrifft,  so 
bleibt  mir  eine  kleine  Episode  unvergeßlich. 

Adler  war  während  der  Wahlrechtsdemonstrationen  wegen  Ver- 
gehens nach  §  284  Strafgesetz  angeklagt,  w^eil  er  anläßlich  einer  Demon- 
stration in  einer  Diskussion  mit  einem  Polizeirat  Jefabek  die  Menge  durch 
sein  Verhallen  zum  \yiderstand  aufgereizt  haben  soll.  Den  Vorsitz  führte  ein 
mehr  strebsamer  als  tüchtiger  Landesgerichtsrat  Namens  Neubauer.  Victor 
Adler  hatte  den  Sachverhalt  so  dargestellt,  daß  er  darauf  bedacht  gewesen 
sei,  ein  Unglück  zu  verhüten  und  unmöglich  die  Menge  zu  einem  aussichts- 
losen Widerstand  gegen  die  bewaffneten  Wachleute  habe  aufreizen  wollen. 
Dann  kam  die  Aussage  des  Polizeirats,  der  natürlich  durch  maßlose  Über- 
treibungen auf  eine  Verurteilung  Adlers  hinarbeitete.  Mit  seiner  gewohnten 
iionischen  Überlegenheit  sftzte  Adler  seinen  Standpunkt  nochmals  über- 
zeugend auseinander.  So  dachten  wenigstens  die  Zuhörer,  als  der  Vor- 
sitzende kühl  erklärte:  „Aber  Herr  Doktor,  das  kann  auf  uns  doch  gar  keinen 
Eindruck  machen."  Diese  Worte  klingen  mir  noch  heute  im  Ohr,  weil  sie 
zeigen,  bis  zu  welchem  Maß  die  Richter  unfähig  waren,  einer  Persönlich- 
keit wie  der  des  Dr.  Victor  Adler  gerecht  zu  werden.  Dennoch  wurde  in 
diesem  Prozeß  Adlers  Intelligenz  in  der  Weise  anerkennend  hervorgehoben, 
daß  über  ihn  die  Ji  ö  c  h  s  t  e  zulässige  Strafe  in  der  Dauer  von  einem 
Monat  strengen  Arrests  verhängt  wurde,  weil  ebendiese  Intelligenz  ihm 
hätte  das  Gefährliche  .seiner  Handlungsweise  vor  Augen  führen  müssen! 

17* 


260 


Adlei's  Strafregister 


Adlers  Straf register. 


Dr.  Victor  Adler  wurde  verurteilt : 


Zahl 

Datum 

Gericht 

Delikt 

Strafe 

Anmerkung 

1 

li».  De- 
zember 

ISST 

Polizei- 
direktion 
Wien 

Polizeiwidriges 
Verhalten     bei 
einerVersamm- 
lung.  §  11  kai- 
serliche Yer- 
(M-dnung     vom 

Jahre  1854 
(Prügelpatent) 

50  Gulden 

Geldstrafe 

- 

13.  De- 
zember 

isss 

Bezirks- 
gericht 
Aisergrund 

Vei'breitung 
von  Zeitungen. 
§  23  Preßgesetz 

31)  (iulden 
Geldstrafe 

■> 

2T.  Juni 

ISS!) 

Landes- 
gericht WiiMi 
( Au^nahme- 
gerirlitsjint) 

Aulreizung 
gegen     Behör- 
den usw.  §§300. 
305  St.-G.  und 
Artikel    V    des 
Gesetzes     vom 
IT.  Dezember 
1S(;2 

4  ]\Ionate 
strengen  Arrest, 
verschärft  durch 
einen  Fasttag 
und  100  Gulden 
Kautionsverlust 

Haft  im 

l.andes- 

gericht 

Wien 

bis  21.  Juni 

1S90 

l 

2T.  Seji- 
tr-raber 

ISS!) 

Bezirks- 
gericht 
Margareten 

Beleidigung 

eines  Regie- 

i'ungsvertreters. 

§  312  St.-G. 

3  Tage  Arix'st 

liafv  im 
Bezirks- 
gerichl 
Neubau 

.) 

1!).   Sep- 
tembei' 

isoi 

Bezirks- 
gi? rieht 
l\eirlu>nberg 

Beleidigungdei' 

Regierungs- 
behörden. §491 

St.-G.  be- 
ziehungsweise 
Artikel  V  §  23 
Pi'eßgesetz 

S  Tage  Arrest 

und  50  Gulden 

Geldstrafe 

(; 

n.  Mai 

1S!)2 

Bezirks- 
gericht 
Korneuburg 

Kinniengungin 
eine  Amtshand- 
lung. §314  St.-G. 

4S  Stundoi 
Arresi 

Haft  im 
Bezirks- 
gericht 
Korneuburg 

Adlers  Strafregister 


2<il 


Zahl 

Datum 

Gericht 

Delikt 

Strafe 

Anmerkung 

1 

4.  De- 
zember 

1892 

Landes- 
gericht 
Wien 

Vergehen  gegen 
das  literarische 
Eigentum.  ^467 

3U  Gulden 
Geldstrafe 

\\egen  Ab- 
ilrucks  des 
Disziplinar- 
urteils gegen 

Landes- 
gerichtsrat 
Schmiedel! 

s 

lO.  April 

1S93 

Be/.irks- 

hauptmann- 

schalt 

Rnmburg 

I'olizeiAvidriges 
Verhalten     bei 
einerVersaram- 
luug.  §  11  kai- 
serliche Ver- 
ordnung    vom 
Jahre  1854 

3U  Gulden 
Geldstrafe 

i( 

-.1.  .No- 
vember 
189::! 

Bezirks- 
gericht 
Warnsdiirf 

Uebertretung 
des    Versamm- 
lungsgesetzes, 
i;  14  \ers.-Ges. 

lu  (iulden 
Geldstrafe 

Kl 

28.  De- 
zember 
1893 

Kreisgericht 
Böhm.-Leipa 

Beleidigung 
eines       Regie- 
rungsvertreters. 

§  312  St.-G. 

14  Tage  Ai-rest 

Haft   in   den   Bezirksgerichten 

.Neubau  und  Rudolfsheim 
April    IS'M    bis   29.    Juli    1894 

11 

18.  Jänner 
1894 

Bezirks- 
gericht 
Rudolfsheim 

Beleidigung  der 

Regierung  u.  a. 

i;  491  St.-G.  und 

Artikel  \- 

1  Monat  Arrest 

1_' 

17.  März 
1894 

Bezirks- 
gericht 
Rudolfsheim 

Beleidigung  des 
Reichsgerichts. 
^5  491,  Artikel  V 

1  Monat  Arrest 

i;; 

2().Angu-t 
1894 

Landes- 
trcri'-ht  Wien 

Verbreitung■ 
verbotener 

Druckschriften. 

§  24  Preßgesetz 

.')()  (iulden 

r;  ..1,1  ^  traf.- 

14 

18.  De- 
zember 
1894 

Bezilks- 
ger i  eh  t 
ottakrini: 

Beleidigung 

einer  Behörde. 

^491  St.-G.  und 

Artikel  X' 

1  Monat  .\rrest 

Haft  im 
Hezirks- 
gerichl 

Rudolfsheim 
18.  April 

1894  bis  18. 
Mai  1894 

262 


Adlers  Strafregister 


Zahl 

Datum 

Cierichl 

Delikt 

Straf.' 

Anmerkun.ü- 

15 

17.  April 
1896 

Bezirks 

gericht 

Leopoldstadt 

Beleidigung 
von  Behörden. 
§  491  u.  Art.  ^■ 

200  Gulden 
Geldstrafe 

Vom  Landes- 
gericht auf- 
gehoben 

k; 

10.  De- 
zember 
1897 

Bezirks- 
gericht 
Hernais 

Beleidigung  der 

Regierung. 
§  -491   und  Ar- 
tikel V    • 

14  Tage  ver- 
schärften Arrest 

Vom  Landes 
gericht  auf- 
gehoben 

17 

21.  JuÜ 
1809 

Landes- 
gericht Wien 

Auflauf, 
ij  284  St.-(i. 

1  Moual 
strengen  Arrest 

Haft  im 

Landes- . 

gericht 

Wien  vom 

7.  Nov.  bis 

7.  Dez.  1899 

Die  rechtski'äftig  gewordenen  und  von  Adler  abgebüßten  oder  be- 
zahlten Strafen  betragen  insgesamt :  8  Monate  und  27  Tage  Arrest 
und  2  Tage  Untersuchungshaft  (6.--8.  Juli  1899).  250  G  u  1  d  e  n  Gel  d- 

s  t  V  a  f  e  u  n  d  1  Ofl  G  u  1  d  e  n  K  a  u  t  i  o  n  s  v  e  r  1  u  s  t. 


Gesamtergebnis : 


Siebzehn  Verurteilungen;  davon  wurden  zwei  aufgehoben.  Frei- 
sprüche erfolgten  neun,  davon  vier  beim  Schwurgericht;  zwei  Verurtei- 
lungen beim  Bezirksgericht  wurden  vom  Landesgericht  aufgehoben,  e  i  n 
Freispruch  ebenfalls  aufgehoben  und  die  Verurteilung  ausgesprochen; 
drei  bezirksgerichtlicbc  Urteile  wurden  vom  Lamlesgericlit  best.-itifft,  oinf 
Verurteilung  bestätigt  und  die  Strafe  erhöht. 

Von  den   eingeleiteten  Untersuchungen  wurrlen   neun  p  i  u  g  e  s  1  p  1  1  t. 


II. 

Adler  als  Ankläger. 


Gegen  die  schlechten  Kichter  21)5 


Gegen  die  schlechten  Richter. 

Die  sittliche  Empörung,  die  Victor  Adler  über  die  Blutrichter  der 
Ausnahmegerichte  empfand,  diese  willfährigen  Werkzeuge  der  jeweiligen. 
Machthaber,  die  ohne  Wimperzucken  selbst  offenkundig  von  Polizeilock- 
spitzeln zu  anarchistischen  Verbrechen  verleitete  Arbeiter  auf  Jahre  und 
Jahrzehnte  in  den  Kerkern  begruben,  machte  sich  wiederholt  in  scharfen 
Artikeln  Luft.  Holzinge  r,  Lamezan,  Schmiedet  —  nie  konnte  er 
diese  Namen  nennen,  ohne  erregt  zu  werden.  Er  war  sich  beim  Schreiben 
dieser  Artikel  stets  bewußt,  daß  sie  nicht  bloß  konfisziert  würden,  sondern 
auch  die  persönliche  Verfolgung  vor  Gericht  zur  Folge  haben  könnten.  Ei 
zeichnete  diese  Artikel  mit  seinem  vollen  Xamen  oder  seinen  Anfangs- 
buchstaben, um  so  von  Anfang  an  die  Verantwortung  dafür  zu  übernehmen. 


Die  Richter  und  die  Polizei. 

In  der  Nummer  33  der  „A  r  b  e  i  t  e  r  -  Z  e  i  t  u  n  g"  vom  IT).  .\u|iusl  JS'.ti» 
schrieb  Adler  unter  diesem  Titel  folgenden  Artikel: 

V.  a.  Fast  in  jeder  JTu'imiier  jedes  in  Österreicli  er- 
scheinenden Arbeiterblattes  sind  Beschwerden  über  das  Vor- 
gehen der  Polizei  zu  finden.  Alljährlich  bringen  die  Abge- 
ordneten K  r  o  n  a  w  e  1 1  e  r  und  P  e  r  n  e  r  s  t  o  r  f  e  r  eine  Fülle 
von  Klagen  über  die  Behandlung  der  Arbeiter  durch  die  Polizei 
zur  Kenntnis  des  Parlaments  und  der  Öffentlichkeit.  Das  Parla- 
ment, mitunter  ziemlich  erregt  unter  dem  unmittelbaren  Ein- 
druck des  Gehörten,  ist  froh,  sich  durch  einige  leere  mehr  oder 
weniger  zur  Sache  gehörige  Sätze  des  Polizeipräsideuten  oder 
irgendeines  Ministerialrates  zur  lieben  Euhe  und  zu  seineni 
gewohnheitsmäßigen  Vertrauen  zur  Regierung  zurückbringen 
lassen  zu  dürfen  und  sich  um  diese  „zuwideren  Geschichten" 
nicht  weiter  kümmern  zu  müssen.  Was  „Öffentlichkeit''  heißt, 
die  Bourgeoispresse  kümmert  sich  um  diese  Dinge  erst  recht 
nicht;  handelt  es  sich  doch  nur  um  Arbeiter  und  überdie.-> 
um  deren  Recht  auf  politische  Freiheit  und  Orgauisati(»n.  Ks 
ist  uns  nicht  gestattet  zu  sagen,  daß  die  l*olizeibehördeu  als 
Organe  der  Klassenlierrschaft  funktionieren;  augenfällig  aber 
ist,  daß  sie  von  der  herrschenden  Klasse  als  solche  betrachtet 
werden  und  daß  hierin  allein  der  Grund  liegt,  warum  es  keine- 


366  Die  Richter  und  die  Polizei 

1  inzige  Beliörde  im  uanzen  Verwaltungsorgauismus  des  iStaates 
uibt,  welcher  man  ganz  allgemein  jene  Immunität  zubilligen 
^\'iirde,  welche  die  Polizeibehörde  genießt.  Eine  öffentliche 
Kritik  der  Polizei  gibt  es  nicht  in  Österreich.  In  Versamm- 
lungen schützt  sie  sich  selbst  —  und  zwar  ganz  ungeniert  — 
in  der  Presse  schützt  sie  der  Rotstift  des  Staatsanwalts,  der 
t-mpfindlicher  ist,  wenn  man  den  Verdacht  ausspricht,  ein 
Polizeikommiesär  habe  einigermaßen  willkürlich  gehandelt,  als 
wenn  man  Minister  des  Hoeliverrats  beschuldigt.  Man  könnte 
sagen,  die  Polizei  handelt  unter  Aufsicht  der  ihr  vorgesetzten 
Behörden  und  schließlich  unter  Verantwortlichkeit  des  Mi- 
nisters. Wer  aber  je  die  Geduld  gehabt  hat,  den  Beschwerdeweg 
anzutreten  nnd  bis  ans  Ende  zu  gehen,  der  hat  die  Erfahrung 
gemacht,  daß  Statthalterei  und  Ministerium  sich  ausschließlich 
von  der  Polizei  über  die  Polizei  informieren  lassen  und  daß  der 
Bescheid  der  zweiten  nnd  dritten  Instanz  nichts  anderes  ergibt 
als  ein  Echo  aus  dem  Polizeipräsidium.  Sollte  einer  aber  soviel 
Energie  und  Vertrauen  zu  seiner  Langlebigkeit  haben,  um  ein 
Erkenntnis  des  Reichsgerichtes  herbeizuführen,  so  wird  er  im 
besten  Falle  ein  Urteil  erreichen,  welches  schwarz  auf  weiß  er- 
klärt, auch  das  Reichsgericht  sei  der  Ansicht,  das  staatsgrund- 
iicsetzlich  gewährleistete  Recht  des  Klägers  sei  durch  die  Polizei 
verletzt  worden.  Daran  kann  nun  ein  Liebhaber  von  Unter- 
schriften hoher  Herren  eine  Freude  haben  und  unter  Glas  und 
Rahmen  nimmt  sich  ein  solches  Dokument  recht  stattlich  aus  — 
aber  weiter  hat  die  Sache  keinen  Zweck.  Das  Urteil  des  Reichs- 
gerichtes nützt  dem  in  seinem  Recht  Verletzten  nichts,  es 
schadet  dem  Verletzer  des  Rechtes  nicht;  oder  hat  etwa  je- 
mals jemand  gehört,  daß  ein  solches  Urteil  für  den  betreffenden 
Polizeibeamten  irgendwie  unangenehme  Folgen  gehabt  hätte? 
•oder  daß  das  Vorgehen  der  Polizei  in  künftigen  Fällen  irgend- 
wie beeinflußt  worden  sei  ?  ? 

In  den  letzten  Wochen  hat  dieses  Kapitel  eine  ebenso  an- 
mutige wie  bezeichnende  Fortsetzung  erhalten.  Ein  junger, 
richterlicher  Funktionär  (einem  alten  wäre  derlei  nie  passiert) 
kommt  im  Zwischenraum  weniger  Tage  zur  Kenntnis  folgender 
Tatsachen:  Eine  alte  Frau  erhält  Suppe  aus  einem  Kloster;  sie 
wird  wegen  Betteins  arretiert,  später  entlassen  und  auf  den 
nächsten  Tag  beschieden.  Sie  erscheint  pünktlich,  wird  aber  in 
Haft  behalten  und  ihre  Tochter  gibt  vor  Gericht  an,  die  Greisin 


Die  Richter  und  die  Polizei  267 


und  sie  selbst  seien  bei  dieser  Gelegenheit  mißbandelt  worden. 
Der  Eichter  (Dr.  Pofiska  im  IL  Bezirk)  nimmt  die  Polizei  in 
Scliutz.  meint,  derlei  könnten  sicli.  wenn  es  wahr  sei,  nur  unter- 
.üeordnetc  Polizeiorgane  haben  zuschulden  kommen  lassen, 
doch  sei  das  n  i  c  Ii  t  S  a  c  li  o  des  G  e  r  i  c  li  t  e  s.  Wessen 
Sache  das  eigentlich  sei,  weiß  er  natürlich  el)enso  wenig  aD 
irgendein  ^lensch  in  Österreich. 

Die  Greisin  wird  freigesprochen  und  darf  hoffentlich 
künftig  ihre  Suppe  unbehelligt  vor  der  Klostertür  abwarten.  In 
einem  anderen  Falle  beschuldigt  ein  Mann  einen  andern,  er  habe 
in  seine,  übrigens  leere  Handtasche  gegriffen.  Der  Beschuldigte 
will,  nachdem  er  sich  gerechtfertigt,  die  Ehrverletzung  verfolgen 
und  zwingt  den  andern,  mit  ihm  auf  das  Polizeikommissariat 
zu  gehen,  wo  er  gegen  denselben  klagbar  auftritt.  Der  Geklagte 
gibt  irgendeinen  falschen  Namen  und  eine  falsche  Adresse  an 
und  verduftet  auf  Nimmerwiederfinden.  Der  Kläger  wird  fünf 
Tage  in  Haft  behalten,  schließlicli  vor  denselben  Richter, 
I»r.  Pofiska,  gestellt  und  „Mangels  jeden  Tatbestandes  frei- 
gesprochen". Der  angeklagte  Kläger  führte  bei  der  Ver- 
handlung gegen  den  diensthabenden  Polizeikommissär  Be- 
>chwerde,  und  es  scheint,  daß  der  junge  Eichter  diese  Klage  als 
nicht  ganz  gegenstandslos  angeseben  habe.  Daß  nun  in  kurzen 
Zwischenräumen  indemeelbenBezirke  mehrfach  Dinge 
vorgekommen,  die  mindestens  den  leisen  Verdacht  erwecken,  daß 
der  Polizei  ab  und  zu  „Mißgriffe"  passieren,  mußte  auffallen. 
In  jedem  zivilisierten  Lande  wird  in  solchen  Fällen,  wo  die  Ver- 
mutung rege  wird,  es  gäbe  irgendwo  erhebliche  Mißstände,  ein«» 
I)  i  s  z  i  p  1  i  n  a  r  u  n  t  e  r  s  u  c  h  u  n  g  eingeleitet.  Auch  Öster- 
reich ist  ein  zivilisiertes  Land,  auch  hier  wurde  eine  solche 
I>isziplinaruntei'suchung  eingeleitet.  Freilich,  Österreich  ist 
nicht  nur  ein  zivilisiertes  Land,  sondern  hat  auch  sonstige  Eigen- 
tümlichkeiten. Es  wurde  also  die  Disziplinaruntersuchung  nicht 
etwa  gegen  jene  Polizeiorgane,  sondern  gegen  den 
Eichter  erhoben,  der,  jung  wie  er  ist,  das  "Unglück 
gehabt,  diese  Dinge  zu  bemerken.  —  Das  Eesultat  war,  daß  der 
Herr  Auskultant  Dr.  Pofiska  vom  Bezirksgericht  Leopold- 
stadt strafweise  zum  Bezirks-  als  Strafgericht  Ottakring 
versetzt  wurde.  —  Damit  sind  bis  auf  weiteres  die  Be- 
wohner der  Leopoldstadt  vor  den  T'bergriffen  —  der  Eichter 
gegen  die  l'olizei  geschützt. 


268  Die  Richter  und  die  l'olizei 

Hatte  nun  auch  das  Polizeipräsidium  für  die  ihm  angetane 
l'nbill  gerechte  Sühne  erhängt,  so  konnte  es  sich  billigerweise 
damit  nicht  beruhigen.  Mutmaßlich  hat  das  Polizeipräsidium 
Kenntnis  davon,  daß  Fälle,  wie  die  jener  Greisin  an  der  Kloster- 
pforte oder  jenes  ale  Kläger  fünf  Tage  im  Bezirksarreste  ge- 
sessenen Mannes  häufiger  auch  in  anderen  Bezirken  vorkommen, 
o-der  es  ahnt,  daß  weiterhin  dergleichen  vorkommen  könne, 
jedenfalls  will  es  dem  für  alle  Zukunft  vorbeugen,  daß  Richter 
sich  unterfangen,  das  Verfahren  von  Polizisten  zu  kritisieren. 
Die  Aufgabe  der  Polizei  ist  ja  wesentlich  eine  präventive,  eine 
vorbeugende.  Das  Polizeipräsidium  setzte  seine  Sache  durch : 
Unter  dem  7.  August  meldeten  die  Wiener  Blätter : 

„Den  richterlichen  Funktionären  bei  d  e  u 
Wiener  B  e  z  i  r  k  s  g  e  r  i  c  h  t  e  n  (Adjunkten,  Auskultanten 
und  staatsanwaltschaftlichen  Funktionären)  wurde  heute,  wie 
man  uns  mitteilt,  ein  als  „vertraulich"  bezeichneter  Erlaß  des 
Wiener  Landesgerichtspräsidiums  intimiert,  in  welchem  die  ge- 
nannten Funktionäre  mit  Rücksicht  auf  einen  speziell  vor- 
gekommenen Fall  eindringlich  angewiesen  werden,  sich 
jeder  das  Verhalten  der  S  i  c  h  e  r  h  e  i  t  s  w  a  c  h- 
(I  r  g  a  n  e  kritisierenden  B  e  m  e  r  k  u  n  g  zu  e  n  t- 
halte  n,  da  derartige  Bemerkungen  im  Gerichtssaale  geeignet 
seien,  d  a  s  A  n  s  e  h  e  n  dieser  O  r  g  a  n  e  in  ihrer  ohnehin 
schwierigen  Stellung  zu    u  n  t  e  r  g  r  a  b  e  n. 

Alle  richterlichen  Funktionäre  mußten  die  Kenntnisnahme 
dieses  Erlasses  durch  ihre  Unterschrift  bestätigen." 

Von  der  vielleicht  auch  einigermaßen  „schwierigen 
Stellung",  in  der  sich  Leute  in  der  Lage  jener  alten  Frau  und 
jenes  alten  Mannes  befinden  könnten,  ist  weiter  nicht  die  Rede. 

Mit  diesem  „vertraulichen  Erlaß"  ist  nunmehr  die 
Krönung  des  Gebäudes,  welches  die  I  m  m  u  n  i  t  ä  t  der 
Polizei  bedeutet,  erreicht.  Kein  Richter  wird  künftig  „kriti- 
sierende" Bemerkungen  gegen  Sicherheitsorgane",  geschweige 
l*olizisten  hölierer  Grade  riskieren.  An  die  Tierren  vom  Landes- 
gericht war  der  Erlaß  gar  niclit  gerichtet,  das  sind  ältere  „er- 
fahrene" Männer,  welche  genau  wissen,  was  der  Artikel  (• 
des  S  t  a  a  t  s  g  r  u  n  d  g  e  s  e  t  z  e  s  vom  2  \.  De/  e  m  b  e  r 
1  8  (3  7  1)  e  d  e  u  t  e  n  soll,  w  e  1  c  h  er  lautete:  „D  i  (^ 
\l  i  c  h  t  e  r  s  i  u  d  i  n  ,V  u  s  ü  b  u  n  g  i  h  r  e  s  r  i  c  h  t  e  r- 
1  i  c  h  e  n  A  m  t  e  .s  selbständig  und  unabhängig."  Zudem  bedient 


I>ie  Kicliter  uiul  die  Polizei  269 


man  sieh  seit  längerer  Zeit  einer  ei^entümlielien.  aber  selir 
wirksamen  Methode,  nm  die  Eichter  zur  ..l'nabhänoi^keit  und 
Selbständigkeit"  zu  erziehen.  Man  läßt  sie  nämlich,  bevor  sie 
Richter  werden,  viele  Jahre  als  Staatsanwälte  fungieren, 
was  bekanntlich  die  beste  Schule  für  unabhängig-  und  ■selbständig 
denkende  Männer  ist.  Aber  auch  als  Eichter  können  sie  sich 
dieser  wahrhaft  erleuchteten  Pädagogik  nicht  entziehen.  Nur 
Eichter  von  .,nnabhängiger"  Gesinnung  werden  zum  Avance- 
ment, nur  solche  von  rücksichtsloser  „Selbständigkeit"  zur  Ver- 
leihung von  hohen  Orden  vorgeschlagen.  Das  sind  ja  allbekannte, 
oft  rühmend  hervorgehobene  Dinge,  die  wir  nur  zur  Beleuch- 
tung des  Erlasses,  welcher  wahrscheinlich  die  Unterschriften 
L  a  m  e  z  a  n  und  H  o  1  z  i  n  g  e  r  trägt,  nebenbei  erwähnen. 

Wir  wissen  ganz  genau,  daß  wir  den  Zustand,  welcher 
durch  diese  Immunität  der  Polizei  geschaffen  wird,  keiner 
Kritik  unterziehen  dürfen.  So  weit  geht  eben  die  Preßfreiheit 
in  Österreich  nicht.  Und  es  ist  bezeichnend,  daß  die  Tagesblätter 
bereits  zu  solcher  Feigheit  herabgekommen  sind,  daß  sie  ge- 
legentlich der  Erwähnung  jenes  Erlasses  sich  keinerlei  Be- 
merkung erlauben,  sondern  nur  das  „Aufsehen"  erwähnen, 
welches  er  in  den  ])oteiligten  Kreisen  hervorgerufeii  haben  soll. 
Außerdem  wird  angekündigt,  daß  irgendein  Al^geordneter  sich 
das  harmlose  Vergnügen  einer  Interpellation  an  das  ^Ministerium 
machen  will,  sobald  Ende  September  der  Eeichsrat  wieder  zu- 
sammentritt. Wir  wünschen  ihm  besten  Erfolg,  und  daß  er  die 
Antvx-ort  noch  erlebe  1 

Wenn  uns  also  die  Kritik  versagt  und  nur  die  Konsta- 
tierung von  nackten  Tatsachen  möglich  ist,  so  wollen  wir  doch 
ganz  akademisch  die  Frage  erörtern,  ob  es  ein  wünschens- 
werter Zustand  sei,  wenn  in  einem  Lande  die  Polizeiverwaltung 
jeder  Aufsicht,  jeder  Ixiltik  durch  die  ()ffentlichkeit  entzogen 
ist,  wenn  kein  noch  so  berechtigter  Tadel  weder  im  Parlament 
Beachtung,  noch  in  der  Presse,  ja  selbst  nicht  im  Gerichtssaale 
auch  nur  zu  Gehör  gebracht  werden  darf.  Wir  sprechen  dabei 
nicht  von  Osterreich.  Wir  nehmen  an,  es  bestehe  in  irgendeinem 
Lande  eine  Polizeivcrwaltung,  welclier  nicht  nur  die  Verhinde- 
rung von  Verbrechen,  die  Ergreifung  der  Verbrecher,  die  Hand- 
habung aller  möglichen  ^Maßregeln  zur  Aufreclitcrhaltuug  der 
Ordnung  im  öffentlichen  Verkehr,  sondern  auch  eine 
ganz  bedeutsame,  ja  maßgebende  Eolle  in  der  Beeinflussung 


270  *  L)ie  Richter  und  die  Polizei 


des     politischen     Lebens     zugewiesen     sei.     Dieser     Polizei- 
behörde    seien    zu    diesem    Zwecke     die     ungeheuersten    Be- 
fugnisse  eingeräumt;     sie   habe    nicht    nur    das   Recht,    nach 
ihrer  Einsicht    und  nach    ihrem  Verständnis    jeden  einzelnen 
Staatsbürger    und     alle    insgesamt    in    der    Ausübung    ihrer 
politischen  Rechte  zu  behindern,  ihre  Versammlungen  zu  ver- 
bieten, ihre  Vereine  aufzulösen,  ihre  Plakate  zu  zensurieren, 
ihre  Presse  zu  unterdrücken,   es  sei  ihr   auch  die  persönliche 
Freiheit  der  Bürger  ganz  und  gar  ausgeliefert,    sie  könne  alle 
Menschen  überwachen,  alle  Wohnungen  durchsuchen,  schließlich 
in  Haft  nehmen,  wen  immer  sie  für  gefährlich  hält;  sie  besitze 
einen    eigenen    Fonds,    um    Leute    anzuwerben,    die    in    ihrem 
Dienste  unter  den  harmlosesten  Masken  die  Überwachung  aus- 
üben, welche  jene  Privatbriefe  lesen,  die   sie   selbst  nicht  er- 
öffnen will,    und  sie  habe  endlich  das  Recht,    mit    Ausnahme 
weniger  Ansässiger  jeden  Bürger,  der  ihr  gefährlich  erscheint, 
von   seinem    Wohnsitze    zeitlich    oder    dauernd    zu    entfernen. 
Wir    nehmen   weiter    an,    jene    Polizeibehörde   habe    die    tüch- 
tigsten, ehrlichsten  Beamten,  es  liege  ihnen  jede  Streberei,  jede 
Wichtigtuerei,  jedes  Bestreben,  sich  unentbehrlich  zu  machen, 
ferne;    sie  seien  weiter,   vom  Präsidenten  angefangen  bis  zum 
letzten  Polizeiagenten  lauter   Ausbünde   von   Rechtssinn,    Un- 
befangenheit und  Menschenkenntnis,  sie  alle  seien  aber  auch 
mit    jenem    hohen     Grade     juridischen    und     sozialpolitischen 
Wissens  ausgestattet,  der  notwendig  ist,  um  ihre  Beobachtungen 
objektiv  machen  und  aus  ihnen  die  richtigen  Schlüsse  ziehen  zu 
können.  Sie  besäi3en  durch  irgendein  Wunder  auch  alle  soviel 
angeborenen  Takt,  daß  sie  sich  nie  und  nirgends  zu  einer  Äuße- 
rung oder  Handlung  hinreißen  ließen,    welche    den    Pflichten 
ihres  Amtes   zuwiderliefe.  —  Wir  wiederholen,    wir  sprechen 
nicht  von  Österreich.  Aber  wir  behaupten  ganz  allgemein,  daß 
eine    Polizeiverwaltung,    welche    die    Macht,    welche    wir    an- 
deuteten, hätte,  und  wären  ihre  Träger  lauter  solche  Erzengel, 
wie  wir  sie  schilderten  —  daß  auch  eine  solche  Polizei  stets  der 
öffentlichen  Kontrolle  im  höchsten  Grade  bedürftig  sein  müßte. 
In   dem   bloßen  Besitze    einer  solchen  furchtbaren   Machtfülle 
liegt  die  unüberwindliche  Versuchung,  sie  zu  mißbrauchen  aucli 
für  den  wohlwollendsten  Mann.  Wenige  Gehirne  gibt  es,  welche 
die  unbeschränkte  Gewalt  nicht  dem  Schwindel  überantwortet, 
und  wer  einst  die  Kulturgeschichte  unserer  Zeit  schreiben  wird, 


Die  Richter  und  die  Polizei  271 

dürfte  als  Analogou  des  Zäsarenwahnsinnes  vom  Polizeiwahn- 
sinn zu  erzählen  haben.  Um  nur  eines  zu  erwähnen:  man  stelle 
sich  vor,  daß  die  Polizeibeamten  jenes  Staates  ja  gezwungen 
wären,  beständig  die  Kriminalpolizei  von  der  Staatspolizei  zu 
trennen;  daß  sie  die  Pflicht  hätten,  es  ängstlich  zu  vermeiden^ 
jene  Methode  der  Präventivmaßregeln,  welche  sie  als  Kriminal- 
polizisten zu  üben  hüben,  auf  das  Gebiet  der  politischen  Polizei 
zu  übertragen;  daß  sie  sich  sorgfältig  hüten  müßten,  politisclf 
mißliebige  Ehrenmänner  wie  Spitzbuben,  und  iSpitzbuben  mit 
Titel  und  Orden  wie  Ehrenmänner  zu  behandeln;  daß  sie  nicht 
nur  Bildung,  sondern  Puhe  und  Objektivität  genug  haben 
müßten,  dasjenige,  was  für  die  öffentliche  Ruhe  und  Ordnung 
wirklich  gefährlich  ist,  zu  erkennen,  abzuwägen  und  geeignet 
zu  behandeln ;  daß  sie  zu  unterscheiden  wissen  müßten  zwischen 
unbequemen  und  zwischen  gefährlichen  Personen,  zwischen  Ur- 
sachen sozialer  Übel  und  ihren  Resultaten.  Vollständig  ohne 
andere  Richtschnur  alö  die  Meinung  ihrer  von  ihr  selbst  aus- 
schließlich beratenen  und  beeinflußten  Vorgesetzten,  ohne  Mög- 
lichkeit, ihr  Urteil  an  dem  Urteil  der  Öffentlichkeit  zu  messen, 
müßte  unausweichlich  eine  solche  Polizeibehörde  im  Gefühle 
ihrer  Allmacht  Fehler  auf  Fehler,  Gewalttat  auf  Gewalttat 
häufen,  sobald  sie  den  kleinsten,  fast  unvermeidlichen  Mißgriff 
getan;  und  sie  müßte  schließlich  zu  der  größten,  öffentlichen 
Gefahr  im  Staate  werden. 

Der  Liberalismus,  der  heute  im  wesentlichen  das  herr- 
schende Staatsprinzip  ist,  hat  seinerzeit  sehr  viel  Lärmens,  nach 
unserer  bescheidenen  Ansicht  allzuviel  Lärmens,  von  der  Un- 
fehlbarkeit des  katholischen  Papstes  gemacht.  Und  doch  ist 
dieses  Dogma  nur  verbindlich  für  diejenigen  Menschen,  die  mit 
ihrem  Denken  innerhalb  der  Kirche  stehen.  Und  doch  ist  weiter 
die  Unfehlbarkeit  dem  Papste  vorbehalten  und  der  Versamm- 
lung der  Kirchenfürsten.  Was  hätte  der  Liberalismus  gesagt, 
wenn  das  Dogma  die  Unfehlbarkeit  jedem  Diener  der  Kirche 
bis  herab  zum  letzten  Mesner  zugesprochen  und  dieselbe  auf 
alle  Lebensverhältnisse  aller  Staatsbürger  ausgedehnt  hätte? 
Nun  wohl,  dieselbe  Bourgeoisie  nimmt  willig  und  geduldig  die 
praktische,  allen  fühlbare,  alles  beherrschende  Unfehlbarkeit 
und  Allmacht  der  Polizei  auf  sich.  Nicht  nur  daß  eie  keinen 
Widerspruch  wagt,  sie  betet  diesen  selbstgeschaffenen  Götzen 
an,  sie   duldet  keinen  Zweifel  an  seiner  Weisheit.  Woher  nun 


272  <ii"af  l.amfzaii  und  die  Advokaten 

<liesei'  Wandel,  woher  diese  Hiindedenmt,  dieses  Scherwenzeln 
■der  Polizei?  Die  Antwort  liegt  nahe.  Die  Bourgeoisie 
fürchtet  sich,  das  ist  das  hervorstechendste  Motiv  aller 
ihrer  Tresinnungen  und  ihrer  Handlungen.  Der  heutige  Philister 
..ein  leerer  Schlauch  mit  Furcht  und  Hoffnung  angefüllt"  — 
^las  ist  der  Erbe  jenes  stolzen  Bürgers,  der  die  Welt  erobert  und 
mit  seinen  Idealen  erfüllt  hat.  Der  Philit^ter  fühlt,  daß  er  alt 
wird:  er  ahnt,  daß  es  ans  Sterben  geht.  In  seiner  Todesangst 
vor  dem  Erben  kennt  er  kein  anderes  Mittel  als  die  Grewalt. 
Damit  nur  das  Proletariat  vergewaltigt  werde,  läßt  er  sich  willig 
-elbst  vergewaltigen.  Um  das  Proletariat  unter  Polizeiaufsicht 
zu  bringen,  stellt  er  sich  und  den  ganzen  Staat  unter  Polizei- 
.:  Ulf  sieht. 

Und  nun  zurück  aus  dem  Wolkenkuckucksheim  jenes 
Idealstaates  zu  unseren  öi^terreichischen  Zuständen.  Wir  denken, 
<laß  die  Zeit  nicht  mehr  gar  zu  fern  ist,  wo  die  Macht,  welche 
■der  Ausnahmezustand  der  Polizei  einräumt,  von  ihr  selbst  ad 
.:d)surdnm  geführt  sein  wird. 


"•     Der  Artikel  wurde  bis  auf  den  Tilcl,   die  ersten   vier  und   ilie  leizleu 
üinf  Worte  k  o  n  f  i  s  z  i  e  r  l. 


Graf  Lamezan  und  die  Advokaten. 

Am  30.  Jänner  :!S95-  erzälilte  die  ..Arbeilcr-ZeitunK"  : 
Graf  Sctrönljorn,  welclier  aus  dem  Zusammenbruch  des  Ministeriums 
"la-affe  sein  Justizministcrportefeuille  ins  Ministerium  Windischgrätz  hinüber- 
ii'ttele,  hat  vor  ungefähr  einem  .Jahre  den  Präsidenten  der  Strafgerichte  einen 
lü'laß  zugesendet.  In  diesem  Erlaß  beschäftigte  sicli  der  Juslizminister  mit  der 
Stellung  der  Verteidiger  im  Strafverfahren  und  ihrem  Verhalten  gegenüb'3r 
der  Disziplinargewalt  des  Vorsitzenden.  Als-  Entgegnung  auf  diesen  Erlaß 
überreichte  Graf  I^amezan.  der  Präsident  des  Wiener  Straifgerichts,  dem 
Justizministerium  ein  Expose,  welches  allgemeines  Interesse  erregte.  Und 
'ües  mit  Recht;  denn  noch  niemals  hat  man  von  „maßgebender"  Stelle  den 
Verteidigern  so  unverblümt  Strebertum,  Reklamcsucht  und  andere  schöne 
Dinge  vorgeworfen,  wie  es  Graf  Lamezan  in  seinem  Expose  tat. 

„Es  ist  leicht  zu  erraten,"  heißt  es  in  dieseJB  Schriftstück,  „welches 
Interesse  diese  Männer  (die  Verteidiger  nämlich)  zu  solch  scheinbar  uneigen- 
nützigem Verhalten  bestimmt.  Ihr  Streben  geht  selbstverständlich  nur  dahin, 
:s  i  c  h  u  m  jeden  Preis  bemerkbar  zu  machen.  Bringt  dies  der 
-sensationelle  Fall«  nicht  an  sich  zustande,  so  muß  es  die  scharf(>  Haltung 
•des  Verteidigers,  sei  es  gegen  den    öffentlichen   .Ankläger,   sei    es  auch  gegen 


Graf  Lamezan  und  die  Advokaten  2/3 


den  Vorsitzenden,  wenn  er  seiner  Disziplinargewalt  Raum  gibt.  Solche  Vor- 
kommnisse schaffen  ein  »Renommee«  und  machen  den  Mann  zu  einem 
gesuchten  Verteidiger." 

Und  an  anderer  Stelle  sagt  Graf  Lamezan: 

„Ich    will  auch  gar  nicht  behaupten,    daß    ein    solches  Vorgehen    in 
heutiger  Zeit,    wo    der  Sieg    über    die  Konkurrenz    im    »Kampf  ums  Dasein< 
die  einzige  »Parole«  ist,    verwerflich  sei.    Ich  wollte  nur  andeuten,    daß    und 
warum  die  »objektive  Rechtsfindung«   für  den  Verteidiger  nur  eine  durchaus, 
sekundäre  Rolle  spielt." 

Am  2.  Februar  schrieb  Adler  darüber  eine  längere   Glosse: 

Herr  Graf  Lamezan,  Präsident  des  Wiener  Strafgerichts, 
hat  in  dem  Memorandum,  welches  bereit.s  besprochen  wurde, 
den  Wiener  Advokaten  einige  recht  bittere  Dinge  gesagt  und 
insbesondere  diejenigen  von  ihnen,  welche  häufig  am  Ver- 
teidigertisch zu  sehen  sind,  bezeichnet  als  „jüngere  strebende 
Herren,  die  sich  mit  größter  Bereitwilligkeit  ohne  jedes 
Honorar  zur  Verfügung  stellen",  und  von  welchen  es  leicht  zu 
erraten  sei,  „welches  Interesse  sie  zu  solch  scheinliar  uneigen- 
nützigem Verhalten  bestimmt  .  .  .'"'  ..Ihr  Streben  geht  selbst- 
verständlich nur  dahin,  sich  um  jeden  Preis  bemerkbar  zu 
machen  .  .  ."  Wir  haben  nicht  leugnen  können,  daß  es  allerdings 
eine  Anzahl  von  Strebern  ebenso  unter  den  Advokaten  gebe 
wie  unter  den  Richtern,  und  das  aus  ganz  gleichen  Ursachen. 
Wie  die  letzteren  angewiesen  sind  auf  das  Avancement,  so  die 
ersteren  auf  die  Klientel  und  hiemit  auf  die  Reklame. 

Aber  wir  haben  gegründeten  Verdacht,  daß  Herr  Graf 
Lamezan  nicht  einzig  und  allein  von  dem  Bestreben  geleitet 
ist,  die  Verteidigung  würdig  vertreten  zu  sehen,  sondern  daß 
seine  Ausführungen  auch  in  persönlicher  Kanküne  ihre  Wurzel 
haben.  Es  gibt  eine,  allerdings  leider  kleine  Anzahl  von  Advo- 
katen in  Wien,  die  in  w  i  r  k  1  i  c  h  uneigennütziger  Weise  sich 
des  verletzten  Rechtes  annehmen  und  die  das  tun,  nicht  nur 
nicht  um  dadurch  eine  Klientel  zu  erlangen,  sondern  häufig 
unter  der  Gefahr,  diese  Klientel  zu  verlieren.  Es  gab  allerdings 
•eine  Zeit,  wo  junge  Advokaten  durch  die  Übernahme  der  Ver- 
teidigung von  Sozialisten  sich  einen  Ruf  machen  konnten  und 
wo  .sie  sich  dadurch  für  das  zahlungsfähige  Publikum 
empfahlen.  Diese  naive  Zeit  ist  vorbei.  Heute  ist  die  organi- 
sierte Arbeiterschaft,  insbesondere  die  Sozialdemokratie,  nicht 
mehr  von  dem  Zauber  der  Romantik  umgeben  wie  vor  Jahren, 
heute  ist  sie  für  die  besitzende  Klasse  einfach  der  Feind,  und 

18 


274  Graf  Lamezan  und  die  Advokaten 

wer  mit  ihr  in  Verbindung  steht,  wird  mehr  oder  weniger  ver- 
femt. Daß  die  prozeßführende  Bourgeoisie  das  tut,  versteht 
sich  von  selbst;  daß  aber  Gerichtshöfe  diesen  Advokaten  wenig 
geneigt  sind,  sollte  nicht  sein,  aber  es  ist  so.  Insbesondere  sind 
Advokaten,  welche  die  Interessen  der  Klienten  mit  Eifer, 
Konsequenz  und  Schärfe  auch  dann  wahren,  wenn  es  zufällig 
nicht  reiche  Kridatare  oder  Militärschwindler,  sondern  arme 
Arbeiter  sind,  durchaus  nicht  beliebt  im  grauen  Haus.  Das 
begreifen  wir,  aber  wir  meinen,  daß  der  Ausdruck  dieser  sub- 
jektiven Neigungen  denn  doch  eine  Grenze  haben  muß  und 
daß  die  Einflußnahme  auf  die  Wahl  des  Verteidigers  von  selten 
der  Gerichte  immer  ungesetzlich  ist,  in  welche  Form  sie  sich 
auch  kleide.  Man  höre  nun  folgenden  Fall: 

Der  Hof-  und  Gerichtsadvokat  Dr.  K  a  r  1  O  r  n  s  t  e  i  n 
hatte  bekanntlich  gelegentlich  der  Verhandlungen  über  die 
Favoritener  „Exzesse"  einen  Konflikt  mit  dem  Staatsanwalt 
und  dem  Vorsitzenden.  Herr  Dr.  Ornstein  wurde  nun,  wie 
in  sehr  vielen  anderen  Fällen,  in  letzter  Zeit  auch  von  der 
Redaktion  der  „Freien  Schuhmacher-Zeitung"  angegangen,  die 
Verteidigung  unseres  Genossen  Josef  Bydzowsky  zu 
üb6rnehmen,  der  anläßlich  des  Schuhmacherstreiks  bei  der 
Fabrik  Löwenstein  in  Untersuchungshaft  genommen 
wurde.  Mit  dankenswerter  Bereitwilligkeit  sagte  er  zu  und 
suchte  sich  bei  dem  Untersuchungsrichter  mündlich  mit  dem 
Verhafteten  in  Verbindung  zu  setzen,  was  nicht  gelang.  Nun 
richtete  Herr  Dr.  Ornstein  über  Weisung  des  Unter- 
suchungsrichters an  den  Untersuchungshäftling  Bydzow- 
sky einen  Brief,  in  welchem  er  ihm  mitteilte,  daß  er  zu  seinem 
Verteidiger  bestimmt  sei,  und  ihm  anheimstellte,  für  den  Fall 
der  Zustimmung  das  beigelegte  Vollmachtsformular  zu  unter- 
zeichnen. Als  Antwort  erhielt  er  folgenden  Bescheid: 

„Zahl  1013. 

Das  k.  k.  Landesgericht  zu  Wien  in  Strafsachen. 

An  Sr.  Wohlgeboren  Herrn  Dr.  Karl  Ornstein,  Hof-  und 
Gerichtsadvokat  in  Wien. 

Der  von  Euer  Wohlgeboren  eingelangte  Brief  an  den  Inquisiten 
Josef  Bydzowsky  (nicht  Bydschofsky)  wurde  in  Gemäßheit  des 
§  187  St.-P.-O.  durch  den  Untersuchungsrichter  geöffnet  und  gelesen,  und 
infolge  des  Bedenkens  des  Untersuchungsrichters,  dem  darin  enthaltenen 
Ansinnen  zu  entsprechen,  hat  die  Ratskammer  des  k.  k.  Landesgerichts 
in  Wien  gemäß  §  94  St.-P.-O.  beschlossen,  daß  dieser  Brief  dem  genannten 


Graf  Lamezan  und  die  Advokaten 


Inquisiten  nicht  ausgefolgt,  sondern  Euer  Wohlgeboren  rückgestellt  werde, 
weil  der  gewünschte  Vorgang  das  dem  Beschuldigten  nach  §  39  St.-P.-O. 
eingeräumte  Recht,  sich  den  Verteidiger  zu  wählen,  beeinträchtigen  würde, 
und  zu  dem  Zwecke  dieser  Wahl  die  im  §  39,  Abs.  3  St.-P.-O.  vorgesehene 
Verteidigerliste  auch  dem  Inquisiten  Josef  Bydzowsky  auf  dessen  Ver- 
langen zur  Verfügung  stünde. 

In  Gemäßheit  dieses  Beschlusses  erhalten  Euer  Wohlgeboren  in  der 
Anlage  •/•  Ihren  Brief  zurück. 

Wien,  am  19.  Jänner  1894. 

Der  k.  k.  Präsident: 
L  ame  zan  m.  p." 

Es  ist  gewiß  ungeheuer  dankenswert,  daß  die  löbliche 
Eatskammer  den  "Cntersuchungshäftlingen  die  freie  Wahl 
ihrer  Verteidiger  sichern  will;  aber  wenig  Logik  scheint  uns 
darin  zu  stecken,  daß  man  dem  armen  Schuhmachergehilfen, 
der  in  Wien  vollständig  allein  steht,  den  Bat  seiner  einzigen 
Freunde,  seiner  Genossen,  vorenthalten  will  und  ihn  der  „Unbe- 
fangenheit" seiner  vollständigen  Unkenntnis  sämtlicher  Ver- 
teidiger Wiens  überläßt.  Die  Sache  wird  dadurch  nicht  besser, 
daß  die  löbliche  Ratskammer  so  genau  wie  wir  weiß,  daß  ein 
Schuhmachergehilfe  gewöhnlich  mittellos  und  darum  auf  die 
ex  offo-Verteidigung  oder,  wie  der  offizielle  Aus- 
druck lautet,  auf  die  ,,A  r  m  e  n  v  e  r  t  r  e  t  u  n  g"  angewiesen 
ist,  wodurch  die  Wahl  des  Verteidigers  ihm  ent- 
zogen und  dem  sogenannten  Turnus,  das  ist  der  alpha- 
betischen Eeihenfolge  der  Advokaten,  also  dem  Zufall  über- 
lassen wird.  Herr  Graf  Lamezan,  welcher  um  die  Würde 
des  Advokatenstandes,  um  die  Betätigung  des  Verteidiger- 
berufes im  hehrsten  Sinne  so  ganz  außerordentlich  besorgt  ist, 
möge  diesen  Fall  und  dessen  Folgen  wohl  überlegen.  In  99  von 
100  Fällen  wird  es,  wo  es  sich  um  hier  nicht  zuständige  allein- 
stehende Arbeiter  handelt,  ein  wahrer  Glücksfall  für  den  Häft- 
ling sein,  wenn  sich  jemand  findet,  der  ihm  einen  tüchtigen 
und  ernsten  Verteidiger  sucht,  und  wenn  sich  ein  Advokat 
findet,  der  diese  Verteidigung  übernimmt.  Wenn  das  Landes- 
gericht es  ablehnt,  die  Tatsache,  daß  ein  solcher  Verteidiger 
sich  gefunden  hat,  dem  Häftling  zur  Kenntnis  zu  bringen,  so 
ist  es  nicht  der  Verteidiger,  sondern  offenbar  das  Gericht^ 
welches  „das  dem  Beschuldigten  eingeräumte  Recht,  sich  dea 
Verteidiger  zu  wählen",  beeinträchtigt.  Das  ist  klar.  .         , 

18* 


276  Einer  vom  Holzinger-Senat 

Noch  eine  Bemerkung-  können  wir  nicht  unterdrücken. 
Herr  Graf  L  a  m  e  z  a  n  hat  im  Memorandum  darüber  Klage 
geführt,  daß  „die  besten  und  angesehensten  Namen  aus  der 
langen  Liste  des  Advokatenstandes  sich  vom  Verteidigungs- 
amt fernhalten".  Es  ist  wahr,  daß  unter  den  älteren  Advokaten 
wenige  dazu  zu  haben  sind ;  und  wenn  Herr  Graf  L  a  m  e  z  a  n 
wissen  will,  warum,  so  findet  er  am  vorstehenden  Fall  ein 
Beispiel  für  die  Gründe.  Es  ist  nicht  jedermanns  Sache,  die 
Behandlung,  wie  sie  der  Verteidigung  sehr  häufig  von  seiten 
des  Gerichtshofes  und  der  Staatsanwaltschaft  zuteil  wird,  zu 
ertragen  oder  Schriftstücke  entgegenzunehmen  wie  das  ol)en 
abgedruckte.  Dazu  gehören  gute  Nerven  und  ein  Kampfmut, 
den  leider  nicht  jeder  hat. 

Dieser  Artikel  wurde  —  ausnalimsweise  —  nicht   konfisziert. 


Einer  vom  Holzinger-Senat. 

Einen  furclitbaren  Hieb  versetzte  die  „Arbeiter-Zeitung'"  am  -1.  No- 
vember 1892  den  Gerichtsbehörden,  und  speziell  dem  berüchtigten 
II  olzinger- Senat  beim  Wiener  Landesgericht,  indem  sie  eine  authen- 
tische Abschrift  des  Disziplinarurteils  des  k.  k.  Oberlandes- 
gerichtes in  Wien  gegen  den  Landesgerichtsrat  Edmund  Schmied  el 
veröffentlichte.  Das  umfangreiche  Alvtenstück  zählte  25  Fälle  von 
schweren  Pflichtverletzungen  im  Amte  auf.  Er  hatte  in 
einer  ganzen  Anzahl  von  Fällen  die  Erledigung  von  Nichtigkeitsbeschwerden 
über  ein  Jahr  hinausgeschoben,  hatte  „wissentlich  unwahre  Auskünfte" 
gegeben,  Referate  hinterher  „korrigiert",  Strafgelder  über  ein  Jahr,  und  zwar 
so  lange  „bei  sich  behalten",  bis  sein  Disziplinarprozeß  schon  im  Gange  war. 
Indem  er  Akten  liegen  ließ,  hatte  er  die  Untersuchungshaft  von  Beschuldigten 
tun  Monate  verlängert.  Das  Aufreizendste  war  aber  das  Urteil:  Der  Richter 
wurde,  obwohl  seine  Taten  als  Verbrechen  des  Amtsmißbrauches  zu  bestrafen 
gewesen  wären,  von  seinen  Kollegen  nur  mit  der  Versetzung  nach 
S  l  e  y  r  unter  Belassung  seines  Ranges  und  seiner  Bezüge  bestraft.  Die 
Mitschuld  wegen  mangelhafter  Überwachung  der  Arbeiten  Schmiedeis  traf 
aber  auch  den  Landesgerichtsvizepräsidenten  Ritter  v.  H  o  1  z  i  n  g  e  r,  mit  dem 
Schmiedel  im  „Ilolzinger-Senat"  gesessQn  hatte,  und  den  Präsidenten 
L  a  m  e  z  a  n . 


Der  Artikel,   der   dem   Wortlaut   des  Disziplinarurteils  als   Einleitung 
diente,  war  von  Adler  vejfaßt  und  lautete: 


Einer  vom  Holzinger-Senat  277 


Ein  verurteilter  Landesgerichtsrat. 

Wir  sind  leider  sehr  häiifip;  in  der  Lage,  Tatsachen  ans 
Licht  zu  ziehen,  welche  beweisen,  wie  mangelhaft  unsere  Justiz- 
pflege und  politische  Verwaltung  ist,  wie  insbesondere  die 
Arbeiter  ihnen  auf  Gnade  und  Ungnade  ausgeliefert  sind.  Vom 
Abgeordneten  P  e  r  n  e  r  s  t  o  r  f  e  r  stammt  das  bekannte 
Wort:  „Hat  man  in  Österreich  jemals  einen  Polizeikommissär 
erlebt,  der  wegen  seiner  Amtsführung  bestraft  worden  wäre?"- 
In  der  Tat  sind  alle  Anklagen,  welche  von  selten  der  Arbeiter- 
schaft über  ungesetzliches  Vorgehen  von  Beamten  vorgebracht 
werden,  nur  geeignet,  diese  Beamten  in  den  Augen  ihrer 
Oberen  zu  empfehlen,  und  man  weiß,  daß  gerade  diese  Beamten 
am  raschesten  avancieren.  Sind  aber  schon  politische  Beamte 
in  Österreich  vollständig  immun,  so  gilt  das  noch  viel  mehr 
vom  Richter.  Wir  meinen  damit  nicht  jene  berühmte  in  den 
Staatsgrundgesetzen  ausgesprochene  Immunität:  „Die  Richter 
sind  in  Ausübung  ihres  richterlichen  Amtes  selbständig  und 
unabhängig."  Dieser  Paragraph  ist  auf  demselben  Papier  ge- 
druckt Avie  der  Rest  unserer  Staatsgrundgesetze  und  erfährt 
durch  Ordensauszeichnungen  und  Avancement  seine  ent- 
sprechende Einschränkung.  Aber  dem  Volke  gegenüber  Avird 
die  Unabhängigkeit  und  Unverantwortlichkeit  der  Richter  in 
so  strenger  Weise  aufgefaßt,  daß  sogar  die  gesamte  Presse, 
allerdings  fälschlich,  meint,  daß  ein  richterliches  Urteil  einer 
öffentlichen  Kritik  nicht  unterzogen  werden  dürfe.  Allerdings 
gibt  es  Fälle,  wo  die  liberale  Presse  den  gewohnten  Respekt 
vor  dem  Richter,  welchen  sie  ihrem  Lesepublikum  einzubleuen 
bestrebt  ist,  auf  einen  Moment  beiseite  setzt,  und  wir  erinnern 
uns,  welches  Geschrei  gegen  den  Landesgerichtsrat  G  i  o  n  i  m  a 
erhoben  wurde,  als  er  einige,  allerdings  wenig  geschmackvolle 
Bemerkungen  gegen  einen  jüdischen  Roßtäuscher  machte. 
Damals  waren  die  „Freiheit  und  die  Menschenrechte"  natürlich 
in  Gefahr.  Die  Sache  B  i  z  o  kontra  Wagner,  welche  wir  in 
letzter  Nummer  erzählt  haben  und  welche  bedeutet,  daß  ein 
junger  Herr,  der  zufällig  staatsanwaltschaftlicher  Funktionär 
ist,  einen  ehrenhaften  Mann,  welcher  sich  nur  um  sein  Recht 
gewehrt  hat,  im  Gerichtssaal  beschimpft,  und  zwar  unge- 
straft, diese  Tatsache  hat  natürlich  die  Presse  vollständig 
ignoriert.  War  es  ja  doch  nur  ein  Arbeiter,  um  den  es  sich 
handelte,  und  war  es  doch  ein  in  den  „besten  Kreisen  Wiens" 


278  Einer  vom  Holzinger-Senat 

gern  gesehener  junger  Mann,  den  man  hätte  tadeln  müssen. 
Aber  nicht  immer  bleiben  Gerichtsbeamte,  welche  ihre  Pflicht 
vernachlässigen,  unbestraft.  Vor  einigen  Wochen  wurde 
bekannt,  daß  ein  Wiener  Landesgerichtsrat  im  Disziplinarweg 
versetzt  worden  sei,  aber  die  Presse,  welche  pikante  Details 
mit  Begierde  aufgreift,  verschwieg  in  dieser  Sache  nicht  nur 
den  Namen,  sondern  alle  Details.  Durch  einen  anonymen  Ein- 
sender, welchem  wir  auf  diesem  Wege  unseren  Dank  aus- 
sprechen, sind  wir  in  den  Besitz  einer  authentischen 
Abschrift  des  Disziplinarurteils  über  den 
Landesgerichtsrat  Schmiedel  gelangt.  Wenn  wir 
es  trotz  seines  Umfanges  mit  wenigen  Kürzungen  vollinhaltlich 
veröffentlichen,  so  geschieht  dies  durchaus  nicht  aus  einer 
besonderen  Voreingenommenheit  gegen  die  Person  des  Landes- 
gerichtsrates Schmiedel.  Man  sagt  dem  Manne  nach,  daß 
er  zu  den  besseren  Leuten  im  Wiener  Landesgericht  gehört 
habe,  und  wir  wollen  dies  im  Hinblick  auf  andere  Herren 
durchaus  nicht  bezweifeln,  obwohl  der  Umstand,  daß  er  als  Bei- 
sitzer des  bekannten  H  o  1  z  i  _n  g  e  r  -  S  e  n  a  t  s  beim  Wiener 
Ausnahmegericht  sowie  anderen  politischen  Prozessen, 
zum  Beispiel  beim  Prozeß  Schönerer,  zugezogen  wurde, 
annehmen  läßt,  daß  er  zu  den  „absolut  verläßlichen"  Unter- 
gebenen des  Baron  Holzinger  gehörte.  Aber  darauf  kommt 
es  uns  gar  nicht  an.  Man  lese  das  unten  abgedruckte  Erkenntnis 
des  Oberlandesgerichtes  als  Disziplinargericht  und  man  wird 
finden,  daß  Herr  Schmiedel  in  einer  ganzen  Anzahl  von 
Fällen  die  Erledigung  von  Nichtigkeitsbeschwerden  über  ein 
Jahr  hinausgeschoben  liat,  daß  er  „wissentlich  unwahre"  Aus- 
künfte gegeben  hat,  daß  er  Referate  hinterher  korrigierte,  daß 
€r  Strafgelder,  die  ihm  im  Sommer  1891  übergeben  wurden,  in 
etwa  einem  Dutzend  von  Fällen  bei  sich  behielt  und  sie  merk- 
würdigerweise erst  insgesamt  auf  einmal  am  5.  März  1892 
}ierauszahlte,  offenbar  zu  einer  Zeit,  wo  sein  Disziplinarprozeß 
entweder  schon  im  Gange  war  oder  drohte. 

Unter  den  von  ihm  zurüekgelialtenen  Geldern  war  ein 
Betrag  von  31  Gulden,  den  die  Geschwornen  für  die  minder- 
jährige Theresia  Hoff  mann  gesammelt  hatten  und  welcher 
von  Herrn  Schmiedel  weder  abgeführt  noch  auch  im 
Protokoll  ersichtlich  gemacht  wurde.  Wir  meinen,  daß  es  ein 
Landesgerichtsrat  allerdings  nicht  notwendig  hat,  sich  mit  so 


Einer  vom  Holzinger-Senat  271) 


kleinen  Beträgen  abzugeben,  und  da  die  gesamte  Summe  aller 
zurückbehaltenen  Gelder  200  Gulden  nicht  viel  übersteigt,  so 
muß  es  nicht  absolut  Gewinnsucht  sein,  welche  ihn  dazu 
veranlaßte.  Aber  Herr  Schmiedel  hat  mehr  auf  dem  Ge- 
wissen! Er  hat  in  einer  Reihe  von  Fällen  die  Untersuchungs- 
oder  Strafhaft  dadurch  verlängert,  daß  er  die  Akten  liegen  ließ. 
In  dem  einen  Fall  hat  er  die  Untersuchungshaft  eines  gewissen 
Wollenstein  ohne  jeden  gesetzlichen  Grund  um  mehr  als 
sieben  Monate  verlängert! 

So  weit  die  Fakten,  welche  zu  einer  Erörterung  wohl 
nicht  Anlaß  bieten  würden,  wenn  nicht  das  Urteil  ein  so 
merkwürdiges  wäre.  Dieselbe  Behörde,  welche  den  Mann,  der. 
im  Wechsel  von  Überbürdung  an  Arbeit  und  Hunger  durch 
Arbeitslosigkeit  an  die  Grenze  des  Wahnsinns  gebracht,  ein 
Stück  Brot  nimmt,  unnachsichtlich  straft;  derselbe  Staat, 
welcher  Tausende  von  Menschen  dem  Schubwagen,  dem 
Kerker,  den  Korrektionshäusern  überliefert,  weil  sie  nicht  die 
„sittliche  Kraft"  haben,  frierend  und  mit  leerem  Magen  an 
wohlgenährten  und  satten  Menschen  vorüberzugehen,  ohne  sie 
aufzufordern,  von  ihrem  Überfluß  ihnen  ein  wenig  zukommen 
zu  lassen;  ein  Staat,  welcher  die  leiseste  Meinung  und  das  Aus- 
sprechen eines  entferntesten  Verdachtes,  daß  ein  Beamter  seine 
Pflicht  nicht  erfüllt  oder  die  Grenzen  des  Gesetzes  über- 
schritten habe,  als  Amtsehrenbeleidigung  und  Wachebelei- 
digung streng  bestraft;  ein  Staat,  welcher  jeden  in  der  Öffent- 
lichkeit ausgesprochenen  Zweifel  an  der  durchgängigen  Ehr- 
barkeit und  Vertrauenswürdigkeit  seiner  Beamten  unnachsicht- 
lich konfisziert  —  ein  solcher  Staat,  meinen  wir,  hätte  allen 
Grund,  das  eigene  Haus  rein  zu  halten.  Nun  sehen  wir  uns  das 
Urteil  an.  Die  Dinge,  welche  sich  Herr  Landesgerichtsrat 
Schmiedel  hat  zuschulden  kommen  lassen,  sind  in  drei 
Gruppen  zu  bringen.  Die  versäumte  Abfuhr  des  an  ihn  erlegten 
Geldes  ist  wohl  nicht  leicht  anders  als  eine  V  e  r  u  n  t  r  e  u  u  n  g 
zu  qualifizieren,  und  wenn  auch  wahrscheinlich  nicht  Gewinn- 
sucht, sondern  Leichtfertigkeit  vorliegt,  so  ist  es  doch  sehr 
merkwürdig,  daß  die  Herbeiführung  der  Straflosigkeit  durch 
den  Eintritt  „tätiger  Reue"  und  Ersatz  der  Gelder  in  allen 
Fällen  gerade  auf  den  5.  März  1892  fällt.  Eine  zweite  Gruppe 
von  Tatsachen  fällt  unter  den  Begriff  der  Vernach- 
lässigung     pflichtgemäßer     Obsorge,      welche. 


280  Einer  vom  Holzinger-Senat 

wenn  sie  zum  Beispiel  in  einer  Apotheke  durch  Verwechslung 
von  Arzneien  passieren  würde,  bis  zu  drei  Monaten  ver- 
schärften Arrests  nach  sich  ziehen  würde.  Die  dritte  Gruppe, 
welche  die  Verlängerung  der  Untersuchungshaft,  in  einem 
Falle  im  Ausmaß  von  sieben  Monaten,  betrifft,  fällt  je  nach 
der  Auffassung  unter  den  Begriff  des  Verbrechens  der  öffent- 
lichen Gewalttätigkeit  (§  93  des  Strafgesetzes)  oder  des  Miß- 
brauches der  Amtsgewalt  (§  101  St.-G.),  in  jedem  Falle  ein 
Delikt,  auf  welchem  ein  bis  fünf  Jahre  schweren  Kerkers 
stehen.  Nun  wollen  wir  ja  alle  mildernden  Umstände,  auf  die 
wir  noch  zurückkommen  werden,  gelten  lassen;  aber  daß  das 
Urteil  so  weit  geht,  die  mildeste  Disziplinarstrafe  zu  ver- 
hängen, die  überhaupt  im  Gesetz  vorgesehen  ist,  das  scheint 
uns  denn  doch  ein  ganz  unerhörter  Vorgang.  Die  aus- 
gesprochene Strafe  ist  nämlich  im  Gesetz  vom  21.  Mai  1868, 
§  6  a,  vorgesehen:  .,Die  Versetzung  mit  gleichem  Range  in 
einen  anderen  Dienstort  ohne  Anspruch  auf  die  Übersiedlungs- 
kosten." Herr  S  c  h  m  i  e  d  e  1  wurde  mit  B  e  1  a  s  s  u  n  g 
seines  Ranges  und  seiner  Bezüge  als  Landes- 
ger i  c  h  t  s  r  a  t  nach  S  t  e  y  r  versetzt  und  wird  dort  ungestört 
seines  Amtes  walten,  wozu  wir  die  dortige  Bevölkerung 
beglückwünschen. 

Unter  solchen  Umständen  ist  es  begreiflich,  daß  Beamte, 
die  sich  leichtere  Schädigungen  des  Publikums  zuschulden 
kommen  lassen,  sich  vollständig  sicher  und  straflos  fühlen. 
Und  es  ist  klar  zu  ersehen,  daß  Herr  S  c  h  m  i  e  d  e  1,  wenn 
nicht  insbesondere  der  eine  Fall,  welcher  eine  Verlängerung 
der  Untersuchungshaft  um  sieben  Monate  nach  sich  zog,  denn 
doch  einiges  Aufsehen  erregt  hätte,  vollständig  straflos 
geblieben  wäre.  Wir  verweisen  darauf,  daß  wir  in  der  letzten 
Nummer  konstatierten,  daß  bei  der  Bezirkshauptmannschaft 
T  e  p  1  i  t  z  unter  der  Ägide  des  Grafen  T  h  u  n  Eingaben  ver- 
lorengehen und  monatelang  unerledigt  bleiben;  wir  zweifeln 
nicht  daran,  daß,  insbesondere  da  die  Beschädigten  Arbeiter 
sind,  kein  Hahn  danach  krähen  wird.  Es  muß  eine  solche 
Summe  von  Vergehen  gehäuft  werden,  wie  im  Falle 
S  c  h  m  i  e  d  e  1,  bis  es  überhaupt  zu  einer  Disziplinarverhand- 
lung  kommt.  Das  milde  Urteil  läßt  schließen,  daß  etwas 
geringere  Vergehen  eben    alltäglich    sind. 


Einer  vom  Ho]zinger-Senat  281 

Freilich,  Herr  Schmiedel  hat  Milderungs- 
gründe. Erstens:  die  Überhäufung  mit  Arl)eiten.  Zweitens: 
die'  mangelhafte  Überwachung  seiner  Amtstätigkeit.  Da& 
Urteil  sagt  ausdrücklich,  daß  die  oben  erwähnten  Vorfälle  „bei 
einer  genauen  Überwachung  der  Amtstätig- 
keit keinen  so  bedeutenden  Umfang  hätten  annehmen 
können".  Wer  sind  nun  die  Herren,  welche  die  genaue  Über- 
wachung unterließen  ?  Herr  Landesgerichtsvizepräsident  H  o  1- 
z  i  n  g  e  r  in  erster  Linie  und  Herr  Landesgerichtspräsident 
L  a  m  e  z  a  n  in  zweiter  Linie,  zwei  wohlbekannte  Namen.  Der 
dritte  Milderungsgrund,  welchen  Herr  S  c  h  m  i  e  d  e  1  anführt. 
ist,  „daß  die  ihm  zugewiesenen  Hilfskräfte  ihrer  Qualität  nach 
minder  befähigt"  waren,  daß  seine  t '  Ij  e  r  1  a  s  t  u  n  g- 
gerade  dadurch  so  gestiegen  sei,  daß  er  „die 
von  den  Schriftführern  gearbeiteten  un- 
brauchbaren Urteile  vollständig  umarl^ei- 
ten  mußte".  Nun  wirft  diese  vom  Oberlandesgericht  in 
seiner  Urteilsmotivierung  bestätigte  Tatsache  kein  besonders^ 
günstiges  Licht  auf  unseren  jungen  juristischen  Nachwuchs 
überhaupt.  Aber  es  wird  unsere  Leser  interessieren,  zu  erfahren» 
daß  unter  den  Schriftführern,  welche  die  ..unbrauchbaren 
Urteile"  konzipierten,  der  Herr  Auskultant  ,,Herr"  Dr.  Julius 
Josef  Wagner  war,  derselbe  Herr,  welcher  wahrscheiniicli 
wegen  Unfähigkeit,  Urteile  zu  konzipieren,  zum  staatsanwalt- 
lichen Funktionär  befördert  wurde  und  als  solcher  unsere 
Parteigenossen  insultiert. 

So  sieht  es  bei  den  Justizbehörden  aus,  welche  über  uns 
zu  Gericht  sitzen.  Es  fällt  uns  durchaus  nicht  ein,  verallge- 
meinern und  alle  Richter  der  Vernachlässigung  ihrer  Pflicht 
beschuldigen  zu  wollen  oder  auch  den  Richterstand  so  zu  über- 
schätzen, daß  wir  ganz  besonders  erstaunt  wären,  daß  sich  auch 
unter  den  Richtern  solche  Dinge  ereignen.  Aber  wir  müssen 
zwei  Dinge  konstatieren.  Erstens  ist  es  höchst  bezeichnend,  daß 
in  dieser  Sache  Namen  von  Beamten  die  erste  Rolle  spielen, 
welche  sich  in  ihrem  Vorgehen  gegen  die  Arbeiterschaft  in  der 
Sache  durch  eine  unerhörte  Härte  der  Urteile  auszeichneten 
und  welche  in  der  Form  wie  Holzinger  und  W  a  g  n  e  r 
in  der  Schroffheit  ihres  Auftretens  ihresgleichen  suchen. 

Zweitens  ist  es  bezeichnend  für  den  Geist,  welcher  bei 
den     österreichischen   Behörden    herrscht,   daß    man    derartige- 


282  Einer  vom  Holzinger-Senat 

Vorkommnisse  nicht  nur  mit  der  gelindesten  Strafe  belegt,  die 
noch  anwendbar  ist,  sondern  daß  man,  was  das  wichtigste  ist, 
den  ganzen  Vorgang  geheimhält  und  vertuscht.  Man  irrt  sich 
in  den  betreffenden  Kreisen  sehr,  wenn  man  meint,  daß  das 
Gefühl  der  Rechtssicherheit  und  das  Vertrauen  zu  den  Be- 
hörden auf  diese  Weise  gewinnt.  Im  Gegenteil,  gerade  der 
Umstand,  daß  jeder  weiß,  daß  von  Beamten  gehäuftes  Unrecht 
verübt  werden  kann,  ohne  daß  man  je  von  einer  Bestrafung 
derselben  hört,  gerade  das  erzeugt  jenes  Gefühl  absoluter 
Rechtlosigkeit,  jenes  Gefühl  des  Ausgeliefertseins  an  eine 
fremde,  feindselige  und  in  geheimnisvolles  Dunkel  gehüllte 
Macht,  welches  beim  österreichischen  Volk,  insbesondere  bei 
der  Arbeiterklasse,  immer  mehr  wächst.  Die  Arbeiter  Öster- 
reichs werden  mit  Erstaunen  vernehmen,  wie  milde  öster- 
reichische Richter  zu  sein  vermögen,  freilich  in  einem  Falle, 
wo  nicht  von  österreichischen  Polizeispitzeln  verleitete  „An- 
archisten", sondern  ein  —  Mitglied  des  Anarchistengerichts- 
hofes der  Angeklagte  ist. 


Das  Aufsehen  war  riesig,  die  Verblüffung  im  Landesgericht  so  groß, 
daß  die  Nummer  nicht  konfisziert  wurde,  was  dann  überaus  peinliche  Folgen 
für  die  Justizbehörde  hatte.  Denn  da  die  Nachfrage  nach  der  Nummer  weit 
größer  war  als  die  Auflage  des  Blattes,  wurde  sofort  ein  Separat- 
abdruck gemacht,  der  bloß  den  Disziplinarakt  und  den  Artikel  der 
..Arbeiter-Zeitung"  enthielt.  Jetzt  setzte  die  Behörde  zu  spät  mit  der 
Konfiskation  wenigstens  des  Artikels  ein.  Die  veranstaltete  zweite  Auf- 
lage wurde  ebenfalls  konfisziert,  und  zwar  mit  einer  Begründung,  welche 
die  furchtbare  Verlegenheit  dartat:  Dadurch,  daß  zwei  unbedruckte  Seiten 
mit  der  Bezeichnung  „konfisziert"  versehen  seien,  werde  die  behörd- 
liche Konfiskationsverfügung  herabzuwürdigen  gesucht!  Als  in  der  dritten 
.■\uflage  auch  dieses  Vergehen  vermieden  wurde,  fand  die  Konfiskation  wogen 
fines  neu  erdachten  Delikts  statt:  Da  die  Herausgeber  Dr.  Adler  und 
Rudolf  Pokorny  „nicht  die  Verfasser  dieses  Urteils"  (gegen 
Schmiedel!)  sind,  haben  sie  kein  Recht,  einen  Separatabdruck  von  dem 
i'rteil  zu  veranstalten  —  welch  ein  Witz  der  grausamsten  Verlegenheit! 
Tatsächlich  erfolgte  nicht  bloß  die  Konfiskation  der  dritten  Auflage,  sondern 
auch  die  Vermteilnng  Adlers  und  Pokoinys  zu  je  30  Gnlden  Geldstrafe  — 
wegen  Verletzung  des  Gesetzes  zum  Schutz  des  geistigen  Eigentums,  jeden- 
falls eine  der  lustigsten  Verurteilungen! 

Natürlich  ließ  sich  Adler  die  Gelegenheit  nicht  entgehen,  die  Ver- 
legenheit der  IIolzinger-Leute  zu  vermehren.  Er  erhob  gegen  die 
Konfiskationen  Einspruch.  Das  Wiener  Landesgericht,  der  Ritter 
v.  Hol  z  in  g  er,  hätte  darüber  zu  entscheiden  gehabt,  aber  das  ging  doch 


Einer  vom  Holzinger-Senat  283 

nicht  an,  so  wurde  das  Landesgericht  Linz  zur  Verhandlung  delegiert 
und  Adler  fuhr  nach  Linz. 

Die  Einspruchsverhandlung. 

Nachdem  der  Staatsanwalt  Kopfinger  die  Verwerfung  des  Ein- 
spruchs beantragt  und  der  Vertreter  Dr.  Karl  Katzer  ihn  begründet  hatte, 
sprach   in   Vertretung   der  „Arbeiter-Zeitung" 

Dr.  Adler. 

Er  konstatierte  vor  allem,  daß  das  Erkenntnis  nicht,  wie 
der  Staatsanwalt  zu  glauben  scheine,  durch  Bruch  des  Amts- 
geheimnisses in  seine  Hände  gekommen  sei,  und  bedauerte, 
daß  man  einen  armen  Diurnisten  in  Steyr,  welcher,  wie  er  ver- 
sichern könne,  der  Sache  absolut  fernstehe,  wegen  des  un- 
gerechtfertigten Verdachtes  entlassen  habe.  In  zweiter  Linie 
konstatierte  er,  daß  nur  der  Artikel  der  Konfiskation  verfallen 
sei,  nicht  aber,  wie  der  Staatsanwalt  meine,  auch  das  Diszi- 
plinarerkenntnis.  Weiters  führte  er  den  Widerspruch  aus,  der 
darin  liege,  daß  der  Artikel  in  der  „Arbeiter-Zeitung",  die  vom 
Staatsanwalt  sehr  genau  gelesen  werde,  ohne  Anstand  ge- 
blieben sei,  erst  die  Sonderausgabe  wurde  konfisziert,  offenbar 
wieder  „mit  Rücksicht  auf  den  Leserkreis".  Der  Staatsanwalt 
möge  diesen  Widerspruch  in  der  Handhabung  der  Justiz  lösen, 
daß  ein  und  derselbe  Artikel  von  einem  und  demselben  Staats- 
anwalt das  eine  Mal  unbeanstandet  blieb,  das  andere  Mal  kon- 
fisziert wurde.  Der  Einspruchswerber  sei  in  der  Lage,  gegen 
das  Vorgehen  des  Wiener  Staatsanwalts  die  Autorität  des 
Wiener  Staatsanwalts  selbst  ins  Feld  zu  führen.  Was  aber 
der  Linzer  Staatsanwalt  in  Vertretung  der  Konfiskation  her- 
vorgehoben habe,  sei  ja  zum  Teil  richtig. 

Der  Artikel  wende  sich  in  der  Tat  durchaus  nicht  im 
wesentlichen  gegen  den  Landesgerichtsrat  Schmiede  1, 
welcher  uns  vielmehr  vollständig  gleichgültig  sei,  sondern  er 
konstatiere  allerdings,  wie  der  Staatsanwalt  ganz  richtig  her- 
vorhob, daß  ein  Ausnahmegerichtshof,  von  besonders  dazu 
geeigneten,  absolut  verläßlichen  Beamten  zusammengesetzt,  be- 
standen habe,  und  es  werde  weiter  im  Artikel  behauptet,  daß 
man  aus  diesem  Grunde  die  Anarchistenprozesse  und  den 
Prozeß  Schönerer  diesem  Gerichtshof  zugewiesen  habe. 
Der  Staatsanwalt  habe  vollständig  recht,  daß  das  in  dem 
Artikel   behauptet  werde,   nur   sei   das   keine   Entstellung   der 


284  Einer  vom  Holzinger-Senat 

Tatsachen,  im  Gegenteil,  es  wisse  jeder  der  Herren  vom  hohen 
Gerichtshof,  ja  selbst  der  Staatsanwalt  selbst  viel  besser  als 
der  Einspruchswerber,  wie  wahr  das  alles  sei. 

Bei  diesen  Worten  machte  der  Vorsitzende,  Herr  Oberlandesgerichtsrat 
Hocke,  den  Redner  aufmerksam,  daß  er  sich  auf  ein  Gebiet  zu  begeben 
scheine,  wo  Gefahr  vorliege,  daß  er  sich  in  seinen  weiteren  Ausführungen 
strafbarer  Handlungen   schuldig   machen   könnte. 

Dr.  Adler  fuhr  fort,  er  nehme  die  Warnung  dankbar 
zur  Kenntnis  und  werde  vom  Holzinger-Senat  nicht  weiter 
sprechen.  Er  konstatierte  aber  zum  Schluß,  daß  in  diesem 
Artikel  durchaus  nicht  zum  Haß  und  zur  Verachtung  gegen 
das  Richteramt  aufgereizt  worden  sei,  sondern  im  Gegenteil^ 
daß  jeder  Richter,  der  von  der  Würde  seines  Amtes  durch- 
drungen sei,  nur  dafür  dankbar  sein  müsse,  wenn  die  Würde 
des  Richteramtes  gegen  Mißbräuche  verteidigt  und  diese  Miß- 
bräuche energisch  kritisiert  werden.  Die  Geheimnistuerei  über 
sei  ebensowenig  im  Interesse  des  Richteramtes;  im  Gegenteil: 
gerade  der  Umstand,  daß  das  Volk  fühle,  daß  an  ihm  gehäuftes 
Unrecht  verübt  werde,  daß  aber  niemals  eine  Sühne  erfolge^ 
verursacht  die  wachsende  Rechtsunsicherheit  im  arbeitenden 
Volke. 

Schließlicb  gibt  Dr.  Adler  der  Genugtuung  Ausdruck,, 
daß  die  Delegierung  nach  Linz  stattgefunden  habe,  weil  da- 
durch das  Wiener  Landesgericht  in  seiner 
Gänze  seine  eigene  Befangenheit  in  dieser  Sache 
konstatiert  habe. 

Der  Staatsanwalt  Kopfinger  erklärte  nunmehr,  daß  er  absolut 
nicht  in  der  Lage  sei,  zu  wissen,  warum  der  Artikel  beim  ersten  Erscheinen 
nicht  konfisziert  wurde,  hingegen  erst  beim  Separatabdruck  mit  Beschlag 
belegt  worden  sei.  Es  sei  auch  nicht  seines  Amtes,  darüber  ein  Urteil  zu 
geben.  Er  erklärt  weiters,  daß  Dr.  Adler  selbst  gesagt  habe,  daß  sich  der  Artikel 
nicht  sowohl  gegen  den  verurteilten  Landesgerichtsrat  Schmiedel,  sondern 
geigen  hohe  Funktionäre  des  Wiener  Landesgerichtes  gerichtet  habe,  gegen 
welche  eben  in  offenbarer  Weise  zum  Haß  und  zur  Verachtung  aufgereizt 
worden  sei.  Er  wendet  sich  auch  gegen  die  Ausführungen  des  Dr.  Katzer, 
welcher  vom  Landesgerichtsrat  Schmiedel  als  einem  ehrgeizigen  Streber 
gesprochen  habe,  und  bittet  um  Abweisung  des  Einspruches. 

Dr.  Katzer  ergriff  noch  einmal  das  Wort,  nur  um  zu  konstatieren,, 
daß  der  Herr  Staatsanwalt  ihn  vollständig  mißverstanden  habe,  wenn  er 
meinte,  daß  er  mit  seinem  ganz  allgemeinen  Beispiel  vom  ehrgeizigen  Streber 
den  Landesgerichtsrat  Schmiedel  gemeint  habe.  Gerade  an  diesen  Herrn  habe- 
er  dabei  am  allerwenigsten  gedacht. 


Die  Verurteilung  zweier  Rednerinnen  285 

Nach  kurzer  Beratung  erklärte  der  Gerichtshof  den  Einspruch, 
soweit  er  den  Artikel  betreffe,  für  abgewiesen  und  hob  nur  die 
Konfiskation  des  Disziplinarerkenntnisses  auf,  welches  gar  nicht 
konfisziert  war. 


Die  Verurteilung  zweier  Rednerinnen. 

Das  Landesgericht  hatte  am  4.  Jänner  1894  unter  dem  Vorsitz  des 
Ritter  v.  H  o  1  z  i  n  g  e  r  die  Sozialdemokratin  Amalie  R  y  b  a*)  wegen 
„Schmähung  und  Verächtlichmachung  der  Behörden  und  des  Reichsrates"  zu 
drei  Wochen  Arrest,  die  Sozialdemokratin  Charlotte  Glas**) 
wiegen  „Verbrechens  der  Beleidigung  von  Mitgliedern  des  kaiserlichen 
Hauses"  zu  vier  Monaten  schweren  Kerkers  verurteilt;  beide' 
Delikte  wurden  angeblich  in  Versammlungsreden  begangen.  Die  Verurteilung 
erfolgte  auf  Grund  der  aus  einzelnen  Notizen  der  die  Versammlung  über- 
wachenden Regierungskommissäre  nachträglich  zusammengestoppelten 
Relationen;   unbedingt    lag   im   Falle    Glas    ein   bewußter    Justizmord   vor. 

Adler  schrieb  am  9.  Jänner  in  Nr.  3  der  „Arbeiter-Zeitung" 
folgende  geharnischte  „Glosse": 

Herr  Ritter  v.  Holzinger  hat  seiner  Karriere  wieder 
einmal  einen  Justizmord  geleistet.  Die  Verurteilung  der  Ge- 
nossin Glas  ist  ein  neuer  Stoß,  welchen  dieser  Herr  der 
Hechtssicherheit  in  Österreich  versetzt.  Er  hat  es  bereits  zu- 
wege gebracht,  daß  das  Vertrauen  in  die  Justiz  nicht  etwa  nur 
bei  den  Arbeitern,  sondern  bei  allen  Klassen  der  Bevölkerung 
im  raschen  Schwinden  begriffen  ist,  daß  jedermann  weiß,  daß 
ein  politischer  Prozeß,  bei  dem  Holzinger  präsidiert,  ent- 
schieden ist,  bevor  die  Verhandlung  begonnen. 

Es  muß  einmal  offen  herausgesagt  werden,  wer  dieser 
Holzinger  ist,  da  es  scheint,  daß  es  in  maßgebenden  Kreisen 
unbekannt  ist,  wie  die  wohlunterrichtete  öffentliche  Meinung 
über  ihn  urteilt.  O,  wir  wissen,  der  Mann  hat  Verdienste:  er 
hat  als  Präsident  des  Ausnahmegerichtshofes  mit 
kaltblütiger  Grausamkeit  das  Verurteilungsgeschäft  besorgt 
und  dabei  den  Lockspitzeleien  des  F  r  a  n  k  1  die  Mauer  ge- 
macht; er  hat  den  verhaßten  Schönerer  zu  Fall  gebracht, 
indem  er  dessen  dummen  Streich  zu  einem  Verbrechen  um- 
urteilte ;  er  versteht  es  vortrefflich,  heikle  Prozesse  „diskret** 


*)  Jetzt  Seidel,  Mitglied  des  Nationalrates. 
**)    Jetzt    Pohl,    Übersetzerin   beim    Internationalen    Gewerkschafts- 
bund in  Amsterdam. 


286  Die  Verurteilung  zweier  Rednerinnen 

zu  führen;  er  ist  überhaupt  ein  Beamter,  der  brauchbar,  zu 
allem  brauchbar  ist. 

Aber  ist  denn  wirklich  das  Interesse  des  Staates,  daß 
unbequeme  Menschen  beseitigt  werden,  so  groß,  daß  ihm  selbst 
um  den  Preis  der  schwersten  Verletzungen  des  öffentlichen 
Rechtsgefühls  genügen  muß?  Meint  man  die  Sicherheit  des 
Staates  wirklich  zu  fördern,  wenn  an  Stelle  der  Ehrfurcht 
vor  dem  Eichter  die  Furcht  vor  dem  Henker  tritt? 

Der  Fall  Glas  ist  nicht  der  schwerste,  der  auf  dem 
Gewissen  Holzingers  lasten  würde,  wenn  er  eines  hätte.  Aber 
dieser  Fall  zeichnet  sich  aus  durch  die  seltene  Klarheit  und 
objektive  Gewißheit  der  Unschuld  der  Verurteilten 
und  durch  die  kalte  Roheit  des  Urteils.  Die  Sozial- 
demokraten heulen  nicht,  wenn  sie  verurteilt  werden,  wo  sie 
im  Bewußtsein  ihres  guten  Rechtes  irgendeinen  Para- 
graphen des  Gesetzes  übertreten  haben,  was  oft  nicht  zu 
vermeiden  ist;  und  wenn  einer  von  uns  aus  Unvorsichtigkeit 
etwa  oder  gar  aus  Renommisterei  sich  Abstrafungen  zuzieht, 
so  erfährt  weit  eher  er  Tadel  aus  den  Reihen  der  Genossen  als 
der  Richter,  der  seiner  Amtspflicht,  wie  wir  sehr  wohl  wiss(yn, 
rücksichtslos  genügen  muß.  Wenn  aber,  wie  im  Falle  der  Ge- 
nossin G 1  a  s,  die  Unschuld  auf  der  Hand  liegt,  ein  Schnld- 
beweis  nicht  einmal  dem  voreingenommensten  Richter  glaub- 
haft sein  kann,  wenn  der  Richter  nicht  seiner  wenn  auch 
noch  so  harten  Amtspflicht,  sondern  lediglich  seinem  Bedürf- 
nis nach  Befriedigung  der  Grausamkeit  und  nach  Karriere 
genügt,  dann  muß  jedermann  empört  aufschreien. 

Gegen  die  Genossin  Glas  zeugte  eine  Relation,  die  ein- 
gestandenermaßen von  zwei  Polizisten  nach  der  Versammlung 
zusammengeflickt  worden.  Nur  einer  dieser  Polizeikonmiis- 
säre  behauptet,  den  inkriminierten  Satz  gehört  zu  haben;  der 
zweite  weiß  nur,  daß  die  zwei  Worte  „Erzherzoge"  und  „Herz'' 
gefallen  sind,  aber  er  kann  den  Zusammenhang  nicht  angeben. 
Dieser  Zusammenhang  wurde  ganz  ungezwungen  und  sinn- 
gemäß von  der  Angeklagten  hergestellt,  während  der  inkrimi- 
nierte Satz  an  dieser  Stelle  geradezu  sinnlos  wäre.  Drei 
weitere  Zeugen  konstatierten,  daß  jener  Satz  nicht  ge- 
sprochen wurde trotzdem  Verurteilung,  trotzdem  vier 

Monate  Kerker  für  ein  harmloses  Mädchen  von  zwanzig 
Jahren,  eine  Strafe,   die  eine   empörende   Roheit  wäre,  selbst 


Drei  vielsagende  Zeilen  287 

wenn  der  verbrecherische  Satz  von  ihr  wirklich  gesprochen 
worden  wäre. 

Genossin  Glas  hat  aber  jenen  Satz  nicht 
gesprochen;  sie  w.urde  unschuldig  verurteilt, 
und  Herr  Holzinger  weiß,  daß  er  eine  Unschuldige  ver- 
urteilt hat. 

Das  Obergericht  wird  dieses  Urteil  kassieren,  denn 
Dutzende  von  Zeugen  stehen  zur  Verfügung,  die  zu  beeiden 
in  der  Lage  sind,  daß  jener  Satz  in  der  Tat  nicht  gesprochen 
wurde. 

Verurteilt  aber  bleibt  unter  allen  Umständen  Herr  H  o  1- 
zinger;  geschädigt  bleibt  die  Rechtssicherheit  der  Staats- 
bürger und  die  Achtung  vor  der  Justiz  in  Österreich.  Das  Un- 
heil, das  ein  „Richter"  wie  Holzinger  anrichtet,  beschränkt  sich 
keineswegs  auf  die  Opfer  seiner  eigenen  Urteile.  Er  steigt  un- 
aufhaltsam empor  auf  der  Eangleiter  und  darum  macht  er 
Schule.  Seine  Kollegen  wissen,  was  sie  von  ihm  zu  halten 
haben,  aber  sie  wollen  vorwärtskommen;  sie  beißen  die  Zähne 
zusammen,  sie  schlucken  die  Verachtung  hinunter,  sie 
schwingen  sich  auf  zur  Selbstverachtung  und  sie  folgen  ihm 
nach.  Der  Name  Holzinger  bedeutet  für  die  österreichische 
Justiz  die  Herrschaft  der  glatten  Routine,  und  des  brutalen 
Zynismus.  Wir  meinen,  daß  es  hohe  Zeit  sei,  daß  das  auch 
öffentlich  ausgesprochen  werde,  was  seit  längst  alle  wissen,  die 

sich  um  die  Rechtspflege  in  Österreich  kümmern.  V.  A. 

*  * 

Der  Artikel  wurde  in  seiner  Gänze  konfisziert.  Das  Aufseilen,  das 
er,  da  er  ja  trotzdem  überall  gelesen  wurde,  hervorrief,  war  unbesclireiblich. 
Allgemein  wurde  die  Erliebung  der  Anklage  gegen  Adler  erwartet,  aber  — 
Holzinger  wagte  nicht  vor  die  Geschwornen  zu  gehen  und  ließ  die  Schande 
auf  sich  sitzen.  So  mächtig  war  die  Wirkung,  daß  der  Oberste  Gerichts-  als 
Kassationshof  der  Berufung  gegen  das  Schandurteil  Folge  gab  und 
es    aufhob. 

Drei  vielsagende  Zeilen. 

Als  der  Ritter  v.  Holzinger  zur  Belohnung  für  seine  Schergen- 
dienste zum  k.  k.  H  0  f  r  a  t  avancierte,  schrieb  Adler  in  der  „Arbeiter- 
Zeitung"  (Nr.  173  vom  26.  Juni  189.5)  folgende  Zeilen: 

Die  letzte  Tat  des  Grafen  Schönborn  war  die  Ernennung 
des  Holzinger  zum  Hof  rat.  Nun,  wenn  den  Hof  raten  der 
neue  Kollege  genehm  ist  .  .  . 


288  Der  Selbstmord  Holzingers 

Der  Selbstmord  Holzingers. 

In  der  Sonntagsnacht  auf  den  30.  Dezember  1901  erschoß  sich 
^ler  Vizepräsident  des  Wiener  Landesgerichtes  Hofrat  Ritter  v.  H  o  1  z  i  n  g  e  r. 
Wie  es  offiziell  hieß,  wegen  drohender  Erblindung,  in  Wahrheit,  weil  er  die 
Entdeckung  und  A'erfolgung  einer  Kinderschändung  fürchten 
mußte.  Nachdem  in  der  Montagnummer  der  „Arbeiter-Zeitung"  Austerlitz 
einen  scharfen  Artikel  geschrieben  hatte  („An  seinem  Sarg  erscheint  das 
Heer  der  unschuldig  Verurteilten  und  klagt  den  toten  Richter 
schlimmsten  und  verderblichsten  Unrechts  an!"),  erschien  tags  darauf 
(Nr.  359  vom  31.  Dezember)  an  der  Spitze  des  Blattes  ein  Artikel  von 
Adler: 

Der  schlechte  Richter. 

Man  soll  dcu  Toten  nur  Gutes  nachreden.  Das  ist  eine 
Lillige  Mahnung,  die  man  für  harmlose  Privatleute  gerne 
gelten  lassen  mag.  AVen  man  aber,  als  er  lebte  und  mächtig 
war,  als  das  Böse  bekämpfte,  den  nach  Gebühr  zu  beurteilen, 
wenn  sein  Leben  abgeschlossen,  ist  Recht  und  Pflicht.  Denn 
liöher  als  die  sentimentale  Tradition  der  Rücksicht  auf  Tote 
.steht  die  Pflicht  gegen  die  Lebenden.  Neben  dem  offiziellen 
Kandukt  von  mehr  oder  minder  bewußt  erlogenen  Trauer- 
reden an  Holzingers  Bahre  darf  die  Stimme  der  Wahrheit 
nicht  fehlen. 

In  Frankreich  wird  ein  Mann  verehrt,  den  sie  „le  bon 
juge",  den  guten  Richter  nennen,  weil  er  sucht,  das  enge, 
alte  Gesetz  zu  dehnen,  zu  sprengen,  wenn  es  sein  muß,  weil  er 
seine  Richtersprüche  entgegen  der  juristischen  Fiktion  auf 
die  sozialen  Tatsachen,  die  soziale  Wirklichkeit  gründet,  weil 
er  seine  Urteile  schü]^ft  aus  dem  lebendigen,  sozialen  Rechts- 
bewußtscin.  Holzin  g  er  war  der  schlechte  Richter. 
Nicht  seine  Strenge,  nicht  seine  Härte  klagen  wir  an.  Zu  allen 
Zeiten  hat  es  beschränkte  Justizfanatiker  gegeben,  die  ver- 
meinten, mit  Galgen  und  Kerker  das  Verbrechen  ausrotten 
zu  können.  Nicht  die  Spur  von  solcher  Leidenschaft  war  in 
Holzinger;  kaltblütig  betrieb  er  sein  Verurteilungsgeschäft 
und  richtete  im  Auftrag,  wie  der  Henker  im  Auftrag  henkt. 
Vielleicht  sogar  war  ihm  Menschenhaß  ebenso  fremd  wie 
Menschenliebe.  Er  wollte  hinaufkommen  und  er  wußte,  daß 
das  dem  am  besten  gelingt,  der  tut,  was  verlangt  wird.  Für  ihn 
hatten  Justiz  und  Recht  nichts  miteinander  zu  tun,  sondern  Justiz 
war  ihm  ein  Apparat,  der  Gesetzesparagraphen  zu  Herrscliafts- 


Der  Selbstmord  Holzingers  289 


zwecken  verwendet.  Er  war,  was  man  einen  guten  Juristen 
nennt,  und  verstand  den  Apparat  elegant  zu  handhaben,  so  daß 
äußerlich  alles  klappte ;  darum  war  er  so  verwendbar  für  die 
schwierigsten  Aufgraben.  Es  gibt  Dinge,  die  der  Unverfrorenste 
nur  mit  der  Zange  angreifen  möchte:  Holzingcr  war  diese 
Zange,  ein  unentbehrliches  Justizwerkzeug. 

So  wurde  Holzinger  mehr  als  ein  streberischer  Beamtej'. 
er  wurde  eine  Einrichtung.  Als  in  den  achtziger  Jahren  die 
österreichische  Arbeiterbewegung  unter  tätiger  Mitschuld  ein- 
zelner Polizisten  auf  Abwege  gelenkt  wurde,  um  dann  er- 
drosselt zu  w^erden,  war  Holzinger  ein  notwendiges  Glied 
dieser  Maschinerie.  Ohne  den  Eichter  Holzinger  wäre  der 
Polizist  Frankl  unmöglich  gewesen.  Die  Sistierung  der  Ge- 
schwornengerichte  für  „anarchistische"  Delikte  hatte  nur  den 
Sinn,  die  Möglichkeit  eines  Ausnahmesenats  zu  schaffen,  den 
dessen  Vorsitzender,  Holzinger,  zusammenstellte  nach  seinem 
Ebenbild.  Nur  die  kalte  Skrupellosigkeit  Holzingers  ver- 
mochte es,  Dutzende  von  armen  Menschen  der  trockenen 
Guillotine  zu  überweisen,  deren  schlimmste  Schuld  die  Blind 
heit  war,  mit  der  sie  den  Lockspitzeln  des  Frankl  ins  Garn 
gingen.  Es  hat  Fälle  gegeben,  wo  dieser  Zusammenhang  akten- 
mäßig klar  war;  Holzinger  hat  stets  verhindert,  daß  er  im 
Gerichtssaal  festgestellt  werde,  und  ohne  mit  der  Wimper  zu 
zucken,  mit  vollem  Bewußtsein,  in  genauer  Kenntnis  des  Sach- 
verhalts hat  er  die  Urheber  des  Systems  gedeckt  und  seine 
Opfer  dem  Zuchthaus  überantwortet,  wo  sie  an  Tuberkulose 
und  Skorbut  zugrunde  gegangen  sind.  Man  muß  das  erlebt 
haben,  man  muß  diesen  Eichter  und  diese  Angeklagten  gesehen 
haben,  um  zu  begreifen,  daß  Holzinger  und  Frankl  keineswegs 
die  Vernichter  des  Terrorismus  waren,  sonck'rn  die  furcht- 
barsten Hindernisse  für  seine  Bekämpfung. 

Wie  Holzinger  die  notwendige  Ergänzung  des  SystcufS 
Frankl  gewesen,  so  war  er  auch  die  notwendige  Ergänzung  des 
objektiven  Verfahrens  in  Preßsachen.  Wenn  gegen  eine  Kon- 
fiskation Einspruch  erhoben  wurde,  so  hatte  er  die  Begrün- 
dung für  die  Bestätigung  der  Konfiskation  und  die  Abweisung 
des  Einspruches  zu  formulieren.  Das  besorgte  er  völlig  auto- 
matisch, in  den  letzten  Jahren  sogar  ohne  Anspruch  auf 
Juristische  Findigkeit.  Auch  liier  besorgte  er  einfach,  was  num 
von    ihm  verlangte.    In    seiner  ganzen  Tätigkeit  war    er    der 

19 


290  Der  Selbstmord  Holzingers 

Gleichmut  selbst.  Nichts  schien  ihm  erstaunlicher  zu  sein,  als 
wenn  Verteidiger  oder  Angeklagter  so  töricht  waren,  an  sc:n 
Rechtsgefühl  zu  appellieren.  Dann  pflegte  er  seine  innere 
Kälte  durch  affektierte  Übertreibung  der  Gleichgültigkeit 
auch  äußerlich  zu  markieren. 

Es  wäre  schwer,  den  vollen  Umfang  des  Schad-ens  fest- 
zustellen, den  ein  Richter  wie  Holzinger  anrichten  kann,  and 
jedenfalls  ist  er  durch  das  Maß  des  Leidens  keineswegs  er- 
schöpft, das  er  über  seine  Opfer  gebracht  hat.  Es  wäre  kein 
Wunder,  wenn  die  schwächeren  Elemente  der  nachstrebenden 
jüngeren  Generation  von  Richtern  dadurch  verführt  würben, 
daß  sie  sehen,  wie  die  mit  kaltem  Zynismus  dargebotene  Ver- 
wendbarkeit zvmi  Erfolg  führt;  daß  sie  begreifen,  wie  jede  Spur 
von  dem,  was  richterlichem  Gewissen  ähnlich  sieht,  nur  ein 
Hindernis  für  diese  glänzende  Karriere  gewesen  wäre.  Mag 
Selbstachtung  davor  bewahren,  seinem  Beispiel  zu  folgen;  un- 
heilbaren Schaden  hat  Holzinger  der  Rechtssicherheit  in 
Österreich  gebracht.  Mag  man  heute  seine  glatte  Routine  be- 
wundernd preisen,  im  Bewußtsein  aller  Wissenden  war  er  der 
Vertreter  der  schlechtesten  Seite  der  österreichischen  Justiz, 
war  er  der  schlechte  Richter. 


in. 

Adler  als  Verteidiger. 


Weshalb  damals  konfisziert  wurdu  293 


Weshalb  damals  konfisziert  wurde. 

Die  Nummer  16  der  „Gleichheit"  vom  0.  April  1887  war  wegen  der 
folgenden  Stellen  konfisziert  worden : 

1.  Wien.  Dienstag  den  5.  April  beehrte  die  Polizei  den  Genossen 
Franz  Wedral  um  halb  6  Uhr  früh  in  seiner  Wohnung,  während  derselbe 
noch  in  tiefem  Schlaf  lag,  um  eine  Hausdurchsuchung  vorzunehmen.  Ge- 
funden wurde  nichts  Nennenswertes.  Mit  großem  Eifer  durchsuchte  man  alle 
Möbel,  Kleider,  und  sogar  der  Herd  in  der  Küche  mußte  sich  eine  gründ- 
liche Untersuchung  gefallen  lassen.  Genosse  Wedral,  welcher  nichts 
weiter  als  Mitglied  des  Arbeiter-Bildungsvereines  in  Wien  ist,  erscheint 
also  deshalb  schon  für  staatsgefährlich. 

2.  Aus  der  m  der  Volksversammlung  iii  Schwenders  Kolosseum 
•  Tagesordnung :  Die  politischen  Forderungen  der  Arbeiter) 
lieschlossenen  Resolution  die  Einleitung: 

In  Erwägung,  daß  die  kapitalistische  Gesellschaftsordnung  ihrem 
Höhepunkt   und    damit   ihrem    Untergang   entgegengeht; 

daß  die  Begleiterscheinungen  und  Folgen  dieser  Wirtschaftsform:  Ver- 
einigung der  Produktionsmittel  in  immer  weniger  Händen,  Massen- 
elend und  Arbeitslosigkeit  in  immer  kolossalerem  Umfang 
wachsen; 

daß  somit  die  Entwicklung  zu  einer  neuen  Wirtschaftsform  mit 
ausschließlichem  Eigentum  der  Gesellschaft  an  sämt- 
lichen Produktionsmitteln  geschichtlich  notwendig  ist  und  zu- 
gleich vom  Standpunkt  der  Menschlichkeit  mit  allen  Mitteln  erstrebt 
werden  muß; 

in  Erwägung,  daß  die  Unkenntnis  der  Bedingungen  der  ökono- 
mischen Entwicklung  von  den  herrschenden  Klassen  gewaltsam  aufrecht- 
erhalten wird; 

daß  aber  die  Klarheit  und  Einsicht  in  dieselben  auf  beide  n 
Seiten  die  einzige  Möglichkeit  bieten,  daß  sich  der  Klassenkampf  rasch 
und  mit  möglichst  wenig  Opfern  vollzieht ; 

3.  femer  die  Ausführungen  des  Redners 

Krapf:  Kollegen!  Nach  der  Annahme  dieser  Resolution  erübrigt  mir 
nur  noch  wenig  zu  sagen;  trotzdem  möchte  ich  die  heutige  Tagesordnung 
auch  von  meinem  Standpunkt  aus  beleuchten.  Diese  Forderungen  stellen  die 
Arbeiter  an  die  Regierung  —  die  Regierung  besteht  heute  aus  Abgeordneten 
der  Bourgeoisie  und  infolgedessen  können  wir  die  ganze  Regierung  nur  als 
einen  Extrakt  der  heutigen  Bourgeoisie  betrachten.  Daß  unsere  Regierung 
nicht  arbeiterfreundlich  ist,  das  wird  allen  einleuchten;  es  ist  in  unzähligen 
Versammlungen  gesagt  worden,  wie  konträr  die  Ansichten  der  Arbeiter  und 
der  Bourgeoisie  auseinandergehen.   Wir  stellen   die   Forderungen  nach    poli- 


294  Weshalb  damals  konfisziert  wurde 

tischer  Freiheit,  wenn  ich  absehe  von  unserem  Rechte,  deshalb,  weil  wir 
die  eigentlichen  Steuerzahler  sind  und  die  Steuern  der  Bourgeoisie  auch 
nur  aus  unserem  Sack,  aus  unserer  Arbeit  gezahlt  werden.  —  Vor  Jahren, 
als  das  zuerst  zum  Bewußtsein  kam,  da  wußte  die  Bourgeoisie  nichts  anderes 
zu  sagen,  als:  Arbeiter,  zuerst  bildet  euch  und  dann  bekämpft  uns.  — 
Wenn  wir  Freiheit  der  Propaganda  verlangen,  so  wird  uns  gewöhnlich  ent- 
gegengehalten, das  Abhalten  von  Versammlungen  und  die  Verbreitung  von 
sozialistischen  Ideen  sei  staatsgefährlich.  Unterscheiden  wir  zwischen 
Volk  und  Staat,  so  haben  wir  wieder  Bourgeoisie  und  Arbeiter,  und  da 
glaube  ich,  wenn  alle  die  Freiheiten,  welche  die  Arbeiterpartei  fordert,  ge- 
währt würden,  sie  wären  lange  nicht  so  staatsgefährlich,  als  die  An- 
schaffung von  Repetiergewehren  volksfeindlich  ist.  (Unterbrechung  durcli 
den  Regierungsvertreter.)  Ich  habe  ohnedies  nicht  mehr  viel  hinzuzufügen. 
Wo  in  irgendeinem  Lande  eine  freiheitliche  Gesetzgebung  existiert,  wurde 
sie  vom  Volk  selbst  erkämpft.  Die  Freiheit,  die  wir  verlangen,  wird  uns 
die  Bourgeoisie  ebensowenig  jemals  freiwillig  geben,  sondern  wir  müssen 
sie  uns  selbst  erkämpfen.  Daß  kern  unnützes  Blutvergießen  stattfindet,  das 
überlassen  wir  der  Bourgeoisie,  sie  soll  sich  mit  Bildungsmitteln  befassen 
und  dann  daraus  ihre  Folgerungen  ziehen.  (Beifall.^) 

Die   Einspruchsverhandlung. 

Die  Verhandlung  über  den  Einspruch  gegen  diese  Konfiskation  fand 
vor  dem  k.  k.  Landes-  als  Preßgericht  unter  dem  Vorsitz  des  Landesgerichts- 
rates Dr.  v.  Holzinger  statt:  Dr.  Adler  und  Dr.  Wolf-Eppinger  ver- 
traten, den  Einspruch.  Wir  bringen  hier  die  Reden  des  Staatsanwalts  und 
Adlers.  (-Gleichheit"  Nr.  23  vom  28.  Mai  1887.) 

Staatsanwalt  Dr.  Soos:  Die  erste  von  der  Staatsanwaltschaft 
inkriminierte  Stelle  begründet  nach  meiner  Auffassung  den  Tatbestand  des 
Vergehens  gegen  die  öffentliche  Sicherheit  und  Ordnung  nach  §  300.  Dieser 
normiert  es  als  ein  Vergehen,  wenn  durch  Schmähungen  oder  Verspottungen, 
unwahre  Angaben  und  Entstellungen  Verordnungen  und  Entscheidungen 
herabzuwürdigen  versucht  werden.  Es  ist  nun  an  dieser  Stelle  eine  Haus- 
durchsuchung, die  bei  Genossen  Wedral  vorgenommen  wurde,  zum 
Gegenstand  einer  Besprechung  gemacht  worden.  Dieselbe  behandelt  An- 
ordnungen der  Behörden,  die  seitens  der  Partei,  welche  dieses  Blatt  vertritt, 
selbstverständlich  niclit  mit  liebevollen  Augen  angesehen  werden.  Ich 
glaube  aber,  daß  diese  Notiz  über  den  Rahmen  einer  gestatteten  Kritik 
liinausgeht,  denn  es  kommen  Ausdrücke  vor,  die  nach  meiner  Meinung  die 
Behörden  verspotten.  Es  heißt  da,  daß  die  Polizei  den  Genossen  Wedral 
.,beehrt",  der  Genosse  Wedral  ist  auf  jeden  Fall  nicht  vom  Besuch  der 
Polizei  erfreut  gewesen,  selbst  wenn  er  unschuldig  war.  Es  ist  also  eine 
Ironie  in  diesem  Ausdruck  gelegen,  und  eine  Ironie,  welche  mit  Rücksicht 
auf  den  Leserkreis,  für  welchen  dieses  Blatt  berechnet  ist,  auf  fruchtbaren 
Boden  fallen  würde,  denn  es  wird  der  Leser  gegen  die  Polizei  aufgestachelt, 
da  die  Sache  so  dargestellt  wird,  als  ob  die  Polizei  schon  wieder  eine 
Amtshandlung  vorgenommen  hätte,  welche  nicht  nur  überflüssig,  sondern 
auch  den  Gesetzen  widersprechend  sei,  denn  am  Schlüsse  wird  gesagt,  daß 


Weshalb  damals  kontisziert  wurde  295 

das  Resultat  Null  war  und  daß  man  einen  Menschen  nur  deshalb  für  staats- 
gefährlich hält,  weil  er  Mitglied  des  Arbeiter-Bildungsvereines  ist,  besonders 
da  nichts  vorgefunden  wurde.  Ich  bin  daher  der  Ansicht,  daß  diese  Stelle 
geeignet  ist,  den  Tatbestand  des  von  mir  bezeichneten  Vergehens  zu  be- 
gründen. 

Was  die  zweite  Stelle  betrifft,  die  nach  §  302  und  §  305  inkriminiert 
ist,  so  erlaube  ich  mir  nur  zu  verlesen,  daß  im  Sinne  dieser  Paraphen 
als  ein  Vergehen  stigmatisiert  ist,  wenn  die  Rechtsbegriffe  über  das  Eigen- 
tum verwirrt  werden,  denn  nach  unserer  noch  bestehenden  Rechtsordnung 
ist  das  Eigentum  gesetzlich  geschützt  durch  Bestimmungen  des  Bürger- 
lichen Gesetzbuches.  Dem  diametral  entgegengesetzt  ist  die  Idee  des 
Kommunismus,  und  diese  Stelle  predigt  den  Kommunismus,  weil  der  Gegen- 
satz des  Kommimismus  Massenelend  hervorbringe  und  es  notwendig  sei, 
daß  eine  kommunistische  Eigentumsform  auftreten  muß.  Es  mag  sich  ja 
vom  wissenschaftlichen  und  nationalökonomischen  Standpunkt  gewiß  dar- 
über debattieren  lassen,  ob  der  Kommunismus  eine  wünschenswerte  Wirt- 
schaftsform sei,  aber  tatsächlich  ist  durch  unsere  gegenwärtige  Gesetzgebung 
das  Privateigentum  geschützt,  und  wenn  jemand  die  gegenteilige  Theorie 
verbreitet,  so  begeht  er  eben  das,  was  der  §  305  des  Strafgesetzes  ver- 
bietet, und  es  ist  dabei  nicht  zu  vergessen,  wo  diese  Resolution  geschöpft 
wurde.  Nach  derselben  Gesetzesstelle  hat  der  Staatsanwalt  die  kurze 
Apostrophe,  welche  damals  Krapf  in  der  Versammlung  an  seine  Ge- 
nossen gerichtet  hat,  inkriminiert.  Es  knüpft  diese  ganze  Ansprache  an 
die  Idee  der  vorangegangenen,  zur  Verlesung  gelangten  Resolution  an,  sie 
betont  den  Unterschied  zwischen  Arbeitern  und  Steuerzahlern. 

In  der  Resolution  wird  schließlich  hingewiesen  auf  die  Möglichkeit 
des  Eintritts  eines  Blutvergießens  und  das  scheint  mir  über  das  Maß  des 
Erlaubten  hinauszugehen  — ■  denn  wenn  die  besitzenden  Klassen  nicht  nach- 
geben, und  ich  glaube  kaum,  daß  sie  sich  freiwillig  ihres  Besitzes  entäußern, 
so  muß  nach  der  Ansicht  des  Krapf  dies  Blutvergießen  hervorrufen  und 
dasselbe  ist  als  eine  unausweichliche  Folge  des  Verhaltens  der  besitzenden 
Klassen  anzusehen.  Diese  Ausführungen  sind  im  Sinne  des  §  305  als  eine 
.Aufreizung  gegen  bestimmte  Klassen  der  bürgerlichen  Gesellschaft  anzu- 
sehen. 

Teil  mache  hier  wieder  auf  die  Zuhörer,  für  welche  diese  Worte  be- 
rechnet waren,  aufmerksam.  Was  den  letzten  Passus  der  inkriminierten 
Stellen  betrifft,  so  sind  das  die  Forderungen  der  Resolution,  welche  ich  nach 
§  fi5  beanständet  habe.  Ich  bin  auf  die  Einwendung  von  selten  des  Herrn 
Cegneis  gefaßt,  daß  das  Petitionieren  in  einem  konstitutionellen  Staat 
niemand  verboten  werden  kann  und  daß  das  Bitten  und  Begehren  nicht 
als  ein  strafbarer  Vorgang  dargestellt  werden  darf.  Um  was  hier  gebeten 
wird,  ist  aber  nichts  anderes  als  eine  Beseitigung  aller  gesetzlichen  Maß- 
nahmen, welche  bisher  getroffen  wurden.  Es  wird  auch  die  Aufhebung  des 
Vagabundengesetzes  verlangt,  und  ich  muß  gestehen,  daß  es  mich 
wundert,  daß  die  Partei  der  Arbeiter  sich  mit,  den  Vagabunden 
und  Schübling3n  identifiziert,  denn  ich  muß  anerkennen,  daß  sich  unter  den 
sozialistischen  Arbeitern,  wie  die  Gerichtsverhandlungen  schon  oft  ergeben 
haben,   nicht   gemeine  Verbrecher   finden,   aus   denen    sich   die  Vagabunden 


296  Weshalb  damals  konfisziert  wurde 

meistens  rekrutieren.  Denn  die  Arbeiter  sind  Leute,  die  arbeiten  wollen,  aber 
nicht  können,  im  Gegensatz  zu  den  Vagabunden,  die  nichts  arbeiten  wollen 
und  oft  wegen  Diebstahl,  Brandlegung  und  Gott  weiß  was  verurteilt  wurden. 
Diese  Forderungen  sind  meiner  Ansicht  nach  solche,  welche,  wenn  sie  mit 
Nachdruck  und  vielleicht  mit  Gewalt  verfochten  werden,  geeignet  wären,  eine 
Störung  der  öffentlichen  Ruhe  herbeizuführen,  denn  niemand  im  ganzen 
Land  könnte  sich  nach  Aufhebung  des  Vagabundengesetzes  heimisch  fühlen, 
selbst  nicht  die  Arbeiter.  Alle  anderen  Begehren,  welche  gestellt  werden,  und 
der  Schlußpassus,  daß  die  Erfüllung  dieser  Forderungen  als  unerläßlich  hin- 
gestellt wird,  soll  sich  der  Übergang  zur  sozialistischen  Wirtschaftsordnung 
ohne  allzu  große  Opfer  vollziehen,  ist  wieder  ein  Hinweis  auf  allenfallsige 
Gewaltakte  und  künftiges  Blutvergießen,  was  mit  Rücksicht  auf  die 
Elemente,  aus  denen  die  Versammlung  bestanden  hat,  welche  für  dergleichen 
Dinge  äußerst  empfänglich  sind,  nach  meiner  Meinung  geeignet  ist,  zu 
Auflehnung  und  Widerstand  aufzureizen.  Wenn  der  hohe  Gerichtshof  aber 
iliese  meine  Anschauungen  akzeptiert,  dann  wird  er  auch  den  Tatbestand 
der  angeführten  Paragraphen  darin  erkennen  und  ich  erlaube  mir  daher  den 
Antrag  zu  stellen,  daß  dem  Einspruch  nicht  stattzugeben  sei. 

Nachdem  Dr.  Wolf-Eppinger  die  juristische  Seite  der  Konfis- 
kation besprochen  hatte,  sprach 

Dr.  Adler: 

Hoher  Gerichtshof!  Ich  habe  mich  umvillkürlieh,  als  ich 
eintrat,  auf  die  Anklagebank  gesetzt,  denn  nach  meiner 
Meinung  gehöre  ich  dahin.  Es  ist  ein  eigentümliches  Gefühl  für 
jemand,  der  diese  Resolution  hier  abgefaßt  hat,  der  sie  in  der 
Versammlung  eingebracht,  und  der  soundso  viele  Menschen 
dazu  verleitet  hat,  diesen  Dingen  zuzustimmen,  daß  er  nun  frei 
ausgehen  soll  und  es  auf  ihm  lasten  bleibt,  alle  diese  Leute  zu 
Vergehen  und  Verbrechen  verleitet  zu  haben.  Entweder  es  ist 
ein  Verbrechen,  dann  muß  ich  zur  Verantwortung  gezogen 
werden,  oder  es  ist  keines,  dann  begreife  ich  die  Konfiskation 
nicht.  In  diesem  Falle  liegt  die  Sache  nicht  so  wie  bei  einer 
anderen  Konfiskation.  Vom  Herrn  Staatsanwalt  ist  selbst,  und 
wie  ich  glaube  mit  Recht,  hervorgehoben  worden,  daß  es  un- 
gemein wichtig  ist,  daß  dies  in  einer  Versammlung  gesprochen 
und  beantragt  wurde,  daß  das  so  viele  Leute  gehört  haben,  und 
wie  ich  Sie  versichern  kann,  auch  im  übrigen  Österreich  viele 
iiiidere  Leute  dieser  Ansicht  sind  und  ihr  Ausdruck  geben  wer- 
den. Wenn  der  hohe  Gerichtshof  meint,  daß  er  durch  Unter- 
drückung dieses  Preßerzeugnisses  das  Verbrechen,  das  hier 
vorliegt,  gesühnt  hat,  und  daß  eine  Wiederholung  dieses  Ver- 
brechens damit  aufgehalten  werden  kann,  so  befindet  er  sich  in 


Weshalb  damals  konflsziert  -wurde  297 

einem  Irrtum.  Sie  wissen  ja,  meine  Herren  vom  hohen  Gerichts- 
hof, daß  es  in  Österreich  zwei  Ansichten  darüber  gibt,  ob  es 
möglich  ist,  die  sozialdemokratischen  Prinzipien  auf  dem  Wege 
der  offenen  Propaganda  zu  verbreiten  oder  nicht.  Wir  hahtm 
i^ehört  und  gehören  noch  und  werden  in  Zukunft  zu  denen 
gehören,  welche  sagen,  es  liegt  nicht  nur  im  Interesse  aller 
Ivlassen  im  Staate,  daß  diese  Prinzipien  auf  offene  Weise  ver- 
treten werden  können,  sondern  wir  halten  es  auch  für  möglich. 
Es  gibt  aber  andere,  welche  es  für  unmöglich  halten,  und  wenn 
der  hohe  Gerichtshof  diese  Konfiskation  bestätigt,  wird  er  nur 
für  diese  Ansicht  den  Wahrheitsbeweis  geliefert  haben;  alter 
die  Verbreitung  dieser  Ideen  wird  er  nicht  aufgehalten  haben. 
Ich  weiß  ja  sehr  wohl,  daß  zu  dem,  was  ich  gesagt  liabe,  nicht 
der  geringste  Mut  gehört,  denn  man  müßte  mich  vor  die  Ge- 
schwornen  bringen,  und  vor  die  Geschwornen  will  nuui  uns 
ja  nicht  bringen. 

Es  wird  uns  vom  Staatsanwalt  vorgeworfen,  daß  wir  die 
liechtsbegriffe  über  das  Eigentum  erschüttern.  Diese  Rechts- 
begriffe erscliüttern  wir  nicht,  sondern  die  Geschichte;  wir 
liaben  in  der  maßvollen  Form  dieser  Resolution  nicht  nur  diese 
Rechtsbegriffe  als  bestehend  anerkannt,  sondern  wir  halten 
alle  diese  Gesetze,  Avelche  dazu  bestimmt  sind,  das  Privnr- 
figentum  aufrechtzuerhalten,  als  heute  noch  rechtsbestehend 
hingestellt.  Wie  man  dazu  gelangen  kann,  in  dem  Wunsche 
nach  A  \i  f  h  e  b  u  n  g  dieser  Gesetze  eine  Verleitung  zur  A  u  f- 
lehnung  gegen  diese  Gesetze  zu  sehen,  ist  mir  um  so 
weniger  erfindlich,  als  ich  nicht  wüßte,  wie  wir  uns  gegen 
solche  Gesetze  überhaujit  auflehnen  könnten.  Sollen  wir  da.s 
Wahlrecht  ausüben,  ohne  daß  wir  es  habend  Oder  sollen  wir 
<lie  Ausnahmegesetze  einseitig  aufheben:! 

Ich  mache  Sie  noch  einmal,  meine  Herren  \om  Jiohen 
Gerichtshof,  aufmerksam,  tun  Sie  das  nicht,  erschweren  Sie 
nicht  die  Möglichkeit,  sozialdemokratische  Prinzipien  auf 
offene  Weise  zu  verbreiten:  Sie  leisten  damit  weder  der  Ge- 
sellschaft noch  den  Gesetzen  einen  Dienst  und  Sie  verlängern 
die  Frist  durchaus  nicht  dadurch,  innerhalb  welchei'  diese  v'^e- 
setze  ihre  Geltung  haben.  Aber  Sie  machen  es  viel  schwerer 
und  Sie  werden  es,  wie  in  der  Resolution  gesagt  wurde,  und 
darin  liegt  niclits  Aufreizendes,  sondern  nur  eine  klare  Ein- 
sicht in  die  Verhältnisse,  nur  zuwege  bringen,  daß  große  und 


298  Die  Konfiskation  wegen  Beleidigung  der  l^olizeilockspitzel 

schwere  Opfer  notwendig  sein  werden;  nnd  gerade  den  Herron 
dieses  hohen  Gerichtshofes  brauche  ich  diese  Dinge  nicht 
ins  Gedächtnis  zurückzurufen.  Sie  wissen  es  alle,  wie  große  und 
wie  schwere  Opfer  dies  kosten  könnte! 

Nach  längerer  Beratung  verkündet  Landesgerichtsrat  v.  H  o  1- 
z  1  n  g  e  r  das  Erkenntnis,  daß  dem  Einspruch  n  i  c  li  t  Folge  gegeben  werde 
und  die  Konfiskation  in  allen  Punkten  aufrecht  bleibe.  Die  schriftliche 
Begründung  schließt   sich   eng  an    die   Ausführungen    des   Staatsanwalts   an. 


Die  Konfiskation  wegen  Beleidigung  der 
Polizeilockspitzel. 

Gegen  die  Konfiskation  der  beiden  Artikel  der  .rGleichheit"  im  De- 
zember 1887  über  den  M  ü  n  z  v  e  r  f  ä  1  s  c  h  u  n  g  s  p  r  o  z  e  ß  und  Polizei- 
rat Frankl  (den  Wortlaut  siehe  im  Abschnitt  „Adler  als  An- 
geklagte r")  hatte  Adler  beim  Landesgericht  Einspruch  erhoben. 
Bei  der  Verhandlung  am  10.  Jänner  1888  (Vorsitz  Dr.  R.  v.  H  o  1- 
z  i  n  g  e  r)  verteidigte  der  Staatsanwalt  Dr.  v.  S  o  o  s  die  Konfiskation  ebenso 
wie  den  Polizeirat  Frankl,  den  er  einen  „pflichtgetreuen  Beamten"  nannte. 
Dr.  Wolf-Eppinger  bekämpfte  die  Konfiskationen,  Adler  sprach  zu  beiden 
Einsprüchen  zum  Schluß: 

Dr.  Adler: 

Krlauben  Sie  mir,  meine  Herren  vom  hohen  Gerichtshof, 
noch  ein  paar  Worte  hinzuzufügen. 

Der  Redakteur  eines  Arbeiterblattes  ist  bekanntlich  in 
einer  ziemlich  schwierigen  Position.  Sie  wissen  es  ja,  daß  die 
Arbeiterschaft  mit  keiner  Behörde  fortwährend  in  eine  so  uahe 
und  eine  so  enge  Berührung  gebracht  wird  wie  mit  der  hohen 
Polizei.  Die  Arbeiter  können  nicht  den  geringsten  Schritt 
machen,  ohne  mit  der  Polizei  in  die  allerdirekteste  Berührung 
zu  kommen ;  nun,  von  den  Arbeitern  wird  ja  diese  Berührung 
nicht  aufgesucht,  sondern  von  der  andern  Seite.  Es  wird  mii, 
als  dem  Schreiber  dieses  Artikels,  zum  Vorwurf  gemacht,  daß 
wir  Feindseligkeit,  Mißgunst,  Haß  und  Verachtung  gegen  die 
Polizei  und  speziell  gegen  den  Herrn  Polizeirat  Frankl  hegen. 
Von  alledem  ist,  wenigstens  was  Feindseligkeit,  Mißgunst  und 
Haß  anlangt,  nichts  der  Fall.  —  Die  Person  des  Herrn  Polizei- 
rats Frankl  ist  uns  vollständig  gleichgültig.  Wir  haben  auch 
mit  diesem  Artikel,  insofern  der  Haß  und  die  Verachtung  etwa 
vorhanden  sind,  dieselben  nicht  schüren  wollen,  wie  der  Herr 


Die  Konfiskation  wegen  Beleidigung  der  Polizeilockspitzel  299 

Gegner  gesagt  hat,  sondern  wir  wollen  isie  nur  b  e  g  r  ü  n  J  e  n, 
und  dies  ist  mit  dem  Artikel  geschehen.  Wo  soll  denn  das 
eigentlich  ausgesprochen  werden,  wenn  ein  Beamter  sich  her- 
ausnimmt, indirekt  Leute,  welche  bis  dahin  nicht  „Verbrecher" 
waren,  zu  Verbrechern  zu  machen;  wenn  er  Leute  aufstellt, 
welche  durch  ihre  bloße  Gegenwart  in  der  Partei  überall  Miß- 
trauen und  Demoralisation  hinbringen.  Wenn  man  es  absicht- 
lich dahinbringen  will,  daß  das  Mißtrauen  in  Arbeiterkreisen 
so  groß  wird,  daß  kein  Mensch  mehr  weiß,  wo  ein  Parteimann 
aufhört  und  ein  Spitzel  anfängt;  wenn  Leute,  wie  Schreger, 
beauftragt  werden,  leichthin  gesprächsweise  von  Münzverfäl- 
schung  und  dergleichen  zu  reden ;  und  derlei  zum  mindesten 
liegt  in  der  Natur  dieses  Auftrages,  er  muß  das  alles  als  leicht 
und  verlockend  hinstellen;  wenn  ihre  Phantasie  so  w-eit  geht, 
von  Putschen  beim  Blumenkorso  zu  sprechen  —  eine  Idee,  die 
auch  kaum  im  Gehirn  Schregers  ihren  Ursprung  hat. 

Wenn  Sie  nun  die  Rolle,  welche  der  Herr  Polizeirat  ge- 
spielt hat,  als  „pflichtgetreu"  bezeichnen,  nun,  Ihring-Mahlow 
wurde  ja  auch  als  „pflichtgetrener  Beamter"  in  Schutz  genom- 
men. Wenn  also  ein  Polizeibeamter  seine  Pflicht  verletzt  oder 
—  sagen  wir,  in  Ihrem  Sinne  —  über  seine  Pflicht  hinaus- 
schießt, wo  soll  denn  die  Sache  vorgebracht  werden?  Bei  der 
Gerichtsverhandlung  wird  er  von  den  Behörden  in  Schutz  ge- 
nommen, es  wird  verhindert,  daß  er  überhaupt  vorgeladen  wird ; 
die  Bourgeoisblätter  bringen  überhaupt  nichts,  denn  der 
Polizei  ist  man  begreiflicherweise  nicht  gern  unangenehm, 
und  wenn  w  i  r  es  bringen,  werden  wir  konfisziert.  Wir  werden 
konfisziert  wegen  Ausdrücke,  wegen  derer  wir  nicht  konfisziert 
werden  würden,  wenn  wir  uns  ganz  derselben,  ja  viel  schärferer 
über  andere  Behörden  bedienten.  Ich  mache  mich  erbötig,  dies 
aus  dem  nichtkonfiszierten  Teil  dieser  selben  Nummer  zu  be- 
weisen. Nur  die  Polizei  genießt  diese  Immunität,  und 
sie  genießt  sie,  weil  sie  dieselbe  braucht,  weil  sie  die  Kritik 
nicht  verträgt.  Dies  wollten  wir  nur  konstatieren,  und  dazu 
wollten  wir  die  Einspruchsverhandlung;  ich  weiß,  wir 
werden   abgewiesen  werden. 

Präsident:  übrigens  möchte  ich  den  Herrn  Einspruchswerber  er- 
malinen,  sich  in  Hinkunft  eines  maßvolleren  Tones  zu  bedienen  und  den 
Anstand  nicht  dadurcji  zu  verletzen,  daß  er  erklart,  er  wisse  den  Beschluß 
des  Gerichtshofes  schon  im  voraus. 


300  Ein  konlisziertes  Lied  und  ein  „konfisziertes"  Gesicht 

In  der  gleicli  anschließenden  Einspruchsverhandlung  gegen  die  Kon- 
fiskation des  Artikels  über  Polizeirat  Frankl  in  Nr.  53  der  „Gleichheit"  sagte 

Dr.    Adler: 

Wir  haben  in  der  vorigen  Verhandlung  gesehen,  daß 
daÄ  Hauptgewicht  darauf  gelegt  wurde,  es  müsse  konfis- 
ziert werden,  weil  die  Beschimpfung  eines  Regierungs- 
organs, des  Herrn  kaiserlichen  Rates  Frankl,  vorliegt.  Hitn* 
in  diesem  Artikel  und  bei  dieser  Konfiskation  ist  es  nun 
klar,  daß  man  über  alles  schreiben  kann  ^-  nur  über  den 
Herrn  Polizeirat  Frankl  nicht.  In  diesem  selben  Artikel, 
welcher  konfisziert  wurde,  ist  unter  anderem  gesagt,  daß  das 
Recht  der  freien  Meinungsäußerung  in  Österreich  nur  a  n- 
geblich  besteht;  es  kommt  hier  vor,  daß  die  Gesetze  Öster- 
reichs elastisch  sind  und  daß  diese  Verordnung  unter  allem 
das  Elastischeste  ist.  Es  ist  hier  weiter  gesagt,  daß  die  Ab- 
neigung gegen  die  Regierung  eine  so  allgemeine  ist,  daß  man 
das  Defizit  ausgleichen  könnte,  wenn  man  alle  die,  welche 
eine  solche  Abneigung  liegen,  auf  Grund  dieser  Verordnung 
mit  Geldstrafen  belegen  würde.  Aber  all  dies  ist  nicht  bean- 
standet worden.  Die  Staatsgrundgesetze  darf  man  kritisieren, 
nur  den  Herrn  Polizeirat  Frankl  nicht.  Herr  Frankl  ist 
eben  immun,  und  ich  glaube,  daß  der  hohe  Gerichtshof 
auf  diese  Immunität  des  Herrn  Polizeirats  Frankl  aufmei'k- 
sam  werden  und  prüfen  sollte,  ob  sie  auch  wirklich  weiterhin 
aufrechtzuerhalten  sei. 

Beide  Einsprüche  wurden  .-Tuitürlit'ir"  abgewiesen  („Gleichliril""  iNr.  2 
vom  14.  .Jänner  1888). 

Ein  konfisziertes  Lied  und  ein  „konfisziertes" 

Gesicht. 

Am  8.  Dezember  1888  hatte  der  Arbeiieibijdungsverein  in  Schwendeis 
Kolosseum  sein  21.  Gründungsfest  gefeiert.  Dr.  Edmund  Wengraf  (der 
seither  ganz  bürgerlich  geworden  ist)  hatte  dazu  ein  Arbeiterlied 
'„In  Reih  und  Glied  geschlossen  . . .")  gedichtet,  das  Josef  Scheu  ver- 
tont hatte.  Dieses  Gedicht  hat  auf  dem  Programm  die  staatsanwaltschaft- 
liche Zensur  überstanden.  .\ls  dir  -(ileicbheit"  es  at>druckte,  wurde  i's 
konfisziert. 

In  der  Nr.  2  der  ..(ilfichheil"  vom  12.  .lünner  1889  war  ein  Heis'.;- 
abenteuer  des  deutschen  Sozialdemokraten  A  u  e  r,  .der  den  Hainfelder 
^\'lrt^Mtag    als    Beiichterstatter    einiger    Partiildätter    besucht    hatte,    erzählt 


Ein  konfisziertes  Lied  und  ein  „konfisziertes"  Gesicht  ."{Ol 

worden,  worin  seine  Überwachung  durch  Polizeispione  in  Salzburg  launit; 
geschildert  wurde. 

„Schon  als  unsere  Reiseeffeklen  von  den  Zollbeamten  revidier! 
wui^den,  bekundete  ein  Herr,  der  mit  der  Zollrevision  si-chtlich  nichts 
zu  tun  hatte,  ein  sehr  großes  Interesse  für  den  Inhalt  unseres  Reise- 
koffers, und  als  wir  uns  nachher  auf  den  Weg  in  die  Stadt  machten, 
glaubten  wir  uns  in  die  Zeit  des  Attentatsjahres  1878  versetzt,  so  auf  Schritt 
und  Tritt  folgte  uns  in  einem  Abstand  von  knapp  zehn  Schritten  ein  Herr, 
dessen  Beruf  man  aus  seinem  scheuen  Blick  und  konfiszierten 
Gesicht  schon  auf  hundert  Schritte  erkennen  konnte.  Natürlich  versagten 
wir  uns  das  Vergnügen  nicht,  zunächst  von  der  uns  gewordenen  Auszeichnung, 
sehr  lange  Beine  zu  besitzen,  den  ausgiebigsten  Gebrauch  zu  machen,  dann 
aber  ging  es  außerdem  noch  kreuz  und  quer  durch  die  winkeligen  Straßen 
der  alten  Hauptstadt  des  Salzkammergutes.  Nachdem  wir  auf  diese  Weisv 
unseren  Begleiter  gut  zwei  Stunden  spazieren  geführt  haben,  wobei  wir  in 
entsprechenden  Pausen  plötzlich  stehen  blieben,  so  daß  unser  Begleiter 
regelmäßig  pustend  an  uns  vorbeistürzte,  um  sich  dann  wieder  scheu  in 
die  Ecke  zu  drücken  und  abzuwarten,  nach  welcher  Himmelsrichtung  die 
Spritztour  wohl  jetzt  beginnen  werde,  landeten  wir  endlich  im  Gasthof  »Zum 
goldenen  Hörn«,  wo  wir  unserem  Begleiter  die  Tür  vor  der  Nase  zu- 
schlugen." 

Diese  Schilderung  wurde  konfisziert,  ebenso  in  der  gleichen  Nummer 
folgende  Mitteilung: 

-Die  beiden  Genossen  Raab  und  Haader  sind  bekanntlich  aus 
Wien  ausgewiesen  worden,  nachdem  sie  sich  .das  Verdienst  erworben 
liatten,  die  Zustände  in  den  Wienerberge  r  Ziegeleien  aufzu- 
decken. Beide  gingen  in  ihre  Heimat  nach  Mähren,  Raab  nach  Hombok, 
Haader  nach  Gewitsch.  Aber  die  Rache  ruht  nicht.  Der  beleidigte  Gott  des 
Kapitals  ist  der  richtige  alte  Judengott,  der  Gott  der  Rache  und  des  Zornes. 
Unsere  tapferen  Freunde  sind  ihm  verfallen!  Beide  werden  mit  Haus- 
suchungen geplagt  und  dadurch  bei  den  Einwohnern  des  kleinen  Ortes  in 
Verruf  gebracht,  welche  noch  in  dem  naiven  Glauben  leben,  Polizei  und 
Gendarmerie  stellen  nur  Schurken  nach.  Besonders  die  Gewaltigen  der  Ge- 
meinde Hombok  leisten  an  frecher  Übertretung  der  Gesetze  das  Äußerste 
gegenüber  Genossen  Raab.  So  hat  der  Bürgeimeister  von  Hombok,  Jähnel 
heißt  dieser  Ehrenmann,  über  Raab  die  „Polizeiaufsicht"  verhängt  und  sich 
herausgenommen,  ihm  zu  verbieten,  außerhalb  der  Ortsgrenzen  Arbeit  zu 
suchen.  Dabei  erhält  Raab  seine  Briefe  vier  bis  fünf  Tage  später  als  andere 
Leute. 

So  werden  Leute  verfolgt,  welche  die  »Ruhe  und  Ordnung«  am 
Wienerberg  zu  stören  gewagt  haben.  Die  Stützen  dieser  »Ordnung«  aber, 
die  den  Profit  aus  den  blutigen  Erpressungen,  die  an  den  Arbeitern  verübt 
wurden,  eingesteckt  haben,  schlafen  warm  in  weichen  Betten,  sind  hoch- 
geehrt, und  wenns  halbwegs  gut  geht,  erhalten  sie  die  Orden,  die  sie  nicht 
schon  haben. 

Schinde  und  schände  die  Menschheit,  so  bist  du  ein  Ehrenmann  und 
die  gesamten  Dreckseelen  beugen   sich  vor   dir   in   Demut;   bäume   dich   auf 


302  Ein  konfisziertes  Lied  und  ein  „konfisziertes"  Gesicht 

gegen  Ungerechtigkeit,  kämpfe  gegen  Gewalttat,  und  das  ganze  Geschmeiß 
ist  dir  auf  den  Fersen  zu  blindwütender  Hatz!  —  Wie  lange  noch?" 

Gegen  diese  Konfiskationen  wurde  nun  Einspruch  erhoben  und 
am  7.  Februar  fanden  die  Verhandlungen  vor  dem  Landesgericht  (Vorsitz: 
R.  V.  Holzinger)  statt.  In  der  „Gleichheit"  vom  22.  Februar  berichtet 
Adler  darüber: 

So  wenig  Hoffnungen  wir  auf  das  Einspruchsverfahren  setzen,  schien 
doch  der  Fall,  daß  ein  und  dieselbe  Behörde  innerhalb  14  Tagen  zwei  ent- 
gegengesetzte Entscheidungen  trifft,  mindestens  des  Festnageins  wert.  Wir 
waren  begierig  auf  die  Ausführungen  des  Staatsanwalts.  Er  entschuldigte 
sich,  daß  er  das  Lied  nicht  schon  das  erstemal  konfisziert  habe,  mit  dem 
Umstand,  daß  es  damals  nur  in  „wenigen  hundert  Exemplaren'"  für  „eine 
geschlossene  Gesellschaft"  gedruckt  worden  sei.  Objektiv  aber  trage  das  Lied 
alle  Kennzeichen  einer  „Störung  der  öffentlichen  Ruhe  und  Ordnung"  an 
sich.  Dr.  Wolf-Eppinger  drückte  vor  allem  seinen  Dank  aus,  daß  der 
Staatsanwalt  ausdrücklich  konstatiert  habe,  es  seien  nicht  etwa  d  i  e 
Noten,  die  das  Vergehen  begangen  hätten,  und  konstatiert,  daß  in  dem  Er- 
kenntnis absolut  keine  Begründung  enthalten  war.  Er  weist  nach,  daß  die 
nunmehr  beanstandeten  Stellen  dem  Begriff  dieses  Vergehens  nicht  ent- 
sprechen, und  fügt  hinzu,  es  sei  doch  eigentlich  von  der  Logik  nicht  zu  ver- 
langen, daß  sie  an  den  Pforten  des  Landesgerichts  stehen  bleibe. 

Dr.  Adler 

sagt,  wir  seien  an  verschiedene  Auffassungen  verschiedener 
Staatsanwälte  gewohnt;  daß  aber  ein  und  dieselbe  Behörde 
verschieden  urteile,  sei  neu.  Das  wenigstens  könne  verlangt 
werden,  daß  der  Staatsanwalt  seiner  eigenen  Meinung  sei.  Die 
Höhe  der  Auflage  sei  ein  sonderbares  Kennzeichen  für  die 
Gesetzesübertretung  durch  die  Presse  und  übrigens  schwer 
anwendbar,  da  der  Staatsanwalt  die  Höhe  der  Auflage  eben 
nicht  kenne.  Bis  jetzt  waren  wir  gewohnt,  die  Konfiskabilität 
in  der  Qualität  des  Druckwerks  zu  suchen,  nun  werden 
wir  belehrt,  daß  die  Quantität  entscheidend  sei.  Übrigens 
unterscheide  sich  die  Auffassung  des  Staatsanwalts  vom  Feste 
des  Arbeiterbildungsvereines  erheblich  von  jener  der  Polizei, 
welche  es  durchaus  nicht  als  „geschlossene  Gesellschaft"  an- 
gesehen, sondern  durch  sorgfältige  Überwachung  aus- 
gezeichnet habe. 

Nach  kurzer  Beratung  erklärte  der  Landesgerichtsrat  v.  H  o  1- 
zinger  den  Einspruch  für  abgewiesen.  Gründe:  Die  Vorgeschichte 
gehe  den  Gerichtshof  nichts  an;  der  Inhalt  des  Gedichts  aber  begründe 
das  Vergehen  der  Störung  der  öffentlichen  Ruhe. 

Hieran  schloß  sich  eine  zweite  Verhandlung  über  die  Kon- 
fiskation der  Nr.  2,  zu  deren  Herbeiführung  wir  dadurch  veranlaßt  wurden, 


Ein  konfisziertes  Lied  und  ein  „konfisziertes"  Gesicht  303 

ilaß  das  Erkenntnis  sagte,  der  Aufsatz  „suche  die  von  Raab  und  H  a  a  d  e  r 
verübte  verbotene  Handlung  zu  rechtfertigen*".  Wir  hofften  vom  Staats- 
anwalt endlich  diese  verbotenen  Handlungen  zu   erfahren. 

Der  Staatsanwalt  verteidigt  zunächst  die  Konfisliation  der  Reise- 
abenteuer des  Genossen  Auer  in  derselben  Nununer  und  behauptet,  die 
Schilderung  eines  Mannes  mit  „scheuem  Blick"  und  „konfisziertem 
n  e  s  i  c  h  t"  beziehe  sich  auf  ein  österreichisches  Polizeiorgan.  In  bezug 
auf  die  zweite,  Raab  und  Haader  betreffende  Stelle  gesteht  er  zu,  daß  „er 
aus  Erfahrung  wisse,  die  Veröffentlichungen  in  der  »Gleichheit«  hätten  die 
-Vbschaffung  des  Blechsystems  am  Wienerberg  herbeigeführt'".  Wenn  die 
beiden  Männer  aber  gegen  das  Gesetz  gefehlt  hätten  und  wenn  die  ,,Gleich- 
iieit"  dies  angepriesen  hätte,  so  wäre  das  allerdings  §  305.  Der  §  300  sei 
übrigens  durch  die  gegen  den  Bürgermeister  von  Hombok  gerichteten 
Stellen  verwirkt. 

Dr.  Wolf-Eppinger  sagt  bezüglich  der  ersten  Stelle,  es  sei  durch 
nichts  bewiesen,  daß  gerade  ein  österreichischer  Polizist  den  Herrn  Auer 
in  Salzburg  verfolgt  habe.  Deutschland  sei  Österreich  in  der  Kultur  gleich- 
stehend, wenn  nicht  gar  über,  und  habe  daher  auch  genug  Geheimpolizei. 
Der  Umstand,  daß  der  Mann  ein  „konfisziertes  Gesicht'"  gehabt  habe,  sei 
(loch  an  und  für  sich  kein  absoluter  Beweis,  daß  er  gerade  der  österreichi- 
schen Polizei  angehöre.  Hierauf  konstatiert  er  zunächst,  daß  der  Staats- 
anwalt selbst  den  §  305  fallen  gelassen  habe,  und  daß  anerkannt  werden 
müsse,  daß  Raab  und  Haader  sich  geradezu  ein  Verdienst  erworben 
haben  durch  Aufdeckung  der  fürchterlichen  Verhältnisse  am  Wienerberg. 
Xun  seien  sie  ausgewiesen.  Ein  Recht,  sie  unter  Polizeiaufsicht  zu  halten, 
sei  nicht  vorhanden.  Der  Schluß  des  konfiszierten  Aufsatzes  wende  sicli 
übrigens  nicht  gegen  den  Homboker  Bürgermeister,  sondern  sage  nur  ganz 
allgemein,  daß  man  heutzutage  mit  Egoismus  und  Kriecherei  weiter  komme 
als  mit  Selbstverleugnung  und  Menschenliebe,  was  ja  unzweifelhaft 
richtig  sei. 

Dr.  Adler 

konstatiert,  daß  auch  der  Staatsanwalt  die  Ausweisung  der 
Genossen  Raab  und  Haader  zu  rechtfertigen  nicht  einmal 
versucht  habe.  Die  Polizei  weist  aus;  es  gibt  keine  Motive, 
keine  Berufung.  Wir  wissen  heute  noch  nicht,  warum  es  ge- 
schehen. Die  Ungesetzlichkeiten  am  Wienerberg  seien  nur 
möglich,  weil  die  Arbeiter  dort  gänzlich  eingeschüchtert  und 
wehrlos  seien.  Endlich  sei  es  gelungen,  sie  ein  wenig  aufzu- 
rütteln; da  lähme  die  Polizei  durch  die  Verfolgung  und  Aus- 
weisung die  beginnende  Möglichkeit  der  Besserung.  Die 
..Kolportage"  der  „Gleichheit"  wird  bestraft,  die  von  anderen 
Blättern  geschah  vor  wenigen  Tagen  nach  Hunderttausenden 
von  Exemplaren  unter  den  Augen  der  Polizei,  ohne  daß  irgend- 
eine Strafe  oder  gar  Ausweisung  erfolgte.  So  gehe  man  eben 


304  Die  konfiszierte  Wahlrechtsbioscliüre 

den  Arbeitern  gegenüber  vor.  Die  Handlungsweise  des  Bürger- 
meisters von  Hombük  sei  ja  möglicherweise  im  „übertragenen 
Wirkungskreise",  jedenfalls  aber  gesetzwidrig,  und  nur  das 
sei  ausgesprochen  worden. 

Der  Gerichtshof  erklärte:  Dem  Einspruch  wird  Folge  gegeben,  das 
heißt  insofern,  als  die  eine  Stelle  nicht  nach  §  300  und  §  305,  sondeiii 
„n  u  r"  nach  §  300  konfisziert  bleibt.  In  bezug  auf  die  .,Vorspollun<i 
der  Polizei"    wird  der  Einspruch  abgewiesen. 


Die  konfiszierte  Wahlrechtsbroschüre. 

Am  1.  August  1893  war  im  Verlag  Bretschneiders,  des  treuen  Kampl- 
genossen  Adlers,  eine  Broschüre  Adlers:  „Das  allgemeine,  gleiche  und 
direkte  Wahlrecht  und  das  Wahlunrecht  in  Österreich'"  erschienen  und  un- 
beanstandet geblieben,  bis  am  20.  August  im  Prater  eine  große  Versammlung 
für  das  Wahlrecht  stattfand,  wo  die  Broschüre  stark  verbreitet  wurde. 
Nächsten  Tag  wurde  sie  konfisziert,  und  zwar  zunächst  in  ihrer 
Gänze,  dann  an  32  Stellen.  Gegen  die  Konfiskation  erhob  Adler  E  i  n- 
Spruch,  worüber  am  7.  Oktober  die  Verhandlung  beim  Landes-  als  Preß- 
gericht  unter  dem  Vorsitz  des  Landesgerichtsrates  Dr.  Gionima  stattfand.  Eine 
zahlreiche  Zuhörerschaft  hatte  sich  eingefunden,  die  der  glänzenden 
Agitationsrede  Adlers  lür  das  allgemeine  Wahlrecht 
mit  Spannung  und  Freude  folgte. 

Nachdem  das  Konfiskationserkenntnis  und  sämtliche  32  konfiszierten 
Stellen  vorgelesen  waren,  nahm  Staatsanwalt  Dr.  H  a  w  1  a  t  h  zur  Be- 
gründung der  Komfiskalion  das  Wort,  beschränkte  sich  aber  im  wesentlichen 
Liarauf,  die  Ausführungen  des  Erkenntnisses  wiederzugeben  und  zu  um- 
schreiben. Hierauf  ergriff  zur  Begründung  des  Einspruchs  das  Wort 

Dr.  Adler: 

Hoher  Gerichtshof!  Die  Konfiskation,  über  welche  zu 
entscheiden  ist,  hat  zunächst  eine  höchst  eigentümliche  Vor- 
geschichte, welche  unbedingt  beleuchtet  werden  muß,  um  über 
die  Begründung  der  Konfiskation  ein  Urteil  zu  geben.  Die 
Broschüre  erschien  und  wurde  an  die  Staatsanwaltschaft  ein- 
gereicht am  1.  August  dieses  Jahres.  Sie  blieb  unbehelligt 
durch  mehrere  Wochen,  bis  am  20.  August,  an  einem  Sonntag, 
eine  große  Versammlung  auf  der  Feuerwerkswiese  im  Prater 
stattfand,  eine  Versammlung  zur  Durchsetzung  und  Agitation 
für  das  allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht,  und  wobei 
auch  diese  Broschüre  ziemlich  energisch  vertrieben  wurde. 
Am  21.  August  nach  diesem  Sonntag  wurde  die  Broschüre 
konfisziert,  und  zwar  zunächst  ihrem  ganzen  Inhalt  nach.  Der 


bie  konfiszierte  Wahlrechtsbroschüre  30.") 


Herr  ^Staatsanwalt  hat  sowohl  mir  als  auch  dem  Gerichtshof 
erklärt,  er  betrachte  die  Broschüre  vom  Anfang  bis  zum  Ende 
als  dem  Gesetz  widersprechend,  zu  konfiszieren.  Es  wäre  daher 
von  Wichtigkeit,  wenn  nicht  nur  der  Schluß  des  Konfiskation-- 
crkenntnisses,  sondern  auch  das  Erkenntnis  vom  Oberlandes- 
gericht  verlesen  würde,  wo  der  diesfällige  Antrag  des  Staats- 
ajiwalts,  die  Broschüre  vollständig  zu  konfiszieren,  abgelehnt. 
v\-urde.  Ich  darf  das  aber  als  bekannt  voraussetzen  und  "\  er- 
zichte  darum  auch,  dies  als  Autrag  zu  stellen,  behalte  mir  aber 
vor,  daß  ich  mich  auf  diesen  Teil  des  Erkenntnisses  wie  auf 
<las  Urteil  berufen  kann.  Es  ist  ohne  Zweifel,  daß  diese 
Broschüre  durch  drei  Wochen  in  der  Hand  der  Staatsanwalt- 
schaft war,  daß  sie  gelesen  und  geprüft  und  von  der  Staats- 
anwaltschaft als  unbedenklich  angesehen  wurde.  Es  ist  Tat- 
sache uml  erwiesen,  daß  erst  auf  Einfluß  und  durch  Ein- 
greifen anderer  Faktoren,  nicht  im  Interesse  des  Rechtes,  des 
Gesetzes  ... 

Präsident  (unterbrechend):  Ich  bitte,  sich  auf  das  zu  be- 
schränken, was  Gegenstand  der  Verhandlung  ist.  Gegenstand  sind  die  inkrimi- 
nierten Stellen. 

Dr.  Adler:  Es  ist  naturgemäß,  daß  alle  diese  Stellen 
erst  als  ungesetzlich  erkannt  wurden,  als  man  Gründe  hatte, 
-die  Broschüre  unterdrücken  zu  lassen.  Gründe,  die  nicht  in 
der  Broschüre,  sondern  außerhalb  derselben  zu  suchen  sind. 
Wir  haben  es  hier,  wie  bei  jeder  Konfiskation,  mit  einer  p  o  1  i 
tischen  Aktion  zu  tun. 

Es  ist  schwer,  auf  die  völlig  leidenschaftslose  Bede  des 
verehrten  Herrn  Staatsanwalts,  die  sich  darauf  beschränkt 
hat,  bloß  zu  reproduzieren,  was  im  Erkenntnis  gesagt  ist,  zu 
antworten.  Er  begründete  es  ebensowenig  wie  das  Erkenntnis. 
Allerdings,  und  hier  muß  ich  für  den  Staatsanwalt  eintreten. 
hat  er  vollständig  recht  gehabt.  Diese  Broschüre  ist  entweder 
vom  Anfang  bis  zum  Ende  zu  konfiszieren  oder  überhaupt 
nicht.  Die  Heraushebung  einzelner  Stellen  mußte  eine  höchst 
undankbare  Aufgabe  sein,  von  der  ich  vollständig  begreife, 
daß  der  Herr  Staatsanwalt  für  sie  nicht  besondere  Begeisterung 
-aufbrachte.  Die  Hervorhebung  einzelner  Stellen  müßte  natur- 
gemäß mit  allen  Stellen,  die  nicht  konfisziert,  in  Widerspruch 
treten,  und  ich  werde  Stellen  nachweisen,  die  nicht  konfisziert 
wurden  und  die  weit  schärfer  sind  als  die  konfiszierten. 

20 


306  Die  konfiszierte  Wahliechtsbroschüre 

Es  ist  selbstverständlich,  daß  ich  mich  vor  dem  Er- 
kenntnisgerichtshof  nicht  darauf  einlassen  werde,  auf  das 
objektive  Verfahren  zu  kommen,  auf  die  Frage,  ob  das  eia 
vernünftig-er  Zustand  ist,  daß  man  überhaupt  konfiszieren 
kann. 

Präsident:  Also    dann  bitte  icli,  das  überhaupt  beiseite  zu  lassen. 

Dr.  Adler:  Dazu  bin  ich  eben  vollständig  entschlossen. 
Aber  gefragt  muß  werden :  Hat  man  das  Recht  in  Österreich» 
eine  bestehende  Institution  anders  zu  wollen,  als  sie  ist;  zu 
sagen:  eine  Institution  sei  ungerecht  und  verwerflich,  sie 
müsse  geändert  werden,  oder  hat  man  dieses  Recht  nicht,  oder 
vielmehr,  ist  das  ein  Recht,  das  die  einen  haben  und  die  an- 
deren nicht,  oder  das  man  in  diesem  Moment  hat  und  in  einem 
anderen  nicht?  Die  Broschüre  hat  eine  ausgesprochcneTendenz. 
Sie  soll  Material  für  die  Wahlrechtsbewegung  bieten,  und  der 
Herr  Staatsanwalt  ebenso  wie  der  hohe  Gerichtshof  werden 
sich  wohl  klar  sein,  daß  die  Konfiskation  der  Broschüre  den 
Gang  der  Wahlrechtbewegung  nicht  ändert.  Der  Sinn  der 
Broschüre  ist  kurz  ausgedrückt  in  einer  Stelle,  die  zu  meinem 
Erstaunen  nicht  konfisziert  ist.  Diese  Stelle  steht  auf  Seite- 
22  und  lautet :  „Die  Ungleichheit  und  U  n  g  e  r  e  c  h- 
tigkeit  des  Wahlrechtes  ist  das  ei  g' entliche 
Grundgesetz  des  Staates,  sie  ist  seine  Ver- 
f  a  s  s  u  n  g."  Ich  begreife  wirklich  nicht,  warum  nicht  auch 
das  unter  das  Verbrechen  des  Artikel  II  subsumiert  wurde. 
Denn  wenn  man  Dinge  unter  Artikel  II  subsumiert  hat  wie  die 
Stelle  auf  Seite  45,  wo  es  gegenüber  den  Konservativen,  die  vom 
Schutze  der  Minoritäten  sprechen  und  sagen,  man  dürfe  nicht 
die  Minoritäten  vergewaltigen  und  der  rohen  Masse  ausliefern^ 
heißt,  es  handle  sich  um  den  Schutz  des  Rechtes  der  Majo- 
rität, diese  Vergewaltigung  der  Majorität  durch  eine  kleine 
Minorität  sei  noch  weit  ärger,  so  ist  das  nichts  anderes,  als 
wenn  hier  gesagt  wird,  die  Ungleichheit  und  Ungerechtigkeit 
des  Wahlrechts  sei  die  Verfassung  des  Staates,  so  ist  das 
ebenfalls  ein  Angriff,  ein  bewußter  Angriff  auf  die  Ver- 
fassung. Durcli  das  ganze  Erkenntnis  geht  ein  Gedanke:  Auf- 
reizung, Verleitung  zu  Haß  und  Verachtung  gegen  die  Ver- 
fassung. Nun  frage  ich:  Kann  jemand,  der  ein  Gesetz,  eine 
Verfassung  ändern  will,  etwas  anderes  tun,  als  Tatsachen  vor- 
bringen,   welche    zeigen,    daß    der    heutige    Zustand    ein    un- 


Die  konfiszierte  Wahlrechtsbroschüre  3U7 

gerechter,  ein  uuiiiöglicher  ist,  daß  der  heutige  Zustand,  wie 
es  ja  faktisch  geschieht,  zwei  Drittel  der  Bevölkerung  rechtlos 
machte  Wenn  das  Aufreizung  zu  Haß  und  Verachtung  ist,  dann 
müßten  die  Ziffern,  die  das  klar  belegen,  so  wie  der  Herr 
Staatsanwalt  es  ja  wollte,  konfisziert  werden.  Denn  diese 
Ziffern,  diese  Tatsachen  sind  in  der  Tat  aufreizend,  diese  Tat- 
sachen verleiten  in  der  Tat  zu  einer,  ich  sage  nicht  zu  Haß  und . 
Verachtung,  aber  zu  einer  V  e  r  u  r  t  e  i  1  u  n  g  dieses  Zustau- 
des,  zu  einer  Abänderung.  Haß  und  Verachtung  ist  nicht  das- 
selbe wie  Verurteilung.  Wenn  ich  die  Ehre  habe,  vor  den 
Schranken  des  Gerichtshofes  zu  stehen,  und  wegen  einer 
Äußerung  vom  hohen  Gerichtshof  verurteilt  werde,  dann  bin 
ich  überzeugt,  daß  der  Gerichtshof,  der  mich  v  e  r  u  r  t  e  i  1 1, 
nicht  Haß  und  Verachtung  gegen  mich  hegt;  aber  er  verurteilt 
mich  trotzdem.  Sehen  Sie,  die  heutige  Verfassung  ist  verurteilt, 
nicht  nur  von  der  Masse  des  Volkes,  sondern  auch  von  dem 
Urteil  jedes  Denkenden,  jedes,  der  die  politischen  Verhältnisse 
kennt.  Sie  steht  da  als  die  Wurzel  aller  Wirren,  die  in  Oster- 
reich herrschen,  aller  Zurückgebliebenheit,  und  das  Schluß- 
nrteil  von  Tausenden  ist,  diese  Zustände  seien  hinwegzuräumen, 
wenn  auch  einige  kleinere  Interessengruppen  das  größte 
Interesse  daran  haben,  sie  festzuhalten.  Dann  aber  ist  es  eine 
sehr  subjektive  Auffassung  des  Herrn  Staatsanwalts,  wenn 
er  das  in  den  weiten  Rahmen  unserer  Haß-  und  Verachtungs- 
paragraphen bringen  will.  Er  mußte  sich  so  bemühen,  eine 
Gruppe  von  konfiszierten  Stellen  in  einer  gewaltsamen  Weise 
in  diese  Paragraphen  einzuzwängen,  daß  ich  mir  eigentlich  eine 
kleine  Sammlung  anlegen  müßte  unter  dem  Titel:  Mon- 
strositäten. 

Präsident:  Ich  bitte,  nicht  in  einer  solchen  Weise  ein  Erkenntnis 
anzugreifen. 

Dr.  Adler:  Es  ist  auch  juristisch  etwas  Ungeheuer- 
liches, wenn  dieser  Ausdruck  passender  erscheint.  Ich  begreife 
ja  vollständig,  daß  der  Herr  Staatsanwalt  in  größter  Ver- 
legenheit ist.  Die  Broschüre  soll  weg,  muß  weg,  man  erlaubt 
ihm  aber  nicht,  die  ganze  Broschüre  zu  konfiszieren,  und  er 
muß  hineingreifen  und  da  findet  er  genug.  Da  ist  zum  Beispiel 
eine  Stelle  auf  Seite  21,  wo  auf  Belgien  hingewiesen  ist; 
diese  Stelle  ist  nach  §  305  konfisziert,  und  zwar  soll  zu  durch 
die   Gesetze   verbotenen   Handlungen    aufgefordert,   angeoifert 


;;(js  Die  konfiszierte  Walih-eclit.sbroschüre 

lirler  zu  Aerleiten  gesucht  werden,  oder  es  sollen,  was  wahr- 
scheinlich der  Staatsanwalt  meinte,  durch  die  G  e  s  e  t  z  c  v  e  r- 
1)  o  t  e  n  e  Handlungen  angepriesen  wer  d  c  n.  Ich 
frage  nun  den  Herrn  Staatsanwalt,  welche  durch  die  Gesetze 
verbotene  Handlungen  angepriesen  wurden.  Die  belgischen 
Ereignisse  haben  sich  durchaus  auf  dem  Boden  der  in  Belgien 
bestehenden  Gesetze  AoUzogen.  Der  Aufmarsch  der  Brüsseler 
Arbeiter  \ur  dem  rai-lament  war  ein  durchaus  erlaubter,'  es 
besteht  dort  ein  etwas  anderes  Versammlungsgesetz  als  bei 
uns.  Selbstverständlich  haben  sich  auch  Fngcsetzmäßigkeiten 
vollzogen,  aber  dieselben  sind  begangen  worden  von  jenen, 
welche  die  belgischen  Arbeiter  liindern  wollten,  von  dem 
ihnen  gewährleisteten  Versanmilungsrecht  und  dem  Recht  den- 
freien  Meinungsäußerung  Gebrauch  zu  machen,  und  selbst  der 
Herr  Staatsanwalt  wird  zugeben,  daß  ich  diese  Ungesetzlich- 
keiten der  belgischen  l^ohörden  nicht  gutheißen  oder  recht- 
fertigen "wollte. 

Präsident:  ]■]  s  w  \  r  d  d  a  e  i  n  e  r  fr  e  m  d  (>  n  B  e  li  n  r  d  e  U  n  g  e- 
s^  e  t  z  1  i  c  Ii  k  c  i  t  vorgeworfen,  das  kann  i  c  li  n  i  cli  t  zulassen. 
Ich  bin  dazu  da,  ich  kann  Abwesende  niclit  angreifen  lassen.  Das  gehört  nicht 
zur  Sache. 

Dr.  .V  il  1  e  r :  Ich  seilest  halie  ja  nicht  angefangen,  irgend 
jemand  Ungesetzlichkeiten  vorzuwerfen,  noch  weniger  Ab- 
wesenden, die  sich  nicht  Acrteidigen  können.  Es  war  der  Herr 
StaatsauAvalt,  welcher  behauptet  hat,  daß  in  Belgien  ungesetz- 
liche Dinge  geschehen  sind,  und  wenn  der  hohe  Gerichtshof 
.sich  verpflichtet  fühlt,  abwesende  Behörden  zu  schütz<Mi,  die 
ungesetzlich  handelten,  wird  es  auch  mir  erlaubt  sein,  die 
belgische  Arbeiterschaft  in  Schutz  zu  nehmen,  die  ebenftUs 
abwesend  und  ohne  Schutz  ist  und  der  vom  Stantsanwnlt  un- 
gesetzliche Handlungen  Aorgeworfen  werden. 

Es  wurden  also  ungesetzliche  Handluugen  nicht  gut- 
geheißen und  gerechtfertigt,  denn  die  Arbeiter,  welche  der 
Herr  Staatsanwalt  meint,  haben  sie  niclit  begangen,  und  die 
■Behörden,  welche  Ungesetzlichkeiten  begangen  haben,  meinen 
M'ir  nicht  und  halben  sie  nicht  angepriesen.  Das  ist  ein  P>eispiel, 
in  welcher  Weise  das  Erkenntnis  gemacht  wurde.  Es  gibt  noch 
andere  Dinge,  die  gleichfalls  in  das  Gebiet  der  Ungeheuerlich- 
keiten gehören. 

Präsiden  l:  Ich  bitte,  solche  Ausdrücke  zu  lassen,  sie  sind  eine 
Beleidigung  für  das  Erkenntnis.         '' 


Die  konfiszierte  Waliirechtsbrüscliüre  -"{itH 


Dr.  Adler:  Ich  werde  künftighin  „sonderbar"  sagen. 
Wir  kommen  mm  auf  das  Gebiet  eines  jener  Paragra])hen,  mit 
ilenen  wir  fortwährend  zu  tun  haben,  wo  es  sicli  angeblich  um- 
V'erleitung  zu  Feindseligkeiten  gegen  einzelne  Klassen  und 
Stände  der  bürgerlichen  Gesellschaft  handelt.  Das  Kapitel, 
welches  die  diesbezügliche  Stelle  enthält,  heißt:  die  Alters- 
ii:renze  für  Wahlrecht.  Es  wird  hier  die  Bestimmung  bekämpft, 
daß  das  Wahlrecht  mit  dem  24.  Lebensjahr  beginnt.  Es  wird 
ausgeführt,  daß  allerdings  die  Söhne  der  besitzenden  Klasse 
später  reif  werden  und  länger  leben,  daß  aber  die  Proletarier 
früher  reif  sind  und  kürzer  leben;  daß  aus  diesem  Grunde  die 
Altersgrenze  herabgesetzt  werden  muß.  Es  ist  dies  eine  so  alte, 
bekannte  Tatsache,  daß  darüber  ein  Wort  zu  verlieren  nicht 
notwendig  gewesen  wäre. 

'  Nachdem  die  Broschüre  aber  auch  in  die  Hände  von  Leuten 
kommt,  welche  über  die  bekanntesten  Tatsacben  nicht  ge- 
nügend unterrichtet  sind,  habe  ich  eine  große  Anzahl  von 
Ziffern,  die  noch  hätten  vermehrt  werden  können,  über  die 
Altersgrenze  der  besitzlosen  Klasse  zitiert  und  fahre  dann  fort, 
Seite  34:  ,,Das  Proletariat  muß  also..."  Diese  Stelle  wurde 
konfisziert. 

Daß  das  Leben  des  Proletariats  abgekürzt  ist  durch  die 
wirtschaftliche  Ausbeutung,  insbesondere  in  der  Großindustrie, 
durch  das,  was  war  Kapitalismus  nennen,  darüber  ist  in  der 
gebildeten  Welt  Zweifel  nicht  vorhanden,  das  ist  wissenschaft- 
lich erhärtete  Tatsache,  und  ich  würde  glauben,  den  hohe7i 
(lerichtshof  zu  verletzen,  wenn  ich  darüber  weiter  ein  Wort 
spräche.  Und  da  muß  es  doch  erlaubt  sein  —  und  es  ist  der 
Herr  Staatsanwalt  selbst,  der  es  erlaubt;  wir  haben  uns  zwar 
seiner  besonderen  Xachsicht  nicht  zu  erfreuen,  aber  wenn 
solche  Stellen  in  der  ..Arbeiter-Zeitung"  stehen,  werden  sie 
nicht  konfisziert  —  zu  sagen,  daß  diese  Ausbeutung  von  Men- 
schen betrieben  wird,  und  zwar  von  denselben,  welche  s;ieh 
dem  widersetzen,  daß  diese  Ausgebeuteten  das  Walilrecht  er- 
halten. Dieselbe  Kapitalistenklasse,  welche  auf  ökonomischem 
Wege  den  Arbeiter  zu  einem  frühen  Tode  verurteilt,  die  ihm 
einen  Teil  seines  Lebens  nimmt,  nimmt  ihm  in  böser  Absicht 
und  auf  dem  Wege  einer  ständigen  Unterdrückung  das  Wahl- 
recht. Das  ist  nicht  nur  Tatsache,  sondern  auch  eine  Tatsache, 
die   in   so  einfacher   unl    uiäßisTU'   T-\irni   gesagt   wurde,   daß  e^^ 


310  Die  konfiszierte  Wahlrechtsbroschüre 

wirklich  ein  Lapsus  calami  des  Staatsanwalts  sein  muß,  iliesc 
Stelle  zu  beanständen.  Auf  der  nächsten  Seite  35  wird  gesagt: 
Die  Entwicklung  der  kapitalistischen  Wirtschaft  .  .  .  aus- 
gebeutet, genau  bis  zu  dieser  Stelle  ist  konfisziert  worden,  und 
das  soll  eine  Aufreizung  und  Aneiferung  und  Verleitung  zu 
Feindseligkeiten  wider  einzelne  Klassen  sein?  Der  Herr 
Staatsanwalt  war  so  vorsichtig,  den  nächsten  Satz  nicht  in  die 
Konfiskation  einzubeziehen,  in  welchem  es  heißt:  „in  Öster- 
reich zälilt  man  SVo  Millionen  erwerbstätiger  Frauen"  —  ich 
kann  wirklich  nicht  einsehen,  warum  diese  Stelle  nicht  auch 
unter  den  §  302  fallen  soll,  so  wie  die  andere. 

Wenn  diese  Stelle  reif  ist  für  §  302,  dann  ist  es  so 
ziemlich  das  Alphabet  oder  das  Einmaleins  auch. 

Die  ganze  Broschüre  ist  hauptsächlich  der  Besprechung 
der  heute  geltenden  Verfassung  gewidmet.  Es  wurden  aber 
auch  die  Abänderungsanträge,  welche  diese  Frage  angehen, 
insbesondere  der  jungtschechische  x\ntrag  auf  Einführung  des 
allgemeinen,  gleichen  und  direkten  Wahlrechts  und  der 
liberale  Antrag  auf  Erteilung  des  Wahlrechts  durch  Arbeiter- 
kammern, einer  Kritik  unterzogen.  Der  Herr  Staatsanwalt  er- 
laubt aber  auch  nicht,  daß  man  diese  Anträge  einzelner 
Parteien  irgendwie  scharf  kritisiert;  er  konfisziert  Seite  58 
•die  Stelle  von:  „Grcwiß  ist  der  vorliegende  Gesetzentwurf..."' 
bis  ,,...  Arbeit  lebt",  eine  Stelle,  die  sich  ausschließlich  mit 
der  Kritik  des  Antrages  beschäftigt. 

Klassisch  aber  für  diese  Art  der  Konfiskation  ist  die 
Stelle  auf  Seite  (55:  „Vom  eigentlichen  politischen  Standpunkt 
—  Abschlagszahlung",  wo  es  sich  um  den  Antrag  der  Liberalen 
auf  A  r  b  e  i  t  e  r  k  a  m  m  e  r  n  handelt,  wo  nachgewiesen  wird, 
daß  die  Arbeiterkammern  der  Liberalen  ein  Schwindel  sind. 
Es  ist  mir  nun  nicht  l)ekauut,  daß  liberale  Anträge  bereits 
ein  Bestandteil  der  Verfassung  sind;  und  trotzdem  hat  der 
Herr  Staatsanwalt  jene  Kritik  als  ein  Verbrechen  bezeichnet, 
es  subsumiert  unter  Artikel  II  des  Verbrechens  der  Störung 
der  öffentlichen  Ruhe,  dessen  sich  derjenige  schuldig  macht, 
der  öffentlich  zum  Hasse  und  zur  Verachtung  des  Staates  auf- 
zureizen sucht.  Unter  diesen  Umständen,  glaube  ich,  obwohl 
ich  alle  Milderungsgründe  zu  schätzen  weiß,  welche  dieses 
Erkenntnis  für  sich  hat,  insofern  es  ein  Produkt  der  Verlegou- 
heit  ist,  insofern  es  sehr  schwer  ist.  pefxcn  seine  T'^ber/ougimg 


Die  konfiszierte  Wahlrechtsbroschüre  311 

Stellen  aus  dem  Zusammenhang  herauszureißen;  trotzdem  ich 
es  schließlich  für  den  Staatsanwalt  begreiflich  finde,  daß  er 
konfiszierte,  glaube  ich,  daß  es  für  einen  Gerichtshof  nicht 
gerechtfertigt  und  nicht  zu  rechtfertigen  wäre,  wenn  er  die 
Konfiskation  bestätigen  würde.  Denn  der  Verlegenheit,  in 
der  sich  der  Staatsanwalt  sah,  einen  gegebenen  Auftrag  voll- 
ziehen zu  müssen,  ist  der  Gerichtshof  nicht  ausgesetzt.  Ich 
gehe  weiter,  der  Artikel  III,  welcher  mit  Strafe  denjenigen 
belegt,  welcher  zu  Haß  und  Verachtung  gegen  eines  oder  beide 
Häuser  des  Eeichsrates  aufreizt,  spielt  selbstverständlich  eine 
große  Eolle.  Das  Höchste  ist  aber  darin  geleistet,  wenn  die 
Stelle  am  Schlüsse,  Seite  68,  konfisziert  wird,  in  welcher  aus- 
i;eführt  wird,  daß  Baron  Chlumetzky  den  jungtschechi- 
schen  Antrag  auf  die  Tagesordnung  werde  setzen  müssen.  Der 
Herr  Baron  Chlumetzky  ist,  meines  Wissens,  kein  un- 
veräußerlicher Bestandteil  des  Eeichsrates,  und  selbst  wenn 
ich  zugeben  wollte,  daß  zu  Haß  und  Verachtung  gegen  Baron 
C  h  1  u  me  t  z  k  y  und  seine  Amtsführung  aufzureizen  versucht 
worden  sei,  selbst  dann  hat  das  mit  dem  Abgeordnetenhans 
an  sich  gar  nichts  zu  tun.  Auch  die  Konfiskation  dieser  Stelle 
ist  lediglich  ein  Produkt  der  Verlegenheit  und  beweist,  daß 
man  sich  sehr  wohl  bewußt  ist,  wem  zuliebe  konfisziert  wird. 

Präsident:  Ich  bitte  das  zu  unterlassen.  Der  Herr  Staatsanwalt 
hat  ursprünglich  die  Konfiskation  der  ganzen  Broschüre  beantragt  und 
ursprünglich  nicht  die  Stellen  aus  dem  Zusammenhang  gerissen,  sondern 
durch  das  Erkenntnis  ist  das  geschehen. 

Dr.  Adler;  Ich  gebe  mich  keiner  Täuschung  hin,  daß 
der  Gerichtshof  wohl  die  Gründe  des  Herrn  Staatsanwalts 
zuerst  anhörte.  Die  Auslese  dürfte  wohl  von  Seiten  des  Staats- 
anwalts getroffen  worden  sein,  er  dürfte  die  Stellen  bc- 
:zeichnet  haben,  die  er  für  berufen  hielt,  und  der  hohe 
Gerichtshof  hat  dann  die  gefunden,  die  aus  er  wählt  sind. 
Ich  wiederhole  noch  einmal:  Ich  stehe  in  dieser  Beziehung  auf 
dem  Standpunkt  des  Herrn  Staatsanwalts,  daß  die  ganz  c 
Broschüre  hätte  konfisziert  werden  müssen,  wenn  diese  Stelle 
konfisziert  wurde.  Alle  jene  Stellen,  welche  nachweisen,  daß 
heute  in  Österreich  zwei  Drittel  des  Volkes  rechtlos  sind,  was 
ungerecht,  als  verwerflich  auf  jeder  Seite  bezeichnet  wird, 
hätten  konfisziert  werden  müssen.  Es  müßte  die  Stelle  kon- 
fisziert  werden,   wo   es  heißt,   daß   63   Großgrundbesitzer   den- 


312  Die  konfiszierte  Wahlrechtsbroscliüie 

selben  politischen  Einfluß  liahen  wie  2918  städtische  Wähler 
und  wie  10.592  Wähler  in  den  Landgemeinden,  oder  die  Stelle^ 
wo  es  heißt,  daß  durch  diesen  Wahlmodus  die  5000  Familien 
der  GroßgTundhesitzer  nicht  nur  das  l^arlament,  sondern  auch 
durch  das  Parlament  die  Verwaltung  beherrschen.  Hoher  Ge- 
richtshof, wenn  es  möglich  ist,  zu  Haß  und  Verachtung  gcgan 
die  Verfassung  aufzureizen,  dann  geschieht  das  durch  diese 
Tatsachen  und  Ziffern  weit  mehr  als  durch  alles,  was  man 
dazufügen  könnte.  Der  Herr  Staatsanwalt  hatte  rollkonmien 
recht:  die  Tatsachen  mußten  konfisziert  w-erden,  und 
wenn  man  die  Tatsachen  nicht  konfiszieren  wollte,  dann  blieb 
nichts  übrig,  als  in  der  Verlegenheit  einzelne  Stellen  heraus- 
zuklaubcn  und  dabei  ein  Erkenntnis  zu  machen,  das  vielleicht 
bestätigt  werden,  das  aber  in  der  Meinung  aller  nicht  als 
logisch  angesehen  werden  kann. 

Präsident:  Ich  muß  den  Anwuri  entschieden  zurückweisen.  Nicht 
nur  das  frühere  Erkenntnis,  sondern  auch  wir,  wenn  wir  es  wagen  würden, 
dasselbe  zu  bestätigen,  werden  da  im  vorhinein  angegriffen.  Ich  kann  einen 
Angriff  gegen  ein  Gericht,  gegen  eine  Beliörde,  die  mit  der  Sache  zu  tuß. 
iiat,  nicht  zulassen. 

Dr.  Adler:   Ist  mir  nicht  eingefallen  .  .  . 

Präsident:  Sie  haben  sich  in  verächtlichster  "Weise  ausgesprociien- 
gegen  das  Erkenntnis  und  auch  gegen  uns.  Wir  wordeh  uns  in  der  richter- 
lichen Freiheit  nicht  einschränken  lassen. 

Dr.  Adler:  Das  weiß  ich.  Weiters  hat  das  Erkenntui!> 
noch  eine  Eigentümlichkeit.  Wir  sind  gew'ohnt  in  Österreich^ 
das  objektive  Verfahren  dem  subjektiven  Ermessen  einer  jeden 
zur  Konfiskation  berechtigten  Behörde  überlassen  zu  selicn^ 
und  es  ist  begreiflich,  daß,  naclidem  das  objektive  Ver- 
fahren .  .  . 

Präsident:  Aber,  Herr  Doktor,  wozu  diese  Angriffe?  Damit  wird. 
Ihnen  nicht  gedient.  Ihre  Sache  ist  darzustellen,  daß  die  inkriminierten 
.Stellen  nicht  den  Tatbestand  des  betreffenden  Paragraphen  begründen. 

Dr.  Adler:  Ich  bedaure,  daß  ich  unterbrochen  wurde^ 
hevor  ich  den  Satz  vollendet.  Es  ergibt  sich  aus  dem  Gesagten- 
naturgemäß  der  TTmstand,  daß  ein  und  derselbe  Artikel  nach 
dem  .subjektiven  Ermessen  des  einen  Herrn  Staatsanwalts 
'•bjektiv  zu  behandeln  und  zu  konfiszieren  ist,  während  er 
nach  dem  Ermessen  des  anderen  nicht  zu  konfiszieren  ist,  das 
sind  ganz  häufige  Dinge.  Anders  aber  stellt  sich  die  Sache^. 
wenn   ein   und   dieselbe  Staatsanwaltschaft  über  ein  und   den- 


Die  konfiszierte  Wahlrechtsbroschüre  31:5 

selben  Punkt  und  ein  und  denselben  Gegenstand  zu  ver- 
schiedenen Zeiten  verschiedene  Ansichten  hat,  und  wenn  die 
Beurteilung  eines  und  desselben  Gegenstandes  zu  verschie- 
denen Zeiten  ganz  entgegengesetzt  ist.  Am  9.  Juli  d.  .1.  hat 
jene  Rathausversammlung  stattgefunden,  welche  in  der  Ge- 
schichte Österreichs  denkwürdig  bleiben  wird,  welche  die 
Volksbewegung  zur  Erringuug  des  allgemeinen  W^ahlrechts' 
auch  zur  Kenntnis  jener  Leute  gebracht  hat,  die  außerhalb 
des  Volkes  stehen  und  nicht  wissen,  was  da  unten  vorg-^ht.  An 
diesem  Tage  wurde  eine  Eesolution  gefaßt,  wurde  vorgeleseir 
vor  etwa  30.000  Menschen  in  Gegenwart  von  zwei  Polizei- 
kommissären  im  Arkadenhof  und  zwei  in  der  Volkshalle.  Sie 
wurde  überdies,  da  sie  schon  bei  Beginn  der  Versammlung 
vorlag,  dem  Präsidium  der  Polizei  übersendet  zur  Prüfung., 
nicht  von  uns,  sondern  von  den  amtierenden  Kommissären. 
Das  Präsidium  hat  drei  Stellen  herausgefunden,  die  es  in  der 
Resolution  als  gesetzwidrig  erkannt,  welche  hier  durch  Punkt-e 
bezeichnet  sind,  aber  für  jeden  leicht  ergänzt  werden  können. 
Über  diese  Resolution  wurde  nicht  nur  abgestimmt  und 
ihr  zugestimmt,  sie  wurde  in  einer  großen  Anzahl  von  Ver- 
sammlungen in  ganz  Österreich  anstandslos  verlesen,  über  sic- 
abgestimmt  und  ihr  zugestimmt.  Sie  wurde  am  darauffolgen- 
den Tage  in  sämtlichen  Wiener  Blättern,  nicht  nur  etwa  in- 
Bourgeoisblättern,  sondern  auch  in  der  „Arbeiter-Zeitung'' 
abgedruckt.  Alle  diese  Blätter  liest  der  Herr  Staatsanwalt  und 
die  Resolution  hat  nicht  nur  vor  den  Augen  der  Polizei,  son- 
dern auch  vor  denen  des  Herrn  Staatsanwalts  Revue  passiert 
und  ist  ohne  Fehl  befunden  worden.  Und  nachdem  Millionen 
von  Menschen  sie  gelesen  und  ihr  zugestimmt  haben,  dann 
kommt  sie  in  diese  Broschüre,  welche  in  5000  Exemplaren 
gedruckt  wurde.  Und  hier  wird  sie  konfisziert  und  in  ihr  das 
Verbrechen  nach  §  65a  gefunden.  Es  wird  gefunden,  daß  gegen 
die  Staatsverwaltung  aufgereizt  wird,  daß  gegen  die  besitzen- 
den Klassen  aufgereizt  wird,  daß  gegen  die  Behörden  und 
deren  Amtsführung  aufgereizt  wird.  Der  hohe  Gerichtshof 
wird  sich  schon  die  Frage  vorlegen  müssen:  ist  es  gerecht,  ist 
es  klug  und  entspricht  es  dem  geunden  Sinne,  daß  man  die 
in  der  Resolution  ausgesprochene,  die  Rechtsüberzeugung  von 
Millionen  von  Menschen,  eine  Rechtsüberzeugung,  die  ebenso^ 
tiefbegründet  ist  als  jene,  welclie  die  lieutige  Verfassung  ver- 


314  Die  konfiszierte  Wahlrechtsbroschüre 


teidigt,  eine  Eechtsüberzeugung,  für  welche  Millionen  etwas 
einzusetzen  gewillt  sind,  während  jene,  welche  die  heutige 
Verfassung  verteidigen,  bloß  aus  ihr  Vorteil  ziehen,  als  Ver- 
brechen und  Vergehen  zu  brandmarken? 

Präsident:  Das  ist  ein  Angriff  gegen  den  Staatsanwalt  und  das 
Gericht;  das  heißt,  das  Erkenntnis  ist  unvernünftig  und  ungerecht. 
Es  steht  Ihnen  frei,  das  Erkenntnis  anzugreifen,  aber  es  ist  nicht  notwendig, 
es  ungerecht  und  unvernünftig  zu  nennen. 

Dr.  Adler:  Wenn  ich  das  Erkenntnis  nicht  für  un- 
gerecbt  und  unvernünftig  hielte,  sondern  für  gerecht  und  ver- 
nünftig, wie  hätte  ich  mir  erlauben  dürfen,  Einspruch  zu 
erheben?  Das  wäre  ja  eine  Behelligung  des  Gerichtes. 

Präsident:  In  eine  Diskussion  kann  ich  mich  nicht  einlassen. 
Alles  liegt  in  der  Wahl  der  Worte.  Sie  können  das  Erkenntnis  anfechten,  aber 
in  statthafter  Weise.  Man  kann  es  als  unbegründet  hinstellen,  aber  un- 
vernünftig, das  ist  eine  Beleidigung,  wie  es  für  Private  eine  Beleidigung  wäre. 
Ich  spreche  nur  gegen  die  Wahl  der  Worte. 

Dr.  Adler:  Ich  konstatiere  also,  daß  das  Erkennt- 
nis diese  Resolution  vom  9.  Juli  konfisziert  hat  und  sie  als 
Verbrechen  und  Vergehen  bezeichnet.  Es  wimmelt  von  Ver- 
brechen und  Vergehen  in  der  Broschüre. 

Es  sind  nicht  weniger  als  32  Stellen  hier  herausgehoben, 
und  die  ziemlich  große  Anzahl  von  Leuten  —  es  sind  viel- 
leicht Tausende  von  Menschen,  die  in  den  drei  Wochen 
zwischen  Veröffentlichung  und  Konfiskation  die  Broschüre  in 
die  Hand  genommen  haben  —  ist  wahrscheinlich  recht  erstaunt, 
in  welchen  Sumpf  von  Verbrechen  sie  da  hineingestiegen  ist 
und  ich  muß  es  von  selten  der  Staatsanwaltschaft  als  kaum 
begreiflich  bezeichnen,  daß  man  so  lange  die  arglosen  Leser 
:n  diese  Verbrecherhöhle  hat  hineingehen  lassen,  ohne  einzu- 
greifen. Die  ganze  Broschüre  dient,  wie  gesagt,  dem  Kampfe. 
Und  was  ich  dem  Erkenntnis  gegenüber  sage,  daß  icli  es  nicht 
für  gerechtfertigt  ansehe  —  und  es  muß  mir  erlaubt  sein,  das 
zu  konstatieren  —  das  gilt  auch  in  bezug  auf  den  Inhalt  der 
Broschüre  —  vom  Anfang  bis  zum  Ende  wird  die  Verfassung 
als  ungerechte  und  als  Folge  der  Verfassung  die  Gesetz- 
gebung als  einseitige  bezeichnet,  und  wird  weiter  gesagt : 
daß  diese  Zustände  nicht  nur  eine  Ungerechtigkeit,  son- 
dern auch  die  Wurzeln  unserer  Wirren  sind.  Es  wäre  sehr 
verlockend,  heute  am  Vorabend  der  Debatte  über  den  Aus- 
nah  mozu  stand    in    Prag   die  konfiszioi'tc   Stelle   auf  Seite   5   zu 


Die  konfiszierte  Wahlrechtsbroschüre  315 

beleuchten,  wo  es  heißt:  Jetzt  eben  stockt  infolge  der 
böhmischen  Wirren Auch  das  soll  ein  Verbrechen  sein. 

Ich  bin  genügend  auf  einzelne  Stellen  eingegangen. 

Der  Einspruch  ist  gegen  die  sämtlichen  Stellen  gerichtet 
und  ich  habe  nur  wenige  Stellen  herausgegriffen,  um  zu 
zeigen,  daß  die  Konfiskation  eine  unlogische  ist,  daß  sie  eine 
ungerechtfertigte  ist  und  mit  dem  Gesetz  in  Widerspruch 
steht.  Aber  eine  Gruppe  muß  ich  noch  hervorheben,  das  bin 
ich  mir  und  meiner  Partei  schuldig.  Der  §  305  ist  einer  unserer 
unangenehmsten  Paragraphen.  Es  ist  sehr  leicht,  mit  ihm  in 
Konflikt  zu  kommen,  und  es  ist  für  den  Staatsanwalt  sehr  ver- 
lockend, zu  sagen,  hier  ist  zu  ungesetzlichen  Handlungen  auf- 
gereizt worden.  Aber  trotzdem  bleibt  es  mir  unerklärlich,  wie 
er  die  Stelle  auf  Seite  53  nach  §  305  konfiszieren  konnte,  wo 
unter  dem  Titel  „Bisherige  Versuche  einer  Wahlreform"  an- 
geführt wird,  daß  die  Arbeiterschaft  das  Petitionieren  auf- 
gegeben, sich  auf  andere  Weise  Gehör  verschafft  habe  and 
ihren  Willen  durchsetzen  werde.  Dies  wird  als  eine  Aufforde- 
rung zu  verbotenen  Handlungen  bezeichnet  und  der  Herr 
Staatsanwalt  hat  damit  im  Zusammenhang  die  Schlußstelle 
der  Broschüre  gebracht,  wo  gesagt  wird,  daß  für  das  allge- 
meine Wahlrecht  eine  Zweidrittelmajorität,  wenn  nicht  im 
Abgeordnetenhaus,  so  außerhalb  desselben  vorhanden  sei, 
welche  ihre  Stimme  zur  Geltung  bringen  werde. 

Ich  frage  den  Staatsanwalt  oder  das  Erkenntnis:  Welche 
durch  das  Gesetz  verbotene  Handlung  ist  es,  zu  welcher  an- 
geeifert und  zu  verleiten  gesucht  wird?  Es  ist  der  Zweidrittel- 
majorität im  Volke  in  keiner  Weise  vorgegriffen,  was  sie  tun 
solle,  mit  keinem  Worte  ist  gesagt,  daß  es  sich  um  ungesetz- 
liche Mittel  handelt.  Der  Mittel,  auf  ein  hartnäckiges  Par- 
lament zu  wirken,  gibt  es  sehr  viele,  und  es  wäre  sehr  traurig, 
wenn  durch  ein  gerichtliches  Erkenntnis  konstatiert  würde, 
daß  es  nur  ungesetzliche  Mittel,  auf  das  Parlament  einzu- 
wirken, gibt.  Xicht  wir  sind  es,  nicht  die  Broschüre  ist  es,  die 
behauptet:  Wenn  das  Parlament,  wenn  die  Vertreter  der  be- 
sitzenden Klassen,  die  im  Parlament  sitzen,  wenn  die  das  all- 
gemeine Wahlrecht  nicht  beschließen,  wenn  sie  den  heutigen 
ungerechten  Zustand  aufrechterhalten  wollen,  dann  gibt  es 
kein  gesetzliches  Mittel,  um  sie  anders  zu  stimmen.  Wir  be- 
haupten. PS  gibt  solche  gesetzliche  Mittel:  wenn  aber  der  Herr 


316  Die  kouttszierte  Wahlrechtsbroscliünr; 


Staatsanwalt  durch  seine  Konfiskation,  wenn  der  Gerichtshof 
durch  sein  Erkenntnis  den  Nachweis  führen  wollen,  daß  es 
wirklich  kein  gesetzliches  Mittel  gibt,  um  das  Parlament  zu 
veranlassen,  das  heutige  Unrecht  zu  beseitigen,  an  Stelle 
eines  ungerechten  Zustandes  einen  in  modernen  Länderji 
selbstverständlichen  Zustand  zu  setzen,  wenn  es  dem  hohen 
Gerichtshof  gelingt,  das  Volk  zu  überzeuge  n,  daß  es  ein 
gesetzliches  Mittel  nicht  gibt,  dann  wird'  der  Erfolg  dieser 
Überzeugung  den  Herren  nicht   angenehm  sein. 

Präsident:  Ich  muß  auch  diese  Drohung  entschieden  zurückweisen. 
Sie  haben  direkt  gedrohf,  das  ist  eine  Äußerung,  die  ich  nicht  ungerügt 
hissen  kann. 

Dr.  A  d  1  er :  Ich  konstatiere,  daß  es  keine  größere 
Herabsetzung  des  Parlaments,  und  zwar  beider  Häuser  des 
Keichsrates,  gibt,  also  nach  Artikel  II  des  Strafgesetzes  straf- 
bar, als  die  Behauptung:  Wenn  das  Parlament  zur  Änderung 
der  Verfassung  im  Sinne  der  Gerechtigkeit  gezwungen  werden 
soll,  geht  es  nur  durch  den  Weg  der  Gewalt.  Das  wird  aber 
nicht  in  der  Broschüre  gesagt,  das  behauptet  durch  sein  Er- 
kenntnis der  Gerichtshof.  Ich  schließe.  Ich  hoffe  noch  immer, 
daß  der  hohe  Gerichtshof  finden  wird,  es  sei  unlogisch,  eine 
Broschüre  in  einzelnen  Stellen  zu  konfiszieren,  deren  wichtig- 
sten Teile  unbeanstandet  bleiben.  Durch  die  Konfiskation 
leidet  der  Zweck,  dem  die  Broschüre  gewidmet  war,  keinen 
Schaden.  Geschädigt  wird  nur  das  Eechtsgefühl.  Es  handelt 
sich  um  die  Verletzung  des  Rechtes  der  freien  Meinungs- 
äußerung, und  zwar  jener  Leute,  die  gar  kein  Mittel  haben^ 
ilire  politische  Überzeugung  zum  Ausdruck  zu  bringen.  Den 
Millionen  von  Menschen  in  Österreich,  die  politisch  rechtlos 
sind,  die  kein  Wahlrecht  haben,  wird  durch  die  Konfiskation 
gesagt:  Ihr  seid  nicht  nur  rechtlos,  ihr  habt  auch  nicht  das 
Kecht,  einen  Versuch  zu  macheu,  diese  Rechtlosigkeit  zu  be- 
heben, ihr  dürft  gar  nicht  sagen,  daß  dieser  Zustand  ungereclit 
ist,  ihr  dürft  die  Ziffern  lesen,  aber  nicht  die  Konsequenzen 
daraus  ziehen.  Daß  das  nicht  von  politischem  Erfolg  sein  kann, 
wird  der  hohe  Gerichtshof  begreifen.  Wie  aber  das  Urteil 
über  die  Konfiskation  ausfällt,  die  Bewegung  wird  weiter- 
gehen, die  Absicht  der  Konfiskation  wird  nicht  erreicht 
werden,  die  Bewegung  für  das  allgemeine  Wahlrecht  wird 
)iicht  eingedämmt  werden. 


Bin  verurteilter  Laudesgerichtsrat  317 

Nach  ]/{'stündiger  Beratung  dos  Gerichtshofes  verkündet  der  Vor- 
sitzende, daß  dem  Plinspiiich  in  allen  Teilen  nicht  Folge  gegeben  werde; 
die   konfiszierten  32   Stellen   bleiben   also   konfisziert. 


Ein  verurteilter  Landesgerichtsrat. 

Der  Artikel,  den  Adler  in  der  „Arbeiter-Zeitung"  vom  i.  November 
J892  dem  Disziplinarurteil  über  den  Landesgerichtsrat  S  c  h  m  i  e  d  e  1  vor- 
ausstellte sowie  der  Bericht  über  die  Einspruchsvcrhandlung  vor  dem  dele- 
gierten Linzer  Landesgericht  ist  im  Kapitel  »Adler  als  Änklägei",  Abschnitt 
■•Einer  vom  H  o  1  z  i  n  g  e  r  -  S  e  n  a  t'",  wiedergegeben. 


IV. 
Adler  als  Zeuge. 


Als  Entlastungszeuge  in  einem  Anarchistenprozeß  321 


Als  Entlastungszeuge  in   einem  Anarchisten- 
prozeß. 

Die  „theoretischen  Anarchisten"  K  r  c  a  1,  R  i  s  m  a  n  n  und  Barth 
hatten  in  Graz  im  Jahre  1893  eine  Broschüre  erscheinen  lassen  „Zur  Ge- 
schichte der  Arbeiterbewegung  Österreichs",  die  eigentlich  nichts  anderes 
war  als  eine  Polemik  gegen  das  Wahlrecht  (das  die  Arbeiter  nicht  hatten)  und 
gegen  die  Sozialdemokratie,  deren  Vertrauensmänner,  Adler  an  der  Spitze, 
verdächtigt  und  beschimpft  wurden.  Der  Grazer  Staatsanwalt  Dr.  Steiner 
suchte  aber  eine  Gelegenheit,  sich  durch  Anarchistenhatz  billige  Lorbeeren 
zu  verschaffen,  konfiszierte  die  Broschüre,  die  nur  in  wenigen  Exemplaren 
herausgekommen  war,  verhaftete  die  drei  „Anarchisten'"  und  erhob  die  An- 
klage wegen  Hochverrats  und  anderer  schwerer  Verbrechen.  Sechs  Monate 
'Barth  vier  Monate)  ließ  man  sie  vorerst  in  Untersuchungshaft  sitzen,  bis 
am  1.  und  2.  Dezember  1893  die  Verhandlung  vor  dem  Schwurgericht  statt- 
fand. Um  den  Geschwomen  die  „besondere  Gefährlichkeit"  der  Angeklagten  dar- 
zutun, wurde  sofort  der  Ausschluß  der  Öffentlichkeit  beschlossen.  Von  den 
Angeklagten  wurde  nun  Adler  als  Entlastungszeuge  geführt.  Die  Grazer 
Sozialdemokraten  schickten  ihm  ein  Exemplar  der  Broschüre  zur  Information, 
doch  ließ  er  bei  der  Verhandlung  nichts  davon  merken,  daß  er  sie  kenne, 
da  sonst  der  Staatsanwalt  sofort  erklärt  hätte,  die  Broschüre  sei  doch  in  die 
Öffentlichkeit  gekommen. 

Bei  der  Verhandlung   erklärte 

Adler 

die  ganze  Harmlosigkeit  und  Ungefährlichkeit  dieser  .,theo- 
retischen  Anarchisten",  -welche  gegen  die  Sozialdemokraten 
viel  stärker  losgehen  als  gegen  die  herrschende  Klasse. 
Als  ihm  einzelne  Stellen  der  Broschüre  vorgelesen  wurden, 
wies  er  ihre  Bedeutungslosigkeit  nach,  und  der  Eindruck  der 
Zeugenaussage  des  Mannes,  dessen  Partei  und  Person  in 
dieser  Broschüre  so  heftig  angefeindet  wurde,  auf  die  Ge- 
schwomen war  so  groß,  daß  ihm  von  den  Zuhörern  das  Ver- 
dienst an  dem  Urteil,  das  auf  Freisprechung  aller  Ange- 
klagten in  allen  23  Fragen  lautete,  zugesprochen  wurde. 

Der  Staatsanwalt,  der  offenbar  eine  ganz  andere  Zeugenaussage  des 
stärksten  Gegners  des  Anarchismus  erwartet  hatte,  war  außer  sich  über  die 
Enttäuschung,  die  er  erlitt.  Der  Vorsitzende,  ein  bösartiger  Schwätzer.  Ober- 


322  Nicht  auf  der  Tagesordnung 

landesgenchlsi'at  Freiherr  v.  I^'  e  u  g  e  h  a  u  e  r,  hatte  vergebens  versucht,  der. 
Eindruck  der  Aussage  Adlers  auf  die  Gescliwornen  durch  ebenso  zahl- 
reiche als  dumme  Fragen  zu  vermindern. 

Krcal  wankte  gebrociien  aus  der  in  Graz  besonders  barbarisch 
durchgeführten  und  absichtlich  verlängerten  Untersuchungshaft  und  starb 
einige  Wochen  später  an  Lungentu])erkulose,  die  durch  die  sechsmonatige 
Haft   unheilbar  geworden  war. 


Nicht  auf  der  Tagesordnung. 

Die  Anwesenheit  Adlers  wurde  sofort  benutzt,  um  ihn  in  einer 
Versammlung  zu  den  Grazör  Arbeitern  sprechen  zu  lassen.  Sie  fand  in  der 
Puntigamer  Bierhalle,  einem  großen,  nunmehr  in  ein  Variete  umgebauten 
Saal,  am  Abend  des  letzten  Prozeßtages  statt.  Der  Saal  war  überfüllt. 

R  e  s  e  1  war  Eiiil)enifei-,  ^1  i  t  t  e  1  m  e  i  e  i',  D  r  ö  ß  1er,  G  s  c  h  i  e  1  im 
Vorsitz. 

Adler  wurde  stüimisch  begiüßt,  als  er  kam,  und  sprach  zur  ab- 
sichtlich elastisch  gewählten  Tagesordnung:  „Die  gegenwärtige  wirtschaft- 
liche und  politische  Lage  der  Arbeiter",  verwies  auf  den  bevorstehender, 
ersten  Gewerkschaftskongreß  zu  Weihnachten  und  über  das  neue  Mi- 
nisterium Windischgrätz,  „an  dessen  Namen  eine  unangenehme  Erinnerung 
seit  dem  Jahre  1848  haftet"  und  das  für  die  Arbeiterschaft  nichts  erwarten  läßt. 
Daher  werden  die  Arbeiter  mit   aller  Kraft  für   ihre  Forderungen  eintreten. 

Nachdem  Adler  unter  stürmischem  Beifall  geschlossen  hatte,  sprachen 
Resel  und  Mravinc,  worauf  Adler  das  Schlußwort  nahm.  Als  er  ge- 
rade die  Forderung  des  Achtstundentages  besprach,  brachte  ilim  ein  Ar- 
beiter einen  Zettel  aus  dem  Schwurgerichtssaal. 

Adler  verlas  sofort  den  Zettel:  „Die  drei  Angeklagten  sind  in  allen 
Punkten  freigesprochen  wo  r  d  e  n."  Unbeschreiblicher  Jubel  brach 
los,  und  als  sich  der  Beifall  gelegt  hatte  und  Adler  die  Anklage  und  die  Ver- 
handlung in  geheimer  Sitzung  zu  besprechen  begann,  unterbrach  ihn  der 
Polizeikonzipist  P  e  s  e  c. 

Regierungs  vertretet:  Der  Prozeß  steht  nicht  auf  dei-  Tages- 
oidnung! 

Adler:  O  ja,  politische  Prozesse  sind  l)ei  uns  inuuer 
nuf  der  Tagesordnung! 

Stürmische  Heiterkeit  und  Beifall.  Der  arme  Puiizeikommissär 
schwieg  von  da  an  und  Adler  konnte  ungehindert  reden. 

Adle  r  erklärte  unter  stürmischeni  Beifall  zum  Schluß: 
l)urcli  den  Freispruch  der  drei  Angeklagten  haben  sich  die 
Ankläger  nur  selbst  gerichtet! 

Mit  einem  dreifachen  Hoch  auf  die  internationale  Arbeiterbewegung 
schloß  die  Versaiumluns  und  der  Arbeiter-Sängerbund  stimmte  das  „Lied  der 
Arbeit"  an. 


Die  militärgerichtliche  Untersuchung  gegen  Dr.  Soukup  323 

Die  militärgerichtliche  Untersuchung  gegen 
Dr.  Soukup  und  Genossen. 

Während  des  Krieges  wuide  beim  Wiener  Militärgericht  ein  Hoch- 
vtira.sprozeß  segen  die  zwei  Redakteure  des  „Cas",  .loliann  Hajek  und 
Cyrill  Dusek,  gegen  den  Arbeiter  Bohumil  Mar  es  und  die  Schriften- 
malersfrau Aloisia  L  i  n  h  a  r  t,  gegen  den  k.  k.  Hofrat  Wenzel  0  1  i  c  uiid 
Anna  B  e  n  e  s,  die  Frau  des  damaligen  Professors  (und  jetzigen  Ministers 
der  Tschechoslowakei)  sowie  gegen  den  sozialdemokratischen  Abgeordneten 
Dr.  J'ranz  Soukup  eingeleitet.  Die  in  die  Schweiz  geflüchteten  Tschechen, 
die,  von  M  a  s  a  r  y  k  geleitet,  auf  den  Zusammenbruch  Österreichs  rechneten 
und  für  ihn  arbeiteten,  unteiliielten  eine  geheime  Korrespondenz  mit  ihren 
Gesinnungsgenossen  in  Österreich  und  schifteten  wiederholt  in  Regen- 
schirmen versteckte  chiffrierte  Botschaften  nach  Prag.  Am'  5.  Oktober 
1915  brachte  eine  solche  Botin,  Frau  Linhart,  in  einem  Stoffknopf  ihres 
Kleides  eingenäht,  einen  chiffrierten  Zettel  zu  Hayek  und  schickte  ihn,  da 
dieser  abwesend  war,  durch  den  Arbeiter  Mares  zu  Dr.  Soukup.  Da 
Mares  in  der  Redaktion  des  «Cas"  viel  von  einer  Botschaft  aus  der  Schweiz 
herumredete,  war,  wie  der  Militärstaatsanwalt  meinte,  die  Gefahr  groß,  daß 
die  Polizei  da\'on  erfahren  haben  konnte,  außerdem  habe  die  soziald.'.'mo- 
kratische  Parteiici'ung  oie  geheimen  \or3chv.-r)rjngen  und  die  Beteiligung 
von  Sozialdemokraten  daran  entschieden  mißbilligt,  und  Soukup  habe  daher 
gefürchtet,  in  Widerspruch  zu  seiner  Partei  zu  geraten.  Wie  Dr.  Soukup 
angab,  hatte  er  und  sein  Konzipient  Dr.  S  c  h  rh  e  r  a  1,  der  bei  dem  Besuch 
des  Mares  als  Zeuge  anwesend  v/ar,  den  Verdacht,  daß  es  sich  um  eine  von 
der  Polizei  gestellte  Falle  handelte.  Dr.  Soukup  erstattete  bei  der  Polizei 
die  Anzeige,  was  aber  nicht  hinderte,  daß  auch  er  wegen  Hochverrates  ange- 
klagt wurde.  Am  1.  August  1916  wurde  den  Beschuldigten  die  Anklagesciirift 
(A  3641/15;  derzeit  im  Landesv-rteidigungisministerium  in  Prag  befmdlich) 
zugestellt;  unterfertigt  von  Oberleutnant-Auditor  Dr.  Frank,  nachher  Bundes- 
vizfkanzler  in  öslerreicn.  Im  Laufe  der  Untersuchung  war  auch  Victor 
Adler  als  Zeuge  einvernommen  worden.  (O.-Z.  Nr.  247.) 


Adler 

bestätigte,  daß  die  tschechische  sozialdemokratische  Partei 
ebenso  wie  die  deutsche  Sozialdemokratie  die  autonome 
politische  Verwaltung  der  Völker  im  Rahmen  Ö  s  t  e  r- 
r  e  i  c  h  .s  angestrebt  hat. 

Zur  Verhandlung  wurden  Victor  Adler  sowie  Friedrich  Adle  r,  der 
ebenfalls  als  Zeuge  einvernommen  worden  war  (O.-Z.  Nr.  252), 
nicht  geladen,  sondern  es  war  bloß  die  Verlesung  ihrer  Aussagen  be- 
antragt. Doch  kam  es  nicht  mehr  zur  Hauptverhandhing,  weil  inzwischen 
die  Amnestie  erflossen  war.  . 


324  AJs  Zeuge  im  Prozeß  gegen  Friedrich  Adler 


Als  Zeuge  im  Prozeß  gegen  Friedrich  Adler. 

Am  21.  Oktober  1916,  ungefähr  zweieinviertel  Jahre  nach  der  habs- 
burgischen  Kriegserklärung,  hatte  Friedrich  Adler  im  Speisesaal  des  Hotels 
Meißl  u.  Schadn  auf  dem  Neuen  Markt  den  Ministerpräsidenten  Grafen 
Slürgkh  erschossen.  Am  18.  und  19.  Mai  1917  fand  gegen  ihn  beim  Wiener 
Landesgericht  als  Ausnahmegerichtshof  unter  dem  Vorsitz  des  Vizepräsidenten 
Dr.  V.  H  e  i  d  t  die  Verhandlung  wegen  Mordes  statt.  Als  Zeugen  wurden 
Pernerstorf  er,  Austerlitz,  Skarct  und  Dr.  Viktor  Adler 
einvernommen.  Die  Zeugenaussage  Victor  Adlers  lautete  nach  dem 
stenographischen  Protokoll*) : 

Präsident:  Ich  bitte,  den  Herin  Dr.  Victor  Adler!  (Zeuge 
Dr.  Victor  A  d  1  e  r  tritt  in  den  Saal  und  gibt  die  Generalien  ab.)  Sie  sind 
der  Vater  des  Angeklagten? 

Dr.  Victor  Adler:  Jawohl ! 

Präsident:  Ich  habe  Ihnen  daher  nach  dem  Gesetze  vorzuhalten, 
daß   Sie   berechtigt   sind,   sich   der  Aussage   zu   entschlagen. 

Adler:  Ich  habe  das  in  der  Voruntersuchung  unter- 
lassen und  unterlasse  es  auch  ietzt.  Ich  bin  auch  bereit,  einen 
Eid  zu  leisten. 

Präsident:  Herr  Zeuge  sind  in  der  Voruntersuchung  über  Ihre 
Wahrnehmungen  über  den  Gesundheitszustand  Ihres  Sohnes  seit  frühester 
Jugend  vernommen  worden  und  ich  bitte,  dies  auch  vor  dem  Gerichtshof  zu 
wiederholen. 

Adler: 

Mein  Sohn  kommt  aus  einer  Ehe  und  hat  einen  Vater, 
der  in  seiner  Verwandtschaft  sehr  viel  psychische  Krankheits- 
fälle gehabt  hat.  Er  war  von  vornherein  ein  gesundes,  aber 
etwas  schwächliches  Kind,  und  ich  habe  —  ich  spreche  nur  von 
den  Dingen,  die  für  die  Verhandlung  interessant  sein 
können  —  von  vornherein,  von  seiner  Jugend  an  immer  die 
Sorge  gehabt,  daß  seine  Nerven  nicht  fest  genug  sind.  Er  war 
nicht  ausnehmend  begabt,  aber  immer  sehr  fleißig  und  von  der 
Pubertät  an  hat  sich  auch  seine  Begabung  gezeigt  und  sehr 
gesteigert.  Ich  habe  —  um  zu  charakterisieren,  sage  ich  alles, 
wie  es  mit  ihm  ausgesehen  hat  —  von  Anfang  an  die  Sorge 
gehabt,  ihn  ein  Leben  leben  zu  lassen,  das  eingeschränkt  ist, 
das  seine  Nerven  nicht  allzusehr  belastet.  Ich  wollte  darum, 
daß  er  erst  das  Unterrealgymnasium  macht    und   dann    an  die 


*}  Friedrich  Adler  vor  dem  Ausnahmegericht.  Die 
Verhandlungen  vor  dem  §-]4-Gericht  am  18.  und  19.  Mai  1917  nach  dem 
stenographischen   Protokoll.  Verlegt  bei  Paul  Cassirer.  Berlin  1919. 


Als  Zeuge  im  Prozeß  gegen  Friedrich  Adler  325 


technologische  Lehranstalt  gehe,  um  als  Techniker  einen  Beruf 
zu  finden,  der  ihm  sowohl  für  seine  geistige  Betätigung  die 
Möglichkeit  gibt,  als  ihn  auch  doch  nicht  überlastet 

Nachdem  er  die  Unterrealschule  absolviert  hat,  hat  er  mir 
eröffnet,  daß  er  ohne  höhere  Mathematik  nicht  leben 
könne,  daß  er  also  die  Mittelschule  zu  Ende  machen  müsse 
und  er  dann  an  die  Universität  gehen  wolle.  Nach  einer  kurzen 
Diskussion  konnte  man  sich  dem  nicht  widersetzen.  Er  ist  an 
die  Universität  gegangen,  sollte  erst  Chemie  studieren,  hat 
dann  die  Physik  gewählt,  immer  mit  einem  sehr  besonderen 
Hang  zu  rein  theoretischen  Dingen.  Das  war  die  eine 
Leidenschaft. 

Die  andere  Leidenschaft  war  die  Politik,  die  in  meinem 
Haus,  da  mein  Lebensberuf  ein  politischer  ist,  immer  auf  der 
Tagesordnung  stand. 

Er  ist  dann  in  die  Schweiz  gegangen  und  ist  dort 
geblieben.  Gewünscht  habe  ich,  daß  er  akademischer  Lehrer 
werde,  und  ich  habe  die  beste  Hoffnung  dazu  gehabt;  denn  er 
ist  schon  im  dritten  Semester  Assistent  geworden,  hat  sich 
außerordentlich  fleißig  betätigt,  wie  ich  überhaupt  seinen  Fleiß 
rühmen  muß  —  ich  bitte  um  Entschuldigung,  wenn  ich  Gutes 
über  den  Augeklagten,  obwohl  er  mein  Sohn  ist,  sagen  muß. 
Er  war  ganz  außerordentlich  fleißig,  und  das  einzige  Laster, 
das  ich  ihm  in  seiner  Jugend  nachsagen  kann,  ist  die  Über- 
treibung der  Tugend.  Er  hat  nie  getrunken,  nie  ein  Glas  Bier, 
nie  geraucht,  nie  in  Gesellschaft  von  Studenten  gekneipt,  wie 
ich  es  selbst  getan  habe,  sondern  hat  sich  immer  den  ernstesten 
Arbeiten  gewidmet.  Auch  in  der  Auswahl  seiner  Freunde;  er 
hat  nur  solche  Freunde  gehabt,  mit  denen  er  über  rein  tlieore- 
tische,  sehr  schwierige  Fragen  in  endlosen  Diskussiouen  die 
Nächte  oft  verbracht  hat.  Ich  habe  —  und  das  sage  ich  wieder 
zur  Charakteristik  seiner  Physis  —  gewünscht,  daß  er 
akademischer  Lehrer  werde,  damit  er  Ferien  hat  und  er  einige 
Monate  im  Jahre  ferji  von  Verantwortung  und  von  Arbeit  sei. 
Auch  das  hat  sich  nicht  machen  lassen,  denn  seine  andere 
Leidenschaft,  die  politische  Leidenschaft,  die  Leidenschaft,  für 
die  Arbeiterklasse  und  ihre  Ziele  zu  kämpfen,  ist  neben  seiner 
theoretischen  Leidenschaft  gegangen. 

Über  sein  physisches  Befinden  kann  icli  folgendes  sagen: 
Er  war,  wie  gesagt,  immer  sehr  fleißig,  hat  sich  mitunter  über- 


326  Als  Zeuge  im  Prozeß  gegen  Friedrich  Adler 

arbeitet,  uud  ich  muß  sagen,  daß  er  oft  Zeiclien  von  Ermüdung 
gezeigt  hat,  wo  kräftigere  Menschen  sie  noch  nicht  gezeigt 
hätten.  Und  die  Gefahr  der  Ermüdung  und  die  Gefahr  des 
Zusammenbrechens  des  Nervensystems  —  ich  bin  Arzt  gewesen 
und  war  speziell  durch  viele  Jahre  Irrenarzt  —  diese  Gefahr 
hat  mir  immer  vor  Augen  geschwebt  und  ich  habe  gesucht,  ilni 
mit  allen  Mitteln  vor  Überlastung  zu  schützen  und  ihm  abzu- 
reden. Aber  das  war  umsonst.  Es  ist  vorgekommen,  es  ist  sehr 
häufig  vorgekommen  —  kann  ich  sagen  —  daß  seine  Arbeits- 
wut weiter  gegangen  ist,  als  seine  physische  Kraft  gereicht  hat. 
Es  sind  dann  wieder  Perioden  gekommen,  wo  er  sich  nicht 
zuviel  zugetraut  hat,  wo  eine  gewisse  Depression  eingetreten 
ist,  ohne  daß  das  —  das  will  ich  gleich  sagen  —  zu  jener  Zeit 
irgendwie  einen  pathologischen  Eindruck  gemacht  hat.  Aber 
mir  als  Vater  und  Arzt  war  immer  die  Gefahr  eines  solchen 
Nervenzusammenbruches  von  ieher  nahe.  Ich  weiß  nicht,  ob 
ich  weiter  gehen  soll  in  meinen  Auseinandersetzungen? 

Es  ist  dann  die  Zeit  gekommen,  wo  er  sich  zu  entscheiden- 
hatte zwischen  Wissenschaft  und  Politik.  Es  war  in  Frage  eine 
Professur  in  Zürich.  Auf  der  anderen  Seite  hat  man  ihn  als 
Redakteur  bei  unserem  dortigen  Parteiorgan,  ])eim  „Volks- 
recht" gebraucht.  Mein  Wunsch  wäre  gewesen,  daß  er  bei  der 
akademischen  Karriere  geblieben  wäre,  abgesehen  von  anderen 
Gründen,  hauptsächlich  aus  dem  Grunde,  weil  ich  sein  Nerven- 
system nicht  der  Belastung  aussetzen  wollte,  die  der  politische 
Kampf  jedem  auferlegt  und  insbesondere  dem.  der  es  sehr  ernst 
mit  der  Sache  nimmt,  wie  es  mein  Sohn  immer  genonnnen  hat. 
Er  ist  nach  einiger  Zeit  nach  Wien  gekt)mmen  \ind  er  hat  — 
es  ist  das  in  seinem  Wesen  gelegen  —  jede  Arbeit  genuicht,  die 
zu  machen  war,  ohne  Rücksicht  auf  das  Ressort;  er  war  in 
unserem  Parteisekretariat  tätig,  hat  ohne  Rücksicht  auf  das 
Ressort  gearbeitet,  unbekümmert  ob  Tag  oder  Nacht.  Die 
Nerven  haben  wiederholt  versagt,  oft  in  der  Form  einer  ner- 
vösen Depression,  mitunter  in  der  Form  einer  Herzaffektion. 
Ich  habe  hier  kein  medizinisches  Plädoyer  zu  halten;  ob  diese 
FTerzaffektion  eine  autochthone,  vom  Herzen  ausgehende  war 
oder  ob  sie  im  letzten  Grunde  eine  nervöse  war,  das  hat  das 
Urteil  der  Fachmänner  zu  entscheiden,  aber  jedenfalls  sind 
seine  schweren  Herzschwächen  in  sehr  intimem  Z\isammenhang 
mit  seinen  Nerven  gestanden. 


Als  Zeuge  im  Prozeß  gegen  Friedrich  Adler  327 

Xuu  kommt  das  Jahr  1914.  Im  Jahre  1914  sollten  wir 
hier  unseren  internationalen  Kongreß  abhalten.  Ihm  waren  die 
Vorbereitungen  obgelegen.  Er  hat  das  ganze  Frühjahr  und  den 
Sommer  über  diese  Vorbereitungen  organisiert,  hat  sie  mit 
einem  Eifer  organisiert  —  da  spreche  ich  als  sein  vorgesetzter 
Chef  —  der  ihm  alle  Ehre  macht.  Er  hat  dadurch  mit  allen 
unseren  ausländischen  Genossen  Verkehr  gehabt  —  er 
beherrscht  mehrere  Sprachen  —  er  hat  sich  ganz  hineingelebt 
und  hat  sich  überarbeitet. 

Nun  kommt  der  Krieg.  Der  Krieg  war  ein  Zusammen- 
bruch für  uns  alle,  ein  innerer  Zusammenl)ruch  für  mich  nicht 
minder  wie  für  ihn.  Dazu  ist  aber  ein  Moment  gekommen,  das 
erschütternd  in  der  Erschütterung  war,  da  unsere  Meinungen 
darüber,  wie  sich  die  Partei  im  Kriege  zu  benehmen  habe, 
welche  Verpflichtungen  sie  habe,  was  sie  leisten  könne,  wesent- 
lich auseinandergingen.  Wir  sind  dadurch  in  Konflikte  ge- 
kommen. Ich  darf  aber  sagen:  nicht  einen  Moment  hat  sich 
trotz  dos  ärgsten  Konfliktes  unser  persönliches  Verhältnis 
getrübt,  nicht  einen  Moment!  Aber  es  war  ein  tragischer 
Zustand  in  der  allgemeinen  Tragik  des  Krieges. 

Was  der  Krieg  für  die  ganze  Welt  war,  das  brauche  ich 
dem  hohen  Gerichtshof  nicht  vorzuführen,  das  wissen  Sie  alle; 
aber  der  hohe  Gericlitshof  möge  sich  vor  Augen  halten,  was  er 
für  uns  ganz  besonders  war.  Da  spreche  ich  nicht  als  Partei- 
mann, sondern  spreche  als  Mensch,  der  so  wie  sein  Sohn  mitten 
unter  der  Arbeiterschaft  und  \inter  den  Leuten  gelebt  und  der 
das  durch  den  Krieg  hervorgebrachte  Elend  so  plastisch,  per- 
sönlich, ich  möchte  sagen  am  eigenen  Leibe  immer  vor  sicJi 
gehabt  hat. 

In  dieser  Zeit  —  ich  wurde  über  seinen  Nervenzustand 
gefragt  —  ist  zunächst  natürlich  das  Nervenleben  meines 
Sohnes  ein  anderes  geworden.  Er  ist  ernster,  einsilbiger,  er- 
regter geworden,  ohne  es  zu  äußern,  eine  verhaltene  Erregung, 
die  niemand  gemerkt  hat.  Das  ist  so  fortgegangen  durch  die 
ganze  Kriegszeit,  bis  es  zur  Katastrophe  gekonunen  ist,  und  hat 
sich  immer  mehr  gesteigert.  Gesteigert  wurde'  diese  Nerveu- 
atmosphäre  für  uns  alle  und  für  ihn  insbesondere  auch 
dadurch,  daß  jede  Äußerung  übeu  das,  was  man  empfunden  hat, 
unmöglich  war.  Für  die  Partei  hat  es  keine  Presse  gegeben, 
weder  mündlich  noch  schriftlich  ein  Wort.  Wir  sind  alle  unter 


328  Als  Zeii.ue  im  Prozeß  gegen  Friedricli  Adler 

den  Ausuahmeg'esetzen  gestanden,  militärisclien  und  zivilen, 
wir  haben  uns  alle  gefesselt  und  geknebelt  gefühlt,  und  es  ist 
kein  Zweifel,  daß  auch  das  einen  besonderen  Druck  auf  seine 
Nerven  ausgeübt  hat. 

Während  dieser  Zeit  sind  auch,  wenn  ich  nicht  irre,  zwei- 
mal, vielleicht  auch  dreimal  Zusammenbrüche  besonderer  Art. 
also  besonders  ausgesprochener  Art  vorgekommen,  avo  er  auf 
Wochen  seine  Arbeit  aussetzen  mußte.  Die  Gegensätze  haben 
sich  zugespitzt,  und  es  ist  kein  Zweifel,  daß  diese  Gegensätze 
der  Auffassung,  die  sich  in  allen  Ländern  gezeigt  haben,  bei 
ihm,  der  mit  ganzer  Seele  an  der  Sache  gehangen  hat  und  für 
den  es  eigentlich  nichts  anderes  gegeben  hat  wie  das,  auf  ihn 
höchst  aufregend  und  auf  seine  Nerven  höchst  ermüdend  ge- 
wirkt haben.  Aufregung  und  Ermüdung  sind  hier  nicht  Gegen- 
sätze, wie  ich  betonen  möchte,  sondern  im  Gegenteil,  eines  hat 
das  andere  noch  gesteigert.  So  kann  ich  nur  sagen,  daß  diese 
Erregung  bis  in  die  letzte  Zeit  sich  immer  gesteigert  hat. 

Sie  hat  sich  auch  gesteigert  —  ich  weiß  nicht,  ob  ich 
darüber  eine  besondere  Frage  erwarten  kann  oder  ob  ich 
weiterreden  soll  —  sie  hat  sich  auch  gesteigert  durch  die  ganz 
besondere  Behandlung,  die  nicht  nur  unserer  Partei,  sondern 
der  ganzen  Öffentlichkeit  in  Österreich  zuteil  wurde.  Sie  hat 
sich  besonders  dadurch  gesteigert,  daß  Österreich  ganz  anders 
behandelt  wurde  als  jedes  andere  Land,  nicht  etwa  in  Europa, 
sondern  auf  dem  Erdball.  Wir  haben  kein  Parlament  gehabt 
und  es  ist  selbstverständlich  —  ich  werde  keine  politische  Rede 
halten,  ich  spreche  nur  davon  im  Zusammenhang  mit  der 
Stimmung  meines  Sohnes  und  meiner  eigenen  —  es  ist  begreif- 
lich und  der  hohe  Gerichtshof  wird  es  verstehen,  daß  unsere 
L'nterhaltung,  unser  tägliches  Gespräch  und  unsere  tägliche 
Erörterung  immer  diese  furchtbare  Lage  war,  in  der  wir 
uns  von  Tag  zu  Tag  nicht  nur  über  die  Nadelstiche,  wie  sie 
sich  in  den  Zensurübergriffen  äußerten,  sondern  auch  über  das 
ganze  System  der  Mundtotmachung  der  Öffentlichkeit  bis  ins 
letzte  ausgesprochen  haben. 

Wir  haben  mit  Neid  gesehen,  wie  im  Deutschen  Reichstag 
gesprochen  wird.  Wir  sind  nicht  entzückt  über  die  Zustände 
im  Deutschen  Reich,  wir  sind  keine  Verehrer  des  dortigen 
Systems.  ab(M-  im  Vergleich  zu  unseren  Verhältnissen  er- 
schienen  lins  die  Verhältnisse  in  Deutschland  unerhört  schön. 


Als  Zeuge  im  Prozeß  gegen  Friedrich  Adler  '^2^ 


Unsere  Presse  ist  einer  Präventivzensur  unterlegen,  von  der 
man  sich  gar  keinen  Begriff  macht.  Versammlungen  wurden 
nicht  geduldet  bis  zu  einem  Grade,  der  weder  mit  der  Vernunft 
noch  etwa  gar  mit  dem  Gesetz  —  von  diesem  gar  nicht  zu 
sprechen  —  vereinbar  ist. 

Und  nun  gestatten  Sie,  hoher  Gerichthof,  daß  ich 
vielleicht  gleich  auf  die  letzten  Tage  zu  sprechen  komme.  Die' 
Luft  in  Österreich  war  nicht  mehr  aus- 
zuhalten. Man  hat  gespürt,  es  geht  nicht  mehr  f)hne 
Parlament,  man  hat  aber  gewußt,  daß  das  Hindernis  für  dieses 
Parlament  das  System  des  Ministerpräsidenten  Grafen 
S  t  ü  r  g  k  h  ist,  der  allmächtig  war,  der  alleMinisterien 
beherrscht  hat,  allen  Mi  niste  rienjedeSelbstä  n- 
d  i  g  k  e  i  t  genommen  hat,  der  nach  oben  eine  Barriere  ge- 
bildet hat,  die  unübersteiglich  war,  und  der,  wie  wir  sehr  wohl 
wußten,  n  u  r  e  i  n  e  n  H  e  r  r  n  gekannt  hat :  den  Grafen  Tisza. 
Wir  haben  gewußt,  daß  die  für  den  Staat  wichtigsten  Dinge,  wie 
der  Ausgleich  mit  Ungarn  usw.  vorbereitet  und  fertig- 
gemacht werden  —  das  haben  wir  im  einzelnen  ganz  genau 
gewußt  —  ohne  daß  das  Parlament,  das  darüber  verfassungs- 
gemäß zu  entscheiden  hatte,  ohne  daß  die  Bevölkerung  auch 
nur  im  geringsten  befragt  worden  wäre  oder  die  Möglichkeit 
gehabt  hätte,  ihre  Meinung  zu  äußern.  Wir  haben  aber  auch 
noch  etwas  anderes  gewußt,  worauf  ich  besonders  Ihre  Auf- 
merksamkeit lenken  möchte.  Wir  waren  schon  damals  wie  jetzt, 
noch  viel  mehr  durch  die  E  r  n  ä  h  r  u  n  g  s  f  r  a  g  e  gequält. 
Die  Ernährungsfrage  hat  den  Gegenstand  der  besonderen  Sorge 
unserer  Partei  gebildet.  Wir  haben  schon  in  den  ersten  Monaten 
und  Wochen  des  Krieges  ein  ausführliches  Memorandum  an 
die  Regierung  überreicht,  worin  wir  Forderungen  gestellt 
haben,  die  jetzt  ungefähr  zu  50  Prozent  erfüllt  worden  sind  — 
zu  spät. 

Wir  haben  damals  das  E  r  n  ä  h  r  u  n  g  s  a  m  t  verlangt, 
das  man  eineinhall)  Jahre  später  errichtet  hat.  Wir 
haben  gewußt,  daß  das  Hindernis  für  dieses  Ernährungsamt, 
das  notwendig  war,  einzig  und  allein  der  Wille  oder,  wenn  Sie 
wollen,  der  N  i  c  h  t  w  i  1 1  e  d  e  s  M  i  n  i  s  t  e  r  {)  r  ä  s  i  d  e  n  t  e  n 
S  t  ü  r  g  k  h  war.  Wir  haben  gewußt,  daß  alle  diese  Schwierig- 
keiten, in  jeder  einzelnen  Frage,  diese  Kumulierungen  der  ver- 
schiedenen Ministerien,    wodurch   diese   zu   keiner   praktischen 


330  Als  Zeuge  ira  Prozeß  gegen  Friedrich  Adler 


Wirksamkeit  küiiimen  konnten  und  förmlich  einander  in  die 
Beine  gelaufen  sind,  wir  haben  gewußt,  sage  ich,  daß  dieses 
absolute  Versagen  der  Bürokratie  nicht  allein 
Schuld  der  Bürokraten  und  des  bürokratischen  Systems  war, 
sondern  vor  allem  die  Schuld  des  Mannes  war,  der  absolut  nicht 
geduldet  hat  —  und  es  nicht  geduldet  hat,  weil  der  G  r  a  f 
T  i  s  z  a  es  nicht  wollte  —  daß  an  Stelle  dieses  Systems  ein 
anderes  trete.  Das  alles  wurde  tagtäglich  an  meinem  Tische, 
wo  auch  mein  Sohn  gesessen  ist,  mit  ilim  besprochen,  und  es 
wird  sich  niemand  darüber  wundern,  daß  die  Erregung  über 
diese  Dinge  eine  chronische  war.  Da  kommt  nun  die  Zeit,  wo 
der  Becher  fast  zum  Ü  ])  e  r  1  a  u  f  en  war,  und  wir 
erfahren,  daß  ein  paar  Professoren  eine  Versammlung 
einberufen  wollten  und  dazu  das  Präsidium  d  e  s  A  b  g  e- 
ordnetenhauses  nehmen,  eine  Versammlung,  die  also 
unter  solchen  Umständen  veranstaltet  werden  sollte,  daß  die 
Behörden  und  die  Begierimg  darin  unmöglich  e  i  n  e  G  e- 
f  a  h  r  sehen  konnten  und  daß  anderseits  die  Unmöglichkeit 
gegeben  war,  sie  zu  verbieten,  weil  doch  die  Leute,  die  sie  ver- 
anstalteten, alle  möglichen  Garantien  dafür  geboten  haben. 
Diese  Versammlung  war  nun  deu  Gegenstand  vieler  Er- 
örterungen durch  etwa  14  Tage,  ob  sie  nämlicli  bewilligt 
werden  solle  oder  nicht.  Zunächst  haben  sich  rein  polizeiliche 
Erwägungen  daran  geknüpft,  wie  man  den  §  2  des  Ver- 
sammlungsrechtes auslegen  solle  usw.  Es  ist  nun  natürlich 
und  liegreiflich,  daß  der  Umstand,  daß  eine  solche  Ver- 
sammlung, unter  solchen  Umständen  einberufen,  nicht  ge- 
stattet wird,  während  in  Deutschland  draußen  Hunderte 
von  Versammlungen  an  einem  Tage  abgehalten  werden,  wo 
man  alles  von  oben  bis  unten  kritisiert  und  offen  bespricht  — 
von  Frankreich  und  England  rede  ich  gar  jiicht  —  ja  in  Kuß- 
hmd  früher  gesprochen  und  geschrieben  wurde  als  in  Öster- 
reich; es  ist  begreiflich,  sage  ich,  daß  dies  den  Gegenstand 
unserer  Erörterungen  nicht  nur  im  Parteihaus,  sondern  auch 
im  Familienhaus  gebildet  hat.  ich  möchte  nur  eines  erwähnen, 
ich  habe  es  meinem  Sohne  (Uimals  erzählt,  ich  weiß  nicht,  ol» 
er  sich  daran  erinnert.  Drei  Tage  vor  der  Versanunlung,  am 
Donnerstag  —  die  Versammlung  sollte  am  Sonntag  sein  —  war 
ich  beim  Herrn  Polizeipräsidenten  eingeladen,  um 
über  die  Versammlung  Auskunft  zu   geben.    Es  handelte  sich 


Als  Zeuge  im  Prozeß  gegen  Friedrich  Adler  831 


um  eine  strittige  Frage,  über  die  wir  seit  20  bis  30  Jahren  mit 
der  Polizei  streiten,  nämlich  wie  der  ^  2  des  Versammlungs- 
rechtes auszulegen  sei.  Da  sollte  ich  nun  einvernommen  werden, 
und  es  hat  sich  dabei  um  die  Frage  gehandelt:  Soll  die  Ver- 
sammlung verboten  werden  oder  nichts!  Ich  habe  es  meinem 
Sohne  erzählt,  daß  ich  dem  Herrn  Polizeipräsidenten 
folgendes  gesagt  habe :  ,,H  üten  Sie  sich,  Herr 
Präsident,  dem  Herrn  ]\I  i  n  i  s  t  e  r  p  r  ä  s  i  d  e  n  t  e  u 
anzuraten,  diese  V  e  r  s  a  m  m  1  u  n  g  z  u  v  c  r  b  i  e  t  e  ii ! 
Hüten  Sie  sich  davor!  In  Österreich  wird  alles  aus  den 
Zeitungen  gestrichen,  wo  es  heißt,  dort  ist  zu  wenig  Zucker 
oder  zu  wenig  Kartoffeln,  weil  uns  daraus  eine  Blamage  gegen- 
über dem  Ausland  entstehen  könnte.  Wenn  man  aber  im  Aus- 
land erfahren  wird  —  und  das  können  Sie  nicht  unterdrücken 
—  daß  eine  Versammlung,  die  von  fünf  Universitätsprofessoren 
und  dem  Präsidenten  des  Abgeordnetenhauses  einberufen  wird 
und  wo  nur  diese  Herren  reden  können  und  sonst  kein  Mensch, 
verboten  wurde,  dann  tun  Sie  dem  Staate  Österreich  d  i  e 
größte  Schmach  und  Schande  an,  die  ihm  überhaupt 
zugefügt  werden  kann.  Man  wird  Ihnen  vielleicht  heute  folgen, 
aber  die  Schande  wird  a  u  f  k  o  m  m  e  n,  und  dann 
werden  Sie  die  Schuldigen  sein!"  So  habe  ich  zum  Herrn 
Polizeipräsidenten  gesprochen,  s  o  •  h  a  b  e  n  wir  es  alle 
e  m  p  f  u  n  d  e  n,  und  so  war  es.  Meine  Herren  vom  hohen  Ge- 
richtshof, ich  bin  ein  alter  Mann,  ich  habe  viel  mitgemacht,  icli 
lün  gewohnt,  Erregungen  zu  ertragen  und  Erregungen  ab- 
laufen zu  lassen,  aber  das  darf  ich  sagen,  der  Gipfel  der  Er- 
regung ist  nicht  durch  das  Verbot  an  sich,  ob  Stattfinden  oder 
nicht  einer  an  sicli  gleichgültigen  Versammlung  entstanden. 
sondern  durch  das  S  y  m  p  t  o  m  für  den  politische  n  Z  u- 
stand  und  die  Ge  w  a  1 1  h  e  r  r  s  c  h  a  f  t  eines  e  i  n- 
z  i  g  e  n  M  a  n  n  e  s,  der  u  n  v  e  r  a  n  t  w  o  r  t  1  i  c  h  war  n  a  c  h 
o  h  e  n  und  n  a  c  h  u  n  t  e  n,  uns  allen  greifbar  und  fühlbar. 
AVir  waren  alle  machtlos.  Wir  hal)en  —  und  der  hohe  Gerichts- 
hof wird  darüber  nicht  in  Unkenntnis  sein  —  als  sozialistische 
Abgeordnete  unsere  Pflicht  während  des  Krieges  getan,  wir 
haben  mit  allen  Behörden  genuünsam  die  Not  zu  lindern 
gesucht,  zu  organisieren  gesucht  und  ha))en  dadurch  vielfach 
Einblick  gewonnen  in  die  Zustände,  die  vielleicht  in  der 
Öffentlichkeit   nicht  so  bekannt   waren.   Aber  ich  kann   Ihnen 


382  Als  Zeuge  im  Prozeß  gegen  Friedrich  Adler 

sagen,  wir  haben  uns  oft  an  das  Wort  erinnert:  Wer  bei  ge- 
wissen Dingen  den  Verstand  nicht  verliert,  der  hat  keinen  zu 
verlieren  I  Das  war  der  Zustand,  in  dem  wir  gelebt  haben,  das 
waren  die  Gedankengänge,  in  denen  ich  —  w^enn  es  eine  Schuld 
war,  will  ich  sie  bekennen  —  mit  meinem  Sohne  nicht  einmal, 
sondern  wiederholt  gesprochen  habe,  aber  freilich  verschiedene 
Schlüsse  daraus  zogen. 

Präsident:  Haben  Sie  in  den  letzten  Tagen,  von  denen  Sie  ge- 
sprochen haben,  eine  besondere  Erregung  Ihres  Sohnes  auch  in  den  äußeren 
Symptomen   wahrgenommen  ? 

Adler:  Mein  Sohn  ist  ein  kühler  Mensch.  Es  äußert 
sich  seine  Erregung  in  einer  gewissen  Verschlossenheit  und 
Verstörtheit,  möchte  ich  beinahe  sagen.  Das  war  allerdings  der 
Fall.  Er  war  in  den  letzten  Wochen,  w^o  wir  auch  Partei- 
diskussionen gehabt  haben,  die  aufregender  Natur  für  uns 
beide  waren,  besonders  erregt,  ungewöhnlich  erregt. 

Präsident:  Ihr  persönliches  Verhältnis  als  Vater  zum  Sohn  ist 
üurch   den  politischen   Gegens:atz   eigentlich   nicht  getrübt  gewesen? 

Adler:  Er  war  und  ist  mir  der  liebste  Mensch.  Was 
haben  wir  uns  für  Dinge  gesagt!  Aber  ich  habe  nie  einen  poli- 
tischen Gegner  für  einen  persönlichen  Feind  angesehen. 
Warum  sollte  ich  es  bei  meinem  besten  Freund  plötzlich 
tun,  weil  er  eine  andere  Meinung  hat  als  ich'^ 

Präsident:  Vielleicht  eine  Frage  noch,  weil  es  von  Ihrem  Sohne 
auch  erwähnt  wurde.  Sein  Gegensatz,  in  den  er  zum  Schluß  zur  Partei  ge- 
kommen ist,  hätte  eine  Beendigung  in  der  Richtung,  daß  er  gewissermaßen 
ausgeschlosssen  worden   wäre,   nicht   nach  sich  ziehen  können? 

Adler:  Herr  Präsident,  das  ist  eine  schwere  Sache. 
Ausgeschlossen  wäre  er,  glaube  ich,  nicht  worden;  ich  bin 
nicht  der  Parteitag,  der  darüber  zu  entscheiden  hat,  aber  nach 
meiner  Überzeugung  wäre  er  nicht  ausgeschlossen  worden. 
Nach  meiner  Überzeugung  haben  sich  trotz  des  schroffsten 
Gegensatzes  in  bezug  auf  diese  eine  Frage  alle  diese  Meinungs- 
verschiedenheiten noch  in  dem  großen  Rahmen  der  sozialisti- 
schen Gedankengänge  bewegt.  Gestatten  Sie,  daß  ich  hinzu- 
füge, ich  war  überzeugt  und  bin  es  noch,  daß  wenn  der  Krieg 
vorbei  ist,  manche  dieser  Meinungsverschiedenheiten  auch 
wieder  verschwinden  ward.  Ich  glaube  nicht,  daß  es  zu  einer 
Ausschließung  geführt  hätte,    wir    schließen    nicht   gerne   aus. 

Präsident:  Wäre  für  ihn  die  Lage  eine  solche  gewesen,  daß  er 
j;eine  politische  Zukunft  infolge  des  Gegensatzes  zur  Partei  gefährdet 
gesehen   hätte? 


Als  Zeuge  im  Prozeß  gegen  Friedrich  Adler  333 

Adler:  Absolut  nicht;  das  kann  man  nicht  sagen;  er 
wollte  ja  wiederholt  in  die  Schweiz  zurückkehren.  Ich  war 
immer  der  Ansicht,  er  solle  nur  bleiben,  es  wird  schwer  gehen, 
nebeneinander  zu  arbeiten,  aber  es  gibt  eine  Menge  Dinge,  die 
dieses  Gebiet  gar  nicht  berühren.  Er  hat  eine  sehr  schwere 
Arbeit  zu  leisten  gehabt,  eine  sehr  harte  Arbeit,  und  ich  habe 
gemeint,  daß  nach  dem  Kriege  sich  alles  wieder  einrenken  wird, 
wie  ich  auch  heute  noch  überzeugt  bin,  nicht  nur  für  diesen 
Fall,  sondern  auch  für  die  ganze  Welt. 

Präsident:  Herr  Zeuge  haben  in  Ihrer  Vernehmung  beim  Unter- 
suchungsrichter von  einigen  Erkrankungsfällen  in  Ihrer  Familie  gesprochen. 
Es  sind  die  diesbezüglichen  Krankheitsgeschichten  beigeschafft. 

Adler:  Es  sind  ia  alle  verarbeitet. 

Landesgerichtsrat  Dr.  Ehrenreich:  Ihr  Sohn  hat  sich  selbst 
heute  als  vorsichtigen,  nüchternen  und  kühlen  Menschen  bezeichnet.  Ist  er 
vielleicht  leidenschaftlicher  und  impulsiver,  als  er-  es  zeigt? 

Adler:  Er  ist  ein  nüchterner  kühler  Mann,  wie  er  ein 
Mathematiker  eigentlich  seiner  Natur  nach  ist  und  kein  Poli- 
tiker. Nüchtern  und  kühl.  Aber  wenn  ein  Mathematiker  seine 
Linien  zieht,  dann  glaubt  er  fest  an  seine  Linien.  Er  hält  sich 
für  kühl,  nüchtern,  er  ist  aber  von  der  innersten  Leidenschaft 
verzehrt,  ohne  es  zu  wissen,  und  mit  dem  besten  Willen,  es  zu 
dämpfen,  oft  nicht  imstande,  sich  zu  beherrschen.  Das 
Schlimmste,  was  ich  ihm  gesagt  habe,  wenn  er  ein  Delikt 
begangen  hat,  war,  daß  er  zügellos  sei.  Doch  das  ist  sehr 
selten  passiert.  Er  hat  sich  gezügelt,  aber  es  hat  ihn  schwere 
Mühe  gekostet.  Die  Leidenschaft,  insbesondere  in  politischen 
Dingen,  war  so  groß,  daß  selbst  wir  beide  in  unsern  Aus- 
einandersetzungen an  eine  Grenze  gekommen  sind,  wo  es  nicht 
mehr  möglich  war,  zu  diskutieren.  Da  hat  man  gesehen,  da  ist 
etwas  Festes,  etwas,  woran  sich  nicht  mehr  rütteln  läßt,  wo 
alle  Argumente  abprallen,  wo  er  unter  einem  gedanklichen 
Zwange  steht,  daß  man  ihm  stundenlang  predigen  kann,  ohne 
einen  Effekt  zu  erzielen,  während  er  dabei  in  der  Form  immer 
möglichst  zivilisiert  war,  möglichst  sich  beherrschend,  aber 
sonst  leidenschaftlich. 

Landesgerichtsrat  Dr.  Ehren  reich:  Haben  Sie  bemerkt,  daß  er 
besonders  ehrgeizig  ist.  Hat  er  gerne  von  sich  reden  gemacht,  wollte  er  eine 
Rolle  in  der  Partei  spielen? 

Adler:  Das  in  keiner  Weise.  Er  hat  anonyme  Arbeit 
geleistet,  zehnmal  soviel  als  solche,  von  der  man  gewnißt  hat. 


331  Als  Zeuge  im  Prozeß  gegen  Friedrich  Adler 

Ehrgeiz  —  das  ist  ein  weiter  Begriff  —  den  will  ich  ihm  nicht 
absprechen. 

Präsident:  Sich  zur  Gellung  bringen ! 

Landesgerichtsrat  Dr.   Ehrenreich:    Eitelkeit! 

Adler:  Eitelkeit  —  nein,  Ehrgeiz  —  ja! 

Präsident:    Xocli   eine   Frage? 

Dr.  Harpner:  Herr  Doktor  haben  in  der  Voruntersuchung  gesagt: 
„Der  Stimmungswechsel  bei  meinem  Sohne  hat  sich  schon  in  jungen  Jahren 
mitunter  empfindlich  bemerkbar  gemacht,  in  Zeiten,  wo  er  schwer  arbeitete ; 
es  waren  auch  Zeiten  einer  gewissen  Überschätzung  seiner  Kraft,  dann 
folgten  wieder  meist  Monate,  wo  er  nur  mit  Aufgebot  aller  Energie  sich  über 
die  Zweifel  an  seiner  eigenen  Leistungsfähigkeit  hinwegsetzen  konnte."  Ist 
das  richtig? 

Adler:  In  Zürich  hat  er  naturwissenschaftliche  Ar- 
beiten gemacht,  insbesondere  theoretische.  Er  ist  ein  solcher 
Theoretiker,  daß  er  bei  seinem  Rigorosum  —  oder  wie  die 
Prüfung  dort  heißt  —  sich,  als  er  drei  Fächer  zu  wählen  hatte, 
Mathematik  und  Physik  ausgesucht  und  sich  dann,  als  man  ihm 
gesagt  hat,  er  soll  sich  noch  ein  praktisches  Fach  wählen  — 
wie  er  mir  geschrieben  hat  —  als  „praktisches  Fach"  die 
Astronomie  gewählt  hat.  Ich  meine  das  nur  zur  Charakte- 
ristik. Aber  das  ist  richtig;  er  hat  Zeiten  gehabt,  wo  er  an  der 
Universität  —  das  hat  mir  übrigens  sein  Professor,  der  seitdem 
gfestorben  ist,  auch  gesagt,  und  Kollegen  von  ihm  haben  es 
gesagt  und  noch  vor  kurzem  hat  es  mir  Professor  Einstein, 
der  berühmte  Physiker,  der  sehr  befreundet  mit  ihm  ist,  wdeder- 
iiolt  gesagt  —  sich  zugetraut  hat,  er  könne  die  Bäume  aus- 
reißen, geradezu  wie  ein  Wilder  sich  alles  zugetraut  und  ülicr 
das  Maß  gearbeitet.  Dann  sind  wieder  Zeiten  gekommen,  wo  er 
zu  seiner  Frau,  wie  sie  mir  später  — -  nicht  jetzt  gelegentlich 
des  Prozesses,  sondern  schon  viel  früher  —  gesagt  hat,  äußerte : 
Das  Gehirn  ist  mir  wie  verstopft,  ich  kann  nichts  machen. 

Das  sind  so  kleine  Dinge,  die  ich  natürlich  zu  werten 
gewußt  habe  und  die  das  Motiv  gebildet  haben  für  das,  was 
ich  eingangs  vorzutragen  mir  erlaid)t  habe,  warum  ich  ein 
schonenderes  Leben  für  ihn  gewünscht  hätte.  Schweren  Be- 
lastungen war  dieses  feine,  aber  gebrechliche  Hirn  nach  meiner 
Überzeugung  von  Kindheit  an  nicht  gewachsen. 

Dr.  Harpner:  Ihr  Sohn  hat  doch  eine  Tat  volüührt  —  er  nimmt 
einen  Revolver,  geht  auf  einen  Mann,  den  er  nicht  gekannt  hat,  der  ihn 
perönlich    nicht    gekannt    liat.    zu.    erschießt    ihn.    also    etwas,    wozu    eine 


AlvS  Zeuge  im  Prozeß  gegen  Friedrich  Adler  385 

gewisse  SeelenslärJie  —  manclie  Leute  werden  vielleiclit  sagen  Grausamlceit 
—  gehört.  Hat  er  etwas  Derartiges  sonst  im  Leben  gezeigt? 

Adler:  Nie!  Nie!  Nicht  nur  das  nicht,  sondern  er  war 
das  zartfühlendste  Kind,  das  mir  je  untergekommen  ist.  zart- 
fühlend gegen  seine  Geschwister  —  seine  Schwester,  die  leider 
so  krank  ist,  hat  er  gehütet  wie  seinen  Angapfel  —  er  war 
gegen  seine  Mntter  nnd  gegen  mich  der  zartfühlendste  Sohn- 
und  wenn  er  jetzt  ...  —  so  kann  ich  nur  sagen,  ich  habe  ja 
das  gar  nicht  glauben  wollen,  daß  ein  s(»leher  Exzeß  des  Mathe- 
matischen möglich  ist. 

Dr.  Ilarpner:  Nur  noch  eine  Frage,  Herr  Doktor:  Ich  habe  aus  den 
Akten  entnommen,  daß  Ihr  Sohn  in  der  Zeit  vor  dem  Attentat,  ich  meine 
die  Monate  September  und  Oktober,  ungefälir  folgende  Fvinktionen  in  sich 
\ereinigt  hat.  Ich  frage  Sie  darüber,  weil  Sie  .  .  . 

Adler  (einfallend) :  Ich  war  mit  sein  Chef! 

Dr.  Harpner  (fortfahrend):  ...  als  sein  Chef  es  wissen  müssen. 
Kach  der  Akten  läge  war  er  damals  Parteisekretär,  und  zwar  während  der 
Beurlaubung  des  Abgeordneten  Skaret,  der  sonst  neben  ihm  war,  im  Monat 
September  der  alleinige  Parteisekretär,  er  war  dann   ... 

Adler  (unterbrechend) :  Und  war,  vergessen  Sie  nicht, 
Herr  Doktor  .  .  . 

Dr.  Harpner  fortfahrend  :  Ich  wollte  gerade  sagen,  allein  Vor- 
bereiter des  internationalen  Kongresses. 

Adler:  Ich  bitte,  noch  mehr!  Es  war  damals  noch 
Abgeordneter  Winarsky  sein  Kollege.  Er  war  erst  krank,  durch 
lange  Zeit  eingerückt  und  ist  gestorben,  ein  Mann,  der  uns 
sehr  abgegangen  ist.  Es  sind  uns  natürlich  auch  andere  Leute 
abgegangen,  die  im  Parteisekretariat  Funktionen  hatten,  ohne 
daß  sie  gerade  angestellt  waren. 

Dr.  Harpner:  Dann  hatte  er  den  Kongreß  vorbereitet,  von  dem  Sie 
uns  schon  erzählt  haben,  dann  hatte  er  den  „Kampf",  wie  es  scheint,  beinahe 
allein  redigiert,  weil  Dr.  Bauer   in  Kriegsgefangenschaft  geraten  ist. 

Adler:  Seit  Dr.  Bauer  eingerückt  war,  hat  mein  Sohn 
den  ,,Kampf"  redigiert. 

Dr.  Harpner:  Dann  hat  er,  wie  ich  aus  dem  Protokoll  ersehe,  in 
verschiedenen  Arbeitervereinen  Vorträge  gehalten. 

Adler:  Jede  Woche  ein  paarmal! 

Dr.  Harpner:  Ist  es  richtig,  daß,  während  Sie  in  Nauheim  waren  — 
wann  war  das? 

Adler:  Wie  alle  Jahre,  vom  halben  Juli  bis  Ende 
August,   Anfang   September. 

Dr.  Harpner  (fortfahrend):  ...  er  während  dieser  Zeit  auch  Ihre 
Korrespondenz  besorgt  hat? 


336  Als  Zeuge  im  Prozeß  gegen  Friedrich  Adler 

Adler:  Er  hat  das  alles  gemacht  bei  Tag  und  bei  Nacht. 

Dr.  Harpner:  Er  war  nacli  Ihrer  Meinung  sehr  überlastet! 

Adler:  Er  war  schwer  überlastet.  Ich  weiß  nicht,  was 
Herr  Doktor  daraus  deduzieren  wollen,  aber  es  wäre  unmöglich 
gewesen,  ihm  ein  Stück  dieser  Arbeit  aus  den  Klauen  zu  reißen. 

Präsident:    Er  hat  alles  an  sich  gerissen! 

Adler:  Er  hat  alles  an  sich  gerissen.  Wir  haben  im 
ersten  Stock  unseres  Gebäudes  das  Sekretariat,  im  zweiten 
Stock  die  Redaktion,  im  dritten  Stock  die  Gewerkschafts- 
kommission und  außerdem  eine  große  Druckerei.  Er  hat  gewußt, 
was  im  ganzen  Hause  vorgegangen  ist,  auch  was  weit  über 
seine  eigentlichen  Funktionen  hinausgeht. 

Präsident:  Ich  danke  sehr,  Herr  Zeuge. 


V. 
Adler  bei  Demonstrationen. 


Adler  als  Standartenträger  339 


„Wir     lassen     uns     nicht     ein- 
schüchtern und  nicht  provozieren !'' 

Nach  dieser  Parole,  die  Adler  mit  der  ihm  einzig  eigenen  Prägnanz  aus- 
gegeben hat*)  und  die  wahrhaftig  Wunder  gewirkt  hat,  hat  er  selbst  gehandelt, 
wenn  er  in  Tumulte  hineingeriet.  Er  kam  dabei  wiederholt  selbst  in  Gefahr, 
von  den  Polizeirossen  niedergeritten  oder  von  den  Polizcisäbeln  nieder- 
geschlagen zu  werden.  Bewundernswert  war  in  so  kritischen  Augenblicken 
seine  Selbstbeherrschung,  sein  überblicken  der  Situation,  seine  Klugheit, 
mit  der  er  den  bis  zur  Siedehitze  erregten  Arbeitern  zuredete,  seine  Energie 
und  imponierende  Entschlossenheit  gegenüber  den  Wachorganen.  Meistens 
genügte  seine  Anwesenheit,  daß  ein  „Wirbel",  den  avancementslüsterne 
Polizeibeamte  provoziert  hatten,  rasch  zu  Ende  kam.  Einmal  wurde  er  selbst 
verhaftet  und  wegen  Einmengung  in  eine  Amtshandlung  angeklagt  und 
verurteilt. 


Adler  als  Standartenträger. 

Am  1.  Mai  1895  wurde,  um  dem  Kampf  um  das  Wahlrecht  mehr 
Nachdruck  zu  verleihen,  beschlossen,  die  feiernden  Arbeiter  am  Parlament 
vorbeimarschieren  zu  lassen,  um  der  polnisch-deutschnational-pfäffischen 
Koalition  den  festen  Willen  der  Arbeiterklasse,  die  Wahlreform  zu  erringen,  vor 
Augen  zu  führen.  Man  sammelte  sich  in  den  Bezirken.  In  M  a  r  i  a  h  i  1  f  hatten 
die  Bürstenmacher  versucht,  eine  Standarte  mitzunehmen,  damals  ein  Akt, 
der  mit  Gefahren  aller  Art  verbunden  war.  Sie  wurde  konfisziert,  eine  halbe 
Stunde  darauf  auch  noch  die  Stange,  weil  sie  rot  angestrichen  war. 
Die  Schneider  hatten  aus  ihrem  Versammlungslokal  eine  Standarte  mit- 
genommen, auf  der  die  damals  lebensgefährlichen  Worte  standen:  „Hoch 
der  Achtstundentag!"  auf  der  einen  Seite,  „Hoch  das  allgemeine  Wahlrecht!" 
auf  der  Rückseite.  Ein  Arbeiter  hielt  sie  unter  dem  Rock  verborgen,  und 
entfaltete  sie  erst  auf  der  Ringstraße.  Als  das  Auge  des  Gesetzes  sie  erblickte, 
wurde  sie  konfisziert  und  ein  besonders  gescheiter  Kommissär  lehnte 
sie  an  eine  Annoncensäule,  so  daß  sie  von  allen  Vorübergehenden  gesehen 
werden  mußte.  Das  Verlangen  nach  der  verbotenen  Frucht  verursachte 
immer  wieder  Aufregung.  Als  Adler  mit  den  Mariahilfer  Arbeitern  dort 
vorüberkam,  interpellierte  er  deshalb  den  Polizeikommissär,  warum  er  die 
Standarte  so  frei  lehnen  lasse,  das  gebe  Anlaß  zu  aufgeregten  Szenen.  Er 
forderte  den  Kommissär  auf,  die  Standarte  ins  Vereinslokal  der  Schneider 
zurücktragen  zu  lassen.  Der  Kommissär  weigerte  sich,  dies  zu  tun. 


^)  In  der  -^Arbeiter-Zeitung"  Nr.   15  vom   II.  April  1890. 

22* 


340  Die  gestörte  Maifeier 

gab  aber  schließlich  Adler  die  Standarte,  damit  er  sie  versorge.  Adler 
trug  sie  in  das  nächste  Haus,  deponierte  sie  dort  und  brachte  so  das 
gefährliche  Ding  aus  den  Augen  der  Polizei  und  der  Arbeiter.  Als  sich  hiebei 
eine  Anzahl  von  Arbeitern  nachdrängte,  ritten  bereits  die  Wachleute  bis 
aufs  Trottoir  und  trieben  die  Arbeiter  auseinander. 


Die  gestörte  Maifeier. 


Fünf  Jahre  hintereinander  war  die  Maifeier  der  Wiener  Arbeiter  im 
Prater  ohne  Zwischenfall  verlaufen;  am  1.  Mai  1895  kam  es  in  einem  von 
der  organisierten  Arbeiterschaft  gemiedenen  Gasthaus  zu  einem  Kon- 
flikt, der  das  Einschreiten  der  Polizei  veranlaßte.  Fünfzig  Berittene  sprengten 
beim  Restaurant  Swoboda  in  die  Masse  hinein  und  es  kam  zu  einem 
Zusammenstoß,  wobei  es  auf  beiden  Seiten  zu  Verletzungen  kam.  Adler, 
Pernerstorfe  r,  Schuhmeier,  Ellenbogen,  Winarsky  und 
andere  Genossen  erschienen,  sobald  sie  von  dem  Tumult  erfahren  hatten, 
und  verlangten  die  Zurückziehung  der  Wache.  Obwohl  dies  verweigert  wurde, 
gelang  es  ihnen  im  Verein  mit  Ordnern,  einen  Teil  der  Masse  vom  Platz 
wegzuführen.  Die  Unorganisierten  blieben  und  es  kam  zu  neuen  blutigen 
Zusammenstößen,  als  schon  die  große  Masse  auf  dem  Heimmarsch 
begriffen  war. 

Als  Adler  bei  der  Intervention  zu  den  Wachleuten  gehen  wollte,  um 
mit  ihren  Vorgesetzten  zu  verhandeln,  wurde  er  heftig  zurückgedrängt.  Er 
ließ  sich  nicht  abweisen,  und  ein  Wachmann  bewog  die  anderen,  ihn 
passieren  zu  lassen.  Er  wollte  nun  durch  eine  abgesperrte  Allee  gehen,  um  den 
Pülizeikommissär  aufzusuchen.  Da  drangen,  einige  Wachleute  mit  ge- 
schwungenen Säbeln  auf  ihn  ein.  Adler  wehrte  mit  vorgehaltenen  Händen 
ab  und  schrie  ihnen  zu,  daß  er  den  Polizeikommissär  suche.  Sie  hörten 
nicht  und  drangen  weiter  gegen  ihn  vor,  so  daß  er  einige  Schritte  zurück- 
weichen mußte  und  wahrscheinlich  einen  Säbelhieb  bekommen  hätte,  wenn 
ihn  nicht  ein  Wachmann  erkannt  und  von  vorne  her  gerufen  hätte:  „Laßt 
ihn  passieren,  das  ist  der  Herr  Adler!"  Nun  eilte  ein  Polizeikommissär  hinzu 
und  nahm  Adler  in  Empfang.  Von  der  Seite  her,  wo  die  Ordner  den  Ab- 
ziehenden den  Weg  gesichert  hatten,  sah  es  so  aus,  als  ob  Adler  verhaftet 
worden  wäre,  was  neue  Erregung  und  Stauung  der  Menge  hervorrief. 

Adler  hatte  indessen  den  Kommissär  ersucht,  den  Wachleuten  den 
Befehl  zu  erteilen,  daß  sie  die  Säbel  einstecken,  um  die  Aufregung  der  Masse 
zu  mildern.  Dazu  ließ  er  sich  von  Ordnern  auf  ihre  Schultern  heben  und  hielt 
von  dort  eine  Ansprache.  Wo  er  der  Menge  zuredete,  trat  Ruhe  ein,  aber 
es  strömten  stets  neue  zu  und  darunter  Unorganisierte  und  Betrunkene,  so 
daß  es  immer  wieder  zu  neuen  Konflikten  kam. 

Aus  Kaubecks  Restauration  flog  ein  Stein  auf  die  vorüberreitende 
Wache.  A  d  1  e  r  eilte  mit  einem  Ordner  den  Gasthausgarten  entlang  und 
forderte  zum  ruhigen  Fortgehen  auf,  allerdings  mit  wenig  Erfolg,  obwohl 
sich  viele  entfernten.  In  Grandauers  Gasthaus  erreichte  Adler,  daß  die  or- 
ganisierten Arbeiter  fortzogen,  ehe  die  Wache  kam  und  das  Lokal  mit  Gewalt 


Bei  der  Polizeiattacke  am  Praterstern  341 

räumte.  So  war  Adler  fortwährend  daran,  einerseits  die  Polizisten,  anderseits 
die  Arbeiter  zu  beruhigen  und  er  war  an  diesem  Tage  sehr  unglücklich, 
daß  die  Maifeier,  deren  ruhiger  und  würdiger  Verlauf  ihm  eine  Ehrensache 
der  Arbeiter  war,  gestört  wurde,  daß  Polizei  und  schließlich  Militär  eingriff, 
Blut  geflossen,  Zerstörungen  vorgefallen  und  zahlreiche  Verhaftungen  vor- 
genommen worden  waren. 

Bei  der  Polizeiattacke  am  Praterstern. 

Die  Wellen  des  Kampfes  um  das  allgemeine  Wahlrecht  schlugen  im 
September  des  Jahres  1895  sehr  hoch,  als  eine  Massenversammlung  auf  der 
Feuerwerkswiese  im  Prater  stattfand,  um  die  neue  Regierung  Badeni  zu 
„begrüßen"',  von  dem  berüchtigten  galizischen  Wahlmacher  die  Wahlreform 
zu  fordern.  Dreißigtausend  Arbeiter  waren  beisammen,  Adler,  Nemec, 
Nötscher,  Reumann  hatten  gesprochen,  die  Massen  zogen  ab.  Schon  auf  dem 
Wege  zur  Versammlung  waren  die  Favoritener  und  Ottakringer  Arbeiter  von 
der  Polizei  angegriffen  worden,  auf  dem  Praterstern  kam  es  zu  Reiterattacken, 
als  die  Praterslraße  abgesperrt  worden  war  und  die  Massen  seitwärts 
abgedrängt  wurden.  Eine  Anzahl  Verletzungen  und  Verhaftungen  ereignete 
sich  bei  dem  Tumult,  der  aus  der  Strategie  der  Polizeibeamten,  besonders 
des  durch  seine  Brutalität  berüchtigten  Oberinspektors  Anger,  verursacht 
wurde. 

Als  Adler  in  dem  ärgsten  Tumult  zu  diesem  Herrn  zu  gelangen 
suchte,  der  an  der  Spitze  von  etwa  80  Berittenen  das  Treffen  leitete,  ver- 
wehrte ihm  ein  Polizeibeamter  den  Übertritt.  Ein  Stellwagen  fuhr  gerade  durch, 

Adler:  So  gut  wie  der  Wagen  muß  ich  auch  passieren 
können. 

Inspektor:  Das  werden  wir  sehen.  Jetzt  werden  Sie  erst  recht  nicht 
durchgelassen. 

Dr.  Adler:  Ich  bin  i  m  D  i  e  n  s  t  wie  Sie,  ich  muß  durch ! 

Inspektor:     Und   Sie  dürfen  nicht   durch! 

Dr.  Adler:  Ich  bitte  um  Ihren  Namen. 

Inspektor:  Den  sag'  ich  nicht...  (zu  einigen  Wachleuten:  Lassen 
Sie  den  Herrn  durch). 

Dr.  Adler:  Xa,  warum  geht's  denn  jetzt? 

Als  Adler  den  Oberinspektor  Anger  aufgefunden  hatte,  forderte  er  ihn 
auf,  die  Freigabe  der  Praterslraße  zu  veranlassen  und  Anger  sagte  zu,  wenn 
Adler  für  ruhiges  Weiterziehen  sorge. 

Auf  der  Ringstraße  kam  es  wieder  zu  Reiterangriffen.  Am  Schwarzen- 
bergplatz  sperrte  Anger  die  Straße  und  den  Zugang  zum  Hotel  Imperial. 
Als  Adler  dort  passieren  wollte,  stellte  sich  ihm  die  Wache  entgegen  und 
schrie:  „Im  Namen  des  Gesetzes  über  die  Schwarzenbergbrücke!" 

Adler:  Ich  wohne  in  ^Mariahilf,  und  übrigens  können 
Sie  mir  nicht  vorschreiben,  wo  ich  zu  gehen  habe. 

Wa'^che:  Hier  dürfen  Sie  nicht  passieren! 


342  Beim  Einbruch  der  Polizei  ins  Favoritener  Arbeiterheim 

Adler:     Dann    werde     ich     mich     beim   Oberinspektor 

Anger  erkundigen,  welches  Gesetz  mir  den  Weg  über  die  Eing- 

straße  verbietet. 

Adler  ging  nun  zu  Anger,  der  nach  einigem  Parlamentieren  das  „ein- 
zelne" Durchgehen  durch  den  Pohzeikordon  gestattete. 


Beim  Einbruch  der  Polizei  ins  Favoritener 
Arbeiterheim. 

Bei  der  Landtagsstichvvahl  in  Favoriten  aus  der  fünften  Kurie  am 
7.  November  1902  war  Adler  mit  6223  gegen  den  Christlichsozialen 
Prochazka  (6262  Stimmen)  unterlegen.  Er  hielt  sofort  im  Arbeiterheim 
in  Favoriten  eine  Versammlung  ab,  um  die  über  die  christlichsozialen  Wahl- 
schwindeleien und  die  Niederlage  furchtbar  erregte  Masse  zu  beruhigen.  Die 
Situation  war  um  so  gefährlicher,  als  sechshundert  Wachleute 
Favoriten  besetzt  hatten  und  dadurch  die  Gefahr  von  Zusammenstößen  ver- 
größert  war, 

Adler 

beschwor  die  Genossen,  sich  nicht  provozieren  zu  lassen:  „Sie 
haben  Ihre  Nächte,  Ihren  Verdienst,  Ihre  Arbeit  geopfert. 
Opfern  Sie  nicht  auch  noch  Ihre  geraden  Glieder  den  Hun- 
derten von  berittenen  und  unberittenen  Polizisten!  Unsere 
Schädel  sind  zwar  stark,  aber  die  Polizistensäbel  sind  noch 
stärker.  L  u  e  g  e  r  hat  veranlaßt,  daß  sechshundert 
Polizisten  nach  Favoriten  dirigiert  wurden,  tun  Sic  es 
mir  zuliebe  und  gehen  Sie  ruhig  und  langsam  nach  Hause. 
Singen  wir  das  »Lied  der  x\rbeit«  und  gehen  wir  nach  Hause." 

Dies  geschah.  Hochrufe  auf  Adler,  Pfuirufe  auf  Prochazka.  Noch  einmal 
sprach 

Adler: 

„Entladen  Sic  hier  Ihre  Entrüstung!  Eufen  Sie 
draußen  nicht  Pfui!  Ich  ergreife  jetzt  den  Vorsitz  und  schließe 
die  Versammlung.  Gehen  wir  ruhig  nach  Hause." 

Diese  von  dem  ungeheuren  Verantwortlichkeitsgefühl  Adlers  zeugenden 
Worte  taten  ihre  Wirkung,  die  Arbeiter  zogen  langsam  ab.  Um  auch  auf 
die  vor  dem  Arbeiterheim  stehenden  Massen  beruhigend  zu  wirken,  trat 
Adler  an  ein  Gassenfenster  im  ersten  Stock  und  forderte  auch  von  dort 
aus  die  Arbeiter  auf,  ruhig  nach  Hause  zu  ziehen.  Langsam  setzte  sich  der 
Zug  in  Bewegung. 

In  der  Eugengasse  war  es  inzwischen  zu  einer  Säbelattacke  der  Wach- 
leute gekommen,  und  ohne  daß  bis  heute  ermittelt  werden  konnte,  wie  das 
gekommen   war,  marschierten  die  Wachleute  zum  Arbeiterheim  zurück   und 


Beim  Einbruch  der  Polizei  ins  Favoritener  Arbeiterheim  343 

drangen  in  das  Haus  über  die  Freitreppe  hinauf,  zerschlvigen  die 
Fenster  und  hieben  mit  den  Säbeln  auf  die  weggehenden  Arbeiter  ein. 
Fünfzehn  Schwers-erletzte  und  eine  große  Anzahl  Leichtverletzter  blieben 
auf  der  Strecke.  Ärger  als  die  Kosaken  haben  damals  die  zum  Teil  betrunkenen 
Wachleute  gehaust. 

Adler 

hat  darüber  selbst  in  der  „Arbeiter-Zeitung"  vom  8.  November 
1902  berichtet: 

„Nachdem  die  Versammlung  geschlossen  war  und  sich 
die  Massen  langsam  entfernten,  bildete  sich  vor  dem  Arbeiter- 
heim einen  Moment  lang  eine  Stauung,  so  daß  die  Massen  die 
^anze  Breite  vom  Kolumbusplatz  bis  ziemlich  weit  hinauf  in  die 
Laxenburgerstraße  erfüllten.  Sie  riefen:  »Hoch  Adler!  Pfui 
Prochazka!«  Um  sie  zu  beruhigen,  öffneten  wir  im  Mezzanin 
ein  Fenster  und  ich  sprach  einige  Worte  zu  der  Menge.  Ich 
forderte  die  Genossen  im  Namen  der  Partei  auf,  ruhig  nach 
Hause  zu  gehen,  sich  nicht  provozieren  zu  lassen  und  jeden 
Zusammenstoß  zu  vermeiden.  Darauf  entfernten  sich  die  Leute 
mit  Hochrufen.  In  ein  paar  Minuten  hatte  die  Masse,  die  sich 
hier  eben  erst  gestaut  hatte,  bis  auf  wenige  Gruppen  den  Platz 
verlassen.  Um  nun  zu  vermeiden,  daß  die  Leute  etwa  erwarten, 
es  werde  noch  einmal  eine  Ansprache  gehalten  werden, 
löschten  wir  die  Lichter  im  Mezzanin  aus  und  zogen  uns 
zurück. 

Die  Straße  war  so  ruhig,  daß  wir  die  Sache  für  erledigt 
hielten.  Plötzlich  gab  es  unten  wieder  eine  Bewegung,  Was 
war  geschehen?  Ein  Zug  von  etwa  200  Wachleuten  machte 
vom  Kolumbusplatz  her  eine  Schwenkung  gegen  das  Arbeiter- 
heim. Genosse  P  ö  1  z  e  r,  der  auf  der  Straße  war,  ging  auf 
den  Revierinspektor  zu  und  sagte  ihm:  „Ich  bin  Obmann  des 
Wahlkomitees  und  übernehme  die  volle  Verantwortung  für  die 
Ruhe!  Ziehen  Sie  Ihre  Leute  zurück!  Die  Arbeiter  sind  schon 
im  Fortgehen  begriffen!«  Darauf  zog  der  Inspektor  seinen 
Säbel  und  seinem  Beispiel  folgten  die  übrigen  Polizisten. 
Pölzer  stand  gerade  vor  einem  Glaserladen  und  er  wäre  von 
den  Säbeln  getroffen  worden,  wenn  er  nicht  von  den  Leuten, 
die  sich  in  dem  Laden  befanden,  durch  das  Fenster  in  den 
Laden  gezogen  worden  wäre. 

Nun  drangen  die  Polizisten  gegen  das  Arbeiterheim  vor, 
drückten   die   nur    angelehnte   Tür    ein     und   hieben    mit  den 


344  Beim  Einbruch  der  Polizei  ins  Favoriteher  Arbeiterheim 

Säbeln  die  Glasscheiben  der  inneren  Spieltüren  ein.  Dann 
stürmten  sie  über  die  breite  Stiege  des  Festsaales  hinauf,  mit 
den  Säbeln  auf  alles,  was  sie  gerade  trafen,  loshauend.  Sie 
drangen  in  den  Saal  ein,  wo  sich  von  der  Masse  von  3000  Per- 
sonen, die  sich  dort  früher  befunden  hatten,  nur  noch  500  bis 
600  aufhielten,  die  natürlich  von  den  Vorgängen  draußen  Jiicht 
die  geringste  Ahnung  hatten.  Auf  diese  Leute  wurde  mit  den 
Säbeln  losgedroschen. 

Ebenso  ohne  Veranlassung,  wie  sie  gekommen  waren^ 
kehrten  die  Polizisten  nun  wieder  um. 

.  In  dem  Mezzaninbüro,  wo  ich  mich  mit  dem  Wahlkomitee 
befand,  hörte  man  plötzlich  den  Euf:  »Die  Polizei  ist  ein- 
gedrungen!« und  schon  kamen  die  Fliehenden  durch  den  Ver- 
bindungsgang, so  daß  es  einige  Minuten  dauerte,  bis  ich  in  das 
Treppenhaus  gelangen  konnte.  Ich  sah,  wie  die  ersten  Poli- 
zisten bereits  unten  auf  den  Stufen  waren,  während  die  letzten 
noch  auf  dem  Stiegenabsatz  waren.  Alle  die  Säbel  blank.  Ein- 
zelne zerrten  Männer  und  Frauen  herum  und  hieben  wie  wahn- 
sinnig auf  die  Leute  ein.  So  sah  ich,  wie  zwei  Wachleute 
einen  Mann  beim  Kragen  hielten  und  wie  sie  mit  dem  Säbel 
auf  ihn  losschlugen. 

Ich  stürzte  nun  die  Treppe  hinunter  und  rief  einem 
Polizisten  zu:  »Was  macht  ihr  da?«  Er  drehte  sich  um  und 
holte  mit  dem  Säbel  aus.  Da  sah  ich  neben  ihm  einen  Mann 
in  Polizeibeamtenuniform,  einen  kleinen,  ziemlich  schmäch- 
tigen, ältlichen  Mann.  Ich  stellte  mich  ihm  kurz  vor  und  fragte, 
warum  die  Polizei  eingedrungen  sei.  Er  antwortete:  »Ich  weiß 
es  nicht,  ich  war  ganz  hinten!«  Währenddessen  entfernten  sich 
die  Wachleute  unter  fürchterlichem  Geheul  über  die  Treppe 
durch  das  große  Tor. 

Nachdem  die  noch  in  den  Eäumen  des  Arbeiterheims 
Anwesenden  halbwegs  beruhigt  waren  und  das  Haustor  ge- 
schlossen war,  begab  ich  mich  mit  den  Genossen  D  i  e  1 1  and 
Hummel  auf  das  Polizeikommissariat.  Es  war  nicht  leicht, 
hinzugelangen,  denn  der  Polizeikordon  machte  es  merk- 
würdigerweise schwer,  aus  der  Laxenburgerstraße  in  die 
Seitengassen  zu  kommen,  nachdem  schon  der  Feldzugsplan 
ebenso  merkwürdigerweise  dahinging,  die  aus  der  Versamm- 
lung Kommenden  in  die  Kichtung  zum  christlichsozialen  Zen- 
tralwahllokal zu  drängen.  Es  gelang  uns  natürlich  trotzdem. 


Beim  Einbruch  der  Polizei  ins  Favoritener  Arbeiterheim  345 

zum  Kommissariat  zu  kommen.  Durch  die  offene  Hoftür 
sahen  wir  neben  einer  Anzahl  von  Polizeipferden  mindestens 
acht  leere  und  einige  volle  Bierfässer.  In  dem  Stiegen- 
haus des  Kommissariats  kampierten  etwa  zwanzig  Sicherheits- 
wachleute mit  gefüllten  Gläsern,  von  denen  einer  mich 
im  Vorbeigehen  mit  einer  hämischen  Begrüßung  beehrte.  Auf 
dem  Kommissariat  befanden  sich  bereits  der  Zentralinspektor 
der  Sicherheitswache,  Baron  Gorup,  ein  Herr  Englisch  als 
Vertreter  des  Polizeipräsidiums  und  selbstverständlich  das 
ganze  Personal  des  Kommissariats. 

Als  ich  meine  Darstellung  begann,  legte  Baron  Gorup 
freiwillig  das  Zeugnis  ab,  daß  die  Eäumung  des  Arbeiterheims 
und  der  Abzug  der  Massen  vor  dem  Hause  in  ruhiger  Weise 
erfolgt  sei,  und  fügte  hinzu,  daß  er  darüber  bereits  dem  Polizei- 
präsidium mit  größter  Genugtuung  telephonisch  Bericht 
erstattet  habe.  Es  sei  ihm  absolut  unbegreiflich,  wie  es  plötz- 
lich so  weit  gekommen  sei.  [Man  dürfe  eben  den  Tag  nicht  vor 
dem  Abend  loben.  Ich  erzählte  nun  weiter,  was  ich  gesehen. 
Niemand  konnte  erklären,  warum  die  Wache  in  das  Ar- 
beiterheim gekommen  sei,  und  es  entstand  nun  die  Frage:  Wer 
ist  der  Beamte?  Ich  erklärte  mich  über  Anfrage  des  Polizei- 
rates bereit,  den  Herrn  zu  agnosziern,  und  wurde  darauf  er- 
sucht, solange  im  Amte  zu  bleiben,  bis  er  gefunden  sei.  Die 
Zeit  wurde  damit  ausgefüllt,  daß  mit  mir  und  den  beiden 
anderen  Genossen  ein  Protokoll  aufgenommen  wurde. 

Während  dieser  Zeit  konnten  wir  sehen,  daß  eine  Peihe 
von  Verwundeten  protokollarisch   einvernommen  wurde. 

Trotz  einstündigen  Wartens  wurde  der  Polizeibeamte, 
dessen  genaue  Personsbeschreibung  vorlag,  angeblich  nicht  ge- 
funden und  die  Konfrontierung  unterblieb  daher.  Er  wird 
also  erst  vom  Polizeipräsidium  aufgefunden  werden  müssen. 
Während  dieser  Stunde  kam  man  beim  Polizeikommissariat 
zur  Anschauung,  der  Einbruch  in  das  Arbeiterheim  sei  deshalb 
erfolgt,  weil  aus  den  Fenstern  Biergläser  auf  die  Wache 
flogen.  Ich  stellte  fest,  daß  es  technisch  völlig  unmöglich  ist. 
Die  Straßenfenster  der  Eestauration  haben  große  Spiegel- 
scheiben und  lassen  sich  nicht  öffnen.  Zudem  sind  die  Fenster- 
nischen durch  Vorhänge  geschlossen.  Im  Mezzanin  aber  gab 
es  keine  Biergläser  und  keine  Menschen,  die  sie  hätten  werfen 
können.  Die  dort  befindlichen  Büros  waren  sämtlich  leer  und 


346  Beim  Einbruch  der  Polizei  ins  Favoritener  Arbeiterheim 

versperrt,  bis  auf  eines,  wo  ich  mich  mit  den  Mitgliedern  des 
Wahlkomitees  befand;  daß  wir  keine  Bierkrügeln  warfen, 
wird  man  uns  wohl  glauben.  Es  wurde  nun  behauptet,  daß  die 
Biergläser  zum  offenen  Tor  hinausflogen;  das  ist  ebenso  un- 
denkbar, denn  die  Toreinfahrt  war  voll  von  den  abziehenden 
Leuten.  Daher  konnte  höchstens  dann  geworfen  werden,  als 
die  Scheiben  der  Türen  von  der  Wache  zertrümmert  worden 
waren.  Wahr  ist  allerdings,  wie  andere  Augenzeugen  berichten, 
daß,  als  die  Wachleute  die  Treppe  hinaufstürmten, 
die  über  den  Hausfriedensbruch  entsetzten  und  momentan 
fassungslosen  Menschen,  denen  der  Angriff  galt,  ihn  mit  allem, 
was  sie  eben  zur  Hand  hatten,  abzuwehren  suchten,  daß  al.so 
in  diesem  Moment  der  Wache  Biergläser  und  sogar  Sessel  ent- 
gegenflogen. Aber  wir  konstatieren  noch  einmal,  daß  das  erst 
geschah,  nachdem  die  Wache  den  Einbruch  begangen  hatte. 

Herr  Polizeikommissär  Englisch  und  Herr  Baron  Gorup 
erklärten  mir,  daß  die  allerstrengste  Untersuchung  gepflogen 
werden  wird.  Es  wurde  auch  sofort  ein  Lokalaugenschein  vor- 
genommen. Der  schuldtragende  Beamte  aber  fand  sich  nicht 
vor  und  die  Herren  waren  auch  nicht  geneigt,  ihn  zu  nennen." 

Beschwerde  beim  Polizeipräsidium. 

Am  Tage  nach  der  Attacke,  zu  deren  Gedenken  im 
Eavoritener  Arbeiterheim  später  eine  Tafel  angebracht  wurde, 
begaben  sich  Dr.  Adler,  Gemeinderat  R  e  u  m  a  n  n  und 
P  ö  1  z  e  r,  der  Obmann  des  Favoritener  Wahlkomitees,  zum 
Polizeipräsidium.  Außer  dem  Polizeipräsidenten  Hofrat  Habrda 
nahmen  auch  die  Herren  Hofrat  Friebeis  und  Eegierungsrat 
Brzczowsky  an  der  Unterredung  teil.  Die  drei  Genossen,  die  den 
ganzen  Vorgang  des  Einbruches  ins  Arbeiterheim  als  Augen- 
zeugen beobachtet  hatten  —  Pölzer  auf  der  Straße,  Reumann 
im  Vestibüle  und  Adler  auf  der  Treppe  —  gaben  eine  genaue 
Darstellung. 

Die  „Arbeiterzeitung"  hat  darüber  berichtet: 

Soviel  stellte  sich  heraus:  Es  ist  noch  kein  zureichender  oder  irgend- 
ein glaubhafter  Grund  für  das  Eindringen  der  Polizei  gefunden  worden.  Es 
scheint,  daß  die  Wachebeamten  erklären,  sie  hätten  kein  Kommando  zum 
.Stürmen  gegeben.  Insbesondere  der  Beamte,  der  die  Expedition  in  das 
Arbeiterheim  mitmachte  —  es  ist  das  wahrscheinlich  der  Revierinspektor 
Karl    Liehr  —   und   der    Genesen   Adler  versicherte,    daß    er   nicht    wisse. 


Die  Arretierung-  bei  der  Demonstration  gegen  Lueger  347 

warum  er  im  Hause  sei,  gab  auch  gestern  an,  daß   er  nicht  der  Komman- 
dierende, sondern  der  Mitgeschleppte  seiner  Mannschaft  gewesen  sei. 

Das  Polizeipräsidium  glaubt  bereits  die  Namen  der  Wachleute,  die 
eingedrungen  sind,  zu  kennen,  und  will  eine  umfassende  Untersuchung 
führen.  Daß  es  sich  einfach  um  einen  unmotivierten  Exzeß  brutaler  Gewalt- 
tätigkeit handelt,  will  das  Präsidium  zunächst  nicht  gelten  lassen.  Man  wird 
ja  sehen,  was  bei  der  Untersuchung  durch  die  Polizei  herauskommt. 

• 

Im  Jänner  1903  hieß  es,  daß  die  Untersuchung  eingestellt  sei, 
weil  die  Verwundeten  nicht  feststellen  konnten,  welche  Wachleute  auf  sie 
losgeschlagen  hatten.  Adler,  P  ö  1  z  e  r  und  R  e  u  m  a  n  n  erhielten  vom 
Staatsanwalt  Dr.  K  1  e  e  b  o  r  n  die  Versicherung,  daß  die  Untersuchung  fort- 
geführt werde.  Aber  herausgekommen  ist  nichts,  der  Frevel  ist  u  n  g  e- 
sühnt    geblieben. 


Die  Arretierung  bei  der  Demonstration  gegen 

Lueger. 

Die  christlichsoziale  Partei  hatte  sich  (1899)  unter  Führung  ihres 
Bürgermeisters  Dr.  Lueger  eine  Wahheform  für  den  Wiener  Gemeinderal 
zurechtgemacht,  die  ihre  Herrschaft  für  alle  Zeit  sichern  sollte.  Während 
Lueger  zuerst  der  Öffentlichkeit  vorgeschwindelt  hatte,  daß  er  das  allgemeine, 
gleiche  Wahlrecht  einführen  wolle,  hatte  der  „Volksbürgermeister"  an  die 
bestehenden  drei  Wahlkörper,  in  denen  nur  die  Besitzenden  wählen  sollten, 
einen  vierten  allgemeinen  Wahlkörper  angehängt,  mit  ganzen  2  0  Man- 
daten neben  den  138  sicheren  Mandaten  der  Privilegierten.  Und  da  in  der 
Arbeiterkurie  nur  diejenigen  wahlberechtigt  sein  sollten,  die  am  Tage  der 
Wahlausschreibung  bereits  fünf  Jahre  in  Wien  gewohnt  hatten,  wäre 
jedesmal  ein  Teil  der  Arbeiter  um  das  Wahlrecht  gekommen,  der  Sieg  der 
„seßhaften"  Bürger  wäre  auch  in  dieser  Kurie  erleichtert  gewesen.  Im  nieder- 
österreichischen  Landtag  war  das  Gesetz  rasch  durchgepeitscht  worden,  um  die 
Arbeiter  Wiens  vor  eine  „vollendete  Tatsache''  zu  stellen.  Aber  das  mißlang, 
die  Sozialdemokraten  erhoben  sich  zum  Protest.  Darauf  beschimpfte  der 
„Volksbürgermeister"  und  sein  Strohmann  Strobach  in  einer  Versammlung  die 
Wiener  Arbeiter  als  Wiener  Diebsgesindel,  nichtsnutzige  Buben,  Faulenzer, 
Buben,  Diebe.  Die  Antwort  darauf  war  die  Aufforderung  an  der  Spitze  der 
«Arbeiter-Zeitung'"  vom  6.  Juli  J899:  „Rendezvous  der  ''nichts- 
nutzigen Buben«  heute  Donnerstag  auf  der  Ringstraße." 
Zwischen  Kärntnerring  und  Parkring  versammelten  sich  zwischen  7  und 
8  Uhr  die  Arbeiter  Wiens  zu  einem  Protestspaziergang.  15.000  Arbeiter 
erschienen  direkt  aus  den  Fabriken  und  Werkstätten,  und  obwohl  sie  sich  auf 
Hochrufe  auf  das  gleiche  Wahlrecht  und  Pfuirufe  auf  Lueger  beschränkten. 
kam  es  zu  Attacken  der  berittenen  Wache,  die  mit  der  größten  Brutalität 
vorging.  47  Demonstranten  wurden  verhaftet,  darunter  Dr.  Adler,  Brei- 
schneider und  Reumann,  die  wegen  Vergehens  des  Auflaufes  ins 
Polizeigefängnis  gebracht  wurden,  um  nächsten  Tag  dem  Landosgericht  ein- 


348  Die  Arretierung  bei  der  Demonstration  gegen  Lueger 

geliefert  zu  werden.  Bretschneider  als  Hauptordner  wurde  verhaftet, 
als  er  die  erregten  Arbeiter  zur  Heimkehr  bewog,  R  e  u  m  a  n  n,  weil  er  sich 
weigerte,    fortzugehen,    bevor    die  Berittenen    den  Weg    freigelassen    hätten. 

Adler 

sah  an  der  Ecke  des  Opernringes  und  der  ver- 
längerten Kärntnerstraße,  wie  plötzlich  Berittene  und  Wach- 
leute zu  Fuß  die  dichtgedrängte,  lautlose  Menge  auf  dem 
Trottoir  zusammenpreßten  und  mit  physischer  Gewalt  gegen 
die  Elisabethbrücke  drängten.  Adler  wendete  sich  an  den 
Bezirksleiter  Polizeirat  J  e  r  a  b  e  k,  der  dort  das  Kommando 
hatte,  und  forderte  ihn  auf,  diese  ganz  unmotivierte  Gewalt- 
taktik  einzustellen. 

Herr  Jerabek  meinte:    „Rufen   dürfen  die  Leute  nicht." 
Adler:    Erstens    wäre    das    kein   Grund,    Leute    nieder- 
zureiten, zweitens  aber  konstatier  eich,  daßhier 
niemand  ruft! 

In  diesem  Augenblick  fährt  ein  W  ac  h  i  n  s  p  e  k  t  o  r  dazwischen: 
Gehen  Sie,   sonst  verhafte  ich  Sie! 

Adler:  Tun  Sie,  was  Sie  wollen.  Ich  konstatiere  noch- 
mals, daß  hier  ganz  ruhige  Leute,  die  nicht 
rufen,  v  o  n  d  e  n  Berittenen  z  u  s  a  m  m  e  n  g  e  r  i  1 1  e  n 
werde  n. 

Herr  Jerabek  sah  sich  einigermaßen  verlegen  um,  der  Inspektor 
L  0  s  s  i  g  aber  erklärte  Adler  für  verhaftet  und  eskortierte  ihn 
persönlich  unter  Bedeckung  von  einem  Detektiv  und  zwei  Wa;chleuten  auf 
die  Wachstube  und  von  dort  gemeinsam  mit  den  Genossen  B  r  e  t- 
schneider  und  Reumann  auf  die  Polizeidirektion.  Dort  wurden  sie 
aufmerksam  gemacht,  daß  sie  längere  Zeit  verbleiben  müssen,  weshalb  ein 
etwaiger  Wunsch  nach  Beschaffung  eines  Abendessens  sofort  erfüllt  werde. 
Nachdem  diese  Besorgung  erfüllt  war  und  sich  die  Verhafteten  gesättigt 
hatten,  erschien  der  Chefarzt  der  Polizei,  Regierungsrat  Dr.  Merta,  der  ein 
persönlicher  Freund  Dr.  Adlers  war.  Er  ließ  sich  zuerst  in  ein  Gespräch  mit 
ihm  ein,  fragte  schließlich  um  seinen  Gesundheitszustand  und  um  den  der 
Mitverhafteten,  dann  untersuchte  er  ihre  Augen  und  entfernte  sich  nach  einer 
sehr  freundschaftlichen  Verabschiedung.  Reumann  bemerkte  nach  diesem 
Besuch:  Also  Landesgericht!  Adler  lachte  darüber  und  behauptete,  daß 
davon  keine  Hede  sein  könne,  da  doch  nichts  vorliege,  um  eine  solche  Ein- 
lieferung  zu  rechtfertigen.  Es  kam  anders.  Gegen  11  Uhr  nachts  kamen  in 
den  Amtsraum,  der  den  Verhafteten  zum  Aufenthalt  diente,  eine  Anzahl  hoher 
Polizeibeamter,  welche  mit  einer  komisch  wirkenden  Feierlichkeit  ver- 
kündeten, daß  die  Verhafteten  dem  Landesgericht  eingeliefert  und  vorläufig 
dem  PoHzeigefangenhaus  in  der  Theobaldgasse  überstellt  werden.  Unmittelbar 


Die  letzte  Verurteilung  Adlers  349 

nach  dieser  Eröffnung  wurde  dieser  Transport  mittels  Fiaker  durchgeführt. 
Dem  Verlangen,  ebenso  transportiert  zu  werden  wie  die  anderen  bei  dieser 
Demonstration  Verhafteten,  wurde  keine  Rechnung  getragen. 

In  der  Theobaldgasse  angelangt,  wurde  zunächst  von  einem  alten  Wach- 
mann ein  sehr  umfangreiches  Protokoll  aufgenommen,  dann  wurden  Adler, 
Brets^hneider  nnd  Reumann  gemessen  und  Fingerabdrücke  ge- 
macht... Am  nächsten  Tag  um  11  Uhr  vormittags  wurden  sie  dem  Landes- 
gericht überstellt.  Die  Bezahlung  der  Rechnung  für  Wagenauslagen  wurde 
von  ihnen  mit  dem  Hinweis  darauf  verweigert,  daß  sie  so  befördert  werden 
wollten  wie  jeder  andere  Verhaftete.  Die  Untersuchung  gegen  sie  führte  Landes- 
gerichtsrat Wach;  auf  Verlangen  der  Staatsanwaltschaft  wurde  über  alle 
die   ordentliche   Untersuchungshaft  verhängt. 

Nachmittags  stellte  der  Untersuchungsrichter  Dr.  Adler,  R  e  u  m  a  n  n 
und  Bretschneider  im  Landesgericht  die  Anklage  nach  §§  283  und  281 
zu.  Sie  nahmen  sie  zur  Kenntnis,  erhoben  keine  Einwendung  dagegen  und 
stellten  auch  keine  Anträge  auf  Einvernehmung  von  Zeugen.  Damit 
entfiel  jeder  Grund,  sie  weiter  in  Haft  zu  behalten,  und  Adler  und 
R  e  u  m  a  n  n  wurden  um  5  Uhr  abends  enthaftet.  Dagegen  mußte 
Bretschneider  weiter  in  Haft  bleiben,  da  bei  ihm  „Wieder- 
holungsgefahr" bestehen  sollte.  Diese  Annahme  schöpfte  der  Staatsanwalt  aus 
dem  Umstand,  daß  Bretschneider  erst  vor  einigen  Tagen  wegen  Auf- 
laufs zu  sechs  Wochen  strengen  Arrests  verurteilt  worden  war. 


Die  letzte  Verurteilung  Adlers. 

Am  21.  Juli  1899  fand  vor  dem  Landesgericht  die  Verhandlung  gegen 
Adler  statt.  Vorsitzender  war  Landesgerichtsrat  v.  Neubauer,  öffent- 
licher Ankläger  Dr.   P  o  1 1  a  k,  Verteidiger  Dr.  Ingwer. 

Die  Anklage  ging  dahin,  daß  Dr.  Adler  während  der  Demonstration  am 
6.  Juli  der  an  die  Menge  ergehenden  Aufforderung,  den  Platz  zu  räumen, 
nicht  Folge  geleistet  und  sich  in  einen  Wortstreit  mit  den 
amtshandelnden  Organen  eingelassen  habe.  Dr.  Adler  soll  sich  nach  dem 
Wortlaut  der  Begründung  unter  der  Menge  befunden  haben,  an  die  die 
Aufforderung  erging.  Anstatt  wegzugehen,  sei  er  hervorgetreten,  auf  den 
Polizeirat  Jerabek  zugegangen,  um  ihm  Vorwürfe  wegen  des  Einschreitens 
der  Wache  zu  machen.  Dabei  habe  sich  eine  größere  Menschenmasse  um 
ihn  geschart. 

Dr.  Adler: 

Ich  habe  der  Demonstration  von  Anfang  an  beigewohnt, 
Anfangs  ging  es  sehr  ruhig  her,  und  trotz  des  dichten  Ge- 
dränges vollzog  sich  alles  in  größter  Ordnung.  Plötzlich  tauchte 
Reiterei  auf,  und  gleich  darauf  sprengte  Herr  Tobias  Anger, 
gefolgt  von  seinen  Leuten,  mitten  in  die  Menge  hinein.  Nach 
einer  Weile  schwenkte  er  auf  die  andere  Seite  und  ritt  dann 
zurück,  um  dasselbe  Manöver  von  vorn  zu  beginnen.  Die  Fuß- 


350  Die  letzte  Verurteilung  Adlers 

geher  mußten  so  rasch  als  möglich  davonlaufen,  denn  das  war 
die  einzige  Möglichkeit,  den  Pferdehufen  auszuweichen.  So- 
lange dazu  Platz  war,  konnte  ein  schweres  Unglück  noch  ver- 
mieden werden. 

Ich  bin  nun  bei  solchen  Anlässen  weder  ein  einfacher  Zu- 
schauer noch  ein  verantwortungloeer  Teilnehmer.  Vermöge  der 
Funktion,  die  ich  in  der  Partei  bekleide,  habe  ich  bei  solchen 
Aktionen  ein  bestimmtes  Amt  zu  versehen  und  eine  schwere 
Verantwortung  zu  tragen.  Unsere  Aufgabe  ist  es,  dahin  zu 
wirken,  daß  solche  Veranstaltungen  möglichst  wenig  Opfer 
fordern  und  daß  die  Menge  vor  ungerechtfertigten  Be- 
helligungen von  außen  geschützt  sei.  Ich  begab  mich  nun  in 
einem  gewissen  Moment  m  Begleitung  einer  zweiten  Person 
zur  Elieabethbrücke,  um  zu  sehen,  ob  es  richtig  sei,  daß  die 
Polizei  deren  Absperrung  verfügt  habe.  Als  ich  zurückkam^ 
fand  ich  an  der  Ecke  des  Opernringes  und  der  verlängerten 
Kärntnerstraße  folgende  bedrohliche  Situation:  Die  Menge 
staute  sich  auf  dem  Gehweg  und  war  fest  einge- 
schlossen von  berittenen  Polizisten.  Über  <len 
Häuptern  der  Fußgeher  sah  man  die  Pferdeköpfe,  und  die 
Reiter  lenkten  ihre  Pferde  auf  das  Trottoir.  Sie 
suchten  nicht  die  Masse  vom  Trottoir  wegzudrängen,  sondern 
d  r  ä  n  g  t  e  n  s  i  e  an  die  H  ä  u  s  e  r  m  a  u  e  r,  als  ob  sie  die 
Menge  erdrücken  wollten.  Das  war  die  Lage.  Ich  sah  nun  den 
mir  wohlbekannten  Polizeirat  J  e  r  a  b  e  k,  trat  auf  ihn  zu  und 
sagte  ihm:  „Aber  was  geschieht  denn  da,  Herr  Rat?  Sehen  Sie 
denn  nicht,  daß  Ihre  Leute  ganz  ohne  Grund  da  in  die  Masse 
hineinreiten?"  Darauf  antwortete  Herr  Jerabek:  „Aber  ich 
bitte  Sie,  was  soll  ich  tun?  Die  Leute  schreien  und  brüllen.  Es^ 
muß  doch  einmal  Ruhe  werden!"  Ich  konstatierte  nun,  daß  in 
diesem  Moment  vollkommene  Ruhe  war.  „Bitt'  Sie,  Herr  Dok- 
tor," sagte  nun  Herr  Jerabek,  „gehen  Sie  doch  hin  und  machen 
Sie  Ordnung  bei  Ihren  Leuten."  Der  Gerichtshof  kann  aus 
dieser  Äußerung  ersehen,  daß  die  leitenden  Polizeiorgane  ge- 
wöhnt sind,  mich  bei  solchen  Konflikten  zur  Herstellung  der 
Ordnung  in  Anspruch  zu  nehmen.  Ich  sagte  nun:  „Solange  die 
Rösser  da  sind,  bin  ich  ohnmächtig.  Ziehen  Sie  erst  Ihre  Rösser 
zurück."  Während  ich  dieses  Gespräch  führte,  kam  ein  Herr 
in  Uniform  auf  mich  zu  und  hieß  mich  weggehen.  Herrn 
Jerabeks   Aufmerksamkeit   war   in    diesem   Moment  nicht   mir 


Die  letzte  Verurteilung  Adlers  351 

allein  zugewendet.  Der  Herr  in  Uniform  sagte,  während  ich 
weitersprach:  „Gehen  Sie  fort,  oder  ich  werde  Sie  verhaften." 
Darauf  sagte  ich:  „Tun  Sie,  was  Sie  wollen,  aber  ich  muß  hier 
sprechen,  weil  das  Vorgehen  der  berittenen  Polizieten  unzu- 
lässig ist."   Daraufhin  erfolgte  die   Verhaftung. 

Verteidiger:   Waren  noch  mehrere  Personen  am  Platze? 

Adler:  Es  war  dort  keine  Ansammlung.  Zwischen  mir 
und  der  Menge  war  freier  Raum,  dann  die  berittenen  Poli- 
zisten, die  die  Menge  einschlössen. 

Vorsitzender:  Sie  hätten  ja  bei  der  Verhaftung  sofort  den 
Polizeirat  anrufen  können. 

Es  wurde  nun  Polizeirat  Jerabek  als  Zeuge  vernommen.  Er 
hatte  die  Aktion  der  Polizei  geleitet  und  erklärt,  daß  er  erst,  als  die  Demon- 
stranten zu  schreien  anfingen,  einschreiten  ließ.  Der  gesetzlichen  Aufforde- 
rung sei  wiederholt  nicht  Folge  geleistet  worden.  Der  Zeuge  erzählt :  Doktor 
Adler  kam  aus  der  Menge,  gegen  die  die  gesetzliche  Aufforderung  ergangen 
war,  auf  mich  zu  und  sagte:  „Aber  lassen  Sie  doch  nicht  in  solcher  Weise 
in  die  Menge  hineinreiten."  Ich  erwnderte:  „Es  wäre  besser,  wenn  Sie  al> 
Parteiführer  beruhigend  wirken  würden.  Übrigens  kann  ich  mich  in  keine 
Debatte  einlassen,  und  durch  die  Pferde  geschieht  ohnedies  niemand 
etwas."  Darauf  sagte  Dr.  Adler:  „Es  geschieht  genug;  bedenken  Sie,  daß  da& 
lauter  Familienväter  sind.  Wir  werden  dieses  Vorgehen  in  der  5  Arbeiter- 
Zeitung«   schon  annageln." 

Vorsitzender:  Sie  sagten,  daß  der  Angeklagte  aus  der  Menge 
heraustrat? 

Z  e  u  g  e :  .Ja. 

Verteidiger:  Die  war  doch  auf  dem  Trottoir  von  Polizistea 
zusammengedrängt  worden,  er  konnte  doch  nicht  den  Kordon  der  berittenen 
Polizisten  durchbrechen. 

Zeuge:  Er  kam  nicht  vom  Trottoir,  sondern  aus  der  Reitallee. 

Adler:  Sie  .sagten  doch,  daß  ich  mich  unter  der  !Menge 
befand,  gegen  die  die  Polizei  einschritt.  War  ich  au  der  Spitze 
von  Leuten? 

Zeuge:  Nein,  doch  allein  standen  Sie  nicht. 

Adler:  Ich  sprach  mit  Ihnen,  nachdem  die  Auf- 
forderung an  die  Menge   ergangen  war? 

Zeuge:  Ja. 

Adler:  Haben  Sie  meine  Verhaftung  ver- 
anlaßt? 

Zeuge:  Nein. 

Adler:   Haben  Sie   sie  vorausgesehen  ? 

Zeuge  (ausweichend):  Die  Verhaftung  war  Sache  des  Inspektors. 


:}52  Die  letzte  Verurteilung  Adlers 

Adler:  Wenn  ich  nach  der  gesetzlichen  Aufforderung 
als  ein  Mitglied  der  Gruppe,  an  die  sie  ergangen  war,  mich 
mit  Ihnen  einließ,  warum  haben  Sie  mich  denn 
nichtverhaftenlassen? 

Zeuge:  Das  war  nicht  meine  Aufgabe ;  ich  hatte  meine  Aufmerk- 
samkeit auch  anderswohin  zu  richten  .  . . 

Vorsitzender:  Es  war  auch  wenig  Zeit. 

Adler:  Zeit  hatte  Herr  Jerabek  während  des  Ge- 
spräches genug,  um  klar  zu  werden,  wie  er  sich  zu  mir  zu 
stellen  habe. 

Der  Zeuge  gibt  nun  zu,  daß  er  bei  solchen  Anlässen  mit  Dr.  Adler 
schon  öfter  Rücksprache  hielt. 

Der  Revierinspektor  Franz  L  o  s  s  i  g  hat  die  Verhaftung  vorgenommen. 
Er  gibt  an,  daß  er  den  Wortwechsel  zwischen  Dr.  Adler  und  Polizeirat 
Jerabek  beobachtet  habe,  dann  hinzutrat  und  die  Aufforderung  zum  Weg- 
gehen an  Dr.  Adler  richtete,  doch  dieser  habe  den  Wortwechsel  fortgesetzt. 
Darauf  habe  er  ihn  arretiert.  Daß  ein  Wortstreit  vorliege,  habe  er  aus  den- 
Gebärden  und  Gesten  erkannt.  Er  habe  sich  aber  zu  gleicher  Zeit  auch  um 
andere  Dinge  kümmern  und  Umschau  halten  müssen.  Ob  zwischen  der  ersten 
und  zweiten  Aufforderung  der  Wortwechsel  fortgesetzt  wurde,  weiß  der  Zeuge 
nicht  genau. 

Dr.  Adler:  Habe  ich  mich  mit  Ihnen  in  einen  Wort- 
wechsel eingelassen  ? 

Zeuge:  Nein. 

Polizeikommissär  Dr.  Ludwig  M  a  r  k  e  1  hörte,  wie  Dr.  Adler  zum 
Rat  Jerabek  sagte:  „Ich  protestiere,  daß  hier  Gewalt  angewendet  wird,  wo 
■doch  niemand  gerufen  hat."  Darauf  habe  Zeuge  gesagt:  „Es  ist  vor  einer 
kurzen  Weile  gerufen  worden,  ich  selbst  habe  einschreiten  lassen."  Dr.  Adler 
kam  nicht  aus  der  Menge,  sondern  von  rückwärts;  es  waren  aber  doch  auch 
an   diesem   Ort  einige  Leute   in  Bewegung. 

Zeuge  Friedrich  Hernfeld,  Redakteur  der  „österreichischen  Volks- 
zeitung", war  anwesend,  als  Dr.  Adler  mit  Polizeirat  Jerabek  sprach  und 
als  er  arretiert  wurde.  Dr.  Adler  sagte  etwa:  „Ich  ^nife  Sie  als  Zeugen 
an,  daß  die  Wache  ungebührlich  vorgeht." 

Vorsitzender:  War  außer  Dr.  Adler  noch  jemand  am  Platz? 

Zeuge:  Nein.  Das  Trottoir  war  von  uns  durch  einen  Polizisten- 
kordon getrennt,  und  an  dem  Ort,  wo  Dr.  Adlers  Verhaftung  erfolgte,  war 
vollsteRuhe. 

Verteidiger:  Waren  Sie  überrascht,  als  die  Verhaftung  erfolgte? 

Zeuge:  Ja,  ich  mußte  mir  denken,  daß  Dr.  Adler  schon  zu  einem 
früheren  Zeitpunkt  etwas  unternommen  haben  müsse,  was  zur 
Arretierung  Anlaß  gab. 

Zeuge  Jerabek:  Aber  ich  bitte,  es  waren  ganz  entschieden  außer 
Dr.  Adler  noch  Leute  da;  es  war  eine  Ansammlung. 


Die  letzte  Verurteilung  Adlers  353 

Inspektor  Lossig:  Es  war  eine  Gruppe  von  acht  bis  zehn 
Leuten  da,  die  mit  der  größeren  Yolksmasse  zusammenhing. 

Adler:  War  dieser  Zusammenhang  nicht  durchbrochen 
durch  den  Kordon  der  Polizieten? 

Zeuge:  Nicht  ganz;  einzelne  Bestandteile  der  Masse  konnten  schon 
auf  die  Reitallee  und  zum  Tramwaywartehäuschen  gelangen. 

Adler:  Aus  dieser  zernierten  Masse  konnte  kein 
Mann  und  keine  Maus  heraus. 

Vorsitzender:  Wenn  das  noch  öfter  wiederholt  wird,  gewinnt  der 
Eindruck  nicht  an  Stärke. 

Zeuge  Dr.  Vinzenz  v.  B  e  r  g  e  r  sah,  als  er  zufällig  in  die  Menge  geriet, 
wie  ein  Wachmann  einen  armen  Teufel  in  brutaler  Weise  stieß.  Er  sei 
darüber  sehr  entrüstet  gewesen.  Später  beobachtete  er  eine  Attacke  der 
Berittenen,  die  in  der  rücksichtslosesten  Weise  einritten,  so 
daß  Zeuge  in  große  Aufregung  geraten  sei. 

Verteidiger:  Sahen  Sie  auch,  wie  die  Menge  an  die  Wand 
gedrückt  wurde? 

Zeuge:  Nein,  aber  ich  habe  später  mit  Geschäftsleuten  gesprochen, 
die  sich  über  diesen  Vorgang  lebhaft  beschwerten. 

Universitätsdozent  Dr.  E.  S.  passierte  die  Ringstraße  und  verweilte 
dort  ein  wenig,  um  den  imposanten  Anblick  der  Menschenmenge,  der  ihn 
fesselte,  einige  Zeit  zu  genießen.  Er  sah,  wie  die  Polizisten  ungeniert 
auf  das  Trottoir  ritten.  Zeuge  habe,  um  Halt  zu  gewinnen,  sich  an 
eine  Gaslaterne  klammern  müssen.  Ein  Wachmann  habe  ihm  zugerufen: 
„Gehen  Sie  auseinander!"  (Heiterkeit.)  Die  Wache  sei  sogar  auf  die 
Gäste,  die  vor  dem  Caf6  Kremser  saßen,  eingeritten. 

Damit  war  das  Beweisverfahren  geschlossen,  und  Staatsanwalt  Doktor 
P  o  1 1  a  k  stellte  nun  den  Strafantrag. 

Dr.  Ingwer  wies  nach,  daß  die  Anklage  nicht  nach  §§  283  und  28i 
erhoben  werden  dürfe,  weil  §  284  nur  ein  besonderer  Fall  des  Auflaufsdelikts 
nach  §  283  sei.  Zur  Tatsache  führte  der  Verteidiger  folgendes  aus:  Die 
Zeugen  Jerabek  und  Lossig  haben  subjektiv  die  Wahrheit  ausgesagt,  sie 
konnten  aber  nicht  richtig  sehen,  weil  sie  sich  vielfach  auch  um  andere  Dinge 
kümmern  mußten.  Der  einzige,  der  hier  klar  sah,  weil  er  die  Szene  als 
Berichterstatter  verfolgte,  ist  der  Herr  Hernfeld.  Das  ist  der  maßgebende 
Zeuge,  um  so  mehr,  als  er  gewiß  auch  ohne  jede  Voreingenommenheit  das 
Vorgehen  der  Polizei  betrachtete,  mit  der  er  als  Redakteur  eines  gemäßigten 
Blattes  ja  in  sehr  gutem  Einvernehmen  steht.  Wenn  das  Vorgehen  Adlers 
strafbar  gewesen  wäre,  hätte  es  Herr  Jerabek  sofort  als  das  erkennen  und, 
wie  es  einem  pflichtgetreuen  Beamten  ziemt,  auf  der  Stelle  die  Verhaftung 
veranlassen  müssen. 

Der  Verteidiger  appelliert  nun  an  den  Gerichtshpf,  den  Fall  nicht  nach 
der  Schablone  zu  behandeln,  sondern  zu  individualisieren.  Das  Auftreten 
des  Angeklagten  sei  nämlich  nach  ganz  besonderen  Gesichtspunkten  zu 
beurteilen.  Dr.  Adler  sei  ein  Mann,  der  Verantwortung  für 
Tausende  von  Menschen  trägt.  Als  er  sah,  daß  das  Leben 
von    Arbeitern  bedroht  sei,  war  es  seine  Pflicht,  an  den  Polizeirat 


354  Adler  über  das  Davonlaufen 


heranzutreten.  „Wenn  der  Gerichtshof  glaubt,  daß  solche  Pflicht- 
erfüllung strafbar  ist,  dann  bitte  ich,  den  Angeklagten  schuldig 
zu  sprechen."  (Beifall  im  Auditorium.) 

Der  Gerichtshof  erkannte  nach  längerer  Beratung,  daß  Dr.  Adler 
schuldig  sei  des  Vergehens  des  Auflaufs,  strafbar  nach  dem  höheren  Straf- 
satz, und  verurteilte  ihn  zu  einem  Monat  strengen  Arrests. 
Der  Gerichtshof  hatte  angenommen,  daß  während  des  Wortwechsels  eine 
größere  Menschenansammlung  gewesen  war  und  daß  der  Angeklagte  da 
mehreren  Aufforderungen,  wegzugehen,  nicht  Folge  leistete.  Als  erschwerend 
wurde  angenommen,  daß  der  Angeklagte  „seinen  Einfluß  nicht  gebrauchte, 
um   die  Menge  zu   beruhigen,   sondern  eher  aufreizend  wirkte". 

Der  Verurteilte  meldete  Berufung  an  und  erhob  die  Nichtig- 
keitsbeschwerde. („Arbeiter-Zeitunig"  Nr.  199  vom  22.  Juli  1899.) 

Auf  Anraten  seines  Verteidigers  verzichtete  aber  dann  Adler  auf  die 
Berufung,  weil  sie  doch  bei  der  Gesinnung  der  Richter  aussichtslos  schien, 
vielmehr  die  Gefahr  bestand,  daß  dann  der  Staatsanwalt  ebenfalls  wegen 
zu  geringen  Strafausmaßes  berufen  hätte,  also  noch  eine  Erhöhung  der 
Strafe  möglich  gewesen  wäre.  Adler  trat  dann  im  November    die  Haft   an. 


Adler  über  das  Davonlaufen. 

Auch  R  e  u  m  a  n  n  und  Bretschn  eider  sowie  Täubler,  Ellen- 
bogen und  andere  Sozialdemokraten  wurden  damals  verurteilt.  Reumann 
zu  zehn  Tagen  Arrest,  Täubler  zu  einem  Monat,  Ellenbogen  zu  vier  Wochen, 
Bretschneider  zu  sechs  Wochen  strengen  Arrests,  und  zwar  weil  er  „durch 
Handbewegungen  die  Menge  angewiesen  habe,  sich  fester  zusammen- 
zuschließen". Auf  Verlangen  des  Staatsanwalts  wurde  er  „wegen  Flucht- 
verdacht und  Gefahr  der  Wiederholung"  in  Haft  behalten;  erst  nächsten 
Tag  wurde  er  auf  Beschluß   des  Oberlandesgerichts  auf  freien  Fuß   gesetzt. 

Am  Abend  dieses  Tages  (13.  Juli)  fanden  wieder  zwei  Protestversamm- 
lungen gegen  den  Luegerschen  Wahlrechtsraub  statt.  Beim  Dreher  sprach 
Adler.  Die  Versammlung  war  überfüllt. 

Adler, 

bei  seinem  Erscheinen  stürmisch  akklamiert,  teilte  zunächst 
mit,  daß  Genosse  Bretschneider  nachmittags  enthaftet 
wurde.  Das  Oberlandesgericht  hat  sich  nicht  der  Ansicht  des 
Staatsanwalts  angeschlossen,  daß  die  Sozialdemokraten 
flu  cht  verdächtig  sind.  Der  junge  strebsame  Staats- 
anwalt weiß  nicht,  daß  wir  Sozialdemokraten  von  Wien 
nicht  fort  können,  so  gesund  es  für  uns  wäre,  endlich 
einmal  reine  Luft  zu  atmen,  weil  wir  die  Pflicht  haben,  hier 
Ordnung  zu  machen,  weil  wir  die  Pflicht  haben,  hier  zu 
bleiben,  um   an   Stelle  dieser   sumpfigen  Luft 


Adler  über  das  Davonlaufen  355 

reine  Luft  zu  erschaffen.  Das  würde  den  Herren 
passen,  daß  wir  davonlaufen  und  diese  unsere 
Pflicht  vernachlässigen  wollten.  (Beifall.)  Wenn 
wir  die  Luegerei  hier  in  Wien  bekämpfen,  so  kämpfen  wir 
zugleich  um  bessere  Zustände  in  ganz  Österreich,  denn  Wien 
ist  der  Kopf  dieses  Staates,  und  wie  immer,  stinkt  der  Fisch 
vom  Kopfe.  (Heiterkeit.)  Man  nennt  uns  schlechte  Patrioten, 
schlechte  Wiener.  Aber  wir  lieben  die  Stätte,  wo  wir  wohnen, 
wo  unsere  Kinder  leben  sollen,  und  weil  wir  sie  lieben, 
wollen  wir  nicht,  daß  dieses  Wien  verpfafft 
und  daß  die  nächste  Generation  kretinisiert 
wird.  Die  Schmach  der  Luegerei  empfinden  die  Herren 
Bürgerlichen  ebenso  wie  wir,  das  sei  zu  ihrer  Ehre  gesagt,  und 
sie  möchten  wie  wir,  daß  dieses  Joch  abgeschüttelt  werde,  und 
sie  wünschen  sehr,  daß  wir  alles  tun,  damit  das  geschehe.  Und 
die  Bürgerlichen  nehmen  sehr  lebhaften  Anteil  an  unserem 
Kampfe,  und  dieser  kann  ihnen  nicht  lebhaft  genug  sein.  Wir 
sind  uns  der  Pflicht  bewußt,  dem  Gefühl  der  Erbitterung,  die 
die  Wiener  Arbeiterschaft  erfüllt,  nur  so  weit  Rechnung  zu 
tragen,  als  es  der  Zweck  erheischt,  genau  alles  zu  erwägen  und 
nicht  mehr  Opfer  zu  bringen,  als  unbedingt  notwendig  sind. 
Wir  sind  gewiß  nicht  sentimental,  und  auf  ein  paar  Verhaf- 
tungen, auf  ein  paar  Monate  Zuchthaus  kommt  es  uns  schließ- 
lich auch  nicht  an,  aber  wir  stehen  auf  dem  Standpunkt,  daß 
auch  da  nur  so  viel  getan  werden  darf,  als  notwendig  ist,  und 
wir  fühlen  uns  verantwortlich  dafür.  Andere  Leute,  die  nicht 
verantwortlich  sind,  die  können  darüber  anders  denken.  Dem 
Kiebitz  ist  bekanntlich  kein  Spiel  zu  hoch. 

Adler   sprach    dann   über   die    Wahlreform   Luegers    und 
fuhr  fort: 

An  demselben  Tage,  wo  ich  durch  die  Polizei  eskortiert 
wurde,  ist  auch  Bürgermeister  Dr.  Lueger  poli 
zeilich  eskortiert  worden.  Allerdings  war  ich  der 
Gefangene  der  Polizei.  Aber  nicht  um  alles  in  der 
Welt  möchte  ich  so  von  der  Polizei  eskortiert 
werden  wie  der  Lueger.  Lieber  wollen  wir  alle  im 
Gefängnis  verrecken,  lieber  den  ganzen  Grimm  des  Straf- 
gesetzes auf  uns  niederprasseln  lassen,  lieber  wollen  wir  die 
Säbel  der  Polizei  auf  unseren  Köpfen  haben,  als  von  Polizei 
beschützt  zu  sein    wie  der  Lueger.  (Tosender  Beifall.) 


356  Adler  über  das  Davonlaulen 

Die  Zeit  ist  eine  ernste,  und  der  Kampf,  den  wir  zu 
führen  haben,  wird  nicht  dazu  geführt,  damit  wir  uns  auf  eine 
Katzbalgerei  mit  Herrn  Anger  einlassen.  Wir  haben 
Wichtigeres  zu  tun,  als  uns  vor  Gericht  darüber  herum- 
zuraufen,  ob  wir  mit  der  Hand  nach  rechts  oder  nach  links  ge- 
deutet haben,  und  Geschichten  von  einem  Stein,  die  noch  dazu 
nicht  wahr  sind,  zu  widerlegen.  Ich  habe  schon  von  Demon- 
strationen und  Steinwürfen  viel  gehört,  aber  daß  irgendwo 
ein  einziger  Stein  geworfen  wurde,  das  habe  ich  noch 
nie  gehört.  Ich  habe  auch  im  Ausland  schon  große  Demon- 
strationen gesehen,  und  ich  muß  gestehen,  daß  die  Wiener  die 
gutmütigste  und  geduldigste  Bevölkerung  sind,  die  es  gibt. 
Und  wenn  es  uns  bis  jetzt  gelungen  ist,  die  Ordnung  bei  solchem 
Demonstrationen  aufrechtzuerhalten,  dann  mögen  die  Leute 
acht  geben,  die  uns  heute  nicht  als  Demonstranten,  sondern 
als  Ordner  einsperren,  was  geschieht,  wenn  wir  das 
O  r  d  n  e  r  a  m  t  aufgeben  werden.  Der  Kampf,  der  jetzt 
geführt  wird,  ist  ein  schwerer  Kampf;  die  Arbeiter  müssen  da 
tapfer,  mutig,  entschlossen  sein,  sie  müssen  aber  weit  mehr  als 
das,  sie  müssen  a  u  s  d  a  u  e  r  n  d  sein.  Wir  versprechen,  mag 
geschehen  was  will,  und  vor  allem  mag  es  dauern,  solange  es 
will,  die  Wiener  Arbeiterschaft  wird  nicht  weichen,  bis  d'.ese 
Wahlreform  beseitigt  ist. 

Ein  Sturm  des  Beifalls  durchbrauste  den  Saal,  als  Adler  s<5ine  Rede 
beendet  hatte.  Die  Rufe:  Hoch  Adler!  Nieder  mit  dem  Wahlrechtsraubl  Nieder 
mit  Lueger!  nahmen  kein  Ende,  und  unter  allgemeiner  Bewegung  schloß  der 
Vorsitzende  M  a  h  r  die  Versammlung. 


VI. 
Adler  im  Arrest. 


Adler  im  Arrest  359 


In  dem  rasenden  Wirbel  von  Arbeit,  der  das  Leben  Victor  Adlers  dar- 
stellte, wären  die  Wochen,  die  er  von  Zeit  zu  Zeit  in  den  Bezirksgerichten 
und  im  Landesgericht  in  Haft  war,  geradezu  willkommene  Erholungspausen 
gewesen,  wenn  nicht  wieder  die  Sorge  um  das,  was  inzwischen  draußen 
geschehen  könnte  oder  sollte,  an  den  Nerven  geri&sen  hätte.  Aber  eine 
Wohltat  brachte  die  Haft  jedesmal:  den  Zwang,  abends  frühzeitig  und  brav 
schlafen  zu  gehen,  etwas,  was  draußeri  unmöglich  war,  weil  es  keinen  Abend 
ohne  Versammlung  oder  Sitzung  gab.  Die  günstige  Wirkung  dieser  un- 
gestörten Nachtruhe  durch  einige  W^ochen  od'er  Monate  überwog  die  gesund- 
heitlichen Schäden  der  Haft;  denn  Adler  wurde  bleicher,  aber  ruhiger  und 
doch  gesünder.  Ein  zweiter  wichtiger  Vorteil  der  Haft  war,  daß  Adler  wieder 
Zeit  bekam,  Bücher  zu  lesen.  Im  ersten  Heft  dieses  Werkes*)  ist  ein  Brief 
von  Engels  abgedruckt,  aus  dem  zu  ersehen  ist,  daß  sich  Adler  an  ihn 
wendete,  damit  er  ihm  angebe,  wie  er  im  Arrest  am  besten  den  zweiten 
und  dritten  Band  des  „Kapital"  studieren  („ochsen")  sollte,  sowie  ein  Brief 
Adlers  aus  dem  Bezirksarrest  Rudolfsheim  an  Engels  (15.  Juni  1895),  der 
so  anfängt: 

„In  wenigen  Tagen  ist  meine  Haft  abgesessen.  Dank 
meinem  Entschluß,  einmal  auch  mir  zu  leben  und  alles  »Zeii- 
liche«  für  ein  paar  Wochen  abzuschütteln,  ist  mir  die  Zeit  zu 
einer  so  genußreichen  und  ersprießlichen  ge- 
worden wie  keine  andere  seit  vielen,  vielen  Jahren.  Ich  habe 
»Kapital«  II  und  III  ganz  durchgearbeitet  und  fast  ganz  den 
T.  Band  und  »Zur  Kritik«  repetiert." 

Schlafen,  studieren,  lesen  —  das  waren  die  Genüsse,  auf  die  sich 
Adler  freute,  so  oft  er  eingesperrt  werden  sollte  .  .  . 

Es  wäre  aber  ganz  irrig  zu  meinen,  daß  er  selbst  im  Arrest  die  Arbeit 
ganz  hätte  lassen  können.  Frau  Emma  und  wir  alle  schmuggelten  ihm 
Briefe  und  Zeitungen  hinein,  offiziell  durfte  er  nur  die  amtliche  „Wiener 
Abendpost"  und  die  alte  „Presse"  halten,  von  denen  man  voraussetzte,  daß 
er  durch  sie  nicht  verdorben  werden  würde.  Oft  gelang  es  ihm,  mir  kleine 
^Glossen"  für  die  „Arbeiter-Zeitung"  zu  diktieren,  die  ich  mit  dem  Rücken 
gegen  den  im  Zimmer  anwesenden  Gefangenaufseher  gewendet,  stenographisch 
aufnahm,  indem  Adler  scheinbar  gesprächsweise  mir  sagte,  was  er  ins  Blatt 
bringen  wollte.  Die  Handhabung  der  Hausordnung  schwankte  echt  öster- 
reichisch.   Manchmal    wehte    plötzlich    ein    schärferer    Wind,    dann    wieder 


*)    Victor   Adler   und   Friedrich    Engels.     Wien    1922.    Wiener   Volks- 
buchhandlung. 


360      Zarte  polizeiliche  Fürsorge  bei  Strafantritt  und  Strafbeendigung 

drückte  der  Aufseher  beide  Augen  zu  und  wurde  schwerhörig.  In  dem  oben 
erwähnten  Briefe  Adlers  an  Engels  heißt  es  auch  am  Schlüsse: 

„Wann  ich  den  Brief  hinausschwärzen  kann, 
weiß  ich  nicht.  loh  kriege  zwar  Besuche,  aber  neuesten« 
sieht  man  mir  auf  die  Finger.  Die  Trottel  bilden  sich  nämlich 
fest  ein,  ich  arrangiere  von  hier  aus  alle  Demonstrationen,  und 
ich  bin  stolz  darauf,  daß  alles  ohne  mich  so  am  Schnürl  geht! !" 

Außer  der  politischen  Arbeit  und  wissenschaftlichen  Lektüre  legte 
Adler  immer  großen  Wert  darauf,  eine  ständige  regelmäßige  Beschäftigung 
für  ein  paar  Tagesstunden  im  Grefängnis  zu  haben.  Als  Zweckmäßigstes  er- 
S'Chienen  ihm  hiefür  Übersetzungsarbeiten.  Während  .seiner  viermonatigen 
Halft  im  Jahre  1890  übersetzte  er  Stepniaks  Werk  „Der  russische  Bauer" 
aus  dem  Englischen  und  verschiedene  Kapitel  aus  Werken  des  englischen 
Sozialisten  E.  Belfort-Bax.  Das  erstere  Buch  erschien  in  seiner  Über- 
setzung 1893  bei  I.  H.  W.  Dietz,  Stuttgart,  einige  der  Artikel  von  B  e  1  f  o  r  t- 
Bax  in  der  „Neuen  Zeit",  Band  Xl/2,  1893. 

Zarte  polizeiliche  Fürsorge  bei  Strafantritt 
und  Strafbeendigung. 

Den  Antritt  der  ersten  Arreststrafe,  die  der  Holzinger-Senat  über 
Adler  verhängt  hatte,  kündigte  die  „Arbeiter-Zeitung"  Nr.  7  vom  14.  Februar 
1890  so  an:  „Dr.  Victor  Adler  tritt  am  17.  Februar  seine  viermonatige  Arrest- 
strafe an  und  ers^ucht  die  Genossen,  von  diesem  Datum  an  die  Briefe  redaktio- 
nellen Inhaltes  direkt  an  die  Redaktion  der  „Arbeiter-Zeitung",  VI,  Gumpen- 
dorferstraße  79,  private  Mitteilungen  aber  an  Frau  Emma  Adler,  VI,  Wind- 
mühlgasse 30  A,  zu  adressieren." 

Der  Strafantritt  verzögerte  sich  aber  dann  um  einige  Tage.  Am 
21.  Februar  1890  schrieb  Adler  in  der  „Arbeiter-Zeitung": 

Überflüssige  Vorsicht.  Am  letzten  Montag  war  das  Wiener  Landes- 
gericht wieder  einmal  im  Belagerungszustand.  Ganze  Scharen  von  Detektivs 
umlaigerten  es  und  die  Sicherheitswaehe  der  Umgebung  war  verstärkt.  Man 
erwartete  nämlich  irgendeine  große  Demonstration  oder  sonst  eine  „Störung 
der  öffentlichen  Ruhe  und  Ordnung",  wenn  Genosse  Dr.  Adler  seine  Strafe 
antritt.  Nun  mußte  derselbe  seine  Vergnügungsreise  dringender  Privatange- 
legenheiten halber  um  einige  Tage  aufschieben  und  so  kam  nicht  einmal  der 
Sträfling  selber,  und  die  Herren  Spürbeamten  machten  ihre  Spaziergänge 
ganz  umsonst.  Da  Genosse  Adler  in  den  nächsten  Ta^en  wirklich  seine 
Strafe  antritt,  möchten  wir  im  Interesse  des  Staatsschatzes  beantragen, 
solch  überflüssige  Ausgaben  zu  vermeiden.  Sozialdemokraten  machen  nicht, 
wie  etwa  Antis-emiten,  jedesmal  eine  Demonstration,  wenn  einer  von  ihnen 
eingesperrt  wird.  Es  ist  ihnen  das  ja  nichts  so  Rares  und  sie  würden  zuviel 
Arbeitslohn  verlieren,  wenn  sie  jedem  Sozialdemokraten  das  Ehrengeleite  ins 
Gefängnis  geben  sollten.  Also  die  „öffentliche  Ruhe  und  Ordnung"  nebst 
ihren  Hütern  kann  ganz  ruhig  sein;  wir  feiern  derlei  Feste  ganz  still  und 
ruhig.  Wir  haben  nämlich   Wichtigeres  zu  tun. 


Erinnerungen  361 

Über  die  Unastände,  unter  denen  sich  die  Entlassung  aus  der  Halt  voll- 
zog, schrieb  Adler  in  Nr.  26  der  „Arbeiter-Zeitung"  vom  27.  Juni  1890 
diese  lustige  Glosse: 

Die  zarte  Aufmerksamkeit,  welche  die  Wiener  Polizeidirektion  unseren 
Genossen  gegenüber  entfaltet,  ist  wahrhaft  rührend.  Als  am  letzten  Samstag, 
6  Uhr  früh,  Genosse  Dr.  Adle  r  das  graue  Haus  des  Landesgerichtes  verließ, 
wurde  ihm  die  unverhoffte  Freude  zuteil,  sofort  den  langentbehrten  Anblick 
von  vier  jener  regen&chirmbewaffneten  Gentlemen,  die  gewöhnlich  so  eifrig 
die  Wolkenbildung  studieren,  genießen  zu  können.  Zwei  dieser  Herren,  welche 
darum  „Defektives",  Entdecker",  heißen,  weil  ein  geübtes  Auge  sie  sofort 
entdeckt,  folgten  dem  entlassenen  Sträfling,  welcher  in  der  staatsigefährlichen 
Gesellschaft  seiner  Frau  und  seiner  Kinder  seines  Weges  ging,  noch  eine 
ganze  Weile,  wahrscheinlich  um  sich  davon  zu  überzeugen,  ob  die  Kur 
gelungen  und  die  „Bessening"  erfolgt  sei.  Ein  Sicherheitswachinspektor  an 
der  Spitze  der  ».bewaffneten  Macht"  erschien  erst  eine  Stunde  später  und 
konnte  daher  seinem  Drange  nach  Höflichkeit  nicht  mehr  genügen.  Dafür 
erhielt  das  Haus,  avo  Genosse  Adler  wohnt,  eine  Ehrenwache  von  drei  Zivil- 
wachleuten, welche  konstatieren  konnten,  daß  Sozialdemokraten  sich  ebenso- 
wenig aufregen,  wenn  einer  entlassen,  als  wenn  einer  eingesperrt  wird.  Der 
ungewöhnliche  Aufwand  an  Polizei  machte  etwas  Aufsehen  in  den  Straßen. 
Sonst  wurde  die  öffentliche  Ruhe  und  Ordnung  nicht  gestört. 

In  der  gleichen  Nummer  ersichien  bereits  ein  mit  v.  a.  gezeichneter 
Artikel  „Ka  1 1  e  s  B  1  u  tl",  worin  er  vor  dem  nach  dem  1.  Mai  ausgebrochenen 
Streikfieber  warnte  und  an  das  Verantwortlichkeitsgefühl 
aller,  die  in  der  Arbeiterbewegung  standen,  appellierte. 

Außerdem  brachte  diese  Nummer  der  ..Arbeiter-Zeilung"  folgende 
Danksagnng  Adlers: 

Allen  Freunden  und  Genossen,  die  mir  gelegentlich 
meiner  Enthaftung  Grüße  zukommen  ließen,  herzlichsten 
Dank!  Indem  ich  meinen  Platz  im  Dienste  unserer  Sache 
wieder  antrete,  hoffe  ich  mich  der  Ehre,  welche  die  Verfol- 
gung von  Seiten  unserer  Gegner  bedeutet,  aucli  fernerliin 
würdig  erweisen  zu  dürfen. 

Hoch   die   internationale  Sozialdemokratie! 
Mit  Brudergruß  mid  ITand.schlag 

Dr.  V.  Adler 


Erinnerungen. 


Einzelne  kleine  Geschichten  aus  jener  Zeit  sind  mir  im  Gedächtnis 
geblieben.  Adler  selbst  erzählte  mit  großem  Vergnügen  folgendes  Erlebnis 
während  des  Absitzens  der  strengen  Arreststrafe  im  Landesgericht,  die  er 
vom  Holzinger-Ausnahmesenat  wegen  der  Artikel  der  „Gleichheil"  erhalten 
hatte: 


362  Erinnerungen 

Adler  ging  täglich  in  der  dazu  bestimmten  Stunde  im  Gefängnishof 
auf  und  ab,  unter  Obhut  der  Aufseher.  Im  Hofe  spielte  ein  Knabe,  ein  Auf- 
seherskind, mit  einem  Reifen.  Da  schnellte  ihm  der  Reifen  aus  der  Hand 
und  flog  auf  einen  Baum.  Der  Bub  kam  bittend  zu  dem  im  Kreis  wandelnden 
Adler:  „Gehns,  bitt'  schön,  tans  mein'  Reif  oba,  Herr  Raub  er!"  Der 
Räuber  tat  so  und  die  Erinnerung  machte  ihm  stets  große  Freude. 

*  * 

Als  Adler  das  erstemal  „einrückte",  behandelte  ihn  der  Gefangen- 
aufseher sehr  schroff  und  war  sehr  mürrisch.  Adler  klopfte  ihm  auf  die 
Schulter  und  sagte  zu  ihm:  „Geht's  Ihnen  denn  gar  so  gut,  daß  Sie  so 
schreien?"  worauf  der  Aufseher  zusammenfuhr  und  sagte:  :,San  Se  am  End' 

der  Dr.  Adler?" 

*  * 

Einmal  gegen  Abend  hörte  Adler  in  der  Zelle  von  weilem  aut  einem 
Klavier  Beethoven  spielen.  Er  rückte  den  Tisch  zum  Fenster,  stellte  den 
Sessel  -darauf  und  kam  so  zum  Fenster,  um  autf  diese  Weise  besser  zu  hören. 
Dooh  schon  nach  wenigen  Minuten  wurde  der  Kunstgenuß  durch  die  Stimme 
des  Wachtpostens  im  Hof  unterbrochen,  der  hinaufschrie:  „Raubersbua, 
elendiger,    wirst    net    glei    obagehn!" 

*  * 

Am  16.  .luni  1890  fand  eine  Sonnenfinsternis  statt.  Den  Häftlingen, 
die  im  Hof  spazieren  gingen,  wurde  von  einem  Aufseher  ein  geschwärztes 
Glias  geliehen,  um  das  Naturereignis  verfolgen  zu  können,  und  Victor  Adler 
wurde  erlaubt,  ihnen  im  Ho»f  des  Land'esgerichtes  einen  Vortrag  über  das 
Wesen  der  Sonnenfinsternis  zu  halten.  Für  viele  der  Häftlinge 
bedeutete  es"  die  erste  theoretische  Bekanntschaft  mit  diesem  astronomischen 

Ereignis. 

*  * 

Als  Adler  einmal,  ich  glaube,  es  war  die  zweite  Haft,  beim  Bezirks- 
gericht eine  Strafe  abzusitzen  hatte,  kam  ihm. die  Zelle  nicht  genug  reinlich 
vor.  Er  machte  sich  eine  Papiertüte,  sammelte  den  Staub  aus  den  Zimmer- 
ecken  darin  und  verlangte,  daß  diese  Substanz  auf  Tuberkelbazillen 
untersucht  werde.  Natürlich  begnügte  er  sich  damit,  daß  die  Zelle 
gründlich  aufgewaschen  wurde.  Ob  er  dabei  dem  Aufseher  einen  Vortrag 
über  die  Lungentuberkulose  hielt,  weiß  ich  nicht.  Ausgeschlossen  ist  es  nicht. 

*  * 

Ein  anderer  Vorfall,  der  mit  der  Göfängnishygiene  im  Zusammenhang 
stand,  ereignete  sich  bei  seiner  ersten  Strafe,  wo  der  „Fazi"  (der  Sträfling, 
der  für  Hausarbeiten  verwendet  wird)  ihm  stets  die  Blechschale  mit  der 
Suppe  in  der  Form  brachte,  daß  er  sie  zwischen  die  Finger  nahm  und  sich 
so  die  Finger  in  der  Suppe  befanden.  Adler  versuchte  ihm  zart 
nahezulegen,  daß  das  nicht  sehr  appetitlich  sei,  indem  er  sagte:  „Aber 
Sie  werden  sich  doch  die  Hände  verbrennen,  wenn  Sie  sie  in  die  Suppe 
tauchen."  Worauf  der  gute  Mann  antwortete:  -,0  na,  dös  bin  i  schon  so 
g' wohnt,  dös  mocht  mir  gor  nix." 


Erinnerungen  363 

Adler  hatte  bei  allen  seinen  Strafen  die  Rechte  eines  politischen 
Gefangenen,  konnte  daher  eigene  Kleider  tragen  und  sich  selbst  verköstigen. 
Im  Landesgericht  hatte  er  gemäß  dem  Reglement  das  Recht,  aus  der  Landes- 
gerichtsküche um  1  fl.  5  kr.  täglich  auszuspeisen. 

Unter  besonderen  Scherereien  der  Haft  hatte  er  nur  nach  seinem 
Antritt  der  Strafe  von  vier  Monaten  im  Landesgericht  zu  leiden.  Es  wurde 
ihm  das  Rauchen  verboten  und  der  plötzliche  Nikotinentzug  bewirkte  einen 
so  starken  Zusammenbruch,  daß  er  nach  einigen  Tagen  wieder  die  Erlaubnis 
erhielt,  eine  Zigarre  täglich  zu  rauchen,  was  ihm  als  politischen  Gefangenen 

zustand. 

*  * 
* 

Während  Adler  im  Arrest  des  Bezirksgerichtes  Neubau  vier  Wochen 
absaß,  ging  wieder  einmal  ein  „schärferer  Wind",  und  der  Cefängnisarzt  ver- 
weigerte ihm  die  eigene  Verköstigung  trotz  eines  chronischen  Darmkatarrhs, 
an  dem  Adler  litt.  Adler  kam  ziemlich  herunter,  und  erst  durch  Intervention 
von  Freunden  gelang  es,  ihm  die  Eigenverköstigung,  die  bei  jedem  politischen 
Häftling  selbstverständlich   sein  sollte,  wieder  zu  ermöglichen. 

*  * 

* 

Adler  hatte  immer  Einzelhaft,  nur  im  Jahre  189-i  im  Bezirksgericht 
Sechshaus  war  er  einen  Monat  mit  anderen  Genossen  zusammen.  Zuerst  mit 
Ellenbogen,  der  dann  von  Schuhmeier  abgelöst  wurde.  Bei  dieser 
gemeinsamen  Haft,  die  im  Sommer  stattfand,  richtete  er  eine  Art  Wasser- 
kur ein,  indem  sich  die  beiden  Häftlinge  täglich,  mit  einem  Wass^^rschaif 
un<l  einer  Gießkanne  abgössen.  Adler  hat  aber  später  immer  wieder  gesagt, 
daß  die  Einzelhaft  doch  weitaus  vorzuziehen  sei,  da  man  durch  die  Gesell- 
schaft zu  sehr  vom  Arbeiten  abgelenkt  werde. 


Während  Adler  als  reueloser  Sünder  in  ein^m  Bezirksgericht  eine 
Arreststrafe  absaß,  wurde  eine  Verhandlung  bei  einem  anderen  Bezirksgericht 
gegen  ihn  ausgeschrieben.  Er  wurde  daher  von  einem  Gefangenaufseher 
aus  dem  Arrest  in  das  Bezirksgericht  des  anderen  Bezirkes  geleitet.  Der 
Mensch  war  kein  Unmensch  und  führte  Adler  nicht  nur  zum  Bezirksgericht, 
sondern  auch  in  s«ine  Wohnung  zu  seiner  Familie,  die  über  den  wirklich 
unerwarteten  Besuch  ebenso  erfreut  als  überrascht  war.  Adler  und!  sein 
Wächter  aßen  etwas,  und  dann  ging  es  wieder  zurück  in  den  Kotter.  Der 
Aufseher  riskierte  damals  wirklich  etwas.  Sollte  er  noch  am  Leben  sein, 
möge  er  wissen,  daß  er  eine  gute  Tat  vollbracht  hat. 


Im  Wiener  Landesgericht  saß  Adler  die  letzte  Arreststrafe  (1900) 
wegen  des  «.Auflaufs"  ab.  Gleichzeitig  mit  ihm  büßten  dort  R  e  u  m  a  n  n, 
Bretschneider,  Täubler  die  Auflehnung  gegen  den  Luegerischen 
Wahlrechtsschwindel.  Beim  täglichen  Spaziergang  im  Hofe  trafen  sie  sich  und 
sprachen  unter  Aufsicht  miteinander  über  Parteidinge.  Als  Lektüre  hatte 
Adler,  wie  Täubler  dem  Herausgeber  erzählt,  damals  im  Gefängnis  den 
eben  erschienenen  ersten  Band  von  Bismarcks  Erinnerungen  und 
Die   Geschichte   der  englischen   Trade  Unions   von   Beatrice 


364  Mit  Victor  Adler  im  Arrest 

und  Sidney  Webb;  die  anderen  Verbrechier  lasen  Goethes  Werther 
v.nd  Wilhelm  Meisters  Lehr-  und  Wanderjahre  sowie  Heine. 
Während  dieser  Haft  erledigte  Adler  aber  auch  die  Einrichtung  einer 
eigenen  Druckerei  für  die  „Arbeiter-Zeitung"  und  die  Übersiedlung  des 
Blattes  in  die  Mariahiliferstraße.  Ohne  den  „Auflauf  hätte  dieser  längst 
notwendige  Schritt  vielleicht  noch  längere  Zeit  gebraucht. 


Eines  Abends  arbeitete  Adler  gerade  in  seiner  Stube  in  der  Redaktiun 
der  „Arbeiter-Zeitung"  in  der  Schwarzspanierstraße.  Da  erschien  ein  Herr, 
der  den  angesammelten  Redakteuren  —  es  war  sehr  eng  dort  in  der  Schwarz- 
.spanierstraße,  es  gab  noch  keine  „eigenen  Tobzellen"  —  erklärte,  er  müsse 
Herrn  Dr.  Adler  unbedingt  sprechen.  Obwohl  Adler  sehr  beschäftigt  war. 
ließ  er  sich  nicht  abweisen.  Also  kam  Adler  etwas  verärgert  heraus.  Herz- 
lich begrüßte  ihn  der  ifremde  Herr:  „Ja,  kennen  S'  mi  denn  net  mehr,  Herr 
Doktor?  Freili,  wir  hab'n  uns  ja  schon  so  lang'  net  g'seh'n.  Wann  sehen 
wir  uns  denn  wieder?...  I  bin  ja  der  G  e  f  a  n  g  e  n  a  u  f  s  e  h  e  r". 
und  er  nannte  seinen  Namen.  Nun  war  Adler  orientiert.  Er  begrüßte  den 
Herrn  ebenso  herzlich  und  gab  ihm  eine  Zigarre.  Dann  nahm  der  freundliche 
Mann  Abschied  und  sprach  die  in  diesem  Munde  etwas  ominösen  Worte: 
■  \  u  f  b  a  1  d  i  g  e  s  Wiedersehen,  Herr  Doktor! " 


Mit  Victor  Adler  im  Arrest. 

Von  Wilhelm  Ellenbogen. 

Die  Wahlrechtskämpfe  hatten  Mitte  der  neunziger  Jahre  eine  ganze 
Reihe  von  schweren  innerpolitischen  Wirkungen  gezeitigt:  Taaffes  Wahlrecht 
und  Sturz,  das  Ministerium  Windischgrätz-Plener  und  dessen  Sturz  und 
das  Ministerium  Badeni  mit  der  fünften  Kurie,  ein  Vorschlag,  der  von  der 
Arbeiterschaft  zunächst  aufs  heftigste  bekämpft  wurde.  Der  polnische  Graf. 
1-isher  Statthalter  von  Galizien,  und  als  solcher  nicht  gewohnt,  politische 
Angriffe  der  Arbeiterschaft  zu  dulden,  glaubte  mit  Staatsanwalt  und  Polizei 
der  rebellischen  Arbeiterbewegung  Herr  zu  werden.  Ein  Hagel  von  Anklagen 
prasselte  auf  die  Wortführer  der  Sozialdemokratie  nieder,  eine  Legion  von 
Ehrenbeleidigungsprozessen  beschäftigte  die  Gerichte,  massenhafte  Ver- 
urteilungen folgten  und  die  Staatsanwälte  unterließen  es  nicht,  in  jeder 
folgenden  Gerichtsverhandlung  durch  den  Hinweis  auf  das  mehrfach  be- 
makelte Vorleben  des  Angeklagten  eine  Steigerung  der  Strafdauer  herbei- 
zuführen. 

So  waren  denn  alle  Bezirksgerichte  mit  uns  hartgesottenen  Gewohn- 
heitsverbrechern überfüllt,  so  sehr,  daß  sich  die  angenehme  Gelegenheit 
ergab,  unsere  Einzelhaften  in  kameradschaftlicher  Gesellschaft  abzusitzen. 
Vier  Wochen  zum  Beispiel,  die  ich  unter  anderem  in  Rudolfsheim  zu  erledigen 
hatte,  wurden  mir  dadurch  erleichtert,  daß  ich  in  den  ersten  vierzehn  Tagen 
Jakob  R  e  u  m  a  n  n,  den  jetzigen  Bürgermeister  von  Wien,  in  der  zweiten 
flälfte  Victor  Adler  zu  Gefährten  bekam. 


Mit  Victor  Adler  im  Arrest  365 

Adler  erschien  mit  einer  Fuhre  von  Büchern  und  einem  Berg  von 
Bettzeug,  das  er  wegen  des  schon  damals  vorhandenen  Emphysems  und 
der  dadurch  nötig  gewordenen  aufrechten  Lagerung  beim  Schlafen  benötigte. 
Sein  Erstes  war,,  als  er  den  schönen  sonnigen  Saal  (es  war  im  Juni  1894) 
betrat,  sich  vorsichtig  nach  der  Zeiteinteilung  zu  erkundigen.  Nach  kurzer 
Besprechung  wurde  alles  geordnet.  Zwischen  8  und  9  Uhr  Frühstück,  hierauf 
arbeitet  jeder  'für  sich,  ohne  den  anderen  zu  stören,  12  bis  1  Uhr  mittag, 
hierauf  Nachmittagsschläfchen.  2  bis  3  Uhr  Spaziergang  im  Hof,  hierauf  Be- 
suche, dann  Arbeit.  8  bis  9  Uhr  Nachtmahl,  Lektüre,  Schlaf. 

Da  ich  mit  der  Ausarbeitung  eines  Vortrages  für  den  Hygienischen 
Kongreß  in  Budapest  beschäftigt  war  („Soziale  Hygiene  der  kleingewerblichen 
Arbeiter  Wiens")  und  zu  diesem  Zwecke  eine  Menge  statistischer  Arbeiten 
vornehmen  mußte,  war  mir  diese  Regelung  höchst  willkommen.  Adler 
benützte  diese  Arbeitszeit,  um  eine  ganze  Menge  Lektüre,  hauptsächlich  eng- 
lische Parteiliteratur,  nachzuholen  und  wiederholt  das  „Kapital"  von  Marx, 
das  sein  ständiger  Begleiter  in  den  Arrest  war,  zu  studieren.  Lautlos  saßen 
wir  bei  unserer  Beschäftigung,  kaum  daß  da  und  dort  ein  kommentierendes 
Wort  die  Hirnarbeit  verriet. 

Um  so  lebhafter  verging  dann  der  Nachmittag.  Schon  der  Spaziergang 
war  äußerst  anregend,  da  wir  dabei  alle  Seiten  der  Parteitätigkeit  besprachen 
und  Adlers  trockener  Humor,  der  mit  zwei  witzigen  Worten  jede  Person 
und  jede  Situation  plastisch  zu  charakterisieren  verstand,  die  Diskussion 
wunderbar  belebte.  Daß  dabei  auch  ich  Gegenstand  seiner  bissigen  Be- 
merkungen war,  versteht  sich  von  selbst,  was  aber  selbstverständlich  die 
fröhliche  Gemütlichkeit  des  Beisammenseins  nicht  im  geringsten  störte. 
:, Gemütlichkeit!"*  Er  hat  dieses  Wort  und  diesen  Begriff  gehaßt,  und  doch 
hat  auch  sein  Wesen  den  Boden,  aus  dem  wir  alle  entwachsen  waren,  nicht 
verleugnen  können,  diese  geheimnisvollen  Säfte  und  Aromen,  die  die  öster- 
reichische Nuancierung  unseres  Charakters  verursachen.  Auch  in  seinem 
kältesten  Spott,  in  seinem  härtesten  Urteil  lag  soviel-  Wärme,  soviel  'freund- 
liche Güte,  soviel  Nachsicht"  und  Verzeihung,  kurz,  alles  im  Endeffekt  be- 
trachtet,  soviel    „Schlamperei"! 

So  erzählte  er,  wie  er  unlängst  in  einer  neuen  Anklagesache  zum 
Untersuchungsrichter  zitiert  worden  sei  und  ihm  auf  die  Frage,  was  er  auf 
die  Beschuldigung  zu  erwidern  habe,  gemütlich  geantwortet  habe:  „Das  ist 
echt  österreichisch!"  „Was  denn?"  „Daß  Sie  mich  anklagen,  statt  die 
Polizei  wegen  ihrer  Dummheit  zur  Verantwortung  zu  ziehen."  Der  Unter- 
suchungsrichter war  natürlich  sprachlos. 

Bei  einem  dieser  Spaziergänge  gesellte  sich  auch  der  Polizeibezirksleiter 
von  Rudolfsheim  nach  höflicher  Anfrage,  ob  es  gestattet  sei,  zu  uns.  Ihm 
unterstand  auch,  wenn  ich  nicht  irre,  die  Leitung  unseres  Arrestes.  Im 
politischen  Gespräch  mit  uns  auf  und  ab  wandelnd,  versicherte  er,  daß  es 
schon  zu  dumm  sei,  diese  ewigen  Anklagen  der  Herren.  Er  habe  seine 
Relationen  über  unsere  Versammlungsreden  so  harmlos  als  möglich  abgefaßt, 
um  keinen  Anhaltspunkt  für  ein  Verfahren  zu  geben.  Das  nächstemal  werde 
er  überhaupt  nichts  mehr  im  Detail  berichten.  Adler  tröstete  ihn:  „Machen 
S'  Ihnen  nix  draus.  Das  Anklagen  ist  Ihr  Geschäft,  das  Sitzen  das'unsrige. 
Und  's  geht  uns  beiden  ganz  gut  dabei." 


366  Mit  Victor  Adler  im  Arrest 

Gegen  halb  4  Uhr  wurden  wir  gewöhnlich  ins  Haus  gerufen,  es  sei 
Besuch  da.  Das  waren  die  vergnüglichsten  Augenblicke.  Und  ich  muß  sagen, 
ich  wenigstens  habe  in  meinem  Leben  nie  soviel  Besuche  empfangen  wie 
im  Arrest,  insbesondere  aber  damals,  als  Adler  dabei  war.  Die  Behandlung 
der  politischen  Häftlinge  war  auch  in  dieser  Beziehung  äußerst  wohlwollend, 
ja  geradezu  elegant.  Unsere  Freiheit  war  so  groß,  daß  ich  einmal  sogar  ruhig 
auf  die  Gasse  gehen  konnte,  mir  beim  Greißler  ein  Paar  Frankfurter  zu  kaufen. 

Alles,  was  in  der  Partei  eine  Funktion  hatte,  kam  Adler  besuchen. 
Es  gab  keine  Parterfrage,  die  man  nicht  vorher  mit  ihm  besprechen  zu  müssen 
glaubte,  bei  der  man  nicht  seinen  Rat  einzuholen  sich  verpflichtet  fühlte. 
Man  sah  hier  förmlich,  wie  in  seiner  Hand  alle  Fäden  zustammenliefen  und 
wie  weit  über  die  Partei  hinaus  sein  Einfluß  tief  in  die  Verstrickungen  der 
österreichischen  Politik  hineinreichte.  Der  häu-figste  Gast,  außer  Adlers  Frau, 
war  Engelbert  Ferner  storfer.  Mit  ihm  wurde  die  Haltung  im  Reichsrat, 
wo  er  damals  mit  Kronawetter  der  einzige  Vertreter  der  Arbeiterinteressen 
war,  genau  durchgesprochen.  Gerade  damals  bereitete  er  eine  seiner 
glänzendsten  Reden  —  wenn  ich  nicht  irre,  die  über  die  Schießereien  in 
Falkenau  und  Ostrau*)  —  vor.  Ihre  Lektüre  hat  mich  im  Arrest  furchtbar 
erschüttert.  Am  lustigsten  war  es,  wenn  Otto  Witteis  höfer  kam.  Dieser 
Mann  war  ein  Finanzfachmann  ersten  Ranges,  von  blendendem,  umfassen- 
dem nationalökonomischen  Wissen,  durch  und  durch  ein  Genosse,  wenn  er 
es  auch  offiziell  nicht  kundgab.  Er  hatte  wegen  irgendeiner  Äußerung  oder 
Handlung,  die  ihm  seine  soziale  und  politische  Überzeugung  eingab,  seine 
Bankidirektorstelle  aufgeben  müssen.  Adler  brachte  ihm  eine  außerordent- 
liche Wertschätzung  entgegen,  und  seine  wirtschaftlichen  Artikel  bildeten 
immer  Glanzleistungen  der  „Arbeiter-Zeitung".  Dabei  ein  fröhlicher  Mensch 
mit  lebhaftem,  sonnigem  Temperament.  Wenn  er  kam,  scholl  unaufhörliches 
Lachen  durchs  Gefängnis.  Er  selbst  schrie  und  trompetete  so  laut,  daß  die 
ganze  Umgebung  in  Aufruhr  geriet.  „Was  sagen  Sie,  wie  der  Kerl  brüllen 
kann?"  sagte  Adler,  nachdem  Wittelshöfer  eine  Stunde  lang  mit  gellendem 
Geschrei  zwischen  der  Erörterung  der  Bevorzugung  der  adeligen  Bierbrauer 
und  den  Aussichten  des  allgemeinen  Wahlrechtes  jüdische  Anekdoten 
erzählt  hatte. 

Abends  setzten  wir  die  Erörterungen  über  Parteifragen  fort,  bis 
wir  uns  ins  Bett  legten.  Adler,  schon  damals  etwas  schwerer  atmend,  saß 
aufrecht  in  seinem  Bett,  bei  seiner  Petroleumlampe  lesend.  Mich,  der  zeit- 
lebens an  gutem  Schlaf  keinen  Mangel  gelitten  hatte,  umfingen  Morpheus' 
Arme  früher. 

Ich  habe  immer  Adlers  unmeßbaren,  unmerklichen,  aber  intensiven 
Einfluß  auf  die  Denkweise  und  die  menschliche  und  Parteimoral  seiner  Um- 
gebung empfunden.  Am  stärksten  in  jenen  unvergeßlichen  vierzehn  Tagen, 
da  er  unmittelbar  und  stündlich  auf  mich  selbst  wirkte. 


*)  Pernerstorfer  sprach  am  10.  Mai  1894  im  Plenum  und  am  1.  Juni 
1894  im  Gewerbeausschuß  über  diese  Frage.  Vergleiche  „Die  Ereig- 
nisse von  Falkenau  und  Ostrau  vor  dem  Parlament".  Wien,  Volksbuch- 
handlung, 1894. 


Als  der  Wahlreformentwurf  veröffentlicht  wurde  367 

Als  der  Wahlreform entwurf  veröffentlicht 

wurde  ... 

Von    Friedrich  A  u  s  t  e  r  1  i  t  z. 

Es  war  im  Juni  1895.  Der  Doktor  saß  wieder  einmal  im  Arrest  — 
damals  so  ziemlich  jedes  Jahr  —  und  wir  warteten  auf  den  Wahlreform- 
entwurf des  Ministeriums  Windischgrätz-Plener.  Das  war  das  Ministerium 
der  Koalition,  die  sich  zur  Verhinderung  der  Taaffeschen  Wahlreform 
gebildet  hatte;  es  umfaßte  die  gesamte  Plenerei,  die  sich  damals  die  Ver- 
einigte Deutsche  Linke  nannte,  den  sogenannten  Zentrumsklub,  den  Graf 
Hohenwart  befehligte,  und  die  deutschen  Klerikalen,  die  Südslawen  und 
was  es  sonst  noch  an  Klerikalen  im  Lande  gab,  in  sich  schloß,  und  den 
Polenklub  unter  Führung  Jaworskis.  Dieses  glorreiche  Ministerium  hatte 
zwar,  nachdem  es  den  Taaffeschen  Entwurf  begraben,  die  Wahlreform  als 
seine  „erste  und  vornehmste  Aufgabe"  bezeichnet;  hatte  es  aber  von  No- 
vember 1893  bis  Juni  1895  nicht  einmal  zu  einem  Gesetzentwurf  gebracht, 
vielmehr  die  ganze  Sache  in  ein  Subkomitee  des  Wahlreformausschusses 
abgeschoben.  (Wie  viel  „Glossen"  sind  damals  in  der  „Arbeiter-Zeitung" 
erschienen,  die  anhoben :  Das  Subkomitee  . . .)  In  diesem  Subkomitee  führte 
der  tirolerische  Herr  v.  Dipauli  das  Wort,  und  die  Hauptfrage  war, 
nachdem  das  gleiche  Wahlrecht  vorweg  außer  Frage  stand,  wie  man  die 
Kurie  der  neuen  Wähler  einrichten  solle,  nämlich  es  verhindern  könnte, 
daß  die  braven  „kleinen  Leute"  von  den  schlimmen  Arbeitern  nicht  infi- 
ziert werden.  Nämlich  da  in  den  alten,  leinen  Kurien  nur  die  Steuerzahler 
Aufnahme  fanden,  die  an  direkter  Steuer  fünf  Gulden  zahlten,  so  wären 
in  die  Kurie  „der  bisherigen  Nichtwähler"  natürlich  auch  Steuerzahler 
gekommen,  eben  alle  unter  fünf  Gulden,  und  mit  ihnen  hätten  in  derselben 
Kurie  die  Arbeiter  gewählt,  und  da  wären  die  Steuerzahler  von  den  Arbeitern 
verdorben,  wären  allmählich  gar  selber  Sozialdemokraten  geworden.  Das 
nannte  man  damals  —  warum,  weiß  ich  noch  heute  nicht  —  den  Papinischen 
Topf,  und  also  war  es  das  Bestreben  aller  Zünftler  und  Gewerberetter,  die 
steuerzahlenden  Schäflein  von  der  Berührung  mit  den  Arbeitern  fern- 
zuhalten. Das  sollte  nun  durch  eine  Teilung  dieser  neuen  Kurie  „der 
bisherigen  Nichtwähler"  in  zwei  Unterkurien  erfolgen :  und  daran  wurde 
in  jenem   Subkomitee  anderthalb  Jahre  gebraut. 

Inzwischen  war  die  Stimmung  unter  den  Arbeitern  immer  erregter 
geworden.  Kein  Wunder,  denn  die  Wahlreform,  die  ihnen  ihr  Recht  geben 
sollte,  wurde  offensichtlich  verschleppt!  Nun  wurde  angekündigt,  der  Ent- 
wurf des  Subkomitees  werde  am  Samstag  vor  Pfingsten  herauskommen. 
Aber  da  man  sich  nicht  im  unklaren  darüber  war,  was  aus  der  Wahlreform, 
die  man  da  zurechtgekleistert  hatte,  herauskommen  werde,  verschob  man 
die  Veröffentlichung  auf  Pfingstmontag;  das  schien  ein  weniger  gefährlicher 
Tag.  Also  wurde  der  Entwurf  erst  am  Pfingstmontag  ausgegeben.  Der  Ent- 
wurf war  wohl  das  Blödeste,  was  jemals  an  Wahlreformen  ausgesonnen 
wurde.  Es  sollten  47  neue  Abgeordnete  „kreiert"  werden,  von  denen  34  in 
eine  Kurie  der  Steuerzahler  (unter  fünf  Gulden)  und  13  „in  einer  für  die 
krankenversicherten     Arbeiter     zu     bildenden      besonderen     Wählerklasse" 


368  Als  der  Wahlreformentwurf  veröftentlicht  wurde 

gewählt  werden  sollten.  Also  unter  400  Mandaten  13  für  die  Arbeiter! 
Danach  hätten  die  Arbeiter  von  Oberösterreich,  Salzburg,  Tirol  und  Vorarl- 
berg zusammen  einen  Abgeordneten  (natürlich  indirekt)  zu  wählen 
gehabtl  Ein  Abgeordneter  wäre  von  den  Arbeitern  in  Dalmatien,  Krain, 
Istrien,  Görz  und  Gradiska  und  Triest  zu  wählen  gewesen!  Kurz,  es  war 
ein  Entwurf,  bei  dem  man  nicht  gewußt  hat,  ob  die  Dummheit  größer  ist 
als  die  Schufterei. 

Aber  damals  war  uns  gar  nicht  geheuer  zumute,  und  ich  weiß  noch 
heute,  wie  niedergedrückt  ich  war,  als  ich  den  Entwurf  Pfingstsonntag  bekam 
und  nun,  ganz  allein,  die  Stellung  der  Partei  darlegen  sollte.  Damals  war  ich 
noch  ein  junger  Dachs;  die  „Arbeiter-Zeitung"  als  Tagblatt  erst  fünf  Monate 
alt.  Die  Ablehnung  geschah  mit  den  Worten:  „Der  Entwurf  des  Subkomitees 
kann  und  wird  nie  Gesetz  werden,  er  wird  aber  ewig  zeugen  für  den  ver- 
blendeten und  brutalen  Geist  der  herrschenden  Klassen  dieses  Landes."  Man 
mußte  damals  seine  Worte  wägen  und  wählen:  denn  der  Zensor  ging  um. 
Schon  in  derselben  Woche  begann  das  Konfiszieren:  sowohl  das  Subkomitee 
wie  sein  Entwurf  wurden  vom  Staatsanwalt  zu  Einrichtungen  erhoben,  gegen 
die  nicht  „aufgereizt"  werden  durfte.  Wir  waren  also  beklommenen  Herzens, 
denn  jener  Regierung  und  jener  Koalitionsmehrheit  war  schon  auch  zuzu- 
muten, daß  sie  den  Schandentwurf  beschließen  könnten.  Und  Adler 
w  a  r  n  i  c  h  t  d  a;    er  saß  im  Verlies! 

Aber  am  Dienstag  machte  ich  mich  vormittags  auf  und  ging  zu  Adler 
in  den  Arrest.  Er  saß,  wie  ich  mich  genau  zu  erinnern  glaube,  im  Arrest 
des  damaligen  Sechshauser  Bezirksgerichtes;  offenbar  saß  er  da  den  Monat  ab, 
den  er  bekommen  hatte,  weil  er,  in  einer  Rede  beim  Schwender,  dem  Reichs- 
gericht attestiert  hatte,  daß  es  ausnahmsweise  ein  vernünftiges  Erkenntnis 
zuwege  bringen  kann.  Adler  erging  es  in  den  Arresten  nicht  gerade  schlecht: 
wenn  es  gesichert  war,  daß  er  mittags  ein  Stückchen  unterspickten  Rind- 
fleisches bekommt,  wenn  er  was  zu  rauchen  hatte,  so  war  ihm  im  Arrest 
eigentlich  immer  wohl:  da  hatte  er  die  Ruhe,  die  ihm  in  der  Freiheit  nie 
ward.  Da  hatte  er  seine  Bücher  und  konnte  ungestört  denken.  So  hat  er 
das  ganze  „Kapital"  erst  recht  und  gründlich  im  Arrest  durchgenommen; 
für  das  eindringendste  Studium  hatte  ihm  Friedrich  Engels  selbst  genau 
die  Methode  angegeben.  Und  die  Aufseher  und  Befehlshaber  in  den 
(lefängnissen  fanden  es  gleich,  wer  Adler  sei;  selbst  ein  roher  Mensch 
fühlte  einen  Hauch  der  Größe,  die  von  Adler  ausging,  und  fühlte  die  Pflicht 
zur  Ehrfurcht .  .  . 

Also  ging  ich  zu  Adler,  um  mir  einen  Rat  zu  holen,  und  wahr- 
scheinlich auch,  um  mich  trösten  zu  lassen.  Weiß  Gott,  Adler  war  nicht 
betrübt  und  nicht  erschrocken.  Je  dümmer  der  Entwurf,  desto  besser,  meinte 
er,  denn  so  stelle  er  sich  selbst  außer  Diskussion.  Ich  hatte  ihm  den  ganzen 
Pack  mitgebracht:  die  zwei  Gesetzentwürfe  und  den  Bericht,  den  der  polnische 
Doktor  Rutowski  verfaßt  hatte.  Adler  versprach,  sich  an  die  Sache  sofort  zu 
machen,  und  am  Abend  war  ein  Prachtartikel  Adlers  in 
meinen  Händen!  Er  hatte  den  ganzen  „Pack"  sofort  durchgearbeitet 
und  den  Artikel  sofort  geschrieben!  Er  steht  in  der  „Arbeiter-Zeitung"  vom 
5.  Juni  1895  und  wäre  weiß  Gott  noch  heute  lesenswert.  Er  rückt  die 
Betrachtung   sofort   ins  richtige   Geleise:   „Der  verbrecherische  Schwachsinn 


Mein  erster  Mai  369 

der  zehn  Herren  vom  Subkomitee  hat  einen  Entwurf  zutage  gefördert,  der, 
Mißgeburt  und  Totgeburt  zugleich,  geschichtlich  keine  andere  Bedeutung  hat, 
als  ein  Wahrzeichen  des  geistigen  und  sittlichen  Verfalles  der  herrschenden 
Parteien  zu  sein,  deren  politischer  Ausdruck  die  Koalition  ist.  An  Stelle  des 
politischen  Verstandes,  der  Einsicht  und  der  Klugheit  ist  die  kurzsichtige 
Dummpfiffigkeit  des  politisichen  Beutelschneiders  getreten,  und  ©tatt  des 
politischen  Mutes  sehen  wir  die  freche  Schamlosigkeit  agieren."  Und  er 
beschließt  sie  mit  ebensolcher  durchschlagender  Bildkraft :  „Der  Kampf 
gegen  das  bestehende  Wahlunrecht  war  bisher  ein  Kampf  gegen  ein  histo- 
risch Gewordenes,  geworden  zu  einer  Zeit,  als  die  Arbeitericlasse  Österreichs 
in  den  Kinderschuhen  war.  Die  Wahlreform  des  Subkomitees  ist  eine 
brennende  Ohrfeige  in  das  Gesicht  des  Proletariats,  das  zum  Manne 
geworden,  ist  eine  Schmach,  für  die  nicht  die  Vergangenheit,  für  die  die 
Gegenwart  wird  Rede  stehen  und  büßen  müssen.  Die  Arbeiterklasse 
bekämpfen,  das  bringt  das  Klasseninteresse  ihrer  Ausbeuter  mit  sich,  sie 
provozieren,  ist  der  Ausfluß  verbrecherischen  Schwachsinns  —  der  Herren 
vom  Subkomitee." 

Der  Artikel  hatte  die  Spottgeburt  umgebracht,  und  nun  ging  auch  Adlers 
Strafe  zu  Ende.  Adler  verließ  den  Arrest  und  kam  in  die  Schwarzspanier- 
straße, wo  wir  damals  unterirdisch  hausten.  Und  der  Schlußkampf  ent- 
brannte. Am  19.  Juni  hatte  das  Ministerium  Windischgrätz-Plener  aus- 
gelitten, und  die  Episode,  die  die  Wahlreform  nicht  aufgehalten,  wohl  aber 
das  deutschliberale  Bürgertum  derart  kompromittiert  hatte,  daß  es  sich 
davon  nie  mehr  erholte,  war  zu  Ende. 


Adlers  erste  Maifeier  im  Arrest. 

Die  Justizbehörde  teilte  die  Zustellung  des  Holzinger-Urteils  und  der 
Aufforderung  zum  Strafantritt  so  ein,  daß  Adler  am  1.  Mai  1890  gerade  im 
Arrest  saß.  Was  für  Aufregung  das  für  ihn  bedeutete,  wo  doch  selbst 
draußen  alles  dem  ersten  Maifeste  mit  fiebernder  Spannung  entgegensah, 
mit  welchen  Sorgen  er  den  Tag  erwartete  und  verlebte,  stets  gewärtig,  die 
Nachricht  von  einem  Blutbad  zu  erhalten,  kann  nur  ermessen,  wer  Adlers 
Gefühl  der  Verantwortlichkeit  für  alles,  was  die  Partei  machte,  kennt.  In 
der  Maifestschrift  des  Jahres  1909  hat  er  diesen  Tag  selbst  beschrieben: 


Mein  erster  Mai, 

Die  erste  Maifeier  1890  habe  icli  nicht  im  Prater  mit- 
erlebt, sondern  im  Wiener  Landesgericht,  Zelle  32,  im  ersten 
Stock.  Es  war  ein  einsamer  Tag-,  einsamer  als  jeder  andere  in 
den  vier  Monaten,  die  ich  damals  abzusitzen  hatte,  aber  ein 
Tag  der  tiefsten  Aufregung,  die  ich  auch  heute  noch  in  mir 
zittern  fühle,  wenn  ich  an  ihn  denke. 


370  Mein  erster  Mai 

Natürlich  war  es  mir  recht  unlieb,  gerade  am  1.  Mai 
nicht  draußen  sein  zu  können,  und  es  war  recht  sonderbar,  daß 
es  so  kam.  Denn  Herrn  Holzingers  Ausnahmegericht  hatte 
Bretschneider  und  mich  schon  am  27.  Juni  wegen  anarchisti- 
scher Bestrebungen  abgeurteilt.  Der  Oberste  Gerichtshof  ließ 
sich  allerdings  bis  zum  7.  Dezember  Zeit,  um  das  Urteil  zu  be- 
stätigen, aber  noch  immer  hatte  ich  die  Hoffnung,  rechtzeitig 
die  Strafe  antreten  zu  können,  um  in  der  zweiten  Hälfte  April 
wieder  auf  freien  Fuß  zu  kommen.  Ich  urgierte  die  Zustellung 
des  Urteils,  aber  je  mehr  ich  drängte,  desto  länger  dauerte  es, 
und  erst  am  24,  Jänner  kam  ich  in  den  Besitz  des  Schrift- 
stückes. Wir  waren  damals  überzeugt,  daß  die  Trägheit  des 
Amtsschimmels  im  Dienste  höherer  politischer  Absichten  stehe. 
Aber  ich  konnte  nun  nichts  anderes  tun,  als  ein  paar  Wochen 
Strafaufschub  zu  fordern,  um  wenigstens  an  den  Vorbereitun- 
gen zur  Maifeier  meinen  Anteil  nehmen  zu  können,  und  Ende 
Februar  mußte  ich  ins  Loch. 

Es  war  meine  erste  Haft  und  sie  fiel  mir  nach  den  ersten 
Tagen  der  Anpassung  wahrhaftig  nicht  schwer.  Ich  hatte  mir, 
was  ich  übrigens  auch  später  bei  allen  Rückfällen  prinzipiell 
tat,  die  Einzelhaft  als  Begünstigung  erbeten  und  durchgesetzt, 
und  da  ich  Bücher  hatte  und  als  „Politischer"  überdies  täglich 
für  einen  Gulden  und  fünf  Kreuzer  ausspeisen  durfte,  war 
meine  Lage  nicht  schlecht.  Wie  ich  überhaupt  diese  kurzen 
Arreststrafen  niemals  als  Martyrium  empfunden  habe.  Trotz 
mancher  physischer  Unbequemlichkeit  habe  ich  damals  und 
später  im  Arrest  Stunden  der  Ruhe,  der  Sammlung,  ja  Er- 
hebung erlebt,  die  ich  zu  meinen  besten  Erinnerungen  zähle. 
Aber  je  näher  der  1.  Mai  heranrückte,  desto  unruhiger  wurde 
ich,  bis  sich  die  Erregung  zu  einer  fast  unerträglichen  Span- 
nung steigerte.  Das  kann  nur  der  ganz  verstellen,  der  miterlebt 
hat,  was  für  uns  jene  erste  Maifeier  war,  was  sie  für  das 
Proletariat  Österreichs  bedeutete  .  .  . 

Seit  dem  Hainfelder  Parteitag  war  die  Organisation  der 
Partei  rasch  gewachsen,  unsere  Presse  gewann  an  Verbreitung 
und  Einfluß,  die  Absurdität  des  Ausnahmezustandes  und  seiner 
dummdreisten  Praktizierung  wurde  täglich  augenfälliger.  Da 
holte  die  Staatsweisheit  zu  einem  entscheidenden  Schlag  aus. 
Dem  „Anarchistenprozeß",  den  sie  uns  anhängten,  folgte  die 
Einstellung  der  „Gleichheit"  auf  dem  Fuße.  Aber  vier  Wochen 


Mein  erster  Mai  371 

später  hatten  wir  für  ein  neues  Blatt:  die  „Arbeiter-Zeitung", 
gesorgt  und  standen  als  Delegierte  der  österreichischen  Sozial- 
demokratie im  Saale  der  Eue  Rochechouart  in  Paris  beim  ersten 
Internationalen  Sozialistenkongreß.  Als  wir  unsere  Hände  er- 
hoben, um  für  den  Antrag  des  Genossen  Lavigne  zu  stimmen, 
für  die  Veranstaltung  einer  „großen,  einheitlichen  Manifesta- 
tion der  Arbeiter  aller  Länder",  die  am  1,  Mai  stattfinden  und 
der  Forderung  des  Achtstundentages  gewidmet  sein  sollte,  da 
sahen  wir  einander  ins  Auge  —  ich  sehe  noch  Popp  und  Hybes, 
neben  denen  ich  stand  —  fragenden  Blickes,  was  wir  in 
unserem  armen  Österreich  mit  diesem  Beschluß  würden 
machen  können  ?  Der  Kongreßbeschluß  besagte :  „In  jedem 
Lande  sollen  die  Arbeiter  die  Manifestation  in  der  Weise  ver- 
anstalten, welche  die  Gesetze  und  Verhältnisse  daselbst  be- 
dingten, beziehungsweise  ermöglichen."  Was  war  in  Österreich 
möglich??  Wir  hatten  keine  Vertreter  im  Parlament,  unsere 
Presse  stand  unter  der  Guillotine  der  Konfiskation  und  der 
ausnahmegesetzlichen  Sistierung;  unsere  Vereine  wurden 
unter  unsäglichen  Schwierigkeiten  ganz  langsam  und  all- 
mählich erst  wieder  aufgebaut,  unsere  Versammlungen  waren 
dem  Belieben  jedes  Polizeiidioten  preisgegeben;  jede  Art  v^on 
Manifestation,  wie  sie  in  gesitteten  Ländern  möglich  und 
üblich  ist,  konnte  in  Österreich  durch  den  Ukas  jedes  Büro- 
kraten vereitelt  werden.  Und  doch  waren  gerade  damals  alle 
Vorbedimgungen  für  eine  gewaltige  Manifestation  gegeben, 
für  eine  Manifestation  nicht  allein  der  Partei,  sondern  darüber 
hinaus :  des  Proletariats.  Es  war  eine  Zeit  des  Er- 
wachens, des  Dranges.  Der  lange  brachgelegene  Boden  nahm 
hungrig  die  Saat  auf,  die  von  der  Sozialdemokratie  ausgestreut 
wurde.  Wir  waren  über  aüe  diese  dummen  und  boshaften 
Quälereien  der  Staatsgewalt,  über  alle  diese  unsäglichen  Bor- 
niertheiten der  bürgerlichen  Presse  hinausgewachsen.  Die  Ar- 
beiterschaft war  im  Begriff  zu  erwachen;  es  bedurfte  nur  des 
Anrufes,  des  Appells,  daß  sie  sich  erhebe,  sich  als  Ganzes,  als 
kämpfender  Körper,  als  eine  Einheit,  als  Klasse  gegen  andere 
Klassen  fühle  und  den  lähmenden  Traum  seiner  Ohnmacht 
abstreife. 

Dieser  Weckruf  juußte  für  uns  in  Österreich  die  Alai- 
feier  sein.  Wir  haben,  wie  so  oft,  aus  der  furchtbaren  Not  eine 
fruchtbare  Tugend  gemacht,  und  weil  wir  nicht  simpel  mani- 


372  Mein  erster  Mai 

festieren  konnten,  gerade  darum  haben  wir  dem  Tag-  die  Höhe 
einer  Weihe  gegeben,  die  unerreichbar  war  für  alle  Verbote 
und  Schikanen.  Am  29.  November  verkündete  die  „Arbeiter- 
Zeitung"  die  Parole:  „Der  1.  Mai  1890  soll  der  internationale 
Arbeiterfeiertag  werden.  An  diesem  Tage  soll  die  Arbeit 
überall  ruhen,  in  Werkstatt  und  Fabrik,  im  Bergwerk  wie  in 
der  dumpfen  Kammer  des  Hauswebers.  Der  Tag  soll  heilig 
sein,  und  heilig  wirklich  wird  er  dadurch,  daß  er  den  höchsten 
Interessen  der  Menschheit  gewidmet  ist.  Die  Menschheit  hat 
heute  kein  höheres  Interesse  als  die  proletarische  Bewegung, 
als  insbesondere  die  Abkürzung  der  Arbeitszeit."  Dann  wurde 
als  Programm  vorgeschlagen:  vormittags  Versammlungen, 
nachmittags  Erholen  im  Freien,  und  weiter  hieß  es:  „Die  Ge- 
nossen sehen,  unsere  Vorschläge  sind  einfach,  durchführbar 
und  gewiß  sehr  h  armlos,  kein  S  t  r  e  i  k  I  Donnerstag  am 
1.  Mai  ist  Arbeiterfeiertag,  aber  Freitag  am  2.  Mai  ist  jeder 
wieder  in  seiner  Schwitzbude,  früher  gewiß  als  der  Herr  Chef 
an  diesem  Tage,  der  müde  ist  von  der  »Erholung«.  Also 
ganz  friedlich.  Aber,  warum  sollen  die  Arbeiter  nicht 
ihren  Feiertag  haben?"  —  Fnd  von  der  Stunde  an,  da  dieser 
Aufruf  erschien,  ging  eine  große,  von  Tag  zu  Tag  wachsende 
Bewegung  durch  das  ganze  Reich.  Hunderte  von  Versamm- 
lungen mit  der  Tagesordnung:  „Achtstundentag  und  1.  Mai" 
wurden  einberufen  und  wirkten,  wenn  sie  verboten  wurden, 
fast  noch  mehr,  als  wenn  sie  stattfinden  konnten.  Ein  Flug- 
blatt über  den  Achtstundentag  fand  massenhafte  Verbreitung. 
Täglich  erhielten  wir  Xachrichten  aus  Orten,  wo  es  sich  nie 
gerührt  hatte,  daß  Vorbereitungen  für  die  Maifeier  im  Gange 
seien.  Wahrhaft  rührende  Briefe  von  ganz  naiven,  von  der  Be- 
wegung bisher  unberührt  gebliel%nen  Arbeitern  aus  den  ent- 
ferntesten Winkeln  des  Reiches  zeigten,  ^\ie  unser  Weckruf 
in  'die  Weite  gewirkt,  wie  er  das  rechte  Wort  zur  rechten 
Stunde  gewesen  .  .  . 

Und  mitten  in  dieser  fieberhaften  Agitationsarbeit  mußte 
ich  ins  Loch!  Zwar  war  ich  von  der  Welt  nicht  völlig  ab- 
geschnitten. Ich  durfte  außer  der  „Wiener  Zeitung"  die  alte 
„Presse"  lesen,  ein  seither  verschwundenes,  sehr  solides,  hoch- 
offiziöses Blatt,  und  bei  gelegentlichen  Besuchen  meiner  Frau 
und  meiner  Freunde  erfuhr  ich  manches,  was  in  der  Welt  vor- 
ging, erfu'hr,  wie  mit  dem  Wachsen  der  Maibewegung  im  bür- 


Mein  erster  Mai  373 

gerlichen  Publikum,  in  der  bürgerlichen  Presse,  ja  offenbar 
auch  in  den  ,,maßgebendeii"  Regierungskreisen  die  Furclit 
aufkam,  daß  dieser  1.  Mai  ein€  Art  von  jüngstem  Tage  sein 
werde,  zumindest  ein  Tag  der  Schreckensherrschaft  und 
Plünderung.  Daß  in  dieser  wahnsinnigen  Angst  eine  Gefahr 
lag,  war  klar.  Alle  Zusammenstöße,  alle  Krawalle,  alles  Blut- 
vergießen ist  noch  viel  öfter  durch  die  dumme  Furcht  der 
Behörden  als  durch  ihre  Brutalität  herbeigeführt  worden.  Daß 
die  Maifeier  im  Polizei^^inn  „liannlos"  sein  werde,  glaubte  man 
uus  von  Tag  zu  Tag  weniger.  Der  Schrecken  war  dem  Bürger- 
tum in  die  Glieder  gefahren  und  nahm  im  April  ganz  unglauli- 
liche  Formen  an.  Um  ein  Beispiel  anzuführen:  der  ^Yiener 
Wissenschaftliche  Klub,  eine  Körijerschaft,  in  der  so  ziemlich 
die  obersten  Schichten  der  Intelligenz  vereinigt  waren,  be- 
schloß, seine  gewohnte  Frühjahrsreise  abzusagen,  weil  man 
doch  am  1.  Mai  nicht  Weib  und  Kind  im  Stich  lassen  konnte. 
Andere  wieder  entschlossen  sich,  vor  dem  gefürc'hteten  Tage 
mit  ihren  Familien  aus  Wien  zu  flüchten.  Dabei  hetzte  die 
bürgerliche  Presse  in  allen  Tonarten,  und  als  es  anfangs  April 
in  einigen  Ottakringer  Branntweinschenken  zufällig  zu  ein 
paar  Exzessen  des  Lumpeni)roletariats  kam,  woran  die  Ar- 
beiterschaft, wie  offiziell  zugegeben  wurde,  ganz  unbeteiligt 
war,  stieg  die  Angst  zu  einer  grotesken  Höhe.  Man  erörterte 
in  Regierungskreisen  die  Einberufung  der  Reservisten;  jeden- 
falls sollte  das  Militär  konsigniert  und  alle  Läden  gesperrt 
werden.  Am  Morgen  des  1.  Mai  noch  war  in  der  „Neuen  Freien 
Presse"  zu  lesen::  „Die  Soldaten  in  Bereitschaft,  die  Tore  der 
Häuser  werden  geschlossen,  in  den  Häusern  wird  Proviant  vor- 
bereitet, wie  vor  einer  Belagerung,  die  Geschäfte  sind  veröder, 
die  Kinder  wagen  sich  nichttiftuf  die  Gasse,  auf  allen  Gemütern 
lastet  der  Druck  einer  schweren  Sorge  .  .  ." 

x\ber  so  gefährlich  diese  blödsinnigen  Angstexzesse 
waren,  es  war  nichts  zu  befürchten,  wenn  die  Feier  gelang.  Die 
Crlücklichen,  die  draußen  waren  und  mitarbeiten  konnten,  die 
zweifelten  nicht  einen  Augenblick.  Aber  für  mich  gab's  manche 
bange  Momente.  Die  Haft  bringt  wohl  für  jeden  hie  und  da 
Stunden  der  Depression,  wie  man  sie  ja  aucli  draußen  hat,  die 
aber  in  der  Einsamkeit  schwerer  überwunden  werden.  Da 
rannte  ich  wohl  stundenlang  auf  und  ab  und  erwog  alle  Mög- 
lichkeiten. Allerdings,  jede  Woche  ging  die  Bewegung  höher, 


374  Mein  erster  Mai 

und  alle  Zumutungen  der  Behörde,  nachzugeben,  das  Pro- 
gramm einzuschränken,  wurden  höflich,  aber  entschieden  ab- 
gelehnt. Die  Arbeitsruhe  würde  umfassend  sein,  das  war  ja 
klar;  und  als  die  Zeitungssetzer  beschlossen,  daß  sie  feiern 
werden,  war  entschieden,  daß  auch  der  Eindruck  nach  außen 
auf  das  große  Publikum  ein  bedeutender  sein  werde;  daß  es 
keine  Zeitungen  gi'bt,  ist  ein  Hauptmerkmal  des  Feiertages. 
Aber  wird  die  Polizei  nicht  provozieren?  Werden  unsere  Ge- 
nossen kaltes  Blut  bewahren?  Und  wenn  die  Versammlungen 
verboten  werden?  Muß  es  dann  nicht  zu  Zusammenstößen  kom- 
men? Und  wie  wird's  draußen  in  der  Provinz  werden,  auf 
heißem  Boden  der  Kohlenreviere?  Und  dann  wollen  die  Unter- 
nehmer uns  einreden,  die  Maifeier  sei  „Kontraktbruch" !  Es 
ist  ja  Unsinn,  aber  wird  das  nicht  doch  da  und  dort  die  Arbeiter 
einschüchtern?...  Da  setzte  ich  mich  denn  'hin  und  schrieb 
und  schrieb...  polemisierte  und  argumentierte;  so  lange 
Artikel  habe  ich  weder  vorher  noch  nachher  geschrieben;  und 
dann  sclirieb  ich  Aufrufe  und  verfaßte  Instruktionen.  Heute 
kann  ich's  ja  gestehen,  daß  es  mir  gelang,  manches  Produkt 
dieser  Gefängnisarbeit  ins  Freie  zu  schmuggeln,  so  daß  ich 
doch  auch  etwas  beitragen  konnte  zu  dem  großen  Werke. 

In  der  letzten  Aprilwoche  hatte  ich  fast  täglich  Besuche.  Es 
war  entschieden:  unser  harter  Schädel  'hatte  gesiegt,  die  Ver- 
sammlungen waren  nicht  verboten,  die  Polizei  hatte  sich  eni 
vschlossen,  einigermaßen  vernünftig  zu  sein  und  uns  gewähren 
zu  lassen.  Als  mir  Popp  und  Bretschneider  berichteten,  unjere 
tausend  Ordner  seien  parat,  mußten  sie  mir  aber  auch  erzählen, 
daß  im  Prater  die  Drähte,  die  die  Rasenplatze  umsäumen,  ent- 
fernt wurden,  damit  die  Kavalleriepferde  bei  der  eventuellen 
Attacke  nicht  stürzen.  Und  ich  selbst,  so  oft  ich  am  1.  Mai  in 
die  Kanzlei  geführt  wurde,  hörte  draußen  den  Schritt  der 
Soldaten,  und  erfuhr,  daß  alle  Tore  des  Landesgerichtsgebäudos 
selbst  geschlossen  gehalten,  daß  die  ganze  Justizwache  und  alle 
Aufseher  konsigniert  seien.  Ich  lachte  über  die  Dummheit, 
aber  das  Lachen  kam  mir  nicht  von  Herzen,  denn  ich  wußte,  wie 
gefährlich  solche  Dummheit  werden  konnte  .  .  .  Mittags  kam 
Bretschneider  auf  eine  Minute,  beruhigte  mich  über  den  Ver- 
lauf der  Versammlungen  und  steckte  mir  seine  Marschorder 
und  ein  Maizeichen  zu  —  das  ich  dann  oben  in  der  Zelle  an- 
steckte, wenn  der  „Wastl"  weit  vom  Guckloch  war  —  —  das 


Mein  erster  Mai  375 

war  ein  langer,  langer  Nachmittag und  spät  abends  hörte 

ich  endlich  Signale,  die  mir  sagten,  daß  das  Militär  in  dte 
Alserkaserne  einrücke  ,  .  .  und  gegen  10  Uhr  noch  kam  mein 
Aufseher  und  berichtete,  er  habe  es  ganz  sicher  erfahren:  es 
ist  alles  ruhig  abgelaufen  und  großartig  soll's  gewesen  sein!! 

Früh  konnte  ich's  dann  in  der  Zeitung  lesen  —  denn  bei 
jener  ersten  Maifeier  haben  unsere  braven  Setzer  zwar  kein 
Abendblatt  gemacht,  aber  um  9  Uhr  abends  gingen  sie  das 
Morgenblatt  setzen,  das  die  frohe  Botschaft  brachte  .  .  .  auch 
mir  in  meine  Zelle  .  .  . 

Dann  aber  wußte  ich :  eine  Entscheidungsschlacht  ist  ge- 
wonnen, nun  ist  der  Ausnahmezustand  tot!  Noch  mehr:  Xun 
ist  das  Proletariat  Österreichs  erwacht,  es  ist  zum  Bewußtsein 
seiner  Kraft  gekommen  und  steht  am  Beginn  seiner  Bahn,  die 
zu  gehen  es  keine  Gewalt  mehr  hindern  wird  .  .  .  Und  der 
zweite  Mai  war  mein  frühester  Tag  während  jener  ganzen 
Haft! 

(Veröffentlicht  in   der   Maifestschrift   1909.) 


Ende. 


A 


iBiß^banu  öt^ I .     h hb  1  u  ly/a 


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HX     Adler,  Victor 

253       Aufsätze 

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Bd.l 

Heft. 1-2 


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