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University of Toronto
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Victor Adlers
Aufsätze, Reden und Briefe
Herausgegeben vom Parteivorstand der Sozial-
demokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs
Erstes Heft:
Victor Adler und Friedrich Engels
<i>
Wien 1922
Verlag der Wiener Volksbuchhandlung
153
N- \.
Alle Reclite vorbehalten.
Copyright 1922 by Wiener Volksbuchhandlung.
Wien VI, Gumpendorferstraße 18
9 38ö'^-'
Inhaltsverzeichnis.
Seit«
Victor Adit'is Aufsätze, F{eden und Briefe IV
Victor Adler und Friedrich l^ngels. Vorbemerkuugeu VI
I. Bis zu Engels' Tod.
Briefe: -liinner 18«8 bis April 189<) i
V 1- i e d r i c ii K n g e 1 s über d e u A u t i ^ e in 1 1 i s in ii s . . . . (i
Der 4. Mai in London. \oh FiitMlrich FiigrU ,S
Briefe: November 1890 15
Friedrich Engels' s i ebz igs te r CJeburt > tag . . 17
Briete: Dezember ISiX) bis Juni 1891 20
Engels an den Parteitag in Wien (189 1 ) 2H
Briefe: Juli 1S91 bis Mai 1892. 27
filngels an den Parteitag in Wien (1892) 88
Briefe: August 1892 bis Oktober 1892 m
Die Wiener M ar\- Fei er 1 89:^ .58
Briefe: März 189.S 66
Aus der M ailestschrifl 189^ 69
E n g e 1 s i n W i e n 70
Briefe: Oktober 189;; bis März 1894 77
Engels a n den Parte itai<- in Wie n (1894) 9.5
Briefe: April 1894 bis .lull 1890 9<;
II. Aufsätze und Reden Adlers nach Engels' Tod.
Friedlich Engels („Arbeiter-Zeitung", 11. August 1895) 1:11
Genosse Leo Franke! (.Arbeiter-Zeitung". :!1. März 1896) . . . 140
E 1 e 0 n 0 r M a r x - A v e 1 i n g tot („ Arbeiter-Zeitun.ü", 4. Ajtril 1898) . 141
Was uns Karl Marx ist (Marx-Fesf-^chrift der <">steireichischen
Sozialdemnkiatie, März 1908) 14:i
Der X a c h 1 a ß v i > n M a r x. F n ü- e 1 > und 1. a s ^ a 1 1 e (_ ArbeitPr-
Zeitunp-, 1."). März 190:}) lll
Marx-Feier 1903 (Gedenkrede am 16. März hm) 157
]■; i n Gede n klag („Arbeiter-Zeitung", 5. August 1905) 1 <.';
i; i H Brief von Friedrich l-^ngels („Der Kampf", 1. März 1908) 176
D e r B r i e f \v e c ii -. e 1 z \\ i < c h c n M a r x u n d K n y e N („Der Kampf".
1. Oktober 191:}) 178
Da< .lahrli u n dert von Karl Marx ( „Der Wahre .lakob", April 1918) 187
IV Victor Adlei-s Aufsätze, Reden und Briefe
Victor Adlers Aufsätze, Reden und Briefe.
Was Victor Adler uns war, ist in unser aller Be^^^ißtseln,
denn jeden Tag tritt sein Wirken von neuem in allen Lebens-
iiußerungen der österreichischen Arbeiterbewegung in Erschei-
nung. Der Wunsch, die Lebensgeschichte des Mannes, der das
österreichische Proletariat geeinigt und zu entscheidender
Machtstellung geführt, zu besitzen, ist oft geäußert worden.
Wir wollen mit den Vorarbeiten für die Biographie beginnen,
indem Avir die in Zeitungen und Zeitschriften verstreuten
Aufsätze und Reden Victor Adlers, ergänzt durch den politisch
wesentlichen Teil seines Briefwechsels, sammeln und ver-
öffentlichen.
Bei dem intensiven politischen Leben der gegenwärtigen
Periode, das alle Kräfte für die Aufgaben des Augenblicks in
Anspinich nimmt, ist auch diese Arbeit nicht mit einem Schlag
/u leisten. Wir haben uns daher entscblossen, Victor Adlers
Aufsätze, Peilen und Briefe heftweise herauszugeben, wobei
jedes der Hefte ein abgerundetes Ganzes bilden soll. Die
Gliederung des Stoffes kann sich endgültig erst im Laufe der
Arbeit ergeben, doch ist vorläufig die Teilung- in folgende zwölf
Hefte geplant :
I. Victor Adler und Friedrich Engels.
II. Victor Adler und Engelbert Pernerstorfer. Briefe au.s der Jugendzeil.
III. Victor Adler und die Gründung der österreichischen Sozialdemokratie.
IV. Victor Adlers Reden und Aufsätze über sozialdemokratische Taktik.
V. Victor Adler und der Wahlrechtskampf in Österreich.
VI. Victor Adler und die „Arbeiter-Zeitung".
VII. Victor Adler als Parlamentarier. *
VIII. Victor Adler, die Gewerkschaften und Genossenschaften.
IX. Victor Adler als Arzt, Hygieniker und Sozialpolitikcr.
X. Victor Adler und August Bebel. Aus dem Briefwechsel.
XI. Victor Adler und die Intei nationale.
XII. Materialien zu einer Biographie Victor Adlers. Bibliographie.
Die Redaktion der einzelnen Hefte werden wir Ge-
nossen, die mit der betreffenden Materie besonders vertraut
sind, übertragen. Sie werden ihre Arbeit in Verbindung mit
Victor Adlers Aufsätze. Redeu und Briefe
F'riedrich Adler, iii desseu Obhut sich der Nachlaß seines
Vaters befindet, ausführen. Die Eeihenfolge des Erscheinens
der Plefte hängt von der Zeit der Fertigstellung ab.
Wir beginnen die Veröffentlichimg mit der Herausgabe
des fesselnden Briefwechsels zwischen Viktor Adler und
Friedrich Engels, der uns Einblick gewährt nicht nur in eine
Zeit der wichtigsten politischen Entscheidungen und Kämpfe,
sondern auch in das persönliche Leben Victor Adlers, das in
den schweren Kümmernissen, die ihn in jener Periode be-
drückten, erhellt wurde durch die warme Freundschaft des
großen Meisters der sozialistischen Theorie und Taktik. Wir
glauben den siebzigsten Geburtstag unseres Victor Adler nicht
schöner feiern zu können, als indem v.-ir diese Briefe, an denen
ein Stück seines Herzeus hing, allen zugänglich machen, die
ibn lieben und verehren.
Wien, im Juni 1922.
Der Parteivorstand
der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs.
VI Victor Adler und Friedlich Engels
Victor Adler und Friedrich Engels.
Vorbemerkaiigeii.
Das Interesse Violoi- Adlers für die ArlSeilerbcwpgung und die sozia-
listische Literatur geht weit in seine Universitäts-, ja sogar Gyninasiasten-
zeit zuiück*). Anfang der ac-Jitziger Jahre beginnt er aber aucli praktisch der
Bewegung näherzukommen. So schreibt er am 20. März 1881 an s-einen
Bruder Siegmund:
Ich fange jetzt an, konsequent hinunter- oder viohnehr lünauf-
steigend, mich mit den hiesigen Arbeiterführern bekanntzumachen — wie
PS sclieint, diu'chweg gute Menschen, alx?r schlechte Musikanten. Wer da
große agitatorische Begabung und Energie hätte, könnte AVundor tun —
nun, jeder nach seinem Können — daß ein Mensch Avie Du, sich in
das vierzehnte Jahrhundert verliert und gelehrten Staub frißt, statt in
der goldenen Sonne der Gegenwart zu arbeiten, zu kärapfen und zu
bluten, ist traurig — selir traurig — nun Du geh.-t eigene Wege und
machst vielleicht plötzlich einen Sprung.
Tin Sommer 1883 (Juli bis Oktober) unternimmt \iclor Adler eine
Sludienreise durch Deutschland, die ScJiweiz und England, um die Ein-
ricJitungen der Gewerbeinspektion kennen zu lernen. Die Absichten,
die ihn leiten, sind durchaus sozialistische. In Österreich sollte
1884- die Gewerbeinspektion eingeführt werden; er will Gewerbe-
inspektor werden, um gegenüber den Veriuschungsversuchen im
Interesse der herrschenden Klassen, die zu fürchten waren, die Wahrheit
über die Lage der arbeitenden Klasse in Öslerreicli ans Liclit zu bringen.
Seine wahren Absichten T\nirden vorzeitig durchschaut und der zum Zentral-
gewerbeinspektor bestimmte Dr. Migerka verhinderte seine Anstellung, als
(iewerbeinspeklor. Als Resultat dieser Periode ergaben sich Adlers .Vbhand-
King ül>er ,.Die Fabriksinspektion, insbesondere in England und der
Schweiz"**) sowie Kritiken, die er später den Jahresberichten der Gewerlx'-
*) Heinrich Scheu erzählt in seinen ,, Erinnerungen" aus der Zeil,
als er 1870, nach dem HochveiTatsprozeß, Sammlungen für die Inhaftierten
und deren Familien einleitete: „Die Partei war — wie in anderen Beziehungen
— völlig auf sich gestellt. Nur einmal erschienen zwei junge Studenten bei
mir, um an die L'nterstützungskasse einen Beitrag abzugeben, der statt
unter einem Namen mit einem revolutionären Vers Freiligraths in der
Sammelliste des ,, Volkswillen" quittiert werden sollte. Einundzwanzig Jahre
darnach wurde ich in überras<'.hender Weise an jenen Besuch erinnert. Es
war im Hochsommer des Jahres 189J. Ich war von London zum Internatio-
nalen Kongreß nach Brüssel gekommen und traf dort mit Victor Adler zu-
sammen, und zwar, wie ich glaubte, zim^ erstenmal in meinem Leben. ,, Er-
innern Sie sich nicht", fragte er mich, ,,an die zwei Studenten, die Ihnen
damals Geld für die Inhaftierten brachten?" Wie der Blitz zuckte es mir
(ixwrh das Gehirn, als ich ihn schärfer ins Auge faßte: ,,Was", rief ich,
,.jene zwei Studenten" — — , .waren Pernerstorfer und ich!" (,, Wiener Hoch-
verratspiozeß", Ausgabe Wien 1911, Seite 225.)
**) Verlag Gustav Fischer, Jena, 1884 (Scparatabdiiick aus den Jahr-
büchern für Nationalökonomie und Statistik, Neue Folge. Band VIII.)
Victor Adler und Friedrich Engels VII
lnspektion in der „Gleichheit" und „Arbeiter-Zeitung" angedeihen ließ, die
wei>ftn der liefen Sachkenntnis, aus der sie hen^orgingen, von den Betroffenen
besonders unangenehm empfunden wurden.
Auf seiner Studienreise kommt Victor Adler im Sommer 1883 nach
London. Sein erster BesucJi bei Friedrich Engels gilt nicht nur dem Manne,
der ihm bei seinen Studien über die Fabrik^inspektion in England behilflich
sein konnte, sondern vor allem dem großen sozialistischen Theoretiker,
dessen Freund Karl Marx wenige Monate vorher dahingeschieden war. Adler
hatte ein Empfehlungh;s<.-hreiben von Leo Frankel mit, der 1871 als Mit-
glied der Pariser Commune an herv-orragender Stelle gestanden und in den
achtziger Jahren in Wien lebte*). Dieses Einführungsschreiben lautet:
Wien, am 14. Juli 1883.
Mein lieber Engels!
Überbringer dieses, Parieigenosse Dr. Adler, beabsichtigt eine
Studienreise nach Deutschland und England zu maclien, um die Insti-
tution des Fabriksinspektorats eingehend zu studieren. Da Du Dich schon
in den vierziger Jahren mit den englischen Fabriksberichten bescliäftigt
hast, und bessc'r als irgendeiner in der Lage bist, diese Institution zu
kennen, vermagst Du es auch am leichtesten, diesbezügliche Auskünfte
zu erteilen und so Herrn Dr. Adler bei seinem Studiimi an die Hand
zu gehen.
Dein freundliches Klntgegenkommen allen gegenüber, die sich mit
Ernst der Arbeitersache widmen, enüiebt mich wohl, Dir den Überbringer
dieses besonders zu empfehlen, weshalb ich Dir auch schon im vor-
hinein meinen besten Dank für Dein Entgegenkommen hiemit ausdrücke.
Dich herzlichst grüßend, verbleibe ich wie immer Dein Dich ho<-li-
schätzender und aufrichtiger Freund
; L c o F r a n k e I .
Über diesen ersten \erkehr Adlers mit Engels konnten bisher leider
keinerlei schriftliche Mitteilungen aulgefunden werden. Aus seinen Er-
zählungen wissen wir, welchen starken Eindruck Engels und sein Heim da-
mals auf ihn gemacht. Engels begrüßte auf das lebhafteste Adkrs Plan,
Cewcrbeinspektor zu werden, er meinte, daß wir Agitatoren genug hätten,
aber niemand, cfer den Verwaltungsapparat kennt, und gerade solche werden
uns abgehen, wenn wir zur MacJit kommen.
So stark der Eindruck, den Friedrich Engels auf Viktxir Adler bei ihrer
ersten pei-sonlichen Begegnung machte, auch gewesen, so entsprang die
innige Freundschaft, die sie bis an Engels' Lebensende verknüpfte, doch erst
ihrem zweiten Zusanunentreffen, das erst sechs Jahre später, nach dem
Internationalen Sozialistischen Kongreß in Paris im Juli 1889 stattfand *).
Während Adler vor dem Londoner Aufenthalt im Jahre 1889 nur Karten
von den Neujahrsfeiern im Kreise seiner Familie und persönii<-lien Freunde
*) Vergleiche Viktor Adlers Nekrolog auf Leo Frankel, der im vor-
iHgenden Hefte wiedergegeben ist. (Nr. 67.)
*"*) Am 17. Juli 1889 schreibt Engels aus London an Sorge: „Nächste
Woche kommt Adler aun Wien von Paris herüber."
VIII Victor Adler und Friedrich Engels
an Engels sandle, beginnt im Dezember 1889 ein Briefwechsel*), der durch
fünfeinhalb Jahre bis zu Engels' Tod vvälirt. Während dieser Zeit sahen
sich Adler und Engels noch einigemale. Nach dem Brüsseler Internationalen
Kongreß im August 1891 verbrachte Adler gemeinsam mit Bebel drei Tage
in London bei Engels**). Im Sommer 1893 trafen sich Adler und Engels zu-
näjchst am Internationalen Kongreß in Zürich, sodann kam Engels nac-.h
Österreich und hielt sich mehrere Tage in Wien auf. Im Juli 1905 war Adler
nahezu zwei Wochen am Sterbelager seines Freundes.
Der Briefwechsel zwisclien iVdler und Engels fällt in eine der wich-
tigsten Perioden der Aj'beiterbewegung in Österreich. Der 1. Mai 1890 zeigt,
daß das österreichische Proletariat den Beschluß dos Pariser Internationa.lf;n
Sozialistenkongresses besser in die Tat umzusetzen versteht, als es in irgend-
einem anderen Lande gelmgt. Die Maifeier hebt das Kraftbewußtsein der
Arbeiterklasse, sie geht zur Offensive über und hat am 10. Oktober 1893 den
für alle überraschend großen und schnellen Erfolg der Einbringung der Wahl-
reform durch den Grafen Taaffe. Die Sozialdemokratie rückt in den Mittel-
punkt des Interesses, die Ausgestaltung der „Arbeiter-Zeitung" zu zweimal
wöchentlichem und scliließlich am 1. Jänner 1895 zu täglichem Erscheinen wird
nötig. Auf alle dies-e Kämpfe, Erfolge und dazugehörigen Verfolgungen wirft der
Briefwechsel zwischen Adler und Engels aufklärende Schlaglichter, er wird bei
dem restlosen Vertrauen, das sie füreinander hatten, in vielen Punkten zu
einer wichtigen GeschicJitsgueile jener Periode. Engels ist der eifrigere Brief-
schreiber, während Adler meistens nur zur Urlaubszeit oder im Gefängnis —
wir finden Briefe aus dem Bezirksgericlit Neubau und dem in Rudolfsheim,
während aus der viermonatigen Haft im Landesgericht 1890 sich keiner vor-
findet -— Zeit findet, ausführlicher zu schreiben. Vor allem sind es auch
offizielle Einladungen zu den österreichischen Parteitagen, an die Adler aus-
führlidierc Mitteilungen anknüpft.
Vieles in den Briefen ist rein persönlicher Natur, und es mußte sehr
ernst die Frage erwogen werden, ob und inwieweit sie überhaupt zu ver-
öffentlichen seien. Dal>ei waren vor allem Victor .Adlers Wünsche selbst zu
berücksichtigen. Wir besitzen nun eine ausführliche Darlegung seines Stand-
punktes über derartige Veröffentlichungen in seinem Aufsatz über den
„Briefwechsel zwischen Marx und Engels". Dort sagt er:
Die Frisclie, Unmittelbarkeit, Lebendigkeit dieser Briefe gibt ihnen
einen unerschöpflicJien Reiz. Sie ersetzen den mündlichen Gedanken -
austauscli der zwei Freunde und sind darum urspriinglicher, ungehenamter
im Ausdruck als selbst Tagebücher gemeinhin sind, die doch die Absicht
hai)en festzuhalten, was von dem Eindmck, der Slinunung des Augen-
*j Den ersten Brief an Adler schrcibt Engels am 4. Dezember. Drei
Tage später schreibt er an Sorge: „Für den 1. Mai 1890 wird überall
gearbeitet. In Österreich geht's auch sehr gut. Adler hat die Sache famos
in Ordnung gebracht, die Anarchisten sind tot dort." (Briefe an Sorge,'
Seite 326.)
**) Engels schreibt am 9. August 1891 an Sorge: „Louise Kautsky ist
in Wien, geht mit Wiener Mandat nach Brüssel, bringt Adler mit nach
London, viellciclit auch Bebel, dem ich nacli der Schweiz geschrieben,
aber noch keine Antwort." Am 2. September 189! meldet Engels an Sorge
„Adler von Wien und Bebel waren drei Tage hier, sehr fidel und zufrieden
mit dem Kongreß."
Victor Adler und Friedrich Engels IX
blicks aufbewahrt werden soll. Diese Briefe abpr sind aus der Stande
für die Stunde entstanden und haben ihren Beruf erfüllt, wenn sie das
Auge — fast möchte man sagen das Ohr! — des Empfängers getroffen,
der seinerseits sie als aus dem Flusse der Gedanken und der Stimmung
entspringend aufnimmt und nicht als festgefrorene, statTgewordene
Meinungen mißversteht. Das Bild dieser absoluten Offenheit, Ungezügelt-
heit und Ungeniertheit in dem Verkehr zweier gewaltiger Menschen gibt
dem Briefwechsel ein ganz besonderes psychologisches Interesse; aber
gerade hierin liegt auch eine ernste Gefahr des Mißverständnisses, ja des
Mißbrauchs solcher Veröffentlichungen. Bedarf es schon großer Vorsicht
und Liebe zur Wahrhaftiglceit, aus einzelnen aus dem Zusammenhang
gerissenen Stellen von Werken und Reden, die für die öffentlicJikeit
bestimmt sind, die richtigen Schlüsse zu ziehen, so ist die Gefahr hier
lim so großer, daß Kommentatoren, auch wenn sie besten Willens wären,
aus einzelnen Äußenmgen dieser Briefe völlig falsche Schlüsse ziehen,
indem sie für fest und starr ansehen, was fließt, als Meinung, was nur
Einfall, als Urteil, was nur Stimmung. Aus Zeugnissen größter subjektiver
Wahrheit können so Bilder größler objektiver Unwahrheit gewonnen
werden, Marx und Engels hatten nicht nötig, in ihrem Verkehr vor Ein-
seitigkeiten auf der Hut zu sein, denn sie waren sicher, daß vom Emp-
fänger die andere Seite gekannt und vorausgesetzt wurde. .... Die Briefe
sind erfüllt von einem unaufhörlichen Ringen nach Selbstverständigung,
von schonungsloser, bohrender Selbstkritik, daneben aber findet man auf
jeder Seite übermütigste Paradoxie bis zur burschikosen, ja blutigen
Selbstironie. So im vergleich lieh anziehend und fesselnd das ist, die Emp-
findung wlixi manchen Leser beschleiclien, daß es indiskret ist und daß
eine Art Scbamhaftigkeit sicli dagegen sträubt, sich in das nun nackt
daliegende innerste Gedankenleben dieser zwei großen Menschen zu
drängen. Aber eben ihre geschichtliche Größe macht, daß sie den An-
spruch auf Schonung verwirkt haben, und Bebel hat recht, wenn er im
Vorwort sagt: „Vor allem hat die sozialistisch denkende Welt Anspruch,
ein unverfälschtes Bild von dem Werdegang, dem Fühlen und Denken
der beiden Männer zu erhallen, die als die Begründer des modernen
wissenschaftlichen Sozialismus angesehen werden müssen und die für
ihn als die Sache des Proletariats ihre ganze Persönlichkeit einsetzten."
Während der Kriegszeit allerdings fühlte er sich oft durch den viel-
fachen Mißbrauch, der mit Zitaten aus Briefen der sozialistischen Klassiker
getrieben wurde, abgestoßen und äußerte gelegentlich: „Am liebsten würde
ich alle Briefe, die ich besitze, verbrennen!" Aber er hat sich doch niemals
dazu entschließen können. Im Gegenteil, er hing mit besonderer Pietät an
den Briefen von Friedrich Engels und hat sich aus dessen Nachlaß durch
Bebel und Bernstein seine eigenen Briefe zurückerstatten lassen. Ja, er hatte
sich sogar entschlossen, einen der Briefe von Engels selbst im „Kampf" zu
veröffentlichen. Und so dürfen wir wohl annehmen, daß wir seinen
Wünschen nicht entgegenhandeln, wenn wir seinen Briefwechsel mit Engels
der Öffentlichkeit zugänglich machen. War einmal die Publikation im
Prinzip entschieden, so bot die Frage des Ausmaßes der Veröffentlichung
weit weniger Schwierigkeiten. Nur was noch Lebende verletzen konnte und
X Victor Adler und Friedrich Engels .
zwar durchweg vStellen ohne politisches Interesse — im ganzen bloß etwa
vierzig Zeilen — " wurden weggelassen. Die betreffenden Stellen sind, um
Sie von den von Adler oft angewendeten zwei Gedankenstrichen — — zu
unterscheiden, durch ! — . — 1 angedeutet.
Leider sind nicht alle Briefe erhalten geblieben oder mindestens
konnten bisher nicht alle aufgefunden werden. Eine Anzahl von Briefen
Adlers an Engels, die Bebet übersehen hatte, wurden im Archiv der Sozial-
demokratischen Partei Deutschland gefunden und wurden ebenso wie die im
Nachlaß Victor .'\dlets befindlichen hier wiedergegeben. Vielleicht werden
sich in Zukunft noch einige Lücken — die allerdings nicht störend sind —
ausfüllen lassen.
Wir liaben es mit einem der seltenen Kälio zu tun, wo das Interesse
für beide Briefschrieber ein gleich großes ist. Und so wuchs unsere Ver-
öffentlichung über den ursprünglich gesteckten Rahmen hinaus, indem es
nahelag, das Bild der Beziehungen von Friedrich Engels zur österreichischen
Arbeiterbewegung überhaupt durch Wiedergabe seiner Begrüßungsschreiben
an die österreichischen Parteitage, von Artikeln, die er für österreichische
Parteiorgane geschiieben, und schließlich von Briefen an andere abzuinjnden.
Engels' Interesse für die österreichischen Probleme geht weit zurück*), aber
besonders intensiv wiu'de es in der Zeit, in der er )nit N'ictor Adler in
persönlicher Freundschaft verbunden war.
Die vorliegende Veröffentlichung zerfällt ganz naturgemäß in zwei
Teile, die durch den Tod von Friedrich Engels zeitlich geschieden sind. Im
zweiten Teil sind jene Aufsätze und Reden Adleis zusammengefaßt, die
das Lebenswerk von Marx und Engels zum Hauptgegenstand haben. Er wird
von jenen, die mit dem Studi\im der sozialistischen Literatur erst beginnen,
mit Vorteil vor dem ersten Teil gelesen werden. Bei der Anordnung des
Stoffes haben wir uns schliefiiich für die streng chronologische Ordnung
entschlossen. l)adui>c.h erleidet der Briefwechsel einige rnterbre<'hungen,
aber d<'r Leser erfährt so rechtzeitig, auf was — etwa Engels .Aufcnttialt in
Wien — in späteren Briefen Bezug genommen wird.
Der zweite Teil ist vollständig, der Briefwechsel in allen Hauptfragen
ohne Erläuterungen verständlich. Wir haben uns daher darauf beschränkt,
in Anmerkungen auf Zusammenhänge \ or allem mit der österreichischen
I'arteigeschichte kurz hinzuweisen, ohne auf Vollständigkeit .'Anspruch zu
machen. Insbesondere wurden die Titel der Bücher und Artikel, von denen
die Rede ist, genauer festgestellt, über die erwähnten Personen kurze An-
gaben und Literaturnachweise gegeben. Die Vornamen und Spitznamen
des engeren Freundeskreises, die im Briefw-echsel vorkommen, haben wir
nicht jedesmal ergänzt, sondern in einem alphabetischen Verzeichnis der
.,PersonenbezeicJinungen" zusammengestellt 'Seite XIL. In zwei Fällen — ■
Loo Franke! und Eieanor Marx-Aveling — konnten wir die ausführliche
(Charakteristik, die Victor Adler selbst von diesen Personen gegeben, durch
Alnlruck der Nachrufe, die er verfaßt, beibringen. Wie wir uns überhaupt
bemüht haben, auch in den Anmerkungen Victor Adler und Friedrich Engels
selbst sprechen zu lassen. Friedrich Adler.
*) Vergleiche seinen am 28. Jänner 18i8 in der ,, Deutschen Brüsseler
Zeitung" veröffentlichten Artil<el: ,.ner Anfang des Endes in Österreich."
Wiederabgedruckt im ..Kampf", VI Band, Seite 393 bis 307.
I. Bis zu Engels' Tod.
Personenbezeichnungen.
Adelheid = Adelheid Dworzak-Popp.
Alle siehe „der Alte".
August = August Bebel.
Clara = Clara Zetkin.
Der Alte =:Wlilhelm Liebknecht
Domela =: F. Domela Nieuvvenhuis
Ede = Eduard Bernstein.
Emma = Emma Adler.
General = Friedrich Engels.
Julius = Julius Molleler.
K. K. = Karl Kautsky.
Karl = Karl Kautsky.
Laura = Laura Lafargue.
Lenchen = Helene Demuth.
Leo = Leo Frankel.
Ijouise (Luise) r= Louise Kautsky- Freyberger.
Ludwig = Dr. Ludwig Freyberger.
Mumma = Louise Kautsky-Freyberger.
Onkel = Julius Motteier.
Paul rz: Paul Singer.
Storfer = Pernerstorf er.
Tante = Frau Motteier.
Tussy = Eleonor Marx-Aveling
Victor = Victor Adler
Briefe: Jänner 1888 bis April 1690.
Briefe: Jänner 1888 bis April 1890.
1.
Neujahrspostkarte an Engels. (Poststempel 1. Jänner 18S8.)
„Prosit Neujahr!'' 1888.
Emma Adler. Josef ine Braun. H. Braun. Leo Franke].
Hermann Bahr. Klem^ntine Spie^ler. Dr. V. Adler.
Leopold Braun. Ad. Braun.
2.
Neujahrspostkarte an Engels. (Poststempel 7. Jänner 1889.)
,, Prosit Neujahr!'* (Wegen Hainfeld verspätet!)
Ferd. Leißner. Emma Adler. Dr. V. Adler. S. Bondi.
Karl Kautsky. Ad. Braun. Mumma. Fritz Adler.
Leo Franke!. L. Braun. Dr. Eppinger. Pernerstorfer.
Anna Pernerstorfer.
Engels an Adler.
3.
London, 4. Dezember 89
Lieber Adler
» Den Cloots von Avenel *) habe ich Dir aus folgenden
Gründen zur Bearbeitung empfohlen :
Nach meiner (und Marx') Ansieht enthält das Buch die
erste auf archivalische Studien gestützte, richtige Darstellung
speziell der kritischenEpocheder Französischen
Revolution, nämlich die Zeit vom 10. August bis
9. Thermidor.
Die pariser Commune und Cloots waren für den Pro-
pagandakrieg als einziges Rettungsmittel, während das Comite
de salut public Staatsmänner te, Angst hatte vor der
euiopäischen Koalition, Frieden suchte durch Teilung der
Koalierten. Danton wollte Frieden mit England, das heißt Fo.x
*) Georges Avenel: Anarcharsis Cloots, l'orateur du genre humain,
Paris, A. Lacroix Verboekhoven & Co., 1865. 2 Bände, 894 Seiten.
Briefe: Jänner 1888 bis April 1890
mid der englischen Opposition, die bei den Wahlen aus Ruder
zu kommen hoffte. "Robespierre mogelte in Bas^l mit Österreich
und Preußen und wollte mit diesen i>ich arrangieren. Beide
gingen zusammen gegen die Commune, um vor allen Dingen die
Leute zu stürzen, die den Propagandakrieg, die Republikani-
sierung Europas wollten. Das gelang, die Commune (Hebert,
Cloots etc.) wurde geköpft. Von da an aber wurde Friede
unmöglich zwischen denen, die mit England allein, und denen,
die mit den deutfscheu Mächten allein Frieden schließen wollten.
Die englischen Wahlen fielen zugunsten Pitts aus. Fox war
auf jahrelang von der Regierung ausgeschlossen, das ruinierte
Dantons Stellung. Robespierre siegte und köpfte ihn. Aber —
und diesen Punkt hat Avenel nicht hinreichend hervor-
gehoben — während nun die Schreckensherrschaft bis ins
Wahnsinnige gesteigert wurde, weil sie notwendig w^ar, um
Robespierre unter den bestehenden inneren Bedingungen am
Ruder zu erhalten, wurde sie total überflüssig durch den Sieg
von Fleurus, 24. Juni 1894, der nicht nur die Grenzen befreite,
sondern Belgien und indirekt das linke Rlieinufer an Frank-
reich überlieferte, und da wurde Robespierre auch überflüssig
und fiel 24. Juli.
Die ganze Französische Revolution wird beheri-scht vom
Koalitionskrieg, alle ihre Pulsationen hängen davon ab. Dringt
flie Koalitionsarmee in Frankreich ein — Überwiegen des
Vagus, heftiger Herzschlag, revolutionäre Krisis. Muß sie fort,
dann überwiegt der Sympathicus, der Herzschlag» verlangsamt
sich, die reaktionären Elemente drängen sich wieder in dpn
Vordergrund, die Plebejer, die Anfänge des sj^äteren Prole-
tariats, deren Energie allein die Revolution gerettet, werden
zur Räson und zur Ordnung gebracht.
J)ie Tragik ist, daß die Partei des Krieg-es ä outrance, des
Krieges um die Völkerbefreiung, recht behält und daß die
Republik mit ganz Eui'opa fertig wird, aber erst, nachdem diese
Partei selbst längst geköpft, und statt des Propagandakrieges
nun der Baseler Friede und die Bourgeoisorgie des Direk-
toriums kommt.
Das Bucli muß total umgearbeitet und gekürzt werden
— die Deklaruiererei muß heraus, die Tatsachen aus den ge-
wöhnlichen Cieschichtsbüchern ergänzt und klar hervorgehoben
werden. Cloots kann dabei ganz in den Hintergrund treten;
Briefe : Jänuer 1888 bis April 1890.
aus den Lundis revolut. *) können die wichtigsten Sachen ein-
geschoben werden — so kann's ein Werk über die Revolution
werden, wie bis jetzt kein's existiert.
Die Darlegung-, wie die Schlacht von Fleurus die
Schreckensherrschaft stürzte, ist gegeben 1842 in der (ersten)
„RJ^eini^schen Zeitung" von C\ F. Koppen in einer ausgezeich-
neten Kritik von H. Leos (restihichte der Französischen
Revolution**).
drüß' Deine Frau und Luise K. vielmals. Dein
4.
Adler an Engels.
Verehrter Freund!
V. Engels.
Wien, 21./1. 1890***).
Du hast so gegründete Veianlassung, mir böse zu sein,
daß ich meinen Brief mit sehr langen Erklärungen beginnen
sollte. Die mir so unerwartet freundliche Aufnahme im Sommer,
Dein ausführlicher Brief im Dezember, ja sogar Deine Neu-
jahrskarte haben mir bis jetzt kein Wort abringen können. Was
mich entschuldigt, ist eine Zerrissenheit meiner ganzen Zeit
und Ai-beit^möglichkeit, die mir keine Muße läßt, ausführlich
über Dinge zu schreiben, die Dich vermutlich interessiei'cn und
nur ausführlich wollte ich Dir schreiben. Da ich nun sehe, daß
ich dazu nicht komme, so will ich wenigstens ein ]>ebenszeichen
von mir geben. Die Verschleppung meiner Haft, die ins Thi-
glaubliche geht (am 7. Dezember hat der Oberste (»erichtshol'
entschieden und noch heute habe ich keine Zustellungf), läßt
*) Georg Avenel: Lundis levolutjoniiiiires 1871 — ]87i-, Nouveaux
ecJaiicissements sur la Revolution francaiso. Paris J87.').
**; Erschien 1842 in Halle.
***) Im Originalbrief steht anstatt 1890 als Schreibfehler 1889.
t; Die ..Arbeiter-Zeitung" vom 31. Jänner 1890 meidet: .Am
2-i. Jänner wurde Genossen Dr. Adler das am 7. Dezember gefällte Urteil
des Obersten Gerichtshofes zugestellt. So wie die Beschwerde gegen die
Verhandlung vor dem Aiisnahmsgcnchtshnf wurde auch die fk-rufung gegen
das Strafausmaü als unbegründet zurückgewiesen und die vier Monate ver-
schärften .Arrestes, verbunden mit einem Fastlag in jedem Monat, als eine
dem Delikt , angemessene Strafe' erkannt. Genosse Adler mußte zur
Ordnung seiner Angelegenheiten kurzen Strafaufschub verlangen und wird
seine Haft im Laufe des Februar antreten." Cber den Prozeß selbst vergleiche
die Broschüre: Die „Gleichheit" vor dem Ausnahmsgericht. Stenographischer
Bericht über die Schlußverhandlung gegen Dr. V. Adler und L. A. Brel-
schneider am 27. Juni 1889. Wien 1889.
Briefe : Jänner 1888 bis April 1890
nriich so schwer zu etwas Vernünftigem kommen. Diese Esel
meinen, ich werde am 1. Mai mit Bomben im Sack in den Prater
spazieren gehen und wollen mich durehauf» an dem Tage drin
haben Nun lebe ich seit dem Sommer im Provisorium;
dazu eine Menge widerwärtiger .l*rivatgeschäfte — es ist zum
Davonlaufen. Der Lichtpunkt sind die Parteiverhältnisse. Nicht
nur, daß die letzte Spur von Anarchisterei verschwunden ist,
haben wir ihre Hauptquelle verstopft, da der Polizeirat Frankl,
das Haupt der Lockepitzel von uns endlich weggeschimpft
wurde. Derlei ist auch nur in Österreich möglich, wo nicht ein-
mal Niedertracht und Polizeiperfidie ordentlich gemacht
werden, alle Behörden untereinander Krieg führen und es mög-
lich ist, ihre Eifersucht auszunützen — dabei ist das politische
Ansehen der Partei nach außen sehr gewachsen und unter den
Arbeitern so groß wie nie zuvor. Alle Organisationen, die ge-
,'^chaffen waren, uns umzubringen, sind in unseren Händen; alle
Blätter, die schlechtesten Presseerzeugnisse werden massenhaft
abgesetzt ; ja sogar die guten wachsen riesig ; „riesig" für unsere
Verhältnisse. Die „Arbeiter-Zeitung'' hat 9000 Auflage; vor
einem Jahre die „Gleichheit"*) 5000 — die Schwierigkeit ist
nur, die Leute zu beschäftigen und wach zu erhalten — ohne
Wahlrecht. Nun werden in gar nicht ferner Zukunft unsere
politischen Verhältnisse ein neues. Gesicht bekommen. Der be-
rühmte „Ausgleich'' bedeutet, daß wir statt nationaler Parteien
endlich Torys und Whige, freilich mit ganz anderen Kampf-
punkten, Programmen etc. erhalten. LJu siehst, ich habe die Be-
deutung der jung-tschechischen Wahlsiege im Sommer nicht
übertrieben. Der „Ausgleich" ist die direkte Folge davon. Ich
erwartete ihn nach den Wahlen (Sommer 1891) ; die Kerle
fürchten aber gerade die Wahlen und darum schon heute die
geänderte Lage. Vor allem hat der Kaiser gedrückt, der fest be-
hauptet: Binnen allerlängstcns zwei Jahren haben wir Krieg
mit Kußland, und der vorher Ordnung haben will. Er glaubt
so eicher an den Sieg, daß er Verfassungsändenmgen hinaus-
*) Die „Gleichheit", die Vorläuferin der „Arbeiter-Zeitung", wurde
unmittelbar vor dem Prozeß gegen Adler und Bretschneider durch die
Polizei verboten. Die letzte Nummer der „Gleichheit" erschien am 14. Juni
1889, die erste der „Arbeiter-Zeitung" am 12. Juli 1889. Als Herausgeber
zeichnete, um die Kontinuität nicht allzu provozierend zu dokumentieren,
nicht mehr Adler, sondern Julius Popp und Rudolf Pokorny. Über das
Zwischenstadium zwischen „Gleichheit" und ,, Arbeiter-Zeitung" siehe
„Sozialdemokratische Monatsschrift", I. Jahrgang, Nr. 5, datiert vom
31. Mai 1889, erschienen Ende Juni, Seite 11 bis 16 („Sprechsaal").
Briefe: Jänner 1888 bis April 1890.
schieben will, bis ein gutes Stück Russisch-Poleu niit„geregelt"
werden kann. Für uns ist es nun außerordentlich günstig, wenn
die Nationalitätenfrage in den Hintergrund tritt. Wir können
ihr gegenüber nichts tun als unsere Internationalität betonen,
und dae ist auf die Dauer sehr langweilig. Die Impotenz der
großen Parteien tritt aber dann erst recht in helles Licht, wenn
sie sich an die anderen Fragen werden machen müssen. Außer-
dem dürften wir Reformen, wenn nicht Wahlrecht, doch Press-,
Versamralungs- und Vereinsrecht ergattern : obwohl ich
nicht allzuviel erwarte, ist jede kleinste Konzeseion schon ein
Eiesengewinn. — Wenn nur der ind'uatrielle „Aufschwung'"
einige Zeit hält; das ist für uns das wichtigste. —
Deinen Rat. den Avenel zu bearbeiten, nehme ich mit
großem Danke an. Was mir fehlt, werde ich wohl erst im Ver-
lauf der Arbeit sehen und bitte Dich iiu vorhineiu um weitere
Beihilfe. — Die Lectures on marriage (Owen*j werde ich
jedenfalls übersetzen und mich dabei umsehen, ob ich das von
Dietz längst gewünschte Buch nicht doch fertig kriege. Was
mich abhält, ist. daß ich eine Arbeit a la Bebel-Fonrier nicht
machen will, weil ich sie für wertlos halte; für eine Leistung
a la Kaütsky-Morus aber mein Wissen kaum ausreicht. Viel-
leicht komme ich aus dem Dilemma heraus!
Kautsky habe ich gestern gesehen; bis dahin wußte ich
offiziell nicht, daß er da sei. Er hat Influenza gehabt (unter
der wir übrigens zu Neujahr alle gelitten haben) und sieht
elend aus. Ich freue mich herzlich von iiim zu hören, daß Du
wf>hl und arbeitelustig bist, wie je zuvor. Du wirst es nicht übel-
nehmen, wenn ich Dir einmal ausdrücklich sage, wie wir in
Österreich alle an dir hängen und wie wir, ich vor allen, davon
durchdrungen sind, was wir Dir zu danken haben. In einem
Sinne Dir mehr, oder sagen wir: anderes als Marx: Politik und
Taktik, Anwendung der Theorie in corpore vivo.
Hoffentlich kriegen wir bald den IlT. Band und wirst Du
auch diese Riesenarbeit bewältigen, um den Kopf frei zu be-
kommen für andere Arbeiten
*j Lectures on Ihe marriage of tiie Priesthood of Ihe old immoral
World. Delivcred in the year 1835 before the Passing of the new marriage
act by Robert Owen. Adler hat die beabsichtigte Übersetzung nicht aus-
geführt. t-|)er den Inhalt der Arbeit Owens vergleiche zum Beispiel Helene
Simon; Robert Owen. Verlag Fischer, Jena 1905, Seite 272 bis 281.
Friedrich Engels über den Antisemitismus.
Von Louise kann ich melden, daß sie in Rekonvaleszenz
ißt. Die schwere Wunde vernarbt langsam, aber sie vernarbt.
Sie ist viel bei uns und ich hoffe, daß sie auch bald wieder mehr
zu tun kriegt, was ihr in jedem Sinne gut täte.
In der Anlage findest Du zwei Exemplare von der Photo-
graphie Marx', die ich nach dem Bilde, das mir Frau Laura an-
vertraut, vervielfältigen ließ. Da ich glaube, daß Du sie nicht
hast, so sende ich sie. Gib eines Deiner sorglichen Hausfrau*),
deren ich dankbar gedenke und die ich herzlich zu grüßen bitte.
Ebenso folgen von meiner Frau herzliche Grüße an Dich und
sie. Dein Dr. V. Adler.
5.
..Arbeiter-Zeitung." 9. Mai 1890.
Friedrich Engels über den Antisemitismus.
Aus einem Privatbrief nach Wien**).
. . . (3b Sie aber n)!t dem Antisemitism,us nicht mehi- Un-
glück als Gutes anrichten werden, muß ich Ihnen zu bedenken
geben. Der Antisemitismus ist das Merkzeichen einer zurück-
gebliebenen Kultur und findet sich deshalb auch mir in Preußen
und Österreich, respektive Rußland. Wenn man hier in Eng-
land oder in Amei-ika Antisemitismus treiben wollte, so würde
man (ünfach ausgelacht und Herr J3rumont erregt in Paris mit
seinen Schriften — die an Geist denen der deutschen Anti-
semiten unendlich überlegen sind — doch n\ir ein bißchen wir-
kungslose Eintags-Seiisation. Zudem muß er ja jetzt, da er als
Stadtratskandidat auftritt, selbst sagen, er sei gegen das christ-
liche Kapital ebensosehr, wie gegen das jüdische! Und Herrn
Drumont würde man lesen, wenn er auch die gegenteilige
Meinung verträte.
*) Helene Demulh, die treue Genossin und Helferin der Familie ]\hux,
die die schlimmsten Jahre des Exils tapfer miterlrug, hat seit Marx' Tod den
Jlaushalt Friedrich Engels" geleitet. Vergleiche über Helene Demuth den
.\ufsatz Paul Lafargues: „Karl Marx, Persönliche Erinnerungen", „Neue
Zeit", erster Band des IX. .lahrganges, Seite 38 — 39 (1890) sowie
W. Liebknecht: ..Karl Marx zum Gedächtnis", Nürnberg, Wörlein & Co.,
1896, Seile 90 ff.
**) Am 9. Mai 1890 veröftenllichtc die „Arbeiter-Zeitung" den oben
gegebenen Teil aus einem Brief von Friedrich Engels, mit folgender An-
merkung: ..Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, daß wir diesen Brief mit
beiderseitiger Genehmigung, der des Schreibers und der des Empfängers,
zum Abdruck bringen. Die Redaktion." Den Namen des Empfängers könnt»;
der Herausgeber nicht feststellen.
Friedrich Engels über den Antisemitismus.
Es ist in Preußen der Kleinadel, das Junkertum, das
10.000 Mark einnimmt und 20.000 Mark ausgibt und daher den
Wucherern verfällt, das in Antisemitismus macht, und in
Preußen und Österreich i§t es der dem Untergang- durch die
großkapitalistische Konkurrenz verfallene Kleinbürger, Zunft-
handwerker und Kleinkrämer, der den Chor dabei bildet und
mitschreit. Wenn aber das Kapital diese Klassen der Gesell-
schaft vernichtet, die durch und durch reaktionär sind, so tut
es, was seines Amtes ist, und tut ein gutes Werk, einerlei, ob
es nun semitisch oder arisch, bes<'hnitten oder getauft ist; e»
hilft den zurückgebliebenen Preußen und Österreichern vor-
wärts, daß sie endlich auf den modernen Standpunkt kommen,
wo alle alten gesellschaftlichen Unterschiede aufgehen in den
einen großen Gegensatz von Kapitalisten und Lohnarbeitern.
Nur da, wo dies noch nicht der Fall, wo noch keine starke Kapi-
talistenklasse existiert, also auch noch keine starke Lohn-
arbeiterklasse, wo das Kapital noch zu schwach ist, sich' der
gesamten nationalen Produktion zu bemächtigen und daher die
Effektenbörse zum Haupt seh au platz seiner Tätigkeit hat, wo
also die Produktion noch in den Händen von Bauern, Guts-
herren, Handwerkern und ähnlichen aus dem Mittelalter über-
kommenen Klassen sich befindet — nur da ist das Kapital vor-
zugsweise jüdisch und nur da gibt's Antisemitismus.
In ganz Nordamerika, wo es Millionäre gibt, deren Reich-
tum sich in unseren lumpigen Mark, (Julden oder Franken
kaum ausdrücken läßt, ist unter diesen Millionaren nicht
e i n e i n z i g e r .T u d e, und die Rothschilds sind wahre Bettler
gegen diese Amerikaner. Und selbst hier in England ist Roth-
.schild ein Mann von bescheidenen Mitteln zum Beispiel gegen-
über dem Herzog von Westminster. Selbst bei uns am Rhein,
tie wir mit Hilfe der Franzosen den Adel vor 95 Jahren zum
Land hinausgejagt, und nns eine moderne Industrie geschaffen
haben, wo sind da die Juden?
Der Antisemitismus i.st also nichts anderes als eine
Reaktion mittelalterlicher, untergehender Gesellschafts-
t^chichten gegen die moderne Gesellschaft, die wesentlich aus
Kapitalisten und Lohnarbeitern besteht, und dient daher nur
reaktionären Zwecken unter scheinbar sozialistischem Deck-
mantel; er ist eine A'bart des feudalen Sozialis^mos, und damit
können wir nichts zu schaffen haben. Ist er in einem Lande
Der 4. Mai in London.
möglich, so ist das ein Beweis, daß dort noclr nicht genug
Kapital existiert. Kapital und Lohnarbeit sind heute untrenn-
bar. Je ^'^tiirker das Kapital, desto stärker auch die Lohnarbeiter-
klasse, desto näher also das Ende der Kapitalisteuherrschaft.
Uns Deutschen, wozu ich auch die Wiener rechne, wünsche ich
also recht flotte Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft,
keineswegs deren Versumpfen im Stillstand.
Dazu kommt, daß der Antisemitismus die ganze Sachlage
verfälscht. Er kennt nicht einmal die Juden, die er nieder-
schreit. Sonst würde er wissen, daß hier in England und in
Amerika, dank den osteuropäischen Antisemiten, und in der
Türkei, dank der spanischen Liquisition, es Tausende und Aber-
tausende jüdischer Proletarier gibt ; und zwar sind
diese jüdischen Arbeiter die am schlimmsten ausgebeuteten und
die allerelendesten. Wir haben hier in England in den letzten
zwölf Monaten drei Streiks jüdischer Arbeiter gehabt, und
da sollen wir Antisemitisanus treiben als Kampf gegen das
Kapital ?
Außerdem verdanken wir den Juden A^el zu viel. Von
Heine und Börne zu schweigen, war Marx von stockjüdisohem
Blut; Lassalle war Jude. Viele unserer besten Leute sind
fludeu. Mein Freund Victor Adler, der jetzt seine Hingebung
für die Sache des Proletariats im (lefängnis in Wien abbüßt,
Eduard Bernstein, der Redakteur des Londoner ,, Sozial-
demokrat", Paul Singer, einer unserer besten Eeichstags-
männer — Leute, auf deren Freundschaft ich stolz bin, und
alles Juden! Bin ich doch sell>st von der ,,(Tartenlaul)e'" zum
Juden geuuiclit worden, und a-llerding\Si, wenn ich wählen
müßte, dann lieber Jude als ,,Herr v o n"! . . .
London, 10. April 1890. F r i e d rieh E n g e 1 s.
6.
„Aibeiler-Zoitung." 23. Mai JS90
Der 4. Mai in London.
Von Friedrii'h Engels.
Die Maifeier des Proletariats war epochemachend nicht
nui' durch ihre Allgemeinheit, die sie zur ersten internationalen
T a t der kämpfenden Arbeiterklasse machte. Sie hat auch dazu
gedient, höchst erfreuliche Fortschritte in den einzelnen Län-
dern zu konstatieren. Feind und Freund sind einig darüber,
Der i. Mai in London.
'laß auf de in ganzen Festland Österreich, und
in Österreich Wien, den Festtag des Proleta-
riats am glänzendsten und würdigsten be-
gangen und die öslerreichische, voran die Wiener Arbeiter-
schaft, sich damit eine ganz andere Stellung in der Bewegung
erobert hat. Vor einigen Jahren noch war die österreichische
Bewegung fast auf den Nullpunkt gesunken, waren die Ar-
beiter der deutschen und slawischen Kronländer in feindliche
Parteien gespalten, ihre Kräfte aufreibend in innerem Kampf;
wer noch vor nur drei Jahren behauptet hätte, am 1. ]\[ai 1890
würde Wien und ganz Österreich allen anderen ein Vorbild
geben, w^ie ein proletarisches Klassenfest zu feiern ist, den
hätte man ausgelacht. Diese Tatsache werden wir gut tun, nicht
zu vergessen, wenn wir die Zwistigkeiten der inneren Kämpfe
beurteilen, in denen die Arbeiter anderer Länder ihre Kräfte
noch heute verzehren, wie zum Beispiel in Frankreich. Wer
■' will behaupten, daß Paris nicht wird tun können, was Wien
getan hat?
Wien aber ist am 4. Mai in den Schatten gestellt worden
von London. L"nd das halte ich für den wichtigsten und groß-
artigsten Teil der ganzen Maifeier, daß am 4. 'Mai 1890 das
von vierzigjährigem Winterschlaf erwachte englische
Proletariat in die Bewegung seiner Klasse
wieder eingetreten ist. Um dies zu verstehen, ist
die Vorgeschichte des 4. Mai unentbehrlich.
Hegen Anfang vorigen Jahres geriet das größte und
elendeste Arbeiterviertel der Welt, das Ortende von London,
allmählich in Bewegung. Am 1. April 1889 wurde der Fach-
verein der (iasarbeiter und Handarbeiter überhaupt (Gas
Workers and General Labourers Union) gestiftet ; er zählt
heute an 100.000 Mitglieder. W"e-sentlich unter Mitwirkung
dieses mitbeteiligten Vereines (viele sind Gasarbeiter im
Winter, Dockarbeiter im Sommer) kam der große Dockstreik
in Ciang nnd rüttelte eelbf^t den untersten Bodensatz der
Ostlondoner Arbeiterschaft aus der Versumpfung auf. Jetzt
bildeten sich unter diesen, meist ungelernten Arbeitern
Kachvereine übei- Fachvereine, während die <lort schon
bestehenden, bisher nur mühsam sich haltenden, nun rasch
aufblühten." Der Unterschied dieser neuen Trades Unions von
den alten war aber sehr groß. Die alten, die „gelernten*'
10 T^ , w
AJer 4. Mai m London
Arbeiter umfassend, Bind exklusiv; sie schließen alle nicht
zunftmäßig angelernten Arbeiter aus, und schaffen sich damit
selbst eine nicht zünftige Konkurrenz; sie sind reich, aber je
reicher, desto mehr arten sie aus in bloße Kranken- und Sterbe-
kassen; sie sind konservativ und halten sich namentlich den
fft Sozialismus vom Halse, soviel und solange es geht Die
neuen „ungelernten'^ dagegen nehmen jeden Fachgenossen
auf; sie sind wesentlich, und die Gasarbeiter sogar au-
schließlich, Streikvereine und Streikka^en; und wenn sie
auch noch nicht Mann für Mann Sozialisten sind, so wollen sie
doch platterdings zu ihren Führern nur Sozialisten und keine
anderen. Die sozialistische Propaganda war aber schon seit
Jahren im Ostende tätig gewesen, und hier waren es besonder«
I^rau E. Marx-Aveling und ihr Mann, Eduard Aveling, die
seit vier Jahren in den fast nur aus Arbeitern bestehenden
„radikalen Klubs" das beste Propagandafeld entdeckt und
ausdauernd bearbeitet hatten, und wie sich jetzt gezeigt hat
mit dem besten Erfolg. Während des Dockstreiks war Frau
Aveling eine der drei Frauen, die die Unterstützungsverteilung
besorgten und zum Dank dafür von Herrn Hyndman, dem
Ausreißer von Trafalgar Square, verleumdet wurden, als hätten
sie sich dafür aus der Streikkasse drei Pfund ^Sterling
wöchentlich zaWen lassen. Den Streik in Silvertown, ebenfalls
im Ostende, vorigen Winter, leitete Frau Aveling fast ganz
aüein und sie vertritt eine von ihr dort ge8tiftete Frauen-
sektion im Ausschuß der Gasarbeiter.
-.Die Gasarbeiter hatten sich im vorigen Herst hier in
London den achtstündigen Arbeitstag erkämpft, ihn aber im
südlichen Stadtteil in einem unglücklichen Streik wieder ver-
loren und Beweise genug erhalten, daß diese Errungenschaft
auch im nördlichen Teil Londons keineswegs für immer
gesichert ist. Was Wunder also, daß sie bereitwillig eingingen
auf den Vorschlag von Frau Aveling, die vom Pariser Kongreß
beschlossene Maifeier zugunsten des gesetzlichen Achtstunden-
tager. f„r London einzuleiten? In Gemeinschaft mit einigen
sozialistischen (Iruppen, den radikalen Klubs und den anderen
Trades Unions im Ostende setzten sie ein Zentralkomitee ein
das eine große Demonstration zu diesem Zweck im Hydepark
organisieren sollte. Da «ich herausstellte, daß jeder Versuch
diese Demonstration am Donn^rsta^ den ]. Mai abzuhalten ,n
Der 4. Mai in London. ll
diesem Jahr notwendig scheitern müsse, so beschloß man, sie
auf Sonntag den 4. zu verlegen.
Damit womöglich alle Londoner Arbeiter sich beteiligten,
lud das Zentralkomitee in naiver Unbefangenheit auch den
Londoner Trades Council ein. Es ist dies eine aus Delegierten
von Londoner Trades Unions, und zwar meist der älteren
,. gelernten'' Gewerkschaften zusammengesetzte Körperschaft,
worin, wie zu erwarten, einstweilen noch dae antisozialistische
Element die Mehrheit hat. Der Trades Council sah, daß die
Bewegung für den Achtstundentag ihm über den Kopf zu
wachsen drohe. Die alten Trades Unions sind ebenfalls für
einen achtstündigen Arbeitstag, aber nicht für einen gesetzlich
festzusetzenden. Unter dem Achtstundentag verstehen sie,
daß für acht Stunden der normale Taglohn — so viel per Stunde
— bezahlt wird, daß es aber erlaubt sein soll, jede beliebige
Zahl täglicher Überstunden zu arbeiten, vorausgesetzt, daß
jede Überstunde höher bezahlt wird, sage so viel wie anderthalb
oder zwei gewöhnliche Stunden. Es handelte sich aleo darum,
die Demonstration in das Fahrwasser dieses durch , .freie'"
Vereinbarung zu erkämpfenden, aber ja nicht durch Parla-
mentsakte obligatorisch zu machenden Arbeitstages zu lenken.
Zu diesem Zweck vereinigten eich der Trades Council mit der
Social Democratic Federation des obenerwähnten Herrn
Hyndman, einer Gesellschaft, die sich als die alleinselig-
machende Kirche des englischen Sozialismus geriert. die ganz
konsequent ein Bündnis auf Leben und Tod mit den
franzöeischen Possibilisten geschlossen und deren Kongreß
beschickt hat und die daher von vornherein die vom Marxisten-
kongreß beschlossene Maifeier als eine Sünde wider den
Heiligen Geist ansah. Auch ihr wuchs die Bewegung über den
Kopf; aber dem Zentralkomitee sich anschließen, hieß sich
unter die Führung der ,, Marxisten" stellen; wenn dagegen der
Tradee Council die (Sache in die Hand nahm und wenn die
Feier am 4. stattfand statt am 1. Mai, so war das gar nicht die
böse „marxistische" Maifeier mehr und man konnte mitmachen.
Trotzdem nun die sozialdemokratische Föderation den gesetz-
lichen Achtstundentag in ihrem Programm führt, schlug sie in
die vom Trades Council gebotene Hand mit Freuden ein.
Die neuen Alliierten, sonderbare Bettgenossen wie eie
waren, begingen nun einen Streich, gegen das Zentralkomitee,
12 Der 4. Mai in London.
(U.'V in der politischen Praxis der englischen Böurgeoii>ie zwar
als nicht nur erlaubt, sondern als sehr geschickt gelten ^i-irde,
den aber die europäischen und aniorikanischen Arbeiter wahr-
scheinlich für äußerst kommun erklären werden. Bei Volks-
versammlungen im Hydepark nämlich müssen die Veranötalter
ihre Absicht dem Ministerium für öffentliche Arbeiten (Board
cf Works) vorher anzeigen und sich mit ihm über die Einzel-
heiten verständigen, namentlich die Erlaubnis einholen, Wagen,
die als Tribünen dienen sollen, aufs Gras zu fahren. Vorschrift
ist dann, daß, nachdem eine Versajimilung angezeigt, keine
zweite am selben Tage im Park gehalten werden darf. Das
Zentralkomitee hatte diese Anzeige noch nicht gemacht; kaum
aber erfuhren dies die gegen dasselbe verbündeten Körper-
schaften, als sie sofort auf den 4. ^lai eine Verj^ammlung im
Park anmeldeten und sich sieben Tribünen bewilligen ließen,
nnd zwar hinter dem Rücken des Zentralkomitees.
Damit glaubten der Trades Council und die Föderation
den l'ark für den 4. Mai gepachtet und den Sieg in der Tasc-he
zu haben. Der erstere berief nun eine Versammlung von Dele-
gierten der Trades Unions, wozu auch zwei Delegierte des
Zentralkomitees eingeladen wurden; dieses sandte ihnen drei,
darunter Frau Aveling. Der Trades Council trat ihnen gegen-
über auf als Herr der Situation. Er teilte mit, daß n u r Fach
vereine, also keine sozialistischen Vereine oder politische Klub?
an der Demonstration sich beteiligen und Fahnen mitbringen
könnten; wie die sozialdemokratische Föderation da mitdemon-
strieren sollte, blieb ein Rätsel. Er hatte die der Versammlung
vorzulegende Resolution bereits fertig redigiert, und zwar war
darin die Forderung des gesetzlichen Achtstundentage-^
gestrichen; ein Vorschlag, ihn wieder hineinzusetzen,
wurde wieder zur Debatte noch zur Abstinmiung zugelassen.
Und endlich weigerte er sich, Frau Aveling als Delegierte zuzu-
lassen, weil sie keine Handarbeiterin sei (was nicht wahr ist).
und trotzdem sein eigener Präsident, Herr Shipton, seit
reichlich 15 Jahren keinen Streich in seinem Handwerk
gearbeitet hat.
Die Arbeiter des ^Zentralkomitees waren entrüstet über
den ihnen gespielten Sti-eich. Die Demonstration schien end-
gültig in die Hände zweier Körperschaften ges-pielt, die nur
geringe Minoritäten der Londoner Arbeiter vertraten. Kein
Der 4. Mai in London. lÜ
Gegenmittel schien zu bleiben als die von den Gasarbeitein
angedrohte Erstürmung der Tribünen des Trades* Council.
Da ging Eduard Aveling aufs Ministerium und erwirkte trotz
der entgegenstehenden Kegel dem Zentralkomitee das Recht,
ebenfalls sieben Tribünen im Park aufzufahren. Der Versuch,
die Demonstration im Interesse der Minorität zu eskamotieren,
war gescheitert; der Trades Council zog seine Hörner ein und
war froh, mit dem Zentralkomitee wegen Anordnung der
r>emonstration auf gleichem Fuß verhandeln zu dürfen.
Dieses Vorgeschichtliche muß man. kennen, um den
Charakter und die Bedeutung der Demonstration zu würdigen.
Von den neu in die Bewegung eingetretenen Arbeitern des
Ostends angeregt, fand sie solch allseitigen Anklang, daß zwei
Elemente, die einander nicht minder feindlich gegenüber-
standen als beide zux'^ammen dem (rniudgedanken der Demon-
stration, genötigt wurden, sich zu verbünden, um die Leitung
an sich zu reißen und die Versammlung in ihrem Sinne auszu-
beuten. Hier der konservative Trades Council, der die Gleich-
berechtigung von Kapital und Arbeit predigt, dort die radikal-
tuende sozialdemokratische Föderation, die bei allen ungefähr-
lichen Gelegenheiten mit der sozialen Revolution um sich
wirft — und beide verbündet zu einem geraeinen Streich, um
Kapital zu schlagen aus einer ihnen beiden grundverhaBten
Demonstration. Die Versammlung des 4. Mai wurde durcli ,
diese Vorgänge in zwei Teile gespalten : auf der einen Seite die
konservativen Arbeiter, deren Gesichtskreis nicht über das
Lohnarbeitssystem hinausgeht, und daneben eine engbrüstige,
aber herrschsüchtige sozialistische Sekte: auf der anderen die
große Masse der neu in die Bewegung eingetretenen .\rboiter,
die von dem Manchestortum der alten Trades Unions nichts
mehr hören und sich ihre volle Emanzipation selbst erkämpfen
wollen, und zwar mit selbstgewählten Bundesgenossen, nicht
mit den von einer kleinen sozialistischen Kuterie vorgeschrie-
benen. Auf der einen Seite det Stillstand, vertreten durch
Trades L'nions, die sich selbst vom Zunftgeist noch
nicht ganz befreit, und durch eine engherzige Sekte,
die sich auf die schäbigsten Bundesgenossen stützt; auf
der anderen die lebendige freie Bewegung des wieder
erwachenden englischen Proletariats. Vnd der Augen-
schein zeigte auch dem Blindesten, wo in dieser Doppel-
14 Der 4. Mai in London
versammln Hg das irische Leben war und wo die Stagnation.
TTm die sieben Tribünen des Zentralkomitee^s^ dichte, unabseh,-
bare Scharen, heranziehend mit Musik und Fahnen, über
Hunderttausend im Zug, verstärkt durch fast eben,so viele, die
einzeln gekommen; überall Einstimmigkeit und Begeisterung-
und doch Ordnung und Organisation, An den Tribünen der
vereinigten Reaktionäre dagegen schien alles inatt ; ihr Zug,
weit schwächer als der andere, schlecht organis-iert, unordentlich
und großenteihs verspätet, so daß man dort stellenweise erst
anfing, als das Zentralkomitee bereits fertig w'ar. Während die
liberalen Führer einzelner radikalen Klubs und die Beamten
mancher Trades Ünions sich dem Trades Council angeschlossen,
marschierten die Mitglieder der&elben Vereine, ja, vier ganze
Zweiggesellschaften der sozialdemokratischen Föderation, mit
dem Zentralkomitee. Trotz alledem hatte der Trades Council
immer noch einen Achtungserfolg, aber der durchschlagende
Erfolg war beim Zentralkomitee.
Was al>er die zahlreichen zuschauenden Bourgeois-
politiker als Totaleffekt mit nach Hause genonmien, das
ist die Gewißheit, daJ3 das englische Proletariat, das
nunmehr volle vierzig Jahre den Schwanz und das Stimm-
vieh der großen liberalen Partei abgegeben, endlich zu neuem
selbständigen Leben und Handeln erwacht ist. Und daran kann
kein Zweifel sein: Am 4. Mai 1890 ist die englische Arbeiter-
klasse eingetreten in die große internationale Armee. Und das
ist eine epochemachende Tatsache. Das englische Proletariat
fußt auf der fortgeschrittensten industriellen Entwicklung und
besitzt dazu die größte politische Bewegungsfreiheit. Sein
langer Winterschlaf — Folge einei^eits des Scheiterns der
Chartistenbewegung von 18;5(j bis 1850, anderseits des
kolossalen indu.striellen Aufschwungs von 1848 bis 1880 — ist
endlich gebrochen. Die Enkel der alten Chartisten treten in
die Schlachtlinie. Seit acht Jahren hat es sich geregt in der
breiten I^lasse, bald hier, bald da. Es. isind sozialistische Gruppen,
aufgetaucht, aber keine hat es über den Stand einer Sekte
hmausgebracht; Agitatoren und angebliche Parteiführer,
darunter auch bloße Spekulanten und Streber, sie blieben Offi-
ziere ohne Soldaten. Es war fast inm:ier die berühmte Kolonne
Robert Blums aus dem badischen Feldzug von 1849: ein Oberst,
elf Offiziere, ein Horni&t und ein Mann. Und der Krakeel
Briefe: November 1890 15
dieser verschiedeaen Kolonnen Robert Blums untereinander
über die Führung der künftigen proleta riechen Armee war
keineswegs erbaulich. Das wird jetzt bald aufhören, ganz wie
evS aufgehört hat in Deutsehland und in Österreich. Die gewal-
tige Bewegung der Massen wird allen diesen Sekten und
Häuflein ein Ende machen, indem sie die Soldaten absorbiert
und den Offizieren den ihnen gebührenden Posten anw-eist.
.Wem's nicht gefällt, der kann sich drücken. Ohne Beibung
wird's nicht abgehen, aber es wird gehen, und in kürzerer Zeit,
als mancher erwartet, wird die englische proletarische Armee
so einig, so gut organisiert, so entschlossen sein, wie irgendeine
und von allen ihren Kameraden des Kontinents und Amerikas
mit Jubel begrüßt*).
Briefe: November 1890.
7.
Engels an Adler.
122 Regents Park Pwoad N. W.
London, 15. November 1890.
Lieber Adler-
Herzlichen Dank für Deinen Brief. Eben kommen Ave-
lings**) zu mir mit einem Telegramm von Luise***), die heute
*; Bczüsilich dieses Artikels schreibt Engels am 9. August 1890 an
Sorge: „Hier herrscht Sommerrulie, nur daß Hyndman, als Antwort auf
meinen Maiarlikel in der „Wiener Arbeiterzeitung" mich wieder als „Groß-
lama von Regents Park Road" in seiner „.Justice" mausetot geschlagen hat."
(Briefe an Sorge, Seite Mi.)
**) Edward .Vveling war der Mann von Eloanor Marx-Aveling, der
jüngsten Tochter von Karl Marx.
***) Am 4. November 1890 war Helene Demuth gestorben. Engels schrieb
am 5. November 1890 an Sorge: „Heute habe ich Dir eine Tiauernachricht
zu melden. Mein gutes, liebes, treues Lenchen ist gestern nachmittags nach
kurzer und meist schmerzhafter Krankheil sanft eingeschlafen. Wir haben
sieben glückliche Jahre hier im Hause zusammen verlebt. Wir waren die
zwei letzten von der alten Garde von vor 1848. .letzt steh ich wieder allein
da. Wenn während langer Jahre Marx, und in diesen sieben Jahren ich,
Ruhe zum .Arbeiten fand, so war das wesentlicli ihr Werk. Wie es jetzt mit
mir werden wird, weiß ich nicht. Ihren wunderbar taktvollen Rat in Partei-
sachen werde ich auch schmerzlich entbehren." '.Abgedruckt in Briefen an
Sorge usw., Seitt' 'MS. Am 26. November 1890 schreiht Engels an Sorge:
„Seit ich Dir den Tod meines guten Lenchens mitteilte, ist Luise Kautsky
einstweilen zu mir gekommen und damit wieder etwas Sonnenschein auf-
gegangen." fBriofe an Sorge usw., Seite BiQ.) ^Vm 3. Jänner 1891 schreibt
Engels an Sorge: ,, Luise Kautsky bleibt bei mir. . . . Ich kann wieder mit
Ruhe arbeiten und besser als je. denn sie wird zugleich mein Sekretär. Für
sie habe ich Beschäftigung genug; für einen Mann, der von draußen zu mir
käme, nicht." (Briefe an .Sorge, Seite 3.51.} — Louise Kautsky führte Engels'
Haushalt und wirkte als seine Sekretärin, auch nach ihrer Vermählung mit
Dr. Freybergcr, bis zu Engels! Tode. Von ihrer Ankunft in England an war
sie auch ständige Knrrespondentin der Wiener ,, .Arbeiter-Zeitung".
16 Briefe; November 1890.
von Wien hieherreisen TA'olltc : send ujout-y, schickt Oeld.
Aveling hat ihr sofort einen Scheck für zehn Pfund geschickt.
l)n ich iiber fürchte, daß der nicht ohne Rückfrage bezahlt
wird, was Zeit kostet, so halte ich's für sicherer, hier eine Post-
anweisung für zehn Pfund herauszunehmen und da Luise mög-
licherweise bei Ankunft dieses doch schon fort ist, auf
Deinen Namen, und liier herausgenonuncn auf den von
PMward Avoling. Die Anweisung selbst sollen wir nach Post-
instruktion hier behalten, da das Geld Dir in Deiner von uns
angegebenen Wohnung bezahlt werden wiid.
Sollte T>uise schon fort sein, so behalte das (leid bis auf
weitere Nachricht zu unserer Disposition.
Dein F. Engels.
Soeben kommt Aveling zurück, überall zu s'pät, da Sams-
tag nach 4 Uhr keine Anweisungen ausgegeben werden! !
So schicken wir's am Montag.
8.
Engels an Adler.
L(.ndon. 17. November 1890.
Lieber Adler'
Meinen Brief von Samstag wirst Du erhalten haben.
Inzwischen ist ein Telegramm \on J>i»ise an Avelings ange-
kommen (gestern Nacht gegen 11 Thr), Thusday morning
Victoria. Das kann nun Thursday Donnerstag heißen, aber auch
Tuesday Dienstag. Das wäre aber das wenigste. Wir kennen
hier die neuesten durchgehenden Sehnellzugsrouteu von Wien
aus <lurchaus nicht, und wissen nur, daß man über Calai-,
Ostende oder Vlissingen reisen kann. Die Züge ül)er Calais
oder Ostende kommen aber ge-gen 5 Uhr morgens, die über
Vlissingen gegen 8 Uhr ditto an. Ich telegraphierte also (in
der Ungewißheit, ob Luise nicht schon fort), etwas vor 4 Uhr
an Dich: Kommt Jvuise über Vlissingen, Ostende oder Calais,
Rückantwort bezahlt (12 Worte). Dies zur Erklärung des Vor-
gefallenen, das Dir sonst rätselhaft und konfus vorkommen
dürfte.
J)a Luise jetzt die Ankunft hier positiv ankündigt, ist
kein Crund vorhanden, die zweiten zehn Pfund per Pofit-
anwei.sung zu schicken, es unterbleibt also.
Dein l'\ Engels.
Friedrich Engels siebzigster Geburtstag 17
Friedrich Engels' siebzigster Geburtstag.
Die „Arbeiter-Zeitung" vom 2S. November 1890 veröffentlichte an
der Spitze folgenden Aufsatz:
Friedrich Engels erlebt am 28. ^s'oveinber seinen siebzig-
sten Geburtstag. Die Sozialisten aller Länder und aller Welt-
teile werden an diesem Tage ihre (llückwünsche vereinigen,
um den Mann zu ehren, dem unter allen Lebenden die prole-
tarische Bewegung am meisten verdankt.
]Jen Arbeitern Österreichs brauchen wir nicht erst zu er-
zählen, wer Friedrich Engels ist und was er uns geleistet. P^ine
eingehende Darlegung seines Lebenswerkes geht weit über den
Rahmen dieses Blattes hinaus, Sie müßte zusammenfallen mit
der Geschichte der sozialistischen Bewegung seit den vierziger
Jahren. Was allein wir unternehmen können, ist. einzelne
Seiten der Arbeit von Engels hervorzuheben.
Allbekannt ist, daß Engels der Mitarbeiter von Karl
]\l a r X war in einem ganz einzigen Sinne, so daß es ihnen selbst
fast unmöglich ist, den Anteil, welchen jeder einzelne von
ihnen an der Schaffung ihrer Werke hatte, abzugrenzen.- Für
immer sind ihre Namen unauflöslich miteinander vereinigt;
eine Vereinigung, die der Tod nicht zu löseii vermochte. Denn
der siebzigjährige, dabei jugendfrische, unermüdliche Engels
ist rastlos damit beschäftigt, die Hinterlassenschaft von Marx
zu ordnen und herauszugeben, mit Marx zu arbeiten, als ol)
er noch lebte.
Das erste Werk, welches getragen von der materialisti-
schen Geschichtsauffassung die sozialen Zustände untersuchte,
war „Die Lage der arbeitenden Klasse in England", welche
der damals fünfundzwauzigjährige Engels im Jahre 1845 er-
scheinen ließ. Dieses ]]ucli stellt zum ersten Male die ökono-
mische und j)olitische Lage einer Gesellschaftsklasse im Zu-
sammenhang mit den Bedingungen der Froduktion und ilir(M-
geschichtlichen Entwicklung dar. Was sich heute als „histo-
rische Schule'' auf den nationalökonomischen Kathedern
deutscher Universitäten preisen läßt, ist, soweit es Wert hat,
direkt von Engels beeinflußt. Leider vergessen die Herren
Professoren, daß zur historischen Methode noch etwa« gehört,
was sich freilich nicht lernen läßt: unbestechliche Wahrheits-
liebe, furchtlose Rücksichtslosigkeit!
18 Friedrich Engels' siebzigster Geburtstag
Aber ,,Die Lage der arbeitenden Klasse Englands" zeigte
bereitd eine ganz besondere Seite der Begabung von Engels
auf, die unseres Erachtens für ihn ganz charakteristisch ist:
die Fähigkeit, politische Verhältnisse klar zu durchblicken
und danach die Parteitaktik zu bestimmen und einzurichten.
Die Vorliebe des vielseitigen Engels für strategische
Studien hat ihm in Freundeskreisen den Namen „general"
eingetragen. Viel mehr verdient er unseres Erachtens diesen
Titel als Ratgeber in allen Fragen der Parteitaktik. Was das
bedeutet, wird derjenige zu würdigen wissen, der Gelegenheit
hatte, den obersten vom ,, Manifest'' aufgestellten Grundsatz
unserer Taktik : „D i e Emanzipation der Arbeite r
m u ß d a s W e r k d e r A r b e i t (> r k 1 a s s e s e 1 b s t sei n",
im einzelnen auf die wechselnden Verhältnisse der politischen
T^age anwenden zu sollen. Man le^e einmal die leider schon recht
selten gewordene Broschüre von Engels aus dem Jahre 1865:
„Die preußische Militärfrage und die deutsche Arbeiterpartei",
man sehe, mit welcher Meisterschaft dort höchst komplizierte,
politische Verhältnisse in ihre Elemente zerlegt, mit w^elcher
zwingenden Logik die notwendige Stellung der Arbeiterpartei
entwickelt und wie präzise die Taktik dargelegt wird, welche
die Sozialisten Deutschlands auch wirklich eingeschlagen haben,
nicht weil Engels, sondern weil die Tatsachen sie ihnen vor-
geschrieben.
Das k o m m u n i s t i s c h e M a n i f e s t ist von Afarx
und Engels verfaßt; wir haben uns nie darüber erkundigt, sind
aber überzeugt, daß jener Teil desselben, der dort so klar und
unzweideutig die Taktik der Partei behandelt, von Engels
herrührt.
Und damit kommen wir zu einem anderen Punkte, der
uns allen Engels so wertvoll macht: seine Eigenschaft, alles,
auch das scheinbar Schwierigste und Verwickelteste deutlich zu
machen. Jeder Gegenstand, den er behandelt, wird kristallhell
und durchsichtig. Sein Stil ist von einer wahrhaft klassischen
Beinheit und Einfachheit,
Jeder von uns, die wir in der Bewegung stehen, wird un-
zähligemal von Freund und Feind gefragt, wo er kurz, bündig
und verständlich über die moderne sozialistische Theorie Aus-
kunft erhalten könne. Den Schreiber dieses ersuchte unlängst
ein hocbgelahrter Herr, Dr. philasophiae und juris utriusque,
Friedrich Engels' siebzigster Geburtstag 19
geradezu um das ,,Text-book" unserer Partei; er meinte, so
ein Mittelding zwischen Handbuch und Katechismus! Aber
auch unsere Parteigenossen verfügen nicht über allzuviele
Schriften, die zusammenfassend und zugleich erschöpfend die
Theorie des modernen Sozialismus behandeln. Das Beste, was
wir in dieser Beziehung haben, ist ein kleines Büchlein von
vier Druckbogen : Friedrich Engels, Die Entwick-
lung des Sozialismus von der Utopie zur
Wissenschaft. Mit einer geradezu unübertroffenen
Meisterschaft hat Engels da die Riesenarbeit geleistet, das
System des wis-sensohaftlichen Sozialismus und seine Grund-
lagen abgeschlossen darzustellen, und zwar in einer Form, die
für jeden, der denken will und kann, verständlich ist. Wer
nicht nur selbst lernt, sondern auch bemüht ist, das Gelernte
mitzuteilen und zu verbreiten, wird uns verstehen, wenn w^ir
gerade für dieses kleine Büchlein unserem Engels Dank
sagen. Es wird so wenig veralten, wie das „kommunistische
Manifest'* veraltet ist, trotzdem es 43 Jahre her ist, daß es
erschien.
Nicht mehr als flüchtige Striche konnten wir zu dem
Bilde von Engels liefern, das unsere Geno,ssen alle kennen, das
alle lieben gelernt haben. Wohl möchten wir alle in London
sein, dem jugendfrischen Greise ins Auge sehen, ihm Leben und
Gesundheit wünschen, daß er das Werk vollenden könne,
das die Welt von ihm erwartet: den Abschluß des „K a p i t a 1".
Wohl mag er zurück denken an die Zeit der vierziger Jahre,
wo er mit Marx verbannt und von Land zu Land gehetzt, die
theoretische Grundlage zum modernen Sozialismus legte, die
ersten Fäden knüpfte zu dem Bunde, aus dem heute die
internationale Sozialdemokratie geworden ist ;
an die Tage, da sie zuerst das Wort in die Welt hinausriefen :
., Proletarier aller Länder, vereinigt euch!"
Die Gedanken, die Engels bewegen mö'gen, den Rück-
blick, den er und wir mit ihm auf .sein Leben werfen, können
wir nichtr besser als mit seinen eigenen Worten ims verdeut-
lichen. Am 1. Mai 1890 schrieb Engels die Vorrede zur neuesten
Ausgabe des „kommunistischen Manif&sts'', welcher wir
folgende Stellen entnehmen :
,,Das Manifest hat einen eigenen Lebenslauf gehabt. Ln
Augenblick seines ErscheinensS . . . (Folgt der Abdruck der Vor-
rede bis zum Schluß.)
20 Briefe : Dezember 1890 bis Juni 1891
In floiii Bdiclil der „Arbeiter-Zeitung" vom 5. Dezember 1890 über
die konstituierende Yersammhmg des Politischen Vereines
,.('< 1 e i c h h e i t" heißt es:
Als dritter Punkt der Tagesordnung war ein Vortrag von Genossen
Dr. Adler über „Friedrich E n g e l s" , den Altmeister der internationalen
Sozialdemokratie, anläßlich seines siebzigsten Geburtstages, angesetzt. Leider
konnte wegen plötzlicher Erkrankung des Genossen Dr. Adler dieser mit
vielem Interesse erwartete Programmpunkt nur bescheiden behandelt werden.
Genosse P o k o r n y, der sich zu diesem Gegenstande zum Worte meldete,
gedachte in einfachen, warmen Worten der Werke des greisen, hochverdienten
Vorkämpfers für die Befreiung des arbeitenden Proletariats der ganzen Welt,
Fr ie d r ich Engels. „Weder mit prunkenden Festen, noch mit pomphaften
Toasten wollen und können wir ihn feiern", bemerkte Redner, „zum Zeichen
unserer aller Verehrung für den alten Vorkämpfer und ergrauten Genossen
erheben wir uns von den Sitzen", was unter brausenden Hochrufen auf
Friedrich Engels und unter großer Begeisterung der Versammelten
geschieht. Genosse Walecka führte aus, daß, wenn auch die Versammlung
mit großem Bedauern den Ausfall des anberaumten Vortrages über Engels
zur Kenntnis nehme, könne doch die volle Anerkennung aller Genossen gegen-
über dem Veteranen unserer Partei in dem zum Ausdrucke gebracht werden,
daß ein Glückwunschtelegramm oder ein Schreiben an Fr i e d r i c h Engels
sogleich abgesendet werde. (Wird mit allseitiger Zustimmung angenommen.)
Briefe: Dezember 1890 bis Juni 1891.
10.
Adler an Engels.
Wien, 9,/1l>. 90.
\'erchrt«M' Freund I
JVlit einem majoren TeleAraniin konnte ich inic-li nur zu
Deinem Feste einstellen: eine sehr schmerzliche Darm-
entzündung- hielt mich ans Bett. Hoffentlich weißt Du auch so,
daß mich mit Dir das festeste Band verknü]>ft, das einen
Schüler an seinen Lehrer fesseln kann.
Au.'^ einigen Zeilen Luisens entnehmen wii-. daß Du wohl
bist. Hoffentlich hat die Festanstreng-ung Dicli niclit allzusehr
hergenommen. Daß I.nisc bei Dir ist, empfinden wir als große
Beruhigung. Sie steht so hoch in unserer Achtung und Liebe,
daß wir glauben. Du kanntest keine bessere Wahl treffen. Ich
habe von Anfang an nur ein einziges Bedenken gehabt, das ich
auch ihi' ruhig mitteilte, ich weiß nicht, ob sie Dir davon
gesproclien. Sie ist eine hingebende, treue Seele — und gerade,
weil sie das ist, sprach ich die Furcht aus, sie würde mehr
oder anderes tun als sie soll. Sie hat einen starken Trieb zur
Selbständigkeit, hat aber den FanatLsmus, zu ,, leisten", und
Hrieie: De/.ember 1890 bi^ Juui 1891 21
wird ganz bestimmt — das sehe ich förmlich vor Augen — in
einer Weise I>ir zur Seite sein, wie sie es in ihrem Interesse
nicht tun sollte. Sie wird Dein Schatten sein, was sie
meine;. Erachtens nicht soll, was Dir nicht niitzt und sie
schädigt. Sie ist ja in den letzten Jahren gewohnt gewesen, sehr
viel allein zu sein und sich selbsttätig zu beschäftigen; die Ehe
hat sie eigentlich auch nie an Regelmäßigkeit gebunden. So_ bin
ich überzeugt, wird es ihr schwer werden, sich in Deine
Lebensweise im Hause zu finden, und doch wird sie weit mehr
sich adaptieren zu müssen glauben als es nötig wäre; ihre
grenzenlose Liebe und Verehrung* zu Dir, wird sie vielleicht das
im Anfang gar nicht merken lassen; darum halte ich mich für
verpflichtet, es Dir zu sagen. Ich habe sie genau kenneu
gelernt und habe andwseits das Zutrauen, daß Du mir da.-*
Kecht einräumst, das auszusprechen. Ich wünsche nämlich sehr,
daß Luise in London bei Dir bleibt. Ihre materielle Existenz
in Wien ist freilich gesichert, sie wird anfangs schwer, später
immer besser durchkommen. Aber sie steckt durch ihre Familie
in dem Elend einer philiströsen kleinbürgerlichen Existenz,
das sie um so mehr bedrückt, als sie auch da viel mehr tut aU
s'.e sollte. Der kranken Mutter, der kranken Schwester kann
sie nicht helfen, aber sie trägt mit ihnen ein Leiden und wird
selbst weit mehr bedrückt davon als die beiden, die nie in freier
Lu'ftgeatmet. Dir zur Seite zu sein ist also nach meiner An-
sicht eine Stellung, die an sich beneidensM'ert, für sie insbeson-
dere die Befreiung' bedeutet. Gerade darum al)er, weil ich sehr
wünsche, daß Du und Luise zum Entschluß kommen, ihren
Aufenthalt zu einem definitiven zu machen — gerade darum
habe ich mir vorgenommen. Dich auf die Gefahr aufmerksam
zu machen. Ich tat es nicht früher, weil ich nicht durcli
irgendein dummes Wort den ersten Eindruck stören wollte.
Dergleichen schreibt *ich so furchtbar schwer; es sind zarte
Dinge, die feinsten Assoziationen, die da in Betracht kommen —
und das Niederschreiben vergröbert und verroht alles, trotzdem
hege ich die Hoffnung, daß Du ungefähr weißt, was ich meine,
und Luise hindern wirst, für sich weniger in Anspruch zu
nehmen als sie soll. Ihr das zu schreiben, könnte nichts nützen,
dafür kenne ich sie. Aber Du kannst Einfluß nehmen und
vielleicht mache ich Dich da auf etwas aufmerksam, was Dir
entgangen war.
22 Briete: Dezember 1890 bis Juui 1891
Übrigens entnehme ich ans Luisens Brief an Emma, daß
sie noch immer schwankt, ob sie bleiben soll. loh wünschte es,
wie gesagt, werde mich aber hüten, sie zu beeinflnßen.
Nun eine Geldgeschichte. Der mir von Aveling in Deinem
luftrag übersandte Scheck ist nicht honoriert worden. Ich
sende ihn der Einfachheit halber samt allen Belegen an Dich
zurück. Nebenbei bemerke ich, <laß die ünionbank ein sehr
großes Institut ist, also die Schuld kaum hier liegt. Verzeihe
also, daß ich Dich nochmals mit der Sache behelligen muß und
lasse sie gelegentlich ordnen.
Dich, Luise und Avelings von mir und Emma herzlich
grüßend
Dein getreuer
Dr. V. Adler.
Luise soll uns doch einmal ausführlich schreiben.
11.
Engels an Adler.
London, 12. Dez. 1890.
Lieber Adler
Auf dem Punkt Dir für Dein und Deiner Frau Telegramm
zu danken, erhalte ich Deinen Brief vom 9. mit Avelings
zurückgekommenen Cheque. Dagegen übermache ich Dir inl.
Cheque auf meine Lokalbranche derselben Bank für
Pfund 10'4 inklusive der Spesen, und wird dieser Oheque nicht
zurückkommen.
Es ist die Unordnung der literari-schen boheme bei
Aveling, die zu dergleichen führt, wenn die boheme sich darauf
erpicht ein Bankkonto zu haben. „So jung und schon a Böhm''
kann man da auch sagen. Übrigen? melden sich beide soeben
zum Essen bei uns an, und da kann ich ihm den Kopf waschen
wegen dieser Bummelei und ihr wegen der schauerlichen Lob-
hudelei, die sie mir in der Sozialdemokratischen Monatssriirift
über den Kopf gegossen hat*). Es ist nur eins richtig, daß mein
*) Im zweiten Jahrgang der in Wien von der Partei herausgegebenen
..Sozialdemokratischen Monatsschrift" erschien in der Doppelnummer 10/11
am 30. November 1890 ein ~V2 Seiten langer Artikel von Eleanor Marx-
Aveling über ».Friedrich Engels", der folgendermaßen beginnt: „Am
28. November 1890 wird Friedrich Engels 70 Jahre alt. Es ist ein
Geburtstag, den die Sozialisten der ganzen Welt feiern werden. Aus diesem
Anlaß hat mich mein Freund Dr. Victor Adler ersucht, für die Leser der
„Sozialdemokratischen Monatsschrift" einen kurzen Aufsatz über das an-
erkannte Haupt der gegenwärtigen Partei zu schreiben."
Briefe: Dezember 1890 bis Juni 1891 23
Bart kurios nach einer Seite steht — aus übrigens sehr
zureichenden Gründen, womit ich Dich verschone.
Besten Dank für Deine Andeutungen weg'en Luise. Auch
mein Wunsch ist, daß sie bei mir bleibt, und sollte dies nicht
gelingen wird es mir sehr schwer werden: mich von ihr zu
trennen. Aber es wäre mir ein dauernd drückendes Gefühl,
müßte ich glauben, daß sie mir zuliebe andere Pflichten und
andere Aussichten zum Opfer gebracht hätte. Xiin in 8 — 14
Tagen wird sich's wohl entscheiden. Falls sie bleibt, wird
sie jedenfalls noch einmal diesen Winter nach Wien müssen
um alles zu ordnen.
Was nun die Gefahr der Überarbeitung angeht, so war
die in Wien, scheint mir, in der Tat ziemlich stark vorhanden.
Dagegen hier kann schwerlich davon die Eede sein. Eigentliche
Hausarbeit soll und darf sie gar nicht tun — schon der Mägde
wegen, die sie dann nicht für eine volle lady ansehen würden.
'Sie hat nur zu dirigieren und zu beaufsichtigen. Daneben über-
nimmt sie das Sekretariat bei mir, ich diktiere ihr oder gebe
ihr Sachen zum Abschreiben, so daß ich meine Augen schonen
kann, und dann treibe ich allerlei mit ihr, zunächst Chemie,
dann Französisch, sie wünscht auch Latein, und dem kann ab-
geholfen werden. Nach dem Essen schlafen wir und abends
von 11 — 12 spielen wir Karten, damit meine Augen vom
Lesen ausruhen und ich mit leerem Hirnschädel besser ein-
schlafe. Ich kenne übrigens ihren Drang, sich für andere zu
opfern, und das gerade macht mir Bedenken, ihr zu sehr
zuzureden, daß sie bei mir bleibt. Wir haben den Fall vor-
gestern abends ausführlich besprochen, und das wesentlichste
Hind-ernis scheint eben — ihre Mutter, der sie erst gestern die
Absdcht mitgeteilt, hierzubleiben. Natürlich wird die Antwort
hierauf von entscheidender Wichtigkeit sein. Aber was wäre
das für eine Lage für mich, wenn ich mir sagen müßte, ich
hätte Luise aus einer neuen, ihr zusagenden und hoffnungs-
vollen Carriere herausgerissen, um sie in eine Stellung zu
bringen, in der sie das Gefühl nicht los wird, sie habe gegen
ihre Mutter ein Unrecht begangen?
Also weit entfernt Dir Deine Bemerkungen über den Fall
irgendwie zu verdenken, bin ich Dir im Gegenteil sehr dankbar
dafür. Luise wird ja gerade nur in einem Punkt von ihrer
spontanen Aufrichtigkeit verlassen: da wo es gilt ihre Selbst-
24 Briefe: Dezember 1890 bis Juni 1891
aufopferiing zu verheimlichea. Und da sind wir alle ver-
pflichtet, ihr auf die Finger zu passen.
Herzliche Grüße an Frau und Kinder, von denen Luise
rnir viel Heiteres erzählt, und an Dich selbst von Luise und
Deinem F. Engels.
12.
Emma Adler an Engels.
Wien, 15./V. 91.
Verehrter Herr Engels!
Sie haben mir durch die Übersendung Ihres Bildes und
der Widtnung eine große Freude bereitet. Verzeihen Sie, daß ich
so spät dazu komme, Ihnen ein Wort des Dankes zu sagen. Ich
bm erst vorige Woche von Italien nach Hause gekommen, und
war nun diese Tage her, durch den Besuch zahlreicher Ver-
wandter, sehr in Anspruch genommen. Der Artikel unserer
neuesten Mitarbeiterin*) erscheint in der dieswöchentlichen
Nummer. Es wäre für uns alle eine große Freude, wenn Sie im'
Sommer zu uns aufs Land kämen — selbstverständlich mit
Louise! WennLouise ihr englisches Kochbuch mitbringt und wir
dort die nötigen Roastbeefs bekommen, so wird alles geschehen,
um Ihnen den Aufenthalt angenehm zu machen.
Indem ich Sie und Louise herzlidh grüße, bin ich Ihre Sie
verehrende Emma Adle r.
NB. Ein Weiberbrief ohne Nachschrift — da? wäre zu
schön! Vergebens warte ich darauf, daß Victor einige Zeilen
beifügt. — Nehmen Sie den Brief trotzdem freundlich auf!
Wien 11. Juni 91.
13.
Adler an Engels.
Wien, 32./6. 91.
Verehrter Freund!
Ich bin eigentlich — als „Secretaire pour l'exterieur'' —
beauftragt, Dir einen sehr feierlichen und dringenden Ein-
ladungsbrief zu schreiben. Du wirst mir nicht übelnehmen, wenn
ich Dich und mich davon enthebe und Dir lieber sage, wie gerne
wir alle natürlich Dich bei uns sehen würden; wenn ich auch
weiß, daß Du kaum kommen wirst, obwohl es Dir gut täte
) Louise Kautskys erste L.-K. -Korrespondenz erschien in der
..Arbeiter-Zeitung" vom 15. Mai 1891.
Bride: Dezember 1890 bis Juni 1891
unsere Bergluft zu atmen so spreche ich einfach meine
sehr egoistische Freude aus, Dich im August gelegentlich
Brüssel sehen zu können. Mit so einer Scherzzeile, wie Du sie
unlängst Luisens klassischem Leader*) beifügtest, maeh^^t Du
uns immer eine große Freude, weil wir sehen, daß Du gesund
und heiter bist. Wenn Du Dich dazu verstehen wolltest, uns
zum Parteitag einige Zeilen zu echreiben, so wird diese
Kundgebung nicht nur, wie natürlich, sehr gut wirken, sondern
persönlich den Genossen, welche Dich wirklich persönlich
lieben, große Freude machen.
Im ganzen dürfen wir zufrieden sein. Wir sind von
einer »Sekte oder einer Horde Radaumacher zu einer politischen
Partei avanciert, die Anerkennung sich erzwungen hat, und mit
der man rechnet. In letzter Zeit sucht man uns von allen
Seiten zu schmeicheln; die Dummheit mit dem Sozialisten-
gesetz ist dem Taaffe nur so ausgerutscht, wie wir sagen"**).
Er hat eich im iSchimmel vergriffen. Die ernste Schwierigkeit
für uns wird zunächst die sein, uns in die Diskussion von
Keformen zu wagen, wae wir müssen, ohne in den Schein des
Opportunismus oder der Solidarität mit anderen Parteien, die
zusehends radikaler werden, zu geraten. Zum Glück sind die
nationalen Schwierigkeiten bei uns völlig überwunden, was
davon bleibt, wird der Parteita.g zeigen: furchtbare Lang^veile
beim Anhören ebenso begeisterter als endloser tschechischer
Reden. Ein paa]- Bürschchen in Prag, die am was zu sein,
..national-international" geworden sind, bitten flehentlich von
uns zugelassen zu werden und w^erden wahrscheinlich auf dem
Parteitag als gesonderte Gruppe ihren Geist aufgeben —
soweit die vorhandenen Kräfte reichen
Deinen Totschlag Bj-entanos habe ich mit Entzücken
gelesen. jSo köstlich und graueam die Sache ist, bedauere ich
fast, daß Du ,,Dich mit solchem Gesindel herumschlagen"
mußt und Zeit und Kraft iWv Wichtigeres verlierst***).
*) Leitartikel.
**) Graf Taaffe brachte am I. Juni 189] im österreichischen Ab-
geordnetenhaus ein Sozialistengesetz ein, das aber niemals — Pernerslorfer
hatte die erste Lesung im Plenum gefordert — bis in den Ausschuß kam.
**) Es handelt sicli um Engels' Broschüre .,In Sachen Brentano kontra
Marx wegen angeblicher Zitatsfälschung. Geschichtserzählung und Doku-
mente". (Hamburg, Verlag Meissner 1891.) Das Exemplar in Victor Adlers
Bibliothek trägt die Widmung; ,, Seinem Victor Adler Fr. Engels. Ld.9. 4. 91."
26 Engels an den Parteitag in Wien (1891)
Was mich selbst angeht, bin ich wieder einmal in einer
Weise überlastet, daß ich wünsche, Parteitag und Kongreß
wären endlich vorbei und ich könnte ruhig — hoffentlich
besucht uns Luise bis dahin — bei den Weibern in Bauern-
kitteln sitzen und mich pflegen. Eben sagt mir Emma, ich
solle nicht vergessen, hinzuzufügen, daß sie sich auf englische
Küche einstudiert hat und daß Du die beste Gelegenheit
hättest, m i t Luise zu uns zu kommen. Leider bin. ich kein
solcher Optimist, an den schönen Traum zu glauben, wenn er
auch sehr vernünftig ist.
Jedenfalls sei Du und Luise herzlich gegrüßt von Deinem
V. Adler
und Emma!
Engels an den Parteitag in Wien (1891)*).
14.
London, 26, Juni 1891.
Werte Genossen!
Nehmt für die freundliche Einladung zu dem zweiten
Parteitag der österreichischen Sozialdemokratie meinen auf-
richtigsten Dank, zugleich aber auch mein Bedauern, nicht
persönlich erscheinen zu können, entgegen und empfanget
meine besten Wünsche für den erfolgreichen Verlauf der Ver-
handlungen.
Seit Hainfeld, wo die österreichische Arbeiterpartei sich
wieder auf eigene Füße gestellt, habt ihr gewaltige Fortschritte
gemacht. Das ist die beste Gewähr dafür, daß Euer neuer
Parteitag den Ausgangspunkt zu neuen, noch bedeutenderen
Triumphen bilden wird.
. Welch unbesiegbare innere Kraft unsere Partei besitzt,
das beweist sie nicht nur durch ihre einander rasch ablösenden
Erfolge; nicht nur dadurch, daßsie, wie voriges Jahr inDeiutsch-
land, so dies Jahr in Österreich den Ausnahmezustand überwun-
den hat. Sie beweist diese ihre Kraft nach weit mehr dadurch.
*) Abgedruckt aus den „Verhandlungen des zweiten Österreich isclien
sozialdemokratischen Parteitages". Wien 1891, Seite 175. — Im sozial-
demokratischen Parteiarchiv in Berlin befindet sich ein Konzept "Engels zu
diesem Briefe, an Adler gerichtet, dessen erster Absatz lautet: „Lieber Adler!
Ich bitte Dich, den Einberufern des zweiten österreichischen sozialdemo-
kratischen Parteitages für die mir durch Dich freundlichst eingesandte Ein-
ladung zu diesem Eurem Parteitag meinen aufriclitigsten Dank aussprechen
zu wollen, mein Bedauern, daß ich nicht persönlich erscheinen kann und
meine besten Wünsche für erfolgreichen Verla4.if der Verhandlungen."
Itriefe: -Juli 1891 bis Mai 1892 27
daß sie in allen Ländern Hindernisse besiegt und Dinge voll-
bringt, vor denen die übrigen, aus den besitzenden Klassen sich
rekrutierenden Parteien ohnmächtig Halt machen. Während
die besitzenden Klassen Frankreichs und die besitzenden
Klassen Deutschlands sich mit unversöhnlichem Haß befehden,
arbeiten französische und deutsche Proletarier Hand in Hand,
und während bei Euch in Österreich die besitzenden Klassen
der verschiedenen Kronländer im blinden Xationalitätenhader
des letzten Restes von Fähigkeit zur Herrschaft verlustig
gehen, wird ihnen Euer zweiter Parteitag ein Bild vorführen
eines Österreichs, das keinen Xationalitätenhader mehr kennt,
des Österreichs — der Arbeiter.
Friedrich Engels.
Briefe: Juli 1891 bis Mai 1892.
15.
Engels an Adler. •
London, 22. Juli 1891.
Lieber Adler
Um den Österreichern einen mehr als akademischen
Beweis meiner Sympathie zu geben, habe ich Dietz beauftragt,
vom Honorar der Neuauflage des ,, Ursprung der Familie" etc.*)
die Hälfte an Dich für Eure Parteikasse — um mich öster-
reichisch auszudrücken — abzuführen. Hoffentlich bedarf es
keiner drastischen Diarrhetica, um dies zustande zu bringen.
Wann und wieviel auf einmal (es werden vielleicht Raten-
zahlungen) Du erhältst, kann ich nicht sagen, er zahlt 50 Mark
für je 1000 Ex[emplare] die er druckt, davon erhaltet Ihr
25 Mark.
Wenn Ihr den Empfang in Euren gedruckten Quittungen
aufführt mit meinen Initialen : F. E. in London soundsoviel,
ohne weitere Bemerkungen, wird's mir am liebsten sein.
Nun noch ein Wort : Luise hat sich verstanden, falls Du
ihr ein Mandat verschaffst, was ja nicht schwer sein kann, mit
auf die Brüsseler Allerweltswachtparad-e**) zu gehen. Dabei
*) Die vierte Auflage von Engels „Der Ursprung der Familie des
Privateigentliums und des Staates" trägt das Verlagsjahr 1892. Im Exemplar
in Victor Adlers Bibliothek ist die Widmung: „Seinem Victor Adler
F. Engels London 7/11 91."
**) Der Zweite Internationale Sozialistenkongreß, der in Brüssel vom
16. bis 23. August 1891 stattfand. -
28 Briefe: Juli 1891 bi.s Mai 1892
war aber eine stillsclnveigende Bedingung, nämlich, daß sie
Dich und Bebel oder wenigstens Dich mit nach London brächte
auf ein paar Tage. Und ich hoffe, das bringt sie fertig. Ich hin
um die Zeit wieder hier und erwarte Euch mit Sehnsucht.
Wer weiß, wozu Ihr mich dann hier noch fürs nächste Jahr
beredet. Also nicht lange überlegt und komm mit .'^amt Deiner
Frau !
Dein alter F. Engels.
16.
Engels an Emma Adler.
London. 22. Jiili 1891.
Liebe Frau Adler
Leider wird in diesem .Jahre wohl nichts aus der Reiise
nach dem Kontinent werden, die ich gern machen möehtev
wär's auch nur um Sie in Lunz zu besuchen und Ihnen die
Überzeugung beizubringen, daß ich auch österreichisch essen
kann und das mit großem Appetit; das kann Ihnen Louise be-
zeugen, die mir den Salat nur noch wienerisch macht. Wenn
ich aber nicht zu Ihnen komme, so gibt es doch noch ein
zweites. Vielleicht gehen Sie mit Victor nach Brüssel und dann
könnten wir ja ebensogut hier in London Bekanntschaft
machen — Brüssel ist von London nur einen Katzensprung-
entfernt, was meinen Sie? Wenn vSie aber nicht nach Brüssel
gehen sollten, könnten Sie dann nicht Ihren Mann beauftragen
auf ein paar Tage sich hier von den Strapazen des AUerwelts-
kongresses zu erholen? So etwas ist arg angreifend und ein
paar Tage London sind sehr gesundheitsniitzlich danach.
Eben kommt der afrikanische Oberridhter Sam Moore*)
und ich muß mich unterbrechen — bitte kommen vSie, Louise
redet Ihnen gewiß zu — aber wenn S i e nicht können, schicken
Sie Ihren Vertreter!
Küssen Sie bitte Ihre lieben Kinder für mich, von denen
Louise mir so viel erzählt.
Aufrichtigst dei- Ihrige
F. Engels.
*) Sam .Moore, der tjjjersetzer von Marx' ..Kapital" in? Englische,
war ursprünglich Fabrikant in Manchester, begann nach dem Zusammen-
bruch seines Betriebes juristische Studien imd ging im .funi 1899 als
Oberrichler nach .\saba am Niger (Afrika\ Er kehrte im .Mar/ 1891 zu
sechsmonatigem Urlaub nach England zurück. (Vfrgleiche Sorsebripfwechsel
Seite 32.3 und 360.)
Briefe: Juli 1891 bis Mai 1892 29
17.
Adler an Engels.
Wien, -Ip. 91.
T^ieber General!
(-festern früh hier angekommen, bin ich wieder i>anz im
l'rubel drin. Soweit ich hier die Presse der letzten Wochen
durchsehen konnte, hat auch in Österreich der Kongreß*) mehr
Beachtung gefunden als irgend ein früherer; daß die Leut*'
eben nur Blech musik zur Verfügamg haben, um ihrer
Anerkennung Ausdruck zu geben, i'-^t natürlich. Ein besonders
geistreiches Produkt des schwachsinnig gewordenen Kaler-
Keinthal**) sende ich Diir zurErbauung^ Nach dem Disi>atch,
den ich eben erhalte, ist also der Alte der Crawfoi*d***) gegen-
über für die Qualitäten seines Herrn und Kaiseii* manniiaft
eingetreten, üas Ding kann noch nett werden. Übrigens
fand ich in Stuttgart und München Urteile über seine Redaktion,
die von Deinem gar nicht abAveichen. '
Die Reise war köstlich; als ich mich von August in
Prankfurt trennte, wurde es mir wieder weich, wie in
Victoria-Stationf). Die paar Tage mit ihm und mit PHr gaben
mir wieder Kraft und Schwung denn, ich fühle mich
ziemlich einsam hier, trotz des Gewühls. Habe Dank für Deine
Preundschaft, für Dein Wohlwollen, das mich manchmal per-
sönlich drückt, wie ein unverdientes. Pache nicht! Tc*!] bin
durchaus nicht sentimental!!
In Stuttgart war Dietz so großmütig, mir dii- 500 Mk.
sofort zu übergeben, was meine Rückkunft mit dem Mammon
zu einem FreudenfcxSt gestaltete. Nochmals Dank und beste
Empfehlung für zukünftige P>ventualitäten namens der österr.
Partei.
Lebe wohl! Hoffentlich bekommt Di)- die Seereis«- gut. — -
Mit herzlichem Gruß P)ein dankbarer
Dr. V. Adler.
*^)_Der Internationale Kongreß in Brüssel im August 1891.
**) Emil Kaler-Reinthal, der als Student Ende der siebziger lalue zur
Arbeiterbewegung kam, verschiedene Broschüren schrieb und an der
..Neuen Zeit" mitarbeitete, auch verschiedene Verurteilungen erlitt, zog sich
jn den neunziger Jahren vollständig von der Bewegung zurück und f-ndele
1896 durch Selbstmord.
) Vbev die Crawford vergleiche Engels' Brief an Adlfr von)
28. Jänner 1895.
t) l.ondoner Bahnhof.
30 Briefe : Juli 1891 bis Mai 1892
18.
Adler an Engels.
Salo/Gardasee, 29./12. 91.
Verehrter Freund!
Da sitzeich an den Benaci&chen Gestaden im bellen Sonnen-
öchein! Eigentlich sollte ich mich riesig wohl fühlen, aber
leider geht es meiner armen Emma noch immer lange nicht
iinch WnnÄch. An einer heftigen Rezidive, die sie hier durch-
machte, bin einig>ermaßen ich schuld, da ich die Dummheit
machte, gleich nach unserer Ankunft eine heftige Influenza
mit hohem Fieber und einer sehr respektabeln Bronchitis zu
erwischen, was freilich jetzt vorüber ist, aber meine arme Frau
so erregte, daß sie wieder nicht schläft und von den schwersten
Angstgefühlen gepeinigt ist. So komme ich gar nicht einmal
dazu, die unfreiwillige Muße zu ruhiger Lektüre zu benützen,
die mir so abgeht In der Tat, die ewige Agitations- und
Organisationsarbeit, das sich abquälen im kleinen und kleinsten
verdummt und macht schließlich ganz borniert. Ich muß inmier
lachen, wenn die Leute bewundernd von den sogenannten
„großen Opfern'' so vieler unserer Genossen reden, von Kerker
etc. Das ist alles Pappenstiel! Aber der tägliche, stündliche
Kampf mit der Dummheit, Kleinlichkeit, Brutalität im eigenen
Lager, das wird nie gewogen, das versteht auch keiner, der es
nicht durchgemacht Verzeih, daß ich so sentimental bin —
aber ich werde es eigentlich immer, so wie ich für einige Zeit
außer Berührung mit den Arbeitern, mit der Masse komme.
Zum Eiesen Antäus fehlt mir so ziemlich alles, aber das habe ich
mit ihm gemein, daß ich mich kräftig und mutig fühle,
so wie ich den Erdgeruch von Proletariern um mich spüre,
während ich zusammenschnappe wie ein Taschenfeitel, wenn ich
allein bin.
Vielleicht hängt meine katzenjämmerliche Stimmung auch
damit zusammen, daß ich einsehe, daß die österr[eichische] Be-
wegung momentan auf einem toten Punkt angelangt ist, den zu
überwinden gar nicht leicht sein wird. Wir haben viel getan in
kurzer Zeit, wir haben ein weites Gebiet abgesteckt, aber nun
wird es sich darum handeln, es im Detail zu bearbeiten und
unglücklicherweise fällt diese Aufgabe gerade in die Zeit einer
schleichenden Krise. Unsere ganze Gewerkschaftsbewegung
iet in großer Gefahr gerade durch diesen Umstand. Dazu kommt,
Briefe: Juli 1891 bis Mai 1892 31
daß die .,Unabliängigen'' in Deutschland ihre Affen in Öster-
reich gefunden haben ; sind sie auch dümmer als ihre Vorbilder,
so haben sie bei uns doch weit besseren Boden, weil uns ja jede
Möglichkeit politischer Betätigung fehlt. Was ich und meine
Freunde machen, ißt ja nichts als beständig ujns den Kopf
zerbrechen, wie Gelegenheit zu politischer Arbeit herbei-
geschafft werden kann. Dabei haben wir bis jetzt Glück gehabt,
nunmehr aber fürchte ich eine .Stockung. Was uns not täte,
wäre ein tägliches Blatt; die „Arbeiter-Zeitung" ist unzulänglich
in jeder Beziehung. Sie leidet an Einförmigkeit, weil immer
nur einer schreibt und hat keinen Eaum für andere Mitarbeiter.
Dazu kommt, daß wir- Geldmangel haben mehr als je. Die
Arbeitslosigkeit, das Sinken der Löhne spüren wir sehr in
unseren Fonden. Wenn Du wieder einmal Geld für Partei-
:< wecke locker machst, vergiß an die armen Österreicher nicht,
wir können es brauchen!!
Die jüngste „Wendung'' in der österreichischen Politik
hat gar nichts zu bedeuten; der Liberalismus hat nie aufgehört
zu herrschen, und daß die Deutschen jetzt einen ganzen „Lands-
mannminister" kriegen, ist nur die Folge der Angst, welche dem
Kaiser die radikalen (nationalradikalen) Phraeen der Tschechen-
fiihrer Gregr etc. eingejagt haben. Aber irgendeine Wendung
bedeutet der ,, liberale'' Minister keineswegs, keinen i)olitischen
I'ortschritt : den will der Kaiser nicht und die Liberalen eben-
sowenig. Keinen sozialpolitisciien — dafür sind sie ja eben
„liberal". Ich habe allerdings die Hoffnung, daß wir in wenig
' Jahren die Leute zu Dingen zwingen werden, die ihnen heute
noch gruseln macheu, — aber noch sind die Zeiten nicht voll-
endet, das heißt wir sind zu schwach!
Wenn ich noch einmal zu Geld komme, stifte ich ein
^ Stipendium, mit welchem jeder tüchtige Parteigenosse alljähr-
lich auf eine Woche zu Dir nach Regentpark road geschickt
wird — als klimatischen Kurort fürs Hirn und die Nerven —
Ich habe ein unglaubliches Heimweh nach den schönen Tagen
mit Dir und August, welcher der einzige ganze Kerl ist! !
Daß Du munter und arbeitslustig bist, freut alle riesig, die
davon hören, und wenn gar wirklich der III Band vor-
rückte es wäre zu schön!
Eic'htig, einen Gruß soll ich Dir ausrichten von Rudolf
Meyer. — Ich hörte, er sei auf ein paar Tage in Wien und
32 Briefe: Juli 1891 bis Mai 1892
oii2g — knapp vor meiner Abreise — zu ihm. Der Mann i.st
offenbar sehr krank und war auf dem Wege nach Pailermo.
Se-hr geistreich, sehr polyhistor, wie ich mir ihn gedacht, und
noch immer große Ziwe'ben („Rosinen^' sagt nian bei Pluch) im
Kopf. Den österreichischen Adel scheint er gründlidi durch-
.-chaut zu haben — endlich! Dafür hat er eine neue Utopie (in
dem I. Aufsatz^) in der „Neuen Zeit'' ist i^ie angedeutet) im
Kopf — Kleinbetrieb in der Landwirtschaft und Industrie mit-
einander verknüpft und möglich durch die Kleinmotoren! Er
war etwas verblüfft, ah ich ihm sagte, .sein Ideal sei schon ver-
wirklicht beim böhmischen Hausweber, der auf seint-m Kar-
toffelacker die berühmte ,, Naturalwirtschaft'' treibt. Kv hat
einen Sporn, aber seine Artikel müssen die Agraiitr wie
Peitschenhiebe empfunden haben.
Man wird geschwätzig, wenn man allein ist. — — Nimm
herzlichste Neujahrsgrüße von Emma und Deinem üetreiien
Victor Adler.
19.
Engels an Adler.
London, 19. Kehr. 92.
.Lieber Victor
Nenlich als ich auf Deinen Brief aus Salo endlich ant-
\^ orten wollte, kam mir ein sch^verer Strich in die Quere.
Avelings Übersetzung meiner „Entwicklung" des Sozialismnis"',
die ich im Mfanuskript] vorher revidieren sollte, war durch Bos-
heit oder Dummheit oder beides des Verlegers bereits vorher
ge.'^tzt worden und kam mir in fertiger, umbrochener und
paginierter Revision zu. Bei der hiesigen (resetzgebung, die
den Schriftsteller dem Verleger an Händen und Füßen
gebunden überliefert, riskierte ich, daß die Sache in diestn*
Form lins Publikum käme und mich unsterblich blamierte, denn
das M[anu9kriptJ war nur ein roher Entwurf, Da mußte alles
liegen bleiben, bis das Ding revidiert und der Verleger auf
l'mwegen gezwungen war sich in die durch ihn selbst ver-
upxsachten Kosten zu finden. Nun das ist jetzt in der Hauptsache
überstanden und der erste, der Antwort erhält bist Du.
'*) Es handelt sich um Dr. Rudolf Aleyeis Aufsatz ,,.\nL'anpolitik und
.Nahrungsmittel" im 1. Band des X. Jahrganges der „Neuen Zeil", Seite 32.5
Dezember 1891), mit dem seine Mitarbeit an der „Neuen Zeit" begann,
nachdem sich die katholischen „Historisch-politischen Blätter" geweigert
hatten, die Fortsetzung seiner Artikelserie zu bruigen.
Briefe : Juli 1891 bis Mai 1892 ;«
Sehr haben wir uns gefreut zu erfahren, daß e^ Deiner
Frau besser geht und die Gene-aung mit Sicherheit zu erwarten
i;t. Du hast wahrhaftig Plage und Arbeit genug und die öster-
reichische Bewegung braucht Deine volle Kraft viel zu sehr,
als daß wir nicht freudig aufgeatmet hätten bei der Nachricht,
('laß Dir hier wenigj*ten3 die s-chlinmiste Sorge abgenommen.
Aber Du wirst uns auch erlauben uns zu freuen, nicht nur als
Parteileute sondern auch als Deine persönlichen Freunde, über
die Aussicht daJB Dir Deine Frau in kurzem in voller Gesund-
heit wiedergegeben wird und daß eine so prächtige Frau witt
Deine Emma nicht dem schrecklichen Geschick verfällt, das
;hr für einen Moment zu drohen schien.
Wenn Du aber unter solchen Umständen in eine Stim-
mung verfielst die Du selbst als katzenjämmerlich schilderst,
-0 ist das nur zu begreiflich. Inzwischen haben die Umstände
euch Österreichern ja über den toten Puiikt weggeholfen, den
Du nicht mit Unrecht fürchtetest. Die geplante Umwurstelung
von Großwien hat euch die Handhabe geboten, die Du mit
Deinem gewohnten Takt sofort ergriffen und nach dem von
\'aillant und unseren Leuten dem Pariser Gemeinderat zuerst
vorgelegten Muster richtig ausgebeutet hast. (Die Poss-ibilisten
haben weiter nichts getan, als seine Durchsetzung im Gemeinde-
rat zu beschleunigen, indem sie als Gegendienst sich in anderen
Dingen an die Bourgeoisradikalen verkauften, also aus
Dummschlauheit uns einen Dienst taten und obendrein sich
ih]-en eigenen Ruin präparierten.) Wohin ich Dir also den
,, Rippenstoß'' geben soll, von dem Du an Louise schreibst oder
ihn gar von mir verlangst, ist mir unklar. Die Franzosen haben,
ein eigenes Geschick, solchen Forderungen die richtige poli-
tische Form zu geben, und das ist in dieser Sache geschehen.
Auch hier sind die französischen Forderungen teilweise Sichon
vom Londoner County Council akzeptiert, teils figurieren sie
in den Wahlmanifesten aller Arbeiterkandidaten. S[iehe] die
Workmans Times der letzten drei W^ochen. Da die Wahlen zum
County Council am 5. März hier stattfinden, spielen diese
Manifeste augenblicklich eine große Rolle, und die Workmans
Times, die L>u hoffentlich regelmäßig erhältst, bietet Dir da
allerlei Agitationsmaterial. L^nd die Sache verdient, bis aufs
Blut ausgebeutet zu werden, erstens der Agitation überhaupt
und der immer möglichen Einz^lerfolge wegen, dann aber be-
3i Briefe: Juli 1891 bis Mai 1892
sonders auch zur Beseitigung des sonst sicheren Ha>sses zwischen
den Wiener Arbeitern und den importierten Hungerkiilis und
Lohndrückern. Diesen Punkt hast Dn ganz besonders gut her-
vorgehoben.
Euer Tagblatt werdet ihr mit der Zeit bekommen, müßt
t^s aber in der Hauptsache selbst schaffen. Bei eurer
Preßgesetzgebung scheint mir der Schritt vom Wochenblatt
zum Tagblatt ein sehr großer zu sein, der lange und starke
Beine erfordert, und euch ganz anders als« bisher in die Hände
der Regierung liefert, die euch durch Geldstrafen und Unkosten
finanziell zu ruinieren sucht. Darin beweist sich wieder die
— im einzelnen immer größere Schlauheit eurer Regie-
rung; die Preußen sind dazu zu dumm und verlassen sich auf
die brutale Gewalt. Eure Staatsleute sind nur dumm weun
sie etwas Großes tun sollen. Es fragt sich für mich, ob ihr ein
Tagblatt sechs Monate gegen die Strafkosten halten könntet,
und wenn's eingehen müßte, wäre die Niederlage schwer zu
vorwinden.
Damit ich aber jedenfalls d-a» Meinige tue für die öster-
1 eicher, habe ich mir überlegt, daß meine Honorare von den im
Vorwärts-Verlag erscheinenden Sachen ohnehin mit einer
nicht zu hindernden Sicherheit in die deutsche Parteikasse
fließen, daß euch also alles Honorar von Sachen gebührt, die
bei Dietz erscheinen, und habe den p. p. D i e t z d e m-
gemäßinstmiert.
Rudolf Meyer tut mir leid, nach Deinen Bericht und
der seitdem erhaltenen Nachricht, daß er in Mähren sitz statt in
Palermo, muß ea ikin sehr schlecht gehen mit seinem Diabetes.
Bei all seinem wunderbaren, oft komischen Größenw^ahn ist er
der einzige Konservative, der für sedne sozialdemagogischen
Pläne nnd sozialistischen Sympathien etwas riskiert hat und ins
Exil gegan^'en ist; wo er dann gefunden hat, daß die österreichi-
schen und französischen Aristokraten zwar bedeutend mehr
gentlemen im gesellschaftlichen Umgang sind als die preußi-
schen Lau&ejunker, aber sonst für ihre Bodenrenten und Strebe-
reien usw. mit gleicher Hartnäckigkeit schwärmen. Er ißt dahin
gekommen, daß er, al& einzig übriggebliebener wirklicher Kon-
servativer, jetzt vergebens nach Leuten sucht mit denen er eine
wirklich konservative Partei gründen kann.
Briefe: Juli 1891 bis Mai 1892 'Aö
Im übrigen nehTneii die Dinge eine kritische Gestalt an.
Im Deutsehen Reichstag kriselt es ganz gehörig, Wilhelmchen
scheint seine regis voluntas mal probieren zu wollen und treibt
sogar die Jammerkerle der Nat[ional] Lib[eralen] Partei in die
Opposition; Konflikt liegt schon etwas in der Luft. Dazu in
Frankreich Ministerkrise, die für uns sehr wichtig — weil
Constans die Inkorporation de^ Arbeiterha&ses ist und sein Fall
im Innern manches ändert, und weil obendrein die erneuerte
Wackelei der französischen Ministerien sehr eklig ist für die
ru&sische Allianz, die ohnehin in die Brüche geht.
Inl[iegendes] ist in Critica Sociale erschienen.
Louise schreibt Inliegendes. Sie hat den ganzen Tag Sauer-»
-toff abgeschieden — auf dem Papier, sie studiert Chemie unter
len erschwerenden Umständen, englischer Lehrbücher und
mangelnder Experimente.
Die Unterschrift fehlt. Ob ein zweiter Briefbogen mit einer Fort-
setzung des Briefes vorhanden gewesen, ist nicht entscheidbar.
20.
Engels an Adler.
London, 19. Mai 1892.
Lieber Victor
Ich bin mit Dietz und er mit Wigand wegen Xeuauflage
der „Lage der arb[eitenden] Klasse in England" ins reine ge-
kommen und es fallen da zunächst 1000 Mark an Honorar ab, die
l.'ietz ^/o im Herbst, % ISTeujalir 1893 zu zahlen verspricht, die
August, der hier ist, aber denkt wenigstens teilweise auch
früher aus ihm herauszuschlagen. Ferner noch einiges Honorar
A'on wegen „N.-Z. "-Artikel. Ich möchte dies Geld nun wieder
euch Österreichern zuwenden, aber mir dann auch wegen der
Verwendung einige Vorbehalte zu machen erlauben, die ich
mit August besprochen habe und womit er einverstanden ist.
Ich weiß nämlich, wenn auch nicht im einzelnen, so doch
hinreichend genau für die Praxis, daß Deine Tätigkeit für die
Partei fortwährend gehemmt wird durch die Unfähigkeit eben
dieser öster[reichischen] Partei, Dir diejenige materielle Stellung
zu sichern, die Dir erlaube Deine ganze Zeit und Kraft der
Sache zu widmen. Ich weiß auch soviel, daß in der letzten Zeit
die Unglücksfälle, die Dich getroffen, Ausgaben nötig machen,
wozu die Partei Dir die Mittel nicht bieten kann. Ich sehe es
also' al-s eine der ersten Bedingungen zur Weiterentwicklung.
•46 Briefe : Juli 1891 bis Mai 18i)J
der österreichischen Bewegung an, d^aß Dir die Möglichkeit ge-
geben -wird, erstens über die gegenwärtige ausnahmsweise Aus-
gaben beanspruchende Zeit hinwegzukommen und zweiten.s
auch fernerhin Dir womöglich die notwendige, aber bei euch
jetzt noch nicht aufzubringende Ziilage zu sichern. Ersteres
ist das notwendio^ste, das Zweite gehört aber mit dazu. Ich
möchte Dir nun den Vorschlag machen. Dir die obigen Hono
rare für sei es den ersten, oder den zweiten Zweck, oder Beide,
zur Verfügung zu stellen — die Verwendung hängt ja dann
ganz von Umständen ab. über die nur Du kompetent urteilen
kannst. Es fiele damit selbstredend jeder Grund weg, etwa
öffentlich über jene Summen zu quittieren.
Ich hoffe, Du machst mir die Freude meinen Vorschlag
anzunehmen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wenn es auch
schon lange her ist, wie sehr die Arbeitsfähigkeit, Arbeitslust
und Arbeitszeit beschränkt wird durch den ökonomischen
Kampf ums Dasein, und wir hier sind alle drei der Ansicht
daß Du der österreichischen Partei keinen größeren Dienst
erweisen könntest al« durch Zustinrraung zu diesem Planchen.
Eure Maifeier hat hier einen sehr guten Eindruck ge-
macht, um so mehr als Paris infolge der dort herrschenden
Zänkereien dies Jahr tatsächlich ausfiel. Dagegen öchreibt
Larfargue, daJ5 wir in 22 Orten (Roubaix und Marseille die
größten, wo wir alle hineinbrachten) die Majorität im Stadt-
rat haben, im ersten Wahlgang 400 Sitze, in der Stichwahl nocia
200 eroberten. Die Wirkung siehst Du im orleanistischen
„Soleil''; den ich dir schicke.
Also viele Grüße von Deinen»
1". Mngels.
21.
Adlf'i an Engels.
Wasserheilanstalt Sulz bei Wien, 26. 5. 1892.
Verehrter Freund!
Aus dem Datum ersiehst Du, daß ich nicht in Wien
bin, und warum Dein Brief mich etwas später erreichte.
Dein Anerbieten ist so freundschaftlich in der Sache,
so überaus zart in der Form und so ehrend durch die Person,
die es macht, daß ich Dir ganz offen gestehe, e,s ist seit ziem-
lich langer Zeit der erste LichtWi^jk, das erste, was mich
Briefe : Juli 1891 bis Mai 1892 37
im Innern erfreut bat. Dabei sehe icb ganz ab von der an und
für sich wesentlichen Tatsache, daß mir damit hie et nunc
ein großer Dienst geleistet wird. Freilich wird das Greld zu-
nächst 'dazu dienen, daß ich mich in ]\[uße durch einige
Wochen der Partei entziehen kann. Ich habe Emma, die auf
dem Wege entschiedener Besserung und eigentlich Eekon-
valeszentin ist, hiehergebracht und muß nun bei ihr bleiben. 'Es
ist das unerläßlich jzuni endlichen Gelingen ihrer Kur und ich
muß es tun, denn mit ihrer Genesung ist meine ganze Existenz
verknüpft. Es geht um ihren Kopf — aber nicht minder um den
meinen. Ein weniges schreibe ich von hier aus und bin
wöchentlich einmal jn Wien; auch ist für Vertretung ziemlich
gesorgt. Zum Parteitag werde ich natürlich drin sein.
Was Du und August von meiner Wichtigkeit für die
österreichische Partei sagten, ist, es wird euch freuen es. zu
hören — nicht mehr wahr. W ir sind heute so weit, eine
ganze Reihe von tüchtigen und verläßlichen Leuten zu haben,
denen nur der wissenschaftliche Schliff fehlt und vielleicht
etwas Initiative. Trotzdem sehne ich mich natürlich sehr da-
nach, den Kopf freier zu bekommen, und so nehme ich denn
auch in diesem Betrachte Dein Anerbieten init Freude an. Daß
ich es als einen Vorschuß betrachte, den die Partei mir macht,
die das Geld selber sehr gut brauchen könnte, wirst Du mir er-
lauben, ob die Leute in der Leitung und an der Kasse davon
heute erfahren oder nicht. Jedenfalls ajber danke ich Dir aus
vollem ][erzen für Deine Freundschaft und Fürsorge. Daß ich
mich nicht einen ]\I()ment sträube, kommt daher, daß ich es
stets für mindestens ebenso menschlich und edel 'gehalten
habe, von Freunden zu nehmen, als Freunden zu geben. Dies
an der skeptischen Luise Adresse, die ich herzlich grüße. Der
einzige Skrupel, den ich hatte, war das Parteiinteresse. Aber
da sage ich mir in der Tat, daß gerade jetzt für mich ein
•^ehr wichtiger Moment ist; die Partei hat mehr Lebenskraft
als ich.
Zu Pfingsten versuchen Avir wieder einen Parteitag.
Die Opposition kriecht zu Kreuze und wird — schimpfend
natürlich — aber gerne die goldene Brücke betreten, die wir
ihr bauen. Das Verbot des Linzer Parteitages hat uns sehr ge-
nützt, und ich vermute, daß die Regierung sich hüten wird, uns
nochmals so billige Lorbeeren einheimsen zu lassen. Wenn wir
38 Engels an den Parteitag in Wien (1892)
zum Parteitag auf einige Zeilen von Dir rechnen könnten,
würde es der Sache nützen. Wie «sich Sekretär Eeumann mit
den offiziellen Einladungen abfindet, weiß ich freilich nicht.
Meine Emma grüßt herzlich Dich und Luise. Dein Brief
hat sie zu Tränen gerührt.
Dein Dich verehrender Freund
Victor Adler.
Engels an den Parteitag in Wien (1892)*).
22.
London, den 31. Mai 1892.
An den österreichischen Parteikongreß zu Wien.
Werte Genossen und Grenossinnen !
Ich danke Ihnen für Ihre freundliche Einladung zum zwei-
mal verbotenen und hoffentlich jetzt zu Stande kommenden
Parteikongreß. Und wenn es mir auch nicht verstattet ist, Ihren
Sitzungen als Gast beizuwohnen, so benutze ich doch mit Freuden
die Gelegenheit, den versammelten österreichischen Genoesen
meinen Gruß und die Bezeugung meiner lebhaften Teilnahme
zu übersenden. Wir, die wir hier eine Bewegungsfreiheit ge-
nießen, wie sie auf dem ganzen Kontinent nicht vorkommt, wir
wissen es sicherlich zu schätzen, wenn trotz der zahlreichen,
ihren Bewegungsraum einengenden Schranken, die öster-
reichischen Arbeiter sich die ruhmvolle Stellung erkämpft
haben, die sie heute einnehmen. Und ich kann Ihnen die Ver-
sicherung geben, daß auch hier, im Mutterland der großen In-
dustrie, die Arbeitersache vorangeht; wie es ja das bezeich-
nendste und erfreulichste in unseren Tagen ist, daß, wur mögen
blicken, wohin wir wollen, überall die Arbeiter in unaufhalt-
samem Vormarsch sind.
Euer alter
Friedrich Engels.
*) Dieses Schreiben ist im Parteilagsprololcoll nicht abgedruckt, wir
entnehmen es der „Arbeiter-Zeitung" vom 10. Juni 1892. Im Partei-
archiv der Sozialdemokratie Deutschlands in Berlin befindet sich ein von
Engels geschriebenes Konzept dieses Briefes, das bis auf einige stilistische,
ganz unwesentliche Unterschiede gleichlautend mit obigem Text ist.
Briefe : August 1892 bis Oktober 1892 39
Briefe: August 1892 bis Oktober 1892.
23.
Engels an Adler.
The Firs, Bradiag Road, Ryde, England.
19.. Aug. 1892.
Lieber Victor
Das kommt vom Übermut. Statt mit Dir und den Deinen
in Lunz oder Wien herumzubummeln, muß ich hier in Ryde
elendiglich meinen, wie Heine sagt, ..nicht mehr ganz gesunden''
Körper pflegen, darf nicht gehn, nicht trinken, aber wohl mich
langweilen. Ich hatte mich so sehr darauf gefreut, Wien einmal
7A1 sehen, und mit Dir zusammen zu sein, und all die Leute und
namentlich Deine Frau und Kinder persönlich kennenzulernen,
und da kommt diese verdammte Geschichte. Ich hatte nebenbei
noch die Absicht, über diesen etwas dunklen Fall einmal einen
Wiener oder — respektive und — einen Berliner Arzt zu Rate
^u ziehen und Dich dabei zu fragen, nachdem ich Dir den Kasus
vorgelegt, welchen Spezialisten Du mir empfählst. liier nämlich
sind so viele medizinische Fakultäten wie Hoepitäler, und die
Hausärzte empfehlen immer nur Leute von dem Hospital,
woran sie selbst studiert; das hat sein Gutes, weil sie die Leuie
am besten kennen, verengert aber den Kreis der möglichen Rat-
geber ganz enorm und reduziert das ärztliche London auf die
Dimensionen einer kleinen, deutschen Universitätsstadt. So daß
ich durch diese plötzliche Rekrudeszenz also auch noch positiven
Schaden erleide.
Nun, eins tröstet mich, aufgeschoben ist nicht aufgehoben,
und was dies Jahr fehlgegangen, gelingt hoffentlich im nächsten
Jahr. J-edenfalls hab' ich diesmal eine Lektion erhalten, die ich
mir sobald nicht wieder zuziehen werde. Um meine ganze
Sommerreise — und was für eine! — geprellt zu werden, ist
bitter genug, und ich werde es im Winter noch genug nach-
spüren, denn ich weiß nur zu gut, daß die kleine Luftver-
änderung von London nach Ryde auf meinen alten Kadaver
lange nicht die Wirkung hat. wie eine Reise nach dem Kon-
tinent, und besonders in die Alpen. So wohl wie ich nach der
amerikanischen dann der norwegischen und voriges Jahr nach
der schottisch-irischen Reise war, werd' ich dieses Jahr nicht
sein. Aber wir werden's hoffentlich überstehen, und dann wird
die Sache im nächsten Jahr doch gemacht. Denn nach Wien
40 Briefe: August 1892 bis Oktober 1892
muß ich, und womöglich auch in die österreichischen Alpen, die
Schweizer Alpen herbergen viel zu viel Schweizer und t^ind
schon viel zu sehr in eine Ausstellung verwandelt, da sind mir
dem Anzengruber seine Bauern doch lieter. Und dann treff
ich hoffentlich auch Dich und Deine P^rau in vollkommener
Gesundheit, und bin selbst wieder imstand, in den Bergen her-
umzuklettern. Also auf nächstes Jahr!
Ich treibe hier Urchristentum, lese Renan und die Bibel,
Renan ii?t schauerlich flach, hat aber als Weltmann einen
weiteren Blick als die deutschen Schultheologen. Sonst ist sein
Buch ein Roman, und es gilt von ihm. was er von Philostratus
sagt: man könne ihn benutzen als Geschichtequelle, wie man
etwa die Romane von Alexander Dumas pere über die Fronde-
zeit 'benutzen würde. Im einzelnen hab' ich ihn auf schauer-
lichen Schnitzern ertappt. Dabei schreibt er die Deutschen au?
mit einer grenzenlosen Unverschämtheit.
Louise wird Dir mitgeteilt haben, was icli ihr vorgestern
über die Baumwollarbeiter in Lancashire und ihren Umschwung
zum Achtstundentag schrieb. ' Das geht ^eden Tag so fort.
Gestern sind wieder Delegiertenversammlungen ganzer Distrikte
einstimmig für 48 Stunden die Woche gewesen, und Abstim-
mungen in anderen Distrikten, alle mit ]\[ajorität dafür,
meistens zwei Drittel. Das bricht dem letzten Widerstand i n
der A r ib e i t e r k 1 a s s e das Rückgrat.
Die Russen haben Pech. Erst die Hungersnot, die sich dies
Jahr wiederholen wird, wenn auch in mehr chronischer Form,
dann die Cholera. Und jetzt, wo ihr Freund Gladstone hier ans
Ruder kommt, muß er Rosebery zum auswärtigen Minister
nehmen, der von der Gladstoneschen Russophilie nichts. wissen
will.
August will, ich soll womöglich doch noch nach Berlin
kommen. Ja, das tat' ich gern, aber wird's gehen? Seit zehn
Tagen bin ich keine zehn Schritt vors Gartentor gegangen und
weiß noch nicht, ob ich wirklich auf der Besserung bin. Denn der
Kasus ist so, daß wenn ich auch nur eine Kleinigkeit zu früh
oder zu viel mich bewege, kann ich wieder von vorne anfangen.
Und in spätestens zehn bis vierzehn Tagen muß ich mich ent-
scheiden — nun wir werden sehen.
Also grüß alle Freunde, grüß vor allem Deine Frau imd
Kinder und sag' ihnen wie leid es mir tut daß ich dies Jahr
Briefe : August 1892 bis Oktober 1892 41
nicht habe kommen können. Nächstes Jahr denk' ich"s aber gut
zu machen. Und laß Dich selbst herzlich grüßen von Deinem
alten lahmen
F. E.
Ich bleibe hier jedenfalls bis 31. ds.
24.
Adler an Engels.
Lunz, 25./8. 1892.
Verehrter Freund I
\'on einer kleinen l*artie zurück, finde ich Deinen
Brief vor. Wie sehr es uns alle schmerzt, daß Du nicht kommst,
kannst Du Dir denken; und dazu kommt noch der traurige An-
laß. Luise hätte Dich nur gleich mitnehmen sollen! Und wir
hatten uns schon so sehr gefreut I Xun, wir hoffen auf nächstes
Jahr I Obwohl ich nicht absehen kann, warum Du nicht auch noch
"im September herüberkommen könntest. Wenn auch nicht die
Alpen — außer im Süden — so müßte doch die Konsultation eines
Arztes Grund ^nug sein — von uns selber zu schweigen! In
Wien sind sowohl liillroth als insbesondere Albert in allen
Darm- und Ilemiensachen ganz spezielle Autoritäten, und ist es
geradezu unverantwortlich von Dir, Dich, wie Du das scJiilderst,
irgendeinem Günstling Deines Ilausarztos zu überlassen. Ini
Falle Du Dich also entschließt, Luise in Berlin abzuJioleu,
bitte ich Dich inständig, das in Wie n zu tun. Die Differenz
der Reise ist nicht der Rede wert und es gibt in Berlin nie-
manden, der sich mit Albert an spezieller Erfahrung messen
kann. Daß es höchst ungerecht gegen uns wäre, wenn Du Wien
links liegen ließest, wirst Du wohl selbst einsehe;n. Anderseits
möchte ich als Arzt — ungosohauter. wie wir sagen —
dringend abraten, zu reisen, bevor Du frei bist von allen
lokalen Reizerscheinungen. Aber, es besteht ja kein Hinder-
nis, daß Du Luise etwa am 15. Sept[ember] oder noch eine
Woche später holst. Das ist für Wien die schönste Zeit,
während es jetzt grauenhaft heiß ist.
Ich fahre morgen nach Salzburg, hole dort August und
besehe mir einen bemerkenswerten und vielversprechenden
Fang, den die Partei gemacht zu haben scheint. Ein landwirt-
schaftlicher Wanderlehrer, offiziell vom Landesausschusse
angestellt, wird seit Monaten wegen seiner sozialdemokrati-
42 Briefe : August 1892 bis Oktober 1892
scten Vorträge, wozu er seine Amtsstellung' 'benützt, gescliu-
rigelt*). . Der Mann gibt einen guten Teil seinevS Gehalts
her, um ein Parteiblatt**) zu halten, und schreibt es zum
Teil selbst. Nun ist das Interessante, daß der Mann via Henry
George zu uns kommt; er hat auch noch: die Eierschalen an den
Flügeln kleben. Nun will ich sehen, ob er gar ist. Für uns
wäre er unibezahlbar. Bei uns und in Deutschland reden sie
soviel von ,, Landagitation", und alle miteinander verstehen
wir gar nichts davon. Da wäre ein t-heoretisch und praktisch
erfahrener Landwirt, der überdies reden kann, eine glänzende
Akquisition.
Von uns kann ich Dir das Beste berichten. Die neue
Organisation wird sich bewähren, so scheint es, und die „Un-
abhängigen" blamieren sich bei uns weit mehr als in Deutsch-
land. Wir haben ihnen auch kein so gutes Material geliefert
wie Liebknechts Reden, au'SJ denen jetzt die Jungen und
Vollmar Kapital schlagen. Tragikomisch ist das Schicksal
Kautskys; daß gerade er sich für des Alten Gewäsche ver-
hauen lassen muß, ist besonderes Pech. Dabei konnte er ja
nicht ruhig sagen: „Daß L[i€bknecht] diesen oder noch größeren
Unsinn gesagt hat, will ich. unbesehen gerne glauben!!" Und
doch wäre das der wahre Ausdruck seiner Ansicht gewesen. Der
Alte fängt an direkt eine nuisance***) — und zwar eine inter-
nationale — für die Partei, zu werden. Sowohl mit Domelaf)
als mit Vollmar hat er höchst ungeschickt angebunden und
dann den Karren im Dreck sitzen lassen. Persönlich zu rempeln
ist dort am dümmsten, wo die Leute persönlich beliebt
*) Dieser Wanderlehrer Anton Losert wurde zunächst bespitzelt
(vergleiche „Arbeiter-Zeitung" vom 19. August 1892) und schließlich ge-
maßregelt (vergleiche „Arbeiter-Zeitung" vom 21, Oktober 1892). Er ent-
fernte sich jedoch sehr bald von der Partei. Schon auf der Landeskonferenz
in Salzburg am 30. Dezember 1893 entwickelte er die kuriose Theorie, auf
die er später immer wieder zurückkam: „Die Ursache des Arbeiterelends sei
im römischen Rechte zu suchen, aus welchem sich die privatkapitalistischen
Eigentumsrechte heraus entwickelten . . . Durch die Abänderung des § 354-
des bürgerlichen Gesetzbuches werden sich die Rechts-, respektive Besitz-
verhältnisse ändern und die Existenzfrage der Arbeiter wird eine bessere".
(Vgl. „Arbeiter-Zeitung" vom 9. Jänner 1894.)
**) „Sozialdemokralische Blätter für das Landvolk."
***) Landplage.
t) F. Domela Nieuwenhuis hat 1892 eine Broschüre: ,,Die ver-
schiedenen Strömungen in der deutschen Soziademokratie" (Verlag Harnisch,
Berlin) veröffentlicht, in der er zu zeigen sucht, daß trotz der Gegensätze
in der großen Debatte über Taktik am Erfurter Parteitag 1891 Bebel und
Liebknecht ebenso opportunistisch seien wie Vollmar.
Briefe : August 1892 bi? Oktober 1892 43
sind, während rein sacbiiehe, sehr nüchterne und kühle Er-
örterung schließlich auch die Personen aus dem Sattel hebt.
Ich denke daran, eine Broschüre über Taktik zu schreiben
„Domela — VoMmar'', wobei mich nur geniert, daß der Alte
schlecht wegkäme. Aber auch er würde anderseits pro-
fitieren; denn es läßt sich m. E. nachweisen, daß alle die ver-
meintlichen Schwankungen der Taktik historisch sehr
erklärbar und begründbar sind. Liebknechts Broschüre
,,Polit[ische] Stellung der Soz[ialdemokratie]*'*), die von den
Unabhängigen zitiert wird, ist eben auf dem Boden Deiner Bro-
schüre üher'Militärorganisation iriPreußen (hahemomentanwohl
den Inhalt, aber nicht den Titel im Gredächtnis**),) erwachsen
und haut natürlich über die Schnur, was L£iebkneoht] stets tut.
* Aber die Kritiker der Taktik glauben immer, sie sei, oder
könne sein eine gerade Linie, während sie eine Wellenlinie
sein muß, gerade wie die Weltgeschichte. Im übrigen meine
ich, die Opposition von links müßte erfunden werden, wenn
man sie nichj. hätte ; nur würde man sie um eine Nuance
gescheiter und anständiger erfinden. Denn die Kleinbürgerei
ist die größte Oefahr für uns, und wenn August nicht wäre,
stünde es böse mit uns, auch mit uns in Österreich. Die Träg-
heit des Geistes ist die ärgste Gefahr für unsere Leute. Ich
meine immer, der Krach wird uns über den Hals kommen,
wenn wir „Hofräteder Eevolution'' am wenigsten daran denken.
Obwohl ich freilich gerne wüßte, warum Du gerade das Jahr
1898 genannt hast! !***) loh stecke hier insolchen Verhältnissen,
daß ich vor einer vorzeitigen ExjDlosion am Meisten fürchte,
sie würde uns um Jahrzehnte zurückwerfen. Bleiben wir un-
gestört, dann w^erden wir keine üble Rolle spielen. Unser Volk
— Deutsche und Tschechen, mit den anderen ist nicht viel lo«
— ist geradezu glänzend veranlagt und nur die verdammte
*) Wilhelm Liebknecht: „über die politische Stellung der
Sozialdemokratie, insbesondere mit Bezug auf den Reichstag." Ein Vortrag
gehalten in Berlin am 31. März 1869. (Später wiederholt neu aufgelegt.)
**) Friedrich Engels: „Die preußische Militärfrage und die deutsche
Arbeiterpartei." Hamburg, Verlag Otto Meißner, 1865.
***) Am Erfurter Parteitag im Oktober 1891 sagte Bebel: „Ich mache
kein Hehl daraus, ich habe mich riesig gefreut, als kürzlich mein Freund
Friedrich Engels in seinem bekannten Briefe im „S o c i a li s t e", den
auch unsere Piesse veröffentlichte, einen Umschwung der Dinge von Grund
aus gegen das Jahr 1898 in Aussicht stellte. Vollmar glaubte darüber spötteln
zu können, ich dagegen schrieb Engels: Alter, Du und ich, wir sind die ein-
zigen „Jungen" in unserer Partei!"
44 Briefe : August 1892 bis Oktober 1892
Jesuiterei 'durcli Jahrhunderte macht, daß wir als Anhängsel
und Nachtrab der europäischen Bewegung figurieren. Die
ökonomische Eiickständigkeit des Landes schwindet, man kann
sagen, stündlich mehr und wir haben den Vorzug, daß unser
Proletariat durch die Nachbarschaft Deutschlands der öko-
nomischen Entwicklung geistig voraus ist. Wichtig ist auch,
daß unser Hinterland Ungarn sehr vorschreitet ; die Industrie
wird dort staatlich gezüchtet und der Nährboden für unsere
Bewegung offiziell verbreitert und unter nationaler Fieber-
hitze gehalten. Das "ist um so wiclitiger, als uns aus Ungarn
die Slowaken kommen und den Standard of life immer wieder
heraibdrücken : nun werden sie dort verbraucht werden und
bald ganz andere Leute sein.
Die „Lage"*) habe ich noch nicht zu Gesicht bekommen,
gratuliere Dir aber zum Erscheinen. Wenn Du nur alle Deine
zerstreuten Aufsätze .sammeln wolltest und die von Marx, das
gäbe ja wenig Arbeit und wäre riei«ig wichtig. Von der
„Lage" habe ich persönlich den Profit schon eipgesteckt. Du
weißt vielleicht gar nicht, daß August, der hörte, daß ich in
Nöten sei, Dietz veranlaßte, mir. auch die zweite Eate auszu-
bezahlen, so daß ich Dir für 1000 Mk. zu danken habe. Ich
kann Dir nur sagen, daJ3 mich dieses Geld geradezu erhoben hat
— abgesehen von der wirksamen Beihilfe — ich betrachte es
als ein Ehrenzeugnis und hoffe Deiner Freundschaft und An-
erkennung auch weiterhin würdig zu bleiben.
[-.-1
Von Emmia und Storfcrs herzliche Grüße sowie von
Deinem getreuen V. Adler.
Eben lese ich, daß in Hamburg starke Cholera ist; also
morgen in Berlin und nächste Woche in Wien! Du kommst
also vernünftigerweise jetzt ndc'ht!!
25.
Engels an Adler.
Eyde, 30. Aug. 92.
Lieber Victor
Gestern konnte ich nicht alle Punkte Deines Briefes be-
antworten, teils weil das Papier voll war, teils weil die Zeit
*) Die zweite Auflage von Engels „Die Lage der arbeilenden Klasse
in England". Das Exemplar in Viktor Adlers Bibliolheiv trägt die Widmung:
„Seinem Viktor Adler, London 10. 9. 92., F. Engels." Die zweite Auflage
der englischen Ausgabe ,,The conditions of Ihe working Class in England
in 1844", die auch 1892 erschien, enthielt eine Widmung vom 7. 10. 92.
Briefe : August 18^2 bis Oktober 1892 45
erfüllt war — die des Mittagessens, 2 Uhr, und um 3 Uhr die
Post hier abgeht. Da aber die liebe Ungeduld von Ober-
<löbling *) mich mit einer Postkarte um einen Brief angeht,
kann ich Dir heute den Rest schreiben.
Was Du wegen der Taktik sagst, ist nur zu wahr. Aber
«s gibt nur zu viele, die aus Bequemlichkeit und um ihren
Schädel nicht plagen zu müssen, die für den Augenblick
l)assende Taktik für die Ewigkeit anwenden wollen. Die Taktik
machen wir nicht au? nichts, sondern aus den wechselnden Um-
ständen; in unserer jetzigen Lage müssen wir sie uns nur zu
oft vom Gegner diktieren lassen.
Ebenso hast Du recht von wegen der Unabhängigen. Tch
habe noch die Jahre im Gedächtnis wo ich — damals noch mit
L[iejbk[necht]in offizieller Korrespondenz stehend — in einem
fort gegen die überail hineinsickernde urdeutsche Spieß-
'lürgerei anzukämpfen hatte. Im ganzen und großen haben wir
las in Reichsdeutschland glücklich hinter uns, aber was sitzen
in der Fraktion für Spießer, und kommen immer wieder hinein!
Eine Arbeiterpartei hat da nur die Wahl zwischen Arbeitern,
<lie sofort gemaßregelt werden und dann leicht als Partei-
]>ensionäre verlumpen, oder Spießbürgern, die sich selbst er-
nähren, aber die Partei blamieren. Und diesen gegenüber sind
die Unabhängigen unbezahlbar.
Was Du über den ras'chen industriellen Fortschritt
\nn Osterreich und Ungarn sagst, hat mich ungeheuer gefreut.
Das ist die einzige .'^olide Ijasis für den Fortschritt unserer
Bewegung. Und das ist auch die einzige gute Seite am Schutz-
zollsystem — wenigstens für die meisten kontinentalen Länder
lind Amerika. Große Industrie, große Kapitalisten und große
Proletariermassen werden künstlich gezüchtet, die Zentrali-
sation de.s Kapitals beschleunigt, die Mittelschichten zerstört.
in Deutschland waren die Schutzzölle eigentlich ü'berflüssig,
da sie eingeführt wurden gerade im Moment wo Deutschland
-ich auf dem Weltmai-kt festsetzte, und diesen Prozeß haben
-ie gestört: aber dafür haben sie eine Menge Lücken in der
'<leutschen Industrie ausgefüllt, die sonst noch lange Lücken
geblieben wären, und wenn Deutschland gezwungen wird die
Schutzzölle seiner Weltmarktstellung zu opfern, wird es ganz
anders konkurrenzfähig s-ein als vorher. In Deutschland wie
) Louise Kaulsky.
46 Briete : August 1892 bis Oktober 1892
Amerika sind die Schutzzölle jetzt ein reines Hindernis, weil
sie diese Länder hindern die gebührende Weltmarktstellung
einzunehmen. In Amerika müssen sie daher bald fallen und
Deutschland muß dem folgen.
Aber indem ihr Eure Industrie hebt, macht ihr Euch um
England verdient; je rascher dessen Weltmarktherrschaft total
vernichtet wird, desto eher kommen hier die Arbeiter zur
Herrschaft. Die kontinentale und amerik[anische] Konkurrenz:
(dito die indische) hat endlich in Lancashire eine Krisis zuwege-
gebracht, und die erste Folge war die plötzliche Bekehrung der
Arbeiter zum Achtstundentag.
Das Zusammenwirken mit den Cechen ist auch poli-
tisch eine Notwendigkeit*). Die Leute sitzen mitten in
Deutschland, wir sind an sie gebunden wie sie an uns, und wir
nahen alles Interesse daran, da nicht ein jungcechisch-
russisch-panslawistisfthes Nest draus werden zu lassen. Es gibt
zwar auch Mittel, selbst damit auf die Dauer fertig zu werden.,
aber besser ist besser. Und da die Lente ja quoad nationale
Autonomie auf cechischem Gebiet alles von uns
bekommen können was sie wollen und brauchen, hat's aiieh
'*) über das Zusammenwirken der deutschen und tschechischen Ar-
beiter äußerte sich Engels auch in einem Beitrag für die in Prag heraus-
gegebene tschechische Maifestschrift. Auf dem Brief Josef Krapkas, der
Engels um einen Beitrag bat, ist das Konzept Engels' aufgezeichnet. Das
Schriftstück, das keinerlei Datum trägt, befindet sich im Parteiarchiv dei;
Sozialdemokratie Deutschlands in Berlin. Es lautet:
Den cechischen Genossen zu ihrer Maifeier zur Erinnerung aus dem
Jalire 18iS.
Karl Marx traf damals in Wien mit dem Prager Buchhändler
Borrosch zusammen, dem Führer der deutschböhmischen Fraktion in der
österreichischen Nationalversammlung. Borrosch klagte sehr über den
Nationalitätenhader in Böhmen und die angeblichen fanatischen An-
feindungen der Deutschböhmen durch die Tschechen. Marx frug ihn, wie er
da mit den böhmischen Arbeitern stände. ,,Ja," antwortete Borrosch, „das ist
ganz eine eigene Sache; sowie die Arbeiter in die Bewegung eintreten, da
hört der auf; da ist keine Bede mehr von Tschechen oder Deutschen, die-
halten alle zusammen."
Was die böhmischen Arbeiter beider Nationalitäten nur fühlten, das-
wissen sie heute: daß der ganze Nationalitätenhader nur möglich ist
unter der Herrschaft der großen grundbesitzenden Feudalherren und der
Kapitalisten; daß er nur dazu dient, diese Herrschaft zu verewigen; daß
tschechische und deutsche Arbeiter dieselben gemeinsamen Interessen habeii
und daß, sobald die Arbeiterklasse zur politischen Herrschaft kommt, aller
Voi-wand zu nationalem Zwist beseitigt ist. Denn die Arbeiterklasse ist
international ihrer innersten Natur nach, und das wird sie aufs neue be-
weisen an diesem ersten Mai.
London. F. E.
Briefe : August 1892 bis Oktober 1892 47
keine Gefahr. (Du siehst, ich operiere in dieser Beziehung
immer ohne Rücksicht auf die momentane politische Trennung
von Deuts-chland.)
Nächste Woche gehe ich wieder nach London ; obwohl
ich heute besser, wird doch wohl aus der Berliner Tour nichts
werden.
Viele Grüße an die ganze Eedaktion Dein F. E.
26.
Adler an Engels.
Wien, 22.19. 1892.
Verehrter Freund!
Diesmal komme ich zunächst Dich um einen Gefallen zu
bitten. Du erinnerst Dich, daß ich Stepniaks „Russiaji
Peasantry" *) übersetzt habe. Als ich die Arbeit übernahm,
schrieb mir St., er sei im Besitze des Rechtes der Übersetzung.
Nun die Sache zum Kla^Dpen kommt, Dietz das Ding über-
nommen hat, stellte sich heraus, daß Stepniak nicht im Besitze
eines formellen Papiers und daß Sonnenschein**) sehr erheb-
liche Geldforderungen, 20 bis 25 Pfund, für sich seilest stellte.
Mir blieb nun nichts anders übrig, als Stei)n[iak] vor ein Ulti-
matum zu stellen: mehr als 500 Mark will und kann ich nicht
geben; wie Sonnenschein und Stepniak sich in die Summe
teilen, ist mir egal; 300 Mark werden gezahlt, sobald die
formelle und rechtsg-ültige Überlassung des Übersetzungs-
rechtes an Dietz oder mich in meinen Händen ist, der Rest
nach Erscheinen des Buches.
Nun komme ich dazu Deine Güte in Anspruch zu nehmen.
Ich habe Stepniak geschrieben, er könne das Papier D i r über-
geben und das Geld bei Dir beheben. Damit spornte ich durch
Aussicht auf baldige cash***) seinen Eifer und habe den Vorteil,
daß Du mit Deiner Sachkunde und Erfahrung das Papier
Sonnenscheins prüfst, besser, als ich das vermöchte. Ich bitte
Dich also das zu tun, wenn )St[epniak] kommt (wann das sein
wird weiß ich nicht), den Überlassungsbrief daraufhin anzu-
*) Erschien in Viktor Adlers Übersetzung 1893 bei Dietz unter dem
Titel „Der russische Bauer" (212 Seiten).
**) Der englische Verleger Stepniaks.
***) Einkassierung. .
48 Briefe : August 1892 bis Oktober 1802
<ehen. ob er rechtsgültig ist und ob er s^ich auf beide Bände
bezieht, und wenn ja, ihm 15 I'fuTid auszufolgen, das Dokument
aber an mich zu senden. Die 15 Pfund sende ich, sobald mir
ytepniak mitteilt, daß er mit Sonnenschein einig ist. Daß die
Geschichte so sein muß, daß mit den 500 ]Mark beide end-
gültig befriedigt sind, versteht sich von selbst. Richtig, an den
Rest von 10 Pfund knüpfte ich die Bedingung, daß 8tepn[iakj
mir die Ergänzungen zum Tl. Band (Sektenwesen), die er ver-
.^prochen hat, vor Auszahlung liefert. Wenn vStepn[iak] vselbst
etwas zu unterschreiben hat, so müßte diese Klausel enthalten
sein. Verzeihe, daß ich Dich mit diesen zuwidern Geschüfts-
dingen belästige und daß ich nicht Deine Erlaubnis einholte,
bevor ich Stepniak schleich und übei" Deine Beihilfe verfügte.
Aber die Sache zieht sich schon so ekelhaft lang hin — und
dann ha'St Du mich durch Deine Güte mir gegenüber wirklich
verwöhnt. Nun habeich außerdem versäumt. Dir gleich zu
schreiben, aber die (^leschichte wird wohl erst in einigen Tagen
— wenn überhaupt — so weit sein, daß Ste])n[iak] zu Dir
kommen kann. Vnd ich bin so gehetzt in diesem ]\[omente! Seit
Monaten von Wien abwesend und aus allen Organisiation--
geschäften heraus, muß ich mich nun wieder einarbeiten.
Über Deinen Gesundheitszustand berichtet mir nicht ein-
mal die allzeit getreue Luise, von deren 2\nkunft in London ich
nicht wüßte, Aväre nicht die Ilandi^chrift auf den Adressen der >
Bücher- und Zeitnngssendungen, für die ich Dir lierzlich danke.
Wie steht es denn eigentlich mit ilyndman? Sein Dementi
sieht sehr energisch aus.
Was habt ihr denn Avieder dem Andreas Scheu *) getan '
ich merke inuncr, daß er verletzt ist au der Verstimmung seine-
hiesigen Bruders**), der ein sehr anständiger, aber selir emp
findlicher und nervöser Mensch ist. Mir scheint, daß Onkel
*) Andreas Scheu, der bis zu seiner Auswanderung aus öslerreicli
an her\'6rragendsfer Stelle in der österreichischen Arbeilerhewegung
gestanden, im Hochvenatspiozeß zu fünf Jahren schweren Kerkers ver-
urteilt wurde und später in London eine Reihe der wuchtigsten sozi:i
listischen Gedichte verfaßte, lel)t gegenwärtig mit seinem IBnider Heinrii i
in der Schweiz. Vergleiche ,,l)er Wiener llochverratsprozeß". Bericht üb«
die Schwurgerichtsverhandlung gegen Andreas Scheu, Heinrich Ober-
winder, Johann Most und (ienossen, neu herausgegeben von Heinrich
Scheu (Wiener Volksbuchhandlung 1911) und ebenso im gleichen Banii
die „Erinnerurigen" von Heinrich Scheu.
**) Josef .Scheu, der Komponist des „Lied der Arbeil" und vieler
anderer Freiheitslieder.
Briefe : August 1892 bis Oktober 1892 49
Juliu? *) den A. Scli., statt zu beruhigen, noch hetzt! Doch
bitte ich insbesondere vor Julius nichts zu erwähnen, das ist
ein altes Weib und rührt mir einen Klatsch an, was mir höchst
zuwider wäre. [ — . — ]
Brentanos Artikel im Sozpol. Zentrbt. über Glaso-ow werde
ich mir ausborgen**) ; ich muß es erst recht, weäl ich ^Mitarbeiter
dieses Blattes geworden bin***). Überhaupt — habe auch Karl
in dem Sinne geschrieben — müssen wir der Brentano-Scliule
mehr Aufmerksamkeit zuwenden, wie bisher. Sie ist gefähr-
licher, weil gescheiter, als Schäffle samt Schmoller.
Über Parteisachen nächstens.
Dir und Luise herzliche Grüße von Emma und Dein
V. Adler.
Ich lege die Briefe St[epniak<5] zum leichteren Verständnis
bei und bitte nochmals die Behelligung zu verzeihen.
27.
Adlor an Engels.
Wien, 22./9. 1892.
Lieber Freund I
Heute früh habe ich Dir geschrieben und nachmittags
erhalte ich eine Karte von SteiDniak, die mir anzeigt, daß er die
formelle Zustimmung habe und zu Dir gehen wolle, um das
Dokument gegen Geld umzuwechseln. Da die Sache so schnell
*) Julius Motteler, der ,.rote Postmeister", der die Verbreitung des
„Sozialdemokrat" von 1879 an in Zürich und nach der Ausweisung
aus der Schweiz bis zum Fall des Sozialistengesetzes in London organisiert
hatte. Er kehrte im Sommer 1901 aus dem Exil nacli Deutschland zurück
und starb am 29. September 1907. Vergleiche die Nachrufe in der „Neuen
Zeit", XXVI/1 (Seite 1), und „Arbeiter-Zeitung" vom l. Oktober 1907
(Seite 8) sowie J.. Belli „Die rote Feldpost" (Stuttgart. Dietz 1912).
**) „Sich jemand ausborgen" = Gelegenheit nehmen, mit jemand ab-
zurechnen.
***) In Nummer 38 des I. Bandes des von Heinrich Braun heraus-
gegebenen „Sozialpolitischen Zentralblattes" (Berlin, 19. September 1892)
erschien der erste Beitrag Viktor Adlers „Cholera und Sozialpolitik" (Seite
464 bis 466). In der gleichen Nummer berichtete Professor Lujo Bretano
(München) über den 25. Kongreß der englischen Gewerkschaften, der am
5. bis 11. September 1892 in Glasgow stattgefunden hatte, in einem Artikel
„Der englische Gewerkvereinskongreß 1892". Die Polemik Adlers gegen
Brentanos Artikel ist in einem Artikel der ,, Arbeiter-Zeitung" vom 30. Sep-
tember 1892 „Es geht vorwärts" enthalten.
50 Briefe : August 1892 bis Oktober 1892
gekommen ist, erfährst Du, was mir sehr unaugenehm ist, von
ihm zuerst, was ich von Dir erbitten wollte. Aus meinem
ersten Brief weißt Du um was es sich handelt und ich werde
morgen 15 Pfund Sterling, wenn es geht telegraphisch, sonst
brieflich, an Dich absenden, welche ich Dich bitte an St[epniak]
auszufolgen, wenn die Sache in Ordnung ist. Im vorhinein
danke ich Dir herzlich für Deine Intervention und bitte Dich
nochmals um Entschuldigung, daß ich Dich in die Lage ver-
setzt, daß Stepniak zu Dir von einer »Sache spricht, die Du
nicht kennst. Bei dieeer Gelegenheit eine Bitte (Du siehst,
man wird unverschämt!): Mir fehlen zwei Broschüren von
Dir, die gänzlich vergriffen sind, die ich aber brauche, näm-
lich „Die Bakunisten an der Arbeit"*) und „Soziales aus Ruß-
land**) — erstere habe ich besessen, aber, wie ich leider
immer tue, „agitatorisch" weggeliehen und natürlich nicht
zurückerhalten; die zweite Broschüre habe ich nie zu Gesicht
bekommen. Solltest Du Exemplare davon überschüssig haben,
so bitte ich Deinen Geheirasekretär***) um Zusendung so bald
als möglich. Immer und immer wieder empfinde ich wie so
viele anderen das Bedürfnis, daß Deine kleinen Schriften
endlich in einem Sammelbande erscheinenf). Gerade dio
„Bakunisten" und die „Preußi'sohe Militärreform"tt) würden
dadurch erst bekannt werden und das wäre meines Erachtens
gerade jetzt von größtem Wert.
Auch jetzt kann ich, soll der Brief abgehen. Dir von
Parteisachen nichts schreiben. Sage nur Luise, daß der Brief
an den deutschen Parteivorstand bereits abgegangen ist und
wir so gespannt sind wie sie.
Herzliche Grüße an Dich und Luise.
Dein V. Adler.
*) „Die Bakunislen an der Arbeil." Denkschrift über den letzten
Aufstand in Spanien von F. Engels. Separatabdruck aus dem „Volksstaat",
Verlag Genossenschaftsbuchdruckerei Leipzig.
**) „Soziales aus Rußland" von Friedrich Engels. Verlag der Genossen-
schaftsbuchdruckerei Leipzig. 1875.
***) Louise Kautsky.
t) Diesem Wunsch hat Engels Rechnung getragen. „Die Bakunisten"
und „Soziales aus Rußland" erschienen neben zwei anderen Abhandlungen
in der Sammlung: „Internationales aus dem Volksstaat, (1871 bis 1875)", von
Friedrich Engels. Verlag „Vorwärts", Berlin, 1894.
tt) Friedrich Engels: „Die preußische Militärfrage und die deutsche
Arbeiterpartei". Hamburg, Otto Meißner, 1865.
Briefe : August 1892 bis Oktober 1892 51
28.
Engels an Adler.
London, 25. September 1892.
Lieber Victor
Dein Gesohäft mit Stepniak ist erledigt, und zwar ehe
Dein Telegramm und die zwei Briefe ankamen. St. näm-
licht) schickte mir Deinen Brief vom 15. edn mit der
Bemerkung, er habe jetzt die förmliche Einwilligung Sonnen-
scheins und werde morgen (id est vorigen Donnerstag 22.)
kommen, sich die auf mich angewiesenen 15 Pfund Sterling
dagegen eintauschen. Obwohl ich keinen Avis von Dir hatte,
bin ich doch ein viel zu gTiter Kaufmann, um nicht die LTnter-
schrift der renommierten Firma V. A. zu honorieren, selbst
wenn der formelle Avis an mich direkt hoch nicht eingetroffen.
Du hattest eben nicht nur St.. sondern auch mir gewissen-
maßen die Pistole auf die iBrust gesetzt, ßonst hätte ich, wäre
mir irgendein Ausweg offen geblieben, in Deinem Interesse
mich an der Zahlung einstweilen vorbeizudrücken gesucht. Und
^war einzig aus dem Grunde, weil Du nun St. alles gezahlt
liast, was er zu bekommen hat; dadurch aber ist er beim Er-
.■scheinen Deiner Übersetzung nur noch schriftstellerisch, aber
nicht mehr pekuniär interessiert, und wie ich meine Russen
kenne scheint mir das nicht die richtige Methode von ihm
die Arbeit für den zweiten Band herauszuschlagen. Genug, da
war nichts mehr zu machen. Ich hätte mir ein schriftliches Ver-
sprechen, die Sache innerhalb bestimmter Frist zu liefern, gehen
lassen können; das wäre aber absolut nutzlos gewesen. Du hast
jedenfalls schon Schriftliches genug von ihm und ein neuer
Wisch hätte ihn nicht veranlaßt, rascher zu arbeiten.
So begnügte ich mich mit seinem, in Luisens Gegenwart
gegebenen Versprechen Dir das Bewußte in längstens 14 Tagen
yA\ liefern (va-t-en voir s'ils viennent, Jean!)*) und ihm dann
gegen inl. Schein und die Sonnenscheins che vollständig ge-
nügende Erklärung, die ihm von Dir als bei mir zu erheben
j?ugesaigten 15 Pfund Sterling zu zahlen. Du schriebst ihm:
you can also band the formal paper to Mr. Engels, and you
will receive immediately from liim the sum of
t) nachdem Luise ihn in Deinem Auftrag um Erledigung
•der Sache gebeten.
^) Man wird ja sehen, ob sie kommen, Jean!
52 Briefe : August 1892 bis Oktober 1892
15 poiinds*). Du siehst, gegen diesen kategorischen Wortlaut
war nicht aufzukommenf).
Ich habe dem St. dabei auseinandergesetzt, "vvie er durch
seine Bummelei sich selbst geprellt hat; wie bei rationellem
Verfahren S. S. & Co. mit höchstens 5 Pfund Sterling ab-
zuspeisen gewesen und er, St., um so mehr hätte einstecken
können (Aveling behauptet, S. S. & Co. hätten die Erlaubnis
auch gratis gegeben, weil die Übersetzung ohnehin Reklame
fürs Buch macht). Das war ihm ganz neu und wird er sich's
wohl merken. Du aber hast den größten Schaden davon.
Summa Summarum : in ähnlichen künftigen Fällen tust
Du am besten, mir von vornherein Mitteilung zu machen, wo
ich Dir dann entweder meinen unmaßgeblichen Rat mitteilen^
oder aber, sei es selbst,' sei es durch Luivse oder Avelings die
Unterhandlungen sofort hier für Dich führen kann. Auch in
literarischen Geschäften ist „Platzkenntnis" erstes Erfordernis
wenn man nicht geprellt isein will.
Wir freuen uns, daß es Deiner Frau soviel besser geht.
und hoffen, es geht so weiter. Unsere ibesten Wünsche begleiten
Euch !
Von Andreas Scheu haben wir seit Jahren nichts ge-
sehen, seit Monaten nichts gehört, und seit undenklicher Zeit
hier nicht gesprochen. W^ir wissen absolut nichts von ihm.
Wegen Onkel J. nebst Tante kannst Du ruhig sein — ^vlr
sehen sie fast nie, da sie sich systematisch gegen uns ab-
schließen, und erzählen ihnen noch viel weniger.
Der Bericht über IIyndman**)hätte nicht gedrucktwerden
sollen. Er war unverbürgte Privatniitteilung nnd mag f o r-
t) Wenn Du mir schreibst, Du habest auch seine Ar-
beit von ihm „vor Auszahlung" verlangt, so ist das ein Irrtum-
Ich wollte, der Wortlaut hätte mir diese Forderung erlaubt.
Aber Du knüpfst die Auszahlung und zwar ,,immediately" nur
an das formal paper von Sonnenschein.
*) Sie können die formelle Einwilligung Hcrm Engels übergeben und'
Sie werden von ihm sofort die Summe von J 5 Pfund Sterling,
erhalten.
**) Per Berliner ..Vorwärts" vom 15. September 1892 brachte eine
längere Notiz mit der tlborsclirift: ,, A u s England schreibt man uns",
in der unter anderem behauptet wird, daß ,,Mr. Hyndman auf der letzten
Konferenz der Sozialdemokratischen Föderation ein Mißtrauens\'ottim er-
hielt, wie es ärger kaum gedacht werden kann" und sogar ,,dic Ausschließung
Hyndmans wegen seines zweideutigen Verhaltens in der Agitation" bean-
tragt worden sei. Der Berliner ,, Vorwärts" am 20. September 1892 bringt eine
Zuschrift Hyndmans vom 16. September, in der er alle wesentlichen Tal-
<;a/'.hpn hp<i-trpifpf
Briefe : August 1892 bis Oktober 1892 53
m e 1 1 unrichtiges enthalten. Der Sache nach ist er richtig :
H. ist abgesetizt, wenn auch in möglichst schonender Form.
Die Drohung eines derartigen Antrags, unterstützt von der
Mehrzahl der Delegierten, mag hingereicht haben. Da-
Schlimmste ist : man kann auf das Dementi nicht antworten,
ohne ihm hier eine günstigere Position zu verschaffen. Er selbst
hat auch in Justice etwas, worin er die Erwartung ausspricht,
der „Vorwärts" werde seinen Brief nicht abdrucken. Damit
ist e r nun blamiert.
Soziales aus Rußland erhältst Du in zwei Exem-
plaren. Von den ,,Bak. an der Arbeit'' habe ich bis jetzt nur
noch ein (mit anderen zusammengebundenes) Exemplar,
näm.lich mein Handexemplar, finden können. Das agitatorische
Wegleihen habe ich mir notgedrungen abgewöhnen müssen
und rate Dir auch dasselbe. Mein Handwerkzeug gebe ich ein
für allemal nicht mehr aus dem Hause.
Meine Gresundheit geht ,, immer langsam voran". L[ouise]
sa^t mir, Du habest nach der Dauer der Geschichte gefragt — vor
etwa zehn Jahren, durch Exzeß, zur Erscheinung gebracht,
Grund gelegt vor etwa 25 Jahren durch einen Sturz mit dem
Pferd bei der Hetzjagd. Ferner zur ISTachricht, daß ich schon
nach wenig Jahren, nachdem die Sache deklariert war, wegen
unangenehmer Empfindungen in der Gegend <^ Leistenkanals
eine Bandage mit Bruchkissen zu tragen genötigt wurde, auch
scheint in der Gegend links eine kleine Varice*) zu sein. Seit
ein paar Tagen glaube ich entschiedene Wendung zum Bessern
zu spüren, doch ist noch immer Druckemjjfindlichkeit vor-
handen, besonders nach etwas Steheji oder Gehen; ich muß
jedenfalls noch etwas Geduld haben und der Ruhe j^flegen.
L[ouise] sagt mir, Du wolltest die Freundlichkeit haben. Dich
nach einem hiesigen Spezialisten zu erkundigen, das wäre mir
sehr lieb, namentlich da jede . . .
(Das zweite Blatt dieses Briefes ist unauffindbar gewesen.)
29.
Engels an Adler.
L., 27. Septbr. 92.
Lieber Victor
Kaum war mein (eingeschriebener) Brief an Dich gestern
abgegangen so kam auch der Bote vom Credit Lyonnais der
*) Varicen (Krampfadern).
54 Briefe : August 1892 bis Oktober 1892
niir die bewußten 15 Pfund zur Ausgleichunjg meines Vor-
schusses einbändigte, worüber hiemit dankend Empfangs-
anzeige.
Der Marseiller Gewerkscbafts- (Syndikats-) Kongreß, der
vor dem der Arbeiterpartei stattfand, hat beschlossen, dien von
den Trades Unions zu Glasgow berufenen Achtstunden-
kongreß nicht zu beschicken, dagegen die Tr.-TJnions aufzu-
fordern, nach Zürich zu kommen. Der Parteikongreß werde,
schreibt Laf. *), einen ähnlichen Beschluß fassen. Wenn eure
Gewerkschaften sich in demselben Sinne aussprächen, würde
das hier Eindruck machen, die Beschlüsse politischer Ar-
beiterkongresse gelten bei den aufgeblasenen Herren von den
alten Tr. -Unions nicht für voll !
Gruß von Luise an deine Frau und Kinder und Dich
selbst, ditto von Deinem F. E.
30.
Adler an Engels.
Wien, lO./lO. 92.
Verehrter Freund!
Deine Anjegiung, die Trades-ITnions einzuzwicken, ist
auch bei uns auf sehr fruchtbarem Boden gefallen. Ich war
einen Moment zweifelhaft, ob man ihnen nicht eine goldene
Brücke bauen O'der vorschlagen sollte, unmittelbar vor even-
tuell nacth unserem Kongreß in Zürich ihren Gewerkschafts-
schmus abzuhalten. Nebenbei verlockte mich -die Aussicht, daß
wir einen Teil des rhetorischen Ballastes los werden könnten.
Außerdem scheint es mir auch heute noch nicht ganz sicher,
daß wir die Kerle gänzlich isolieren können. Ich fürchte,
daß eine Fraktion der Franzosen, aber auch Belgier, -Dänen
etc., vielleicht auch Amerika zum Teil sich zu ihnen schlägt,
natürlich „im Interesse des internationalen Friedens". Aber
nachdem in Marseille losgeschlagen wurde und Augnst eo iws
Zeug geht, gibt es keine Wahl. Wir werden noch in die&er
Woche unsere Gewerkschaftsvertretung beisammen haben und
es wird unzweifelhaft ein gegen Glasgow absolut ab-
lehnender Beschluß gefaßt werden. Ich drucke, um in die Pro-
*) Lafargue.
Briefe : August 1892 bis Oktober 1892 55
-vinz zu wirken, Augusts Artikel ab*). Die Schwierigkeit ist
bei uns nur die Form, da bekanntlich unsere Gewerkschaften
sämtlich „nichtpolitische" Vereine sind. Aber es wird die Form
gefunden werden, respektive die Resolution habe ich schon
fertig.
Ich werde auch dafür sorgen, daß das Parliamentary
Committee den Beschluß offiziell unter die Nase kriegt
und bitte u m ♦ d i e Adresse.
Dein Aufsatz**) in der „N. Z." ist wieder einmal eine
Erquickung. Was mich bei Deinen Sachen immer am meisten
frappiert hat, ist, daß Du so „kompreß'' zu schreiben weißt, wie
kaum ein anderer. Man hat das Gefühl, daß man beim Lesen
geradezu „überhax)s" gescheit wird.
Daß Du wieder auf dem Damm bist, freut uns alle herz-
lich ; aber — ich bitte Dich inständig — sei nicht leichtsinnig.
Gerade das Schleppende dieser peritonalen Reizungen macht
-e tückisch. Wenn Du keinen tüchtigen, das heißt S p e z i a 1-
firzt hast, so nehme einen an und zwar empfehle ich Dir den
Prof. Dr. Mac E w e n, einen ausgezeichneten Chirurgen,
der sich mit Hernien ganz besonders beschäftigt. Er wird mir
Iner von mehreren Professoren als erste Londoner Autorität
auf dem Gebiet genannt. Bitte, tue es jedenfalls, auch
wenn Du momentan, wie ich herzlich hoffe, ganz frei von Be-
schwerden bist. Für Deine Gesundheit, lieber General, bist Du
nicht nur Dir selbst verantwortlich!
Für Deine Intervention bei der Sache Stepniak besten
Dank. Natürlich meinte ich, er würde die erste Rate dem
Sonnenschein geben müssen und dann durch die zweite
veranlaßt sein, rasch zu arbeiten. Nun, geht's ja auch so!
Sicher ist, daß er mir natürlich noch keine Zeile geschickt hat! !
Bitte, ist Bax in Siebt? ? Der Mann hat meine Manuskripte im
Sack und iöh brauche sein c a s h!***)
*) In der „Neuen, Zeit", 1. Band des XI. Jahrganges, Seite 38, ver-
öffentlichte Bebel einen Artikel; „Ein internationaler Kongreß für den Acht-
stundentag", der in der „Arbeiter-Zeitung" vom 14. Oktober 1902 nach-
gedruckt ist.
**) Gemeint ist offenbar Engels Aufsatz „Über historischen Materia-
lismus" in der „Neuen Zeit", Xl/l, Seite 15 und 42, 1892.
***) Viktor Adler hatte während seiner viermonatigen Haft 1890 neben
dem Buche Stepniaks auch Aufsätze E. Belfort-Bax' ins Deutsche über-
setzt, von denen zwei in der „Neuen Zeit", Band XI/2 (1893), erschienen
sind: „Der Fluch der Zivilisation", Seite 549, „Menschentum und Klassen-
instinkt", Seite 626.
56 Briefe : August 1892 bis Oktober 1892
Emma, die Dioh herzlich grüßt, geht es täglich um eine*
kleine Kleinigkeit besser — aber es geht!!
Mit herzlichsten Grüßen an Dich, Luise und Avelings
Dein getreuer V. Adler.
31.
Engels an Adler.
London, "23. Okt. 92.
Lieber Victor
Wegen des Tr.-Ünions Internat. Kongresses brauchst Du
Dir keine Sorge zu machen. Erstens war die ganze Geschichte
wahrscheinlich nur ein Mittel den Beschluß gegen die Züricher
durchzukriegen, und wird vom Parliamentary Committee viel-
leicht igar nicht angeregt. Zweitens ist's mit dem Hingehen ein-
zelner Kontinentaler nicht so arg, da selbst die — noch von
Possibilisten wenn auch nicht mehr unbestritten — beherrschte
Pariser bourse du travail beschloß, die Tr. Unions zum Aufgeben
ihres Planes aufzufordern. Was also sollte da noch koimuen ^
Vielleicht Herr Gilles, als Vertreter der deutschen ümab-
hängigen ? !
Einseuduug des Beschlusses der Österr. Gewerkschaften
ans Pari. Comm. wird 'S ehr uützlich sein. Wegen der Adresse
werde ich Aveling fragen, ich kauu sie nicht finden.
Gestern bin ich zum erstenmal wieder über Primrose Hill
gegangen,, und denke mit gehöriger Vorsicht Ende der Woche ein
Stückchen weiter zu sein. Den Mac Ewen werde ich mir merken.
Er ist jedenfalls Consulting surgeon , das heißt, daß er nur
anderen Ärzten, nicht dem Publikum direkt, Rat gibt.
Das werde ich schon erfahren. Du hast gar keine Idee davon,
wie hier alles, auch die Medizin, von Etikette beherrscht wird,
und ein Verstoß gegen diese Etikette viel schwerer wiegt als
zehn gegen das Sittengesetz. Ich kenne einen Ausspruch der
Manchester Medici-Ethical Gesellschaft als Schiedsgericht über
meinen Freund Gumpert in Manchester. Er hatte beim Beileids-
besuch in einer Familie wo er nicht Arzt war (es war etwa
1866 — .67) sein gelindes Bedenken geäußert, daß der Haus-
arzt erlaube, andre Kinder zu den Leichen zweier am Scharlach
gestorbener Kinder zuzulassen, und der andere Arzt beklagte
sich darüber. Urteil : that Dr. Gumpert had committed a breach
Briefe : August 1892 bis Oktober 1892 57
of medical etiquette, though he was morally vight!*) Also noch-
mals besten Dank, Dein Eat wird befolgt.
Dem Stepniak echreibe ich morgen wegen der Arbeit.
Hast Du dann in 14 Tagen, sage bis T. — 8. Novbr. noch nichts^
dann bitte, schreib' nochmals, er wird dann wieder getreten.
Sonst kriegst Du nichts aus einem Eussen heraus.
Ich bin jetzt am III. Band Kapital. Hätte ich in den
letzten vier Jahren nur einmal drei ruhige Monate vor mir sehen
können, ee wäre längst fertig. Aber so gut wurde mir nie. Dies-
mal nehme ich mir die freie Zeit mit Gewalt und größter Ver-
nachlässigung aller Korrespondenz und sonstiger Dinge. Ich
finde, daß ich an der schwierigsten Stelle schon eehr gut vor-
gearbeitet habe, als ich das letztemal dran war, und' so geht's bis
jetzt ziemlich flott — allerdings bin ich jetzt aber auch grade
vor der Hauptschwierigkeit, die mir seit Jahren den Weg ver-
sperrte, aber ich arbeite mit Lust und soweit auch mit un-
geschwächter Kraft und so wird's wohl diesmal was werden.
Hiebei ein Aktenstück zur Charakteristik der Anarchisten
cechischer Nationalität. Die Herren fangen an das Prinzip, daß
Wahlen ein revolutionärer Akt ist, gegeneinander anzuwenden.
Die Schweinereien drin will ich noch dadurch entschuldigen ^
daß die Knoten als Nichtdeutsohe sich des vollen Eindrucks
ihrer Stilblüten auf Deutsche nicht ganz bewußt waren.
Die guten Nachrichten wegen Deiner Frau haben uns
alle ungemein gefreut. Wir hoffen es bleibt in der Eichtung
und Du kannst uns bald wieder Erfreuliches berichten.
Herzliche Grüße von Louise an Dich, Deine Frau und
Kinder, denselbigen [(] gleichen auch von Deinem
F. Engels.
Adr. dos Pari. Comites
C. Fenwick, Fsq. M. \\
12 Buckingham st. Strand
W. 0. London.
*} Dr. (nimpeil hat einen Bruch der ärztlichen EtikeUe begangen,
obgleich er moralisch im Becht war.
58 Die Wiener Marx-Feier 1893
32.
Adler an Engels.
(Redaktionstag!) Wien, 26./10. [1892].
V'erehrter Freund!
Danke herzlich für Deinen Brief und zeige an, daß
Stepniak vor ein paar Tagen Manuskript gesendet hat.
Wie ich sehe, suchst Du Dich um die Konsiultation. herum-
zudrücken. Ich hoffe, daß Du es darfst. Aber, die Gefahr etwa«
Überflüssiges zu tun, scheint mir nicht so groß als die etwas
Notwendiges zu unterlassen. Darum würde ich Dir doch sehr
raten, alle Etikette beiseite zu lasisen und zu Mac Ewen zu
gehen. — Herzliche Grüße an Luise und Dich von Emma
und Viktor.
In Eile!
33.
Die Wiener Marx-Feier 1893.
Die „Arbeiter-Zeitung" vom 17. März 189B berichtet über die Karl-
Marx-Totenfeier, die die Arbeiterschaft am 14. März 1893 beging;
Das war ein unoergeßlicher Abend. Zum erstenmal seit 22 Jahren
wieder öffneten sidi die Sophiensäle, das größte Lokal Wiens, einer Arbeiter-
versammlung. Schon um sieben Uhr strömten die Scharen zusammen, um acht
Uhr war auch das letzte Plätzchen des weiten Raumes gefüllt. In Feierkleidern
rückten sie an, Männer und Frauen; aber Hunderte von Arbeitern sahen wir,
wie sie aus der Werkstatt kamen, wie sie vom Gerüst gestiegen, mit dem
Schurzfell, die das Werkzeug soeben aus der Hand gelegt. Den Hintergrund
des Saales nahm die Tribüne ein, in einen grünen Hain verwandelt, in dessen
Mitte eine prächtig gelungene, eigens zum Fest geschaffene Kolossalbüste von
Karl Marx stand; rote Schleifen, auf denen zu lesen war: „Proletarier
aller Länder, vereinigt Euch ! — Die sozialdemokratische Partei Österreichs" .
umschlangen den Sockel. An die Fünftausend waren da, und hätte der Saal
die doppelte Zahl gefaßt, noch hätten nicht alle Platz gefunden, die kommen
wollten. Die Stimmung der Masse war eine unbeschreibliche. Auf aller Antlitz
lag jene heitere und doch so ernste Begeisterung, welche die Proletarierfeste
vor allen anderen auszeichnet. Sie waren sich bewußt, gekommen zu sein,
nicht nur den Lehrer zu feiern und den Kämpfer, sondern das Proletariat
selbst, seinen eigenen Kampf und seine höchsten Ziele. Und mit hinein
mischte sich der berechtigte Stolz über die Tatsache, die sich auch an diesem
Fest aussprach: den Riesenfortsdiritt, welchen die Organisation der zielbe-
wußten Arbeiterschaft und speziell Wiens gemacht hat. Es war ein wohlver-
dientes, frohes Fest, das sauren Wochen folgte. Man sah Jedem die Freude an.
Die Wiener Marx-Feier 1893 59
von der ermüdenden Kleinarbeit im Dienste der Bewegung den Blick einmal
erheben zu können zum Ganzen, zur Idee der Bewegung.
Auch sonst war das Fest in jeder Weise gelungen. Als Beethovens
unsterbliches Tonwerk, dirigiert von unserem wackeren Mörth, in über-
raschend guter Aufführung verklungen war, zeigte der rauschende Beifall, daß
Beethoven nicht nur für das Publikum der Philharmoniker gelebt hat.
Der Brüder Scheu „Festgesang", vom ,, Arbeiter-Sängerbund" und der ,,Typo-
graphia" vorgetragen, erwedcte Begeisterung und in aller Herzen klang es nach :
O Wissensmacht, füll' unsern Bund
Mit deiner ganzen Stärke,
Und gib dich unbesiegbar kund
In uns rem großen Werke:
Sei uns're Rüstung, unser Sdiild
Und uns'rer Waffen Schärfe,
Daß unser Arm das Götzenbild
Der Zeit in Trümmer werfe.
Nun eröffnete Genosse Schra mmel die „Versammlung" mit einer
Begrüßung der Anwesenden im Namen der Parteivertretung. Mit ihm bestieg
der unvermeidliche Polizeikommissär die Tribüne. Genosse Leuthner erhielt
nun das Wort zur eigentlichen Festrede. Wir bringen dieselbe wortgetreu zum
Abdruck und haben es nicht notwendig, zu ihrem Lobe ein Wort zu sprechen.
Aber gesagt sei, daß diese Rede verstanden wurde und daß jeder ihrer Wen-
dungen verständnisvoller Beifall folgte. Nach einer Pause ließen unsere Sänger
den „Morgenzuruf" von Herwegh folgen, worauf Genosse Adler das Wort
ergriff zu einer Rede, die im Auszug folgt. Als er mit dem dreimaligen Hoch
auf die internationale und revolutionäre Sozialdemokratie schloß, erhoben sich
Tausende von ihren Sitzen und stimmten in jubelnder Begeisterung ein. Bevor
nun Genosse Seh ramme l die „Versammlung" schloß, erinnerte er an den
noch lebenden Mitarbeiter und Kampfgenossen von Karl Marx, unseren
Friedrich Engels, und schlug vor, folgendes Telegramm aus der Mitte der
Versammlung an ihn zu richten :
„Tausende von Männern und Frauen, versammelt zur
Gedenkfeier an Karl Marx, senden sozialdemokratischen Crruß
seinem Mitarbeiter, dem treuen Freunde und Berater der revo-
lutionären Arbeiterschaft aller Länder.
Die österreichische Parteivertretung:
Popp, S c h r a m m e 1, Adle r."
Stürmischer Beifall und „Hoch Engels" folgten der einstimmigen An-
nahme des Antrages. Als hierauf der Schlußchor verklungen war, wollten sie
nicht gehen. Das Orchester wurde genötigt, das „Lied der Arbeit" und hierauf
die „Marseillaise" zu spielen und beide Lieder wurden von dem Chor der
Massen stehend mitgesungen. Es war Mitternacht, als sich die Säle leerten, und
keiner und keine hat das Haus verlassen, ohne den Schwur erneuert zu haben,
unerschütterlich treu und rastlos den Weg zu gehen, den uns Marx gezeigt.
60 Die Wiener Marx- Feier 1893
In dem Bericht der „Arbeiter-Zeitung" folgt nun nacli der wört-
lichen Wiedergabe der Rede Karl Leuthners folgender Auszug:
Aus der Rede des Genossen Dr. Adler:
Geehrte Festversammlnng I Werte (lenossen und Ge-
nossinnen! Wir haben Sie hieher geladen, zehn Jahre, nachdem
sich 'die A'ugen von Karl Marx für immer geschlossen. Wir
haben Sie geladen, eine Trauerfeier zu begehen heute am
14. März, nachdem Sie vorgestern in viel größeren Massen eine
andere Trauerfeier begangen haben. Wer Karl Marx war, was
er für uns geleistet, was seine geschichtliche Tat war, das hat
mein Vorredner Ihnen unübertrefflich geschildert; ich will Sie
nur erinnern an das, was handgreiflich, faßbar, sichtbar für
jeden von Ihnen steht. Erinnern Sie sich an vorgestern, wo Sie
am Obelisk standen, zwanzigtausend, dreißigtausend, Sie, die
entschlossen sind zu kämpfen für die Freiheit, Sie Proletarier,
vergleichen Sie sich mit den Proletariern, die dort ruhen, die
gefallen sind im Jahre 1848 für die Freiheit. Vergleichen Sie,
was das Proletariat war im Jahre 1848 mit dem, was es heute
ist. Im Jahre 1848 — und das war die erste Revolution, die
KarlMarx mit sehenden Augen erlebte, die er mitgekämpft,
die er uns gedeutet, erklärt hat und aus der wir lernen werden
und gelernt haben — im Jahre 1848 war das Proletariat nicht
nur hier in Österreich, auch drüben 'm Frankreich, wo die
Hauptschlacht geschlagen wurde, eine untentwickelte Klasse,
eine Klasse, die sich selbst noch nicht kannte, die mit dem
Bürgertum, mit den Ideologen und Idealisten aller Klassen
zusanomen auf die Barrikaden stieg un'd für Freiheit, Gleichheit
und Brüderlichkeit, wie bei uns für das bißchen Preßfreiheit —
das wir heute noch nicht haben — geblutet hat, m i t der Bour-
geoisie, und wie es sich zeigte, f ü r die Bourgeoisie. Karl
Marx hat die Junischlacht gedeutet, gezeigt, wäe die Bour-
geoisie mit dem Rufe Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit das
Proletariat auf die Barrikaden schickt gegen den Feudalismus,
und daß dieselbe Bourgeoisie, wenn sie die Macht dazu hat, das
Proletariat am Fuße der Barrikade erwartet mit dem anderen
Dreiwort: „Infanterie, Kavallerie, Artillerie." (Stürmischer,
lang anhaltender Beifall.) Freilich, sie hören es nicht gerne!
Denken Sie nur, wie schön waren die guten, alten Zeiten, wo
noch unter dem blauen Himmel einer allgemeinen Menschen-
liebe alle Menschen selig werden konnten und brüderlich einer
Die Wiener Marx-Feier 1893 61
jiiemals kommenden Zukunft entgegengingen; wie schön waren
die Zeiten, wo die „Menschenfreundlichkeit" allen genügte,
und wo der größte Ausbeuter im Comptoir sich beim Fest als
Arbeiterfreund, als Freund des freien Gedankens aufspielte!
Wie schön waren die Zeiten, wo der Staat selbst sich drapieo'en
konnte als Schützer der Schwachen, als Anwalt der Unter-
drückten. (Sehr richtig! Beifall.)
Marx hat den Begriff der ..Menschheit" in Klassen
zerrissen und die „allgemeine Menschenliebe" als den Konflikt
von Klasseninteressen aufgezeigt. Der Arbeiterfreundlichkeit
der Bourgeoisie, der ausgleichenden Gerechtigkeit des Staates
hat er die Maske heruntergerissen, und wir wissen heute und
das Proletariat weiß heute den Klassenstaat sehr gut unter der
\olksfreundJichsten Maske zu erkennen als Organ der
Ausbeuterklasse. (Beifall.)
Diese Klarheit gefällt nun nicht. Und die Zunftgelehr-
^amkeit. die 25 Jalire sich sträubte, den Gelehrten Marx anzu-
erkennen, und sich endlich dazu bequemen muß, hat ein neues
Schlagwort erfunden, von der ..neuen Orthodoxie", die sich
gebildet habe und sich dabei noch in das Gewand der freien
Forschung kleide. Sie nennen uns „Marxisten", Als der Name
^[arxisten zuerst aufkam — es war in Frankreich Ende der
siebziger und Anfang der achtziger Jähre, da wurde einmal
Marx selbst gefragt, was er dazu meine. Da sagte er: „Ich weiß
nicht, v.-as Marxismus ist; ich weiß nur das eine, daß ich nicht
Marxist bin." Die Lehre, die Theorie von Karl Marx, hat er wie
seine Schüler und Jünger stets preisgegeben der freiesten
Kritik. Denn Kritik ist ja ihr eigenstes Leben. Aber wenn die
Gegner von marxistischer „Orthodoxie" reden, da meinen sie
nicht die Theorie, dameinen sie die Politik, ^'icht die
..Orthodoxie" in der Wissenschaft hassen sie im Marxismus,
sondern die Orthodoxie in der Politik, die unerbittliche Mathe-
matik seiner Beweisführung nicht so, wie die unerbittliche
Analyse der Parteien.
Daß unsere Bewegung scharf und unerbittlich geschlossen
vorrückt als Klassenbewegung dee Proletariats, das ist es, was
man als „orthodox" und „dogmatisch" brandmarken möchte. Ein
Dorn im Auge ist ihnen das „Dogma", daß das klassenbewußte
Proletariat allein der Träger sein kann seiner Geschichte, der
Träger sein muß seiner Zukunft und bestimmt ist sie zu bauen,
-ie wissend zu bauen.
02 Die Wiener Marx-Feier 1893
Dieser Lehre aber haben wir zu danken, daß heute das
Proletariat bewußt, international organisiert, ganz anders da-
steht als in den achtundvierziger Jahren. Wir haben ihr zu
danken, da? alle Versuchungen von kleinbürgerlichen Ideologen,
von Wohlmeinenden — im besten Falle — heute der prole-
tarischen Bewegung nichts mehr anhaben können. Und rasch
gehen die Dinge. In diesem Saale hier war im Jahre 1871 die
letzte Arbeiterversammlung bis heute — das ist über zwanzig
Jahre — und zwar fand sie statt gelegentlich der Freilassung
der nach dem Hochverratsprozeß amnestierten (!) Oberwinder,
Scheu usw. Wenn im Jahre 1871 das Ministerium Schäffle die
sozialdemokratischen Hochverräter begnadigte, so konnte es sich
noch schmeicheln mit der Hoffnung, die freilich nicht in Er-
füllung ging, die Arbeiterschaft in die Gefolgschaft des
Feudalismus zu bekommen, so wie das liberale Bürgertum, ver-
blendet wie es ist, unwissend wie es ist, noch heute die Hoffnung
nicht aufgegeben hat, die Arbeiterschaft für seine Zwecke aus-
zunützen. Wenn wir heute aber einen Hochverratsprozeß haben
sollten, auf Amnestie brauchten wir aus diesen Gründen nicht
zu warten. (Heiterkeit.) Keine Regierung, mag sie gefärbt sein
wie immer, kann hoffen, uns ins :Schlepptau zu bekommen. Die
scharfen Augen, die uns nächst der geschichtlichen Entwicklung
Karl j\[arx gegeben, haben uns belehrt, wie er einmal sagt:
„Wie man im Privatleben unterscheidet zwischen dem, was ein
i\rensch von sich meint und sagt, und*) dem, was er wirklicih ist
und tut, .^o muß man noch mehr in geschichtlichen Kämpfen
die Phrasen und Einbildungen der Parteien von ihrem wirklichen
Organismus und ihren wirklichen Interessen, ihre Vorstellung
von ihrer Banalität unterscheiden." Nicht nach den Programmen,
die sie aufstellen, nicht nach den Phrasen, die sie machen, haben
wir gelernt die Parteien zu beurteilen, sondern nach dem Inter-
esse, das in ihnen steckt. Hinter ihren Idealen lernen wir ihr
Klasseninteresse entdecken. Und diese erste Regel aller Taktik,
diese erste Regel aller Politik der Arbeiterklasse hat uns Marx
gegeben ...
Und noch einen Unterschied lassen Sie mich anführen
zwischen einst und jetzt. Die Märzgefallenen vom Jahre 1848,
zum allergrößten Teil Proletarier, sie sind gefallen in Reih'
•) In der ..Arbeitor-Zeiliing" heißl es oFf<^nl)ar infolge eine? Druck-
J'elilcrs ,,i n".
Die \\iener Marx-Feier 1893 68
und Glied mit Kleinbürgern, mit Legionären, für eine Freiheit,
von der sie glaubten, sie sei für alle Menschen erkäm.pft, während
eine Freiheit daraus wurde für die Bourgeoisie, die Freiheit des
Handels. Sie erkämpften dem Bürgertum einen halben Sieg
den es bald wieder aus der Hand gab und weit später erst als
Geschenk erhielt, infolge von auswärtigen Verwicklungen und
Niederlagen, was es an politischer Macht hat. Als da.-;
Biirgertum aber nun politische Macht hatte, da wagte es sie
nicht mehr zu gebrauchen. Genau so, lesen Sie nach, wie
Karl Marx die Geschichte von 1848 bie 1850 in Frankreich
-schildert, genau so wie in Frankreich die Bourgeoisie schließlich
nur ein Bedürfnis hatte : Ruhe, Ruhe um jeden Preis, Ruhe für
das Geschäft, und wie sie Napoleon III., dem Gaukler, den
:>raat überließ, genau so übergibt sie ihn aller Orten, läßt sie
die Zügel aus der Hand fahren. Die Bourgeoieie, die ihre Ruhe
haben will, erklärte „die politische Herrschaft der Bourgeoisie
"averträglich mit der Sicherheit und dem Bestand der
l)()Urgeoisie" und erklärt unzweideutig, daß sie ihre eigene
politische Herrschaft loszuwerden schmachte, um die Mühen und
■■(iefahren der Herrschaft loszuwerden. Es ist der Bourgeoisie
ü leichgültig, wem die Kanonen gehören, die sie beschützen, sie
verzichtet auf das Kommando. Da meinen nun die Herren, „das
Ideal sei aus der Welt geschwunden". Gewiß, die Ideale, die
nn Klasseninteressen angeschminkt wurden, sind zerronnen.
Nüchtern sieht die Arbeiterschaft der nüchternen Wirklichkeit
n\< Gesicht. Um das prosaischeste Ding von der Welt kämpft
-10 — um Brot. Schlagen Sie nach im ,, Kapital", wie Marx von
den englischen Arbeitern sagt: „An die Stelle des prunkvollen
Katalogs der „unveräußerlichen Menschenrechte'* tritt die be-
scheidene ^lagna Charta eines gesetzlich beschränkten Arbeits-
■;iges'*, und „zum Schutze'' gegen die Schljange ihrer Qualen
müssen die Arbeiter ihre Köpfe zusammenrotten und als Klasse
ein Staatsgesetz erzwingen, ein übermächtiges, gesellschaftliches
Hindernis, das sie selbet verhindert, durch freiwilligen Kontrakt
mit dem Kapital sich und ihr Geschlecht in Tod und ^^klaverei
zu verkaufen!" ...
Also lauter nüchterne Dinge. Und doch, welcher Schwung
des alten Idealismus kann sich messen mit dem Bild, das am
■'>. Mai 1890 sich im Hydepark zu London entrollte, als Hundert-
tausende von Proletariern sich einfanden für die Erkämpf ung
64 Die Wiener Marx-Feier 1893
des Achtstimdentages einzustehen, und in allen Sprachen
Europas die internationale Solidarität des Proletariats pro-
klamiert wurde. Da glauben wir gerne, daß unser alter Freund
Friedrich Engels tief bewegt war, als er angesichts dieses
Schauspiels sagte: „Wenn das Karl Marx noch erlebt hätte!'' —
Alö zum ersten Male die Idee derinternationalität ausgesprochen
wurde von den bürgerlichen Ideologen des Konventes zur Zeit der
Französischen Revolution, da wurde sie erstickt in demRlute der
Schlachten. Als sie wieder auftrat, war sie die Internationalität
des Proletariats geworden : „P roletarier aller Länder,
vereinigt euch!" Der Bund der ,, Internationale", dessen
Seele Marx gewesen, das war zwar ein großer Gedanke, das
war aber noch nicht eine treibende Macht. Eine Macht wurde
die Internationale erst, als sie überflüseig geworden war, als
nicht mehr ein Bund mit Statuten zusammentreten brauchte;
als in der Arbeiterschaft aller Länder in jedem klassenbewußten,
seiner Ziele bewußten Proletarier das Bewußtsein lebte, daß das
Ziel ein gemeinsames ist, daß der Kampf ein gemeinsamer ist,
und daß der Sieg ein gemeinsamer sein kann. Das ist die Be-
deutung der Maifeier in allererster Linie. (Beifall.) . . . Wir
haben hinter uns eine Reihe von Kämpfen, und wir können,
glaube ich, sagen: wir in Österreich haben einen der schlech-
testen Posten, einen der furchtbarsten, der gefährlichsten — voll
Gefahren jeder Art. Aber ich hoffe, Sie alle fühlen es mit mir,
daß wir ihn halten und halten werden. Und wenn sich die
Mächte zusammenrotten, wie sie wollen, wenn sie macheu, unter-
nehmen, ins Werk setzen, was sie wollen: nicht ei nen Fuß-
breit werden sie uns zurückdrängen. Sie haben uns zu kaufen
versucht im großen und im kleinen, sie haben uns zu kaufen
versucht mit angeblichen „Freiheiten": wir haben die falsche
Münze ihnen alsbald auf den Tisch geworfen. Sie haben uns zu
kaufen versucht von der anderen Seite mit „sozialen Reformen".
Wir haben gesagt: Gut, wir können sie brauchen; wir halten
euch beim Wort. Und wir haben als gute iSchüler von Karl Mar.x.
die von ihm gelernt haben, auch die geschichtliche Rolle von
Parteien zu beurteilen, gesagt: Her mit den Reformen, und nur
immer mehr. Ihr bietet uns „Arbeiterschutz"? Arbeiterschutz
wird die Frage des Proletariat« nicht lösen, Arbeiterschutz kann
die Kette der Lohnsklaven nicht brechen. Was ihr uns vor-
spiegeln wollt, das glauben wir nicht; wir brauchen al)er den
Die Wiener Marx-Feier 1893 65
Arbeiterschutz, und nur immer mehr davon. Warum? Weil wir
ihn brauchen, damit derjenige Faktor, der allein imstande ist,
die Lohnsklaverei zu brechen, auch die Macht bekomme, es zu
tun; damit das Proletariat fähig wird, seine Aufgabe zu er-
füllen . . . Sie haben uns nicht zu täußchen vermocht. Nun
haben sie es mit Gewalt versucht, man hat es, wie in allen
Ländern, einmal mit Brutalität versucht, aber kleinlich, wie
alles, was hier geschieht. Nicht mit jener grandiosen Brutalität,
die, wenn sie uns den Abscheu erpreßt, doch einen Funken von
Respekt erzeugt. Zehntaut>ende Proletarier hat die französische
Bourgeoisie im Jahre 1848 auf den Barrikaden geschlachtet,
zwanzigtausend Proletarier im Jahre 1871 — während und nach
der Kommune — gemordet — grausam, brutal, abscheulich,
aber immerhin — groß . . . Bei uns jedoch ist man grausam,
brutal, abscheulich, ganz wie die andern — aber klein.
(Tosender Beifall.)
Und gestehen wir uns offen, alle, die wir hier sind — icli
6ehe lauter Gesichter, die im Kampfe stehen — gestehen wir
uns doch, wäre uns nicht lieber, jedem von uns, e i n Moment,
eine Entscheidung, eine Anstrengung, breche, was brechen
mag, und jetzt vorwärts? (Anhaltender Beifall.) Wir wissen
aber, die Geschichte verlangt mehr — ■ die Geschichte
verlangt von uns den täglichen, stündlichen Kampf —
nicht nur mit der Misere des eigenen, individuellen
Lebens, von der jeder von uns sein vollgerütteltes Maß
hat, nicht nur das Sichnichtbiegenlassen, Nichtherunter-
ziehenlassen in den Schlamm des Philistertums, in den Schlamm
dos Indifferentismus durch*) die Nadelstiche der Alltäglichkeit,
die mächtig genug und am allermeisten den Arbeiter anpackt,
sie verlangt von uns, daß wir uns auch nicht ermüden lassen
durch den kleinlichen Kampf, mit täglichen kleinlichen Hinder-
nissen, mit den Lächerlichkeiten der Gegner, die uns oft den
Euf abpressen: „Mit solchem Gesindel müssen wir uns herum-
schlagen I'' (So ist es!) ... Auch darin ist der Lebensgang von Karl
Marx ein Beispiel. Seifie Biographie ist keine Geschichte von
ronianti.'ichen Heroentaten, sie ist die Geschichte eines Mannes,
der mit einem unerhörten Fleiß, mit übermenschlicher Ausdauer
die Wahrheit sucht. Sie ist andererseits die Geschichte eines
Mannes, der verfolgt, von einem Staate ausgewiesen, in den an-
'; Im Original der Druckfehler „doch".
66 . Briefe ; Mäi-z 1893
deren flüchtet, jahrzehntelang als Flüchtling organisieren muß,
welcher die kleinen Miseren des Parteilebene zu ertragen hat,
die elendigen, die wir alle kennen und von denen wir alle
wissen, daß sie mehr Opfer von uns fordern, als Ansprüche an
unseren Mut gestellt werden. Er hat auch diesen Becher geleert
bis an die Hefe. Er hat sich dadurch nicht abschrecken lassen,
er war kein „Enttäuschter", weil er nie ein Getäuschter war,
weil er nie einer jener „Idealisten" war mit langen Locken und
mit himmelblauen Vorstellungen, die immer die „Menschheit
im allgemeinen" im Auge haben.
Er wußte, daß es ein Kampf sei, er machte den Kampf
bewußt durch, und wir sind entschloesen, ihm nachzukämpfen,
mag ee Kugeln regnen, oder mag nur Dreck zu durchwaten sein.
(Lang anhaltender Beifall.)
Genossen und Genossinnen ! Indem wir den toten Karl
Marx feiern, feiern wir die Toten alle der proletarischen
Revolution. Wir feiern die Opfer der Junischlacht von Paris,
wir feiern die Toten des 13. März in Wien, die Toten des
18. März in Berlin, wir feiern die Toten dee März und Mai der
Pariser Kommune 1871. Wir wissen, sie sind die letzten nicht,
die den Graben zu füllen haben, über den allein der Weg zürn
Siege des Proletariats führt ; wir sind bereit dazu und zu jedem
Opfer, zum täglichen kleinen, wie zum einmaligen großen, mit
dem Rufe :Es lebe die internationale, die revo-
lutionäre (Sozialdemokratie! (Die Anwesenden er-
heben sich und stimmen ein in das dreimalige Hoch.)
Briefe: März 1893.
34.
Augnst Radimsky aji Engels.
Wien, 18./3. 1893.
Sehr geehrter Genosse Engels!
Die Herausgeber des hiesigen tschechischen Parteiblattes
,,Delmcke Listy" beabsichtigen das „KommuniötLSohe Mani-
fest" in tscheohischer Sprache herauszugeben. Um sich zu ver-
gewissern, ob das Werk in Brosohürenform nicJit konfisziert
wird, lassen sie es vorerst in Fortsetzungen im obgenannten
Blatte erseheinen. Die große Hälfte hat bis jetzt unbeanstandet
Briefe : März 1893 (i7
die Zensur passiert und iöt die Hoffnung vorhanden, daß das
ganze Werk vor den Augen der Pressebehörde Gnade findet*).
Die tschechischen Gencssen wenden sich nun an Sie,
geehrter Genosse, mit der Anfrage, ob Sie gegen diese neue
Übersetzung des „Manifestes" nichts einzuwenden haben, ob
Sie die Übersetzung und Herausgabe in Brosichürenform über-
haupt gestatten. Wir wissen freilich nicht, ob diese Erlauhnis
allein von Ihnen abhängt und ob sie nicht mit materiellen
Kosten verbunden ist, die wir nur schwer tragen könnten. Wir
wenden uns vertrauensvoll an Sie und' bitten um gefälligen
Bescheid. Genosse Adler machte uns darauf aufmerksam, daß
Sie werter Genosse auch die tschechische Sprache beherrschen
lind daß es Ihnen wahrscheinlich nicht unlieb wäre, die
tschechische Übersetzung zur Durohsicht zu bekommen. Zu
diesem Zwecke senden Ihnen gleichzeitig mit diesem Briefe
alle jene Nummern der „Delnicke Listy'', welche den bis jetzt
erschienenen Teil des „Manifestes" enthalten. Es wäre uns
sehr lieb, Ihre Ansicht über die Qualität der Übersetzung zu
hören. Selbstverständlich würden wir zur Broschürenausgabe
auch die ausgezeichneten Vorreden übersetzen, sowie wir über-
haupt bestrebt sind, das Werk genau nach dem deutschen
Original zu übersetzen. Übersetzer da? Werkes ist der Schreiber
*) Diese Hoffnung war allzu großer Optimismus, wie aus Radimskys
Darstellung in der „Arbeiter-Zeitung" vom 8. September 1893 hervorgeht.
..Das Kommunistische Manifest erschien in wortgetreuer tschechischer
(Übersetzung der Berliner fünften „Vorwärts"-Ausgabe in Nr. 64 bis 70
der „Dälnicke Listy", ohne daß der Staatsanwalt sich ver-
anlaßt gesehen hätte, ein einziges Wort zu kon-
fiszieren. Zu bemerken wäre noch, daß das Blatt einer doppelten
Zensur unterliegt: es wird nämlich in Brunn gedruckt und in Wien heraus-
gegeben, respektive in Wien konfisziert und in Brunn ,, objektiviert". Nach-
dem das Manifest anstandslos die Scylla und Charibdis der öster-
reichischen Preßgesetzgebung passiert hatte, veranstalteten die Heraus-
geber der „Delnick6 Listy" eine Separatausgabe in der angenehmen
Hoffnung, alle „Preß"gefahr hinter sich zu haben. Die Leichtgläubigen, die
Naiven, sie sollten bitter enttäuscht werden ! Das österreichische
Preßgesetz läßt sich jeden Tag anders deuten. Was irai'
April als unbedenklich befunden wurde, kann im September inkriminiert
werden und so wurden auch in der Separatausgabe nicht weniger als neun
Stellen als Preßvergehen un9 Verbrechen stigmatisiert. Daß Herr Hlavath
nachträglich den „gewaltsamen" Umsturz konfiszierte, könnten wir
ihm noch verzeihen, daß er aber auch Maßregeln, auf welche laut Vorrede
Nr. 1 „kein besonderes Gewicht gelegt wird", wie zum Beispiel „Starke
Progressivsteuer", „Zentralisation des Transportwesens in den Händen des
Staates", „öffentliche und unentgeltliche Erziehung aller Kinder und Be-
seitigung der Fabrikarbeit der Kinder in ihrer heutigen Form" konfiszierte,,
das können wir ihm nicht verzeihen und werden uns dagegen in einer
Einspruchsverhandlung energisch verwahren."
68 Briefe: März 1893
dieser Zeilen selbst, derzeit Administration&beamter und Mit-
arbeiter der „Arbeiter-Zeitung". In ungefähr zwei Monaten
li offen wir mit der Übersetzung fertig zu werden und würden
dann sogleich zur Separatauisgabe schreiten, wenn unser
Brief eine günötige Erledigung findet.
Sollen wir Ihnen die weiteren Fortsetzungen der Über-
setzung zu^^enden? Für Ihre Mühewaltung im vorhinein den
besten Dank sagend', grüße ich Sie im Auftrag der Wiener
bschechisohen Genossen aufs herzlichste und verbleibe Ihr
ergebenster A. Radimsky.
Antwort erbeten unter der Adresse der „Arbeiter-
Zeitung".
35.
Engels an August Radimsky*).
London, 21. März 1893.
Werter Genosse Radimsky!
In Beantwortung Ihrer werten Zeilen vom 18. d. M.
kann ich Ihnen nur meine Freude darüber aussprechen, daß
das Komm. Manifest aucli in tschechischer Übersetzung
erscheinen wird; selbstverständHich steht dem, soweit ich betei-
ligt bin, absolut nichts entgegen, im Gegenteil wird es nicht
nur mir, sondern auch den Töchtern von Marx zur höchsten
Befriedigung gereichen.
Wenn Ihnen aber x\dler erzählt hat, ich „beherrsche" die
tschechieche Sprache, so hat er doch auf meine Rechnung etwas
stark geflunkert, ich bin froh, wenn ich mit Ach und Krach
und: mit Hilfe des Wörterbuches eine Zeitungaspalte verstehen
kann. Nichtsdestoweniger sehe ich den mir gütigst zugesagten
Nummern der „Delnicke Liety" gern entgegen, da komme ich
doch wieder etwas besser in die Übung.
Mit freundlichem Gruß an die tschechischen Genossen und
Sie selbst
der Ihrige F. Engels.
*) Dieser Brief von Engels ist in tschechischer Übersetzung in der in.
Broschürenform 1898 in Prag im Verlag „Zäf" herausgegebenen Ausgabe
des Kommunistischen Manifests abgedruckt.
Aus der österreichischen Maifestschrift 1893 69
Aus der österreichischen Maifestschrift 1893.
36.
Ein Brief von Friedrich Engels.
London. Ich bin aufgefordert worden*), an die öster-
reichischen Genossen ein paar Worte in ihrer Maifestzeitung
zu richten. Was kann ich ihnen sagend Wie man einen ersten
Mai feiern muß, das wissen sie beeser als ich. Das haben sie
von Anfang an bewiesen. Von 1890 an haben die öster-
reichischen Arbeiter ihren Brüdern in allen anderen Ländern,
•Tahr für Jahr, gezeigt, was eine richtige Maifeier im Sinne des
Proletariats ist. Nirgendwo hat man es ihnen gleichmachen
oder nur nachmachen können.
In der Tat hat die Feier des ei-eten Mai in Österreich eine
weit größere Bedeutung als anderswo. In Deutschland konnte
man 1890 auf die eben vollzogenen Reichsratswahlen verweisen,
die eine so großartige Eevue der deutschen streitbaren
Arbeiterklasse waren, daß jede Maifeier daneben blaß erschien.
In Frankreich fielen auf den ersten Mai 1892 die nach allge-
meinem Stimmrecht erfolgenden Gemeindewahlen, die den Ar-
beitern ebenfalls gewaltige Siege einbrachten; da galt es, am
ersten Mai für die :Sache des Proletariats zu arbeiten, nicht zu
feiern. Aber in Österreich haben die Arbeiter noch kein
Stimmrecht, und wie es mit ihrer Preßfreiheit und ihrem
Vereins- und Versammlungsrecht steht, darüber erteilt Aus-
kunft auf Befragen im Reichsrat Herr MinicJterialrat Freiherr
\. Czapka. Und darum haben die österreichischen Arbeiter recht
und immer recht, wenn sie unter allen Umständen auf ihrer
-treng durchgeführten Maifeier bestehen. Für die Arbeiter an-
'erer Länder ist diese Feier eine vorwiegend internationale An-
i:clegenheit; es kann daher vorkomLmen, daß sie wegen eigen-
tümlicher inländischer Umstände in die zweite Linie zurück-
treten muß. Für die Österreicher ißt sie nicht nur eine inter-
nationale, sondern auch, und vielleicht vorwiegend, eine in-
ländische Angelegenheit, und darum steht sie bei ihnen unbe-
dingt und immer in erster Linie.
Möge sie auch dieses Jahr so brillant verlaufen wie bisher.
') Michael Schacherl, der mit der Redaktion der Maifestschrift für
1893 betraut war, schrieb am 14. Jänner 1893 an Engels: „Sehr geehrter
Genosse! Mit Freuden komme ich dem Auftrage der Parteileitung der Sozial-
demokratie Österreichs nach, an Sie die Bitte zu richten, durch einen
Jvurzen Beitrag unsere diesjährige Maifestschrift verschönern zu wollen . . ."
"'70 Friedrich Engels in Wien
37.
Friedrich Engels in Wien.
Am 15. September 1893 brachte die ,, Arbeiter-Zeitung" an der Spitze
folgende Notiz:
Friedrich Engels und August Bebet weilen seit einigen Tagen in
Wien. Daß es unseren Genossen freudigste Genugtuung war, den jugendfrischen
Greis, den Kämpfer, der seit fünfzig Jahren auf seinem Posten steht, den Mit-
arbeiter von Karl Marx, in ihrer Mitte begrüßen zu können, dafür legte das
kleine fest in den Drei-Engel-Sälen Zeugnis ab, welches Montag*) abends statt-
fand. Leider konnten nicht mehr als etwa 600 Genossen Platz finden. Aber
die da waren, durften im Namen von Zehntausenden sprechen und unser
Engels, der treue Berater aller revolutionären sozialistischen Parteien, wird
die Überzeugung von Wien mit fortnehmen, daß die österreichisdie Sozial-
demokratie kampfesmutig und enischlos.ten ist, den Weg zu gehen, den Marx
und er dem Proletariat gewiesen.
Die Einladungskarte, die Engels ebenso wie alle anderen Teilnehmer
zu dieser der Polizei nicht angezeigten Veranstaltung erhielt, ist in seinem
Nachlaß aufbewahrt. Sie lautet:
Nach § 2 V. G. No. 609
Einladung
für Herrn Friedrich Engels
zu dem
Montag den 11. September 1893, 8 Uhr abends,
stattfindenden
G o m m e r s
zu Ehren eines der treuesten Kämpfer für unsere Prinzipien
im
Saale zu den 3 Engeln
IV, Große Neugasse.
Zutritt nur gegen Vorweisung der Einladung.
Einige Tage später, am Donnerstag den li. September, fand eine
Volksversammlung im großen Drehersaal in Wien III statt, in der Victor
-Adler und August Bebel über den Internationalen Sozialistenkongreß, der in
Zürich im August 1893 stattfand, berichteten. In dieser Versammlung, in der
auch Karl Leuthner und Louise Kautsky sprachen, hielt Friedrich Engels am
Schluß eine Ansprache. Die „Arbeiter-Zeitung" vom 22. September 1893
brachte einen zweieinhalb Seiten langen Bericht, aus dem wir folgende
Stellen entnehmen:
Die Versammlung beim Dreher,
Schon um sechs Uhr war das Lokal, in welches die Versammlung für
halb acht Uhr einberufen war, gefüllt, und die Hunderte, die erst zur fest-
gesetzten Zeit kamen, mußten eng gedrängt im Hofe stehen bleiben. Durch ein
*) 11. September.
Friedrich Engels in Wien 71
plötzliches Unwohlsein verhindert, betrat Friedrich Engels, begleitet von
Genossen Bebel, Genossin K autsky und Genossen Dr. Adler, erst um
halb neun Uhr den Saal, in welchem eine wahre Bratofentemperatur herrschte.
Ein nicht endenwollender Jubelsturm empfing den Jugendfrisdien Greis. Ge-
nosse Schrammel eröffnete die Versammlung mit folgenden Worten:
„Wir begrüßen heute Genossen, die für die sozialistische Bewegung
seit Jahrzehnten mit aller Energie eingetreten sind- Wir ehren in ihnen
Männer, die für Freiheit, Gleichheit und Brüderiichkeit, für die Interessen
des Proletariats gekämpft haben. Es ist dies Genosse Engels, den
ich hier die Ehre habe vorzustellen (brausendes minutenlang andauerndes
HocJirufen), Genosse Bebel und Genossin K au t s k y. {Großer Beifall
und Hochrufe.) Sie wissen, daß wir keinen Personenkultus treiben, trotz-
dem aber wissen wir, daß Menschen, die für das Proletariat so ein--
getreten sind wie diese Menschen, die Ehre gebührt, die wir ihnen
erweisen. Ich sdilage Ihnen Genossen Engels als Ehrenpräsidenten
der heutigen Versammlung vor. (Der Regierungsvertreter erklärt, daß
dies nicht gestattet sei, da Engels ein Ausländer sei-) Als Vorsitzenden
der Versammlung sdilage ich Genossen Reumann vor, als Stell-
vertreter Genossen Jäger. Ich habe ihnen eine Zuschrift zu verlesen,
die Sie gewiß mit Freude erfüllen wird." Er verliest ein Begrüßungs-
schreiben von dreitausend Reservisten.
Als Schriftführer werden Genosse Hub er und Menz gewählt. Genosse
Reumann teilt mit, daß wir Engels, da ei nidit Ehrenpräsident sein
darf (Große Unruhe und Lachen), den Ehrenplatz einräumen. (Lebhafte Zu-
stimmung.)
Genosse Dr. Adler referiert, wie folgt, über den Züricher Kongreß:
Die Rede Viktor Adlers.
Als F r i e d r i c li Engels den Kongreß mit einer Rede
echloß, als das Bild von M a r x und der lebende Engels, der
fünfzig Jahre den Kampf der Internationale führt, vor uns.
stand, da sagten wir uns alle, diese fünfzig Jahre Arbeit waren
nicht umsonst. Die Internationale 'ist gegründet, sie ist unüber-
windlich. Der Züricher Kongreß hat besiegelt und weiter aus-
gebaut, was in Paris und Brüssel beschlossen wurde. In Zürich
war zum erstenmal das organisierte englische Proletariat in
imponierender Weise vertreten. Die englischen Gewerkschaften
waren bi's vor ganz kurzer Zeit als die Hoffnung derjenigen
angesehen worden, welche meinen, es lasse sich zwischen Bour-
geoisie und Proletariat Frieden machen, man könne dem Prole-
tariat den Mund .stopfen un'd die Ausbeutung weiter bestehen
lassen. Die englischen (jewerkvereine spüren heute, daß sich
die heutigen Zustände nicht auf dem Wege der Koalition fristen
und erhalten lassen, sondern daß man sie beseitigen, sich auf
sozialistischem Boden stellen muß. Die Folgen des Züricher-
Kongresses zeigten sich in Belfast, wo die Gewerkvereine
72 Friedrich Engels in Wien
diesen fortgeschrittenen Standpunkt annahmen. So wichtig e?
war, daß die Engl'änder glänzend vertreten waren, so wichtig
war es, daß Frankreich schlecht vertreten war. Die be-
deutendsten Fraktionen waren nicht da, sie hatten in Frank-
loich zu tun, bei den Parlamentswahlen, sie hatten der ver-
faulten Panamarepublik gegenüber ein neues sozialistisches
Frankreich aufzuführen. Seien wir froh, daß die Franzosen
fehlen mußten, daß sie etwas zu tun hatten und daß sie etwas
getan haben.
Zwei Punkte sind es, die ich für wichtig halte. Es drehte
sich die Diskussion darum: Sollen sich die sozialistischen Par-
teien die politische Macht erobern oder sollen sie auf den
politischen Kampf verzichten und mit Beschwörungsformeln
und utopischen Wünschen arbeiten, mit sehr viel Geschrei
abwarten, was da kommen wird? Sollen wit für Ausbau des
Arbeiterschutzes eintreten oder sollen wir beschließen, d,aß,
wenn ein Krieg ausbricht, die Soldaten nicht marschieren
sollen? Genossen, wir durften keine Beschlüsse fassen, die nur
dazu dienen, die Freunde irrezufübren und von den Gegnern
uns auslachen zu lassen. Wer je Soldat wa<r, weiß, daß eine
Niederlegung der Waffen im Moment des Krieges einfacli un-
möglich ist. Wenn wir die Waffen haben und über sie verfügen
können, dann werden wir nicht streiken, sondern sie ge-
brauchen. (Lebhafte Zustimmung und Heiterkeit.) Es ist sehr
gefährlich, mit einem ungeladenen Revolver zu drohen, von
<lem der Bedrohte weiß, daß er nicht geladen ist. Mit einer an
l'vinstimmigkeit grenzenden Majorität bescliloß auch der Kon-
greß, daß auf dem bisherigen Wege weiter gearbeitet
werden soll.
Was die sogenannten Unabhängigen betrifft, wäre es uns
lieber gewesen, sie wären ruhig hinausgegangen. Diiskussionen
in Versammlungen, wenn sie nicht allzu langweilig sind, sind
uns erwünscht, aber was würden Sie sagen, wenn in eine ge-
schlossene Parteisitzung, die nicht Prinzipien feststellen, son-
dern ausführen soll, Leute kämen unid erst über die Prinzipien,
Jiber die Grundlage der Partei reden wollten? Wenn alle au
dem Kongreß teilnehmen müßten, die sich Sozialisten und
Kapitalsfeindc nennen, was wäre das? Wagt sich denn heute
jemand mehr auf die Straße, der nicht anstandshalber erklärt,
or sei auch Sozialist? ETDensogut wie die Anarchisten und Fn-
Friedrich Engels in Wien 73
abhängigen hätten wir auch die Hertzkaianer mit ihrem Frei-
land, die Flürscheime und vor allem die Christlichsozialen zu-
lassen müssen und mit mehr Recht, denn die repräsentieren
■wenigstens jemand.
Von größter Wichtigkeit war der Kongreßbeschluß be-
treffs der Maifeier. In Österreich hat die Maifeier den Anstoß
gegeben, daß Schichten von Proletariern aus der Lethargie
aufgeweckt wurden, die uns sonst gar nicht zugänglich gewesen
wären. Die Maifeier hat Wunder gewirkt. In anderen Ländern
aber wurde die Maifeier nicht mit dem Ernste und in dem Sinne
behandelt wie in Österreich. Die Maifeier am Sonntag hat nicht
die revolutionäre Bedeutung, die sie haben soll. In Deutschland
hat man im Jahre 1890 den Fehler begangen, daß man von der
Maifeier am 1. Mai abgesehen hat. Das wurde korrigiert, aber
die Maifeier wui-^de ohne Arbeitsruhe, am Abend abgehalten.
Wir in Österreich hatten unter dieser Haltung- schwer zu
leiden. Deshalb wollten wir in Zürich die Genossen dazu be-
wegen, sich Mühe zu ge'ben, damit die Maifeier das werde, was
liie sein soll, der wirkliche Feiertag des Proletariats, wo es in
allen Ländern protestiert gegen Klassenherrschaft, gegen alles,
was uns drückt und büttelt. An diesem Tage soll dem Prole-
tarier gezeigt werden, daß er etwas hat, daß er in seiner Faust,
in seinem arbeitenden Arm ein Büttel hat, die Welt zu erobern,
wenn er auch wehrlos und gebunden am Boden liegt, wenn er
X)olitisch geknechtet und ausgebeutet ist. Diesen Sinn der Mai-
feier, der Arbeitsruhe, fürchten unsere Gegner, das empfinden
sie als revolutionär. Und auf dem Kongreß haben wir auch
einen Beschluß erreicht, nach welchem die sozialistischen Par-
teien in allen Ländern trachten sollen, die Maifeier durch
Arbeitsruhe durchzusetzen, daß man nicht sage, was heute
unmöglich war, muß auch unmöglich bleiben. Selbst Deutsche
eiklärten, sie hätten nicht die Meinung, es sei unmöglicii,
'sondern man müsse sich bemühen und es werde gehen. Der
KongTeßI)eschluß bedeutet, daß von nun an betreffs der Mai-
feier die Parteivertretungen nicht abzuwiegeln, sondern auf-
zuwiegeln hätten. Wir haben auf die Deutschen um den Mai
herum geschimpft, aber es hat sich kein Groll gegen säe fest-
gesetzt, weil wir wußten, daß sie wirklich glaubten, sie könnten
es nicht anders machen. Wir glaubten nur, daß sie zu schwarz
sahen. Wichtig erscheint noch der Beschluß, der auf unseren
74 F"rjt'drich Engels in Wien
Antrag' gelaßt wurde, daß die sozialistischen Parteien in jenen
Ländern, die noch kein allgemeinem Wahlrecht haben, für die
Erlangung' desselben eintreten sollen. Wir wissen, daß das
allgemeine Wahlrecht niclits Sozialistisches ist, aber wir wissen
auch, daß wir es brauchen, um politisch leben zu können. Was
(ien Antrag auf internationale gewerkschaftliche Organisation
betrifft, haben wir als Ursache unserer Ablehnung in den ver-
schiedenen Ländern die verscliiedenen Verhältnisse im Auge
gehabt. Bei uns löst man unsere Vereine auf, wenn man keine
Handhabe hat; was sollte die Polizei veranlassen, die Vereine
nicht aufzulösen, wenn sie in dem Vereinsgesetz eine Hand-
habe hat. Übrigens besteht jede Organisation nicht in dem,
was gedruckt ist, was in den Statuten steht; man kann isehr
feine Statuten haben und d% Organisation ist elend und
schlecht. L"nd man braucht gar keine Statuten zu haben, und
man hat eine glänzende Organisation. Wir verlassen uns auf
unseren Geist, auf unsere Opferfähigkeit.
Der Züricher Kongreß war ein wichtiger Abschnitt in
dei- Entwicklung der Bewegung. Zum nächsten Kongreß, der
in drei Jahren sein wird, haben uns die Engländer sehr freund-
lich nach London geladen. Wir werden erst in drei Jahren
wieder zusammenkommen, weil sich 'die sozialistischen Parteien
in allen Ländern so rasch entwickeln werden, daß sie nicht Zeit
haben werden, viele Kongresse zu besuchen. Ich wünsche, daß
der Züricher Kongreß in jedem Lande Früchte trage, und wenn
wir in London zusammenkommen, möge die internationale revo-
lutionäre Bewegung um ein gutes Stück weitergekommen sein.
(Anhaltender Beifall.)
Die Rede Friedrich Engels':
Werte Genossen und Genossinnen! Ich kann diesen Saal
nicht verlassen, ohne meinen herzlichen, tiefgefühlten Dank
auszusprechen über den unverdienten Empfang, den der heutige
Abend mir gebracht. Ich kann nur sagen: es ist leider mein
Schicksal, den Ruhm meines verstorbenen Freundes ein-
zuernten. In diesem Sinne nehme ich Ihre Ovationen auf. Wenn
ich irgend etwas für die Bewegung habe tun können in den
fünfzig Jahren, die ich in derselben gestanden habe, so verlange
ich keinen Lohn dafür. Der schönste Lohn sind Sie! Wir
haben unsere Leute in den Gefängnissen von Sibirien, wir
Friedrich Engels in Wien 75
haben sie in den Goldminen von Kalifornien, überall bis nach
Australien hin. Es gibt kein Land, keinen großen Staat, wo
üicht die Sozialdemokratie eine Macht ist, mit der alle rechnen
müssen. Alles, was geschieht in der ganzen Welt, geschieht
mit Rücksicht auf uns. Wir sind eine Großmacht, die zu
fürchten ist, von der mehr abhängt, als von den anderen Groß-
mächten. Das ist mein Stolz! Wir haben nicht umsonst gelebt,
und können auf unsere Arbeiten mit Stolz und Zufriedenheit
zurückblicken. Man hat in Deutschland die Bewegung
gewaltsam ersticken wollen, und jedesmal hat die Sozial-
demokratie geantwortet, wie ee die Bourgeoisie nicht erwartet
hat. Die wiederholten Wahlen, dieses sichere unwiderstehliche
Anschwellen der sozialdemokratischen Stimmen, macht die
Bourgeoisie bange, macht Caprivi bange, macht sämtliche
Mächte bange. (Stürmischer Beifall.) Der Vorredner hat
bemerkt, es wurde im Ausland immer die sozialdemokratische
Bewegung unterschätzt. Meine werten Genossen, ich bin durch
-die Straßen Wiens gewandert und habe mir die wunderschönen
Gebäude, welche die Bourgeoisie für das Proletariat der
Zukunft zu bauen so gütig war (stürmische Heiterkeit),
angesehen, und habe mir auch den prachtvollen Arkadenbau
des Eathauses, von welchem Sie so würdig Besitz ergriffen,
zeigen laseen. Seit jener Besitzergreifung unterschätzt Sie
keiner mehr. (Lebhafter Beifall.) Der Tag hat Epoche gemacht.
Ich habe — ich war damals in London — den Schrecken der
englischen Zeitungskorrespondenten gesehen, als sie berichteten,
daß am 9. Juli das Proletariat Wien beherrscht hat*), besser
beherrscht, als es je beherrscht worden ist. (Tosender, lang-
anhaltender Beifall und Händeklatschen. Hochrufe auf Engels,
die sich fortwährend erneuern.)
* *
*
über seinen Aufenlhall in Wien berichlcL Engels auch in einem
Brief an Sorge, der in den Briefen an F. A. Sorge bereits veröffentlicht
ist. 'Stuttgart, Dietz 1906.) Dort heißt es (Nr. 207, Seite 398):
Lieber Sorge!
Freitag den 29. September sind wir wieder hier angekommen und
-erhielten bald darauf Deinen Brief vom 22. Ich war zwei Monate fort,
fuhr mit Louise K. nach Köln, wo wir Bebel und Frau trafen, gingen zu-
zusammen über Mainz und Straßburg nach Zürich, von wo ich mich für
acht Tage nach Graubünden drückte, wo ich einen Bruder von mir traf.
Aber ich hatte versprechen müssen, zum Kongreßschluß wieder da zu sein.
*) Am 9. Juli 1893 fand im Arkadenhof des Wiener Rathauses eine
große Massenkundgebimg statt, mit der die Wahlrechtsdemonstrationen
ihren Anfang nahmen.
76 Friedrich Engels in Wien
und da machten sie dann malgie moi mit mir die Schlußgeschichte, von
der Du gelesen hast. Damit war aber auch die Tonart für die ganze Reise
gegeben und meine Absicht, als purer Privatmann zu reisen, total ver-
salzen. Ich blieb noch 14 Tage in der Schweiz und reiste dann mit Bebel
ül^er München und Salzburg nach Wien. Hier fing die Paradegeschichte
wieder an. Erst mußte ich zu einem Kommers, aber da war nur Raum
für etwa 600, und die anderen wollten mich auch sehen, also am letzten
Abend noch eine Volksversammlung, wo ich auch ein paar Worte sprechen
mußte. Von da über Prag nach Berlin, und da kam ich, nach heftigem
Protestieren gegen eine geplante Volksversammlung, mit einem Kommers
davon, der 3000 bis 4000 Leute zusammenbrachte. Das war ja alles sehr
nett von den Leuten, ist aber nichts für mich, ich bin froh, daß es vorüber
ist, und werde das nächslemal ein written agreement*) verlangen, daß ich
nicht vor dem Publikum zu paradieren brauche, sondern als Privatmann
in Privatangelegenheiten reise. Ich war und liin ja erstaunt über die Groß-
artigkeit des Empfanges, den man mir überall liereitete, aber das überlasse
ich doch lieber den Parlamentariern und Volksrednern, bei denen gehört so
etwas zu i h r e r Rolle, bei meiner Arbeit aber doch kaum.
In den Aichiven der Wiener Polizei ist folgende)' Rapport über
den Aufenthalt von Engels in Wien aufbewahrt:
Friedridi Engels und August Bebel 1893 in Wien.
Am 11. September 18^3 wurde zu Ehren der in Wien anwesenden
Herren Bebel und Engels in den „Drei Engel-Sälen" ein Festkommers ver-
anstaltet. Die Veranstaltung — ausschließlich künstlerische Darbietungen —
war auf Giund des § 2 des Vei Sammlungsgesetzes von L. A. Bretschneider und
Julius Popp arrangiert worden. Es wurden hiezu an die einzelnen Organi-
sationen Einladungen persönlich durch die Bezirksvertrauensmänner übermittelt,
etwa 20 für jeden Wiener Bezirk, so daß sich zum Kommers gegen 400 Teil-
nehmer eingefunden hatten. Die Herren erschienen in dunkler Kleidung, die
Damen in lichten Toiletten. Den gesanglichen Teil des Festabends besorgte die
„Freie Typographia" .
Gegen Bretschneider, Popp und gegen den Saalinhaber wurde wegen
Unterlassung der Anmeldung der Veranstaltung die polizeilidie Anzeige erstattet.
Popp und der Wirt wurden polizeilich mit einer Geldstrafe von 20 Gulden,
eventuell zu vier Tagen Arrest, verurteilt. Der Rekurs an die Statthalterei
wurde zurückgewiesen.
Am 14. September 1893 fand in den Dreher-Sälen eine von etwa
2000 Personen besuchte Volksversammlung statt (Einberufer Anton Schrammel).
Es spradien Dr. Viktor Adler über den Züricher Internationalen Kongreß,
Bebel, Engels, Luise Kaufsky und Karl Leuthner. Die Versammlung verlief
ohne Zwischenfall.
Eigene Agitationszettel wurden nicht verteilt.
Engels und Bebel hatten im Hotel Kummer Wohnung genommen. Außer
Dr. Viktor Adler empfingen sie keinerlei Besuche.
*) Einen schriftlichen Vertrag.
Briefe : Oktober 1893 bis Mai 1894
38.
Briefe: Oktober 1893 bis Mai 1894.
Adler an Engels.
Mittwoch 11. /lO. 93.
Lieber General!
Ich bin mit schwerer Halsentzündung behaftet, fiebere^
habe das Blatt zu machen, wozu ich gar keine Ruhe habe —
aber ich muß Dir schreiben. Du weißt es schon; Taaffe hat
uns gestern mit dem allgemeinen Wahlrecht überrascht —
unwesentliche Einschränkungen (Bildungszensus etc.), die für
uns in den (industriellen) w^ estlichen und nördlichen
Provinzen von keinem Einfluß sind — dazu Aufrechterhaltung
der Kurien — sehr schlau — Zerreibung der Liberalen mit
Rückversicherung der Feudalen — der reine Bismarck in der
Westentasche — dabei alls ob er von uns bestochen wäre: für
uns alle Vorteile für Agitation und Organisation und mit den
iilten Kurien der Großgrundbesitzer der Pfahl im Fleische der
Verfassung — wir setzen uns zu Tisch und' — sciiimpfen —
Von der beispiellosen Vterblüffung der Leute geben Dir
ein paar Blätter Zeugnis, die ich sende — ■ die Liberalen sind
toll vor Wut — Wi r sind die Helden des Tages! Jedem ein-
zelnen wird gratuliert und zu mir konmien sie, als hätte ich
])ersönlich die Schlacht gewonnen. Nun ist ja etwas daran, daß-
Taaffe vor uns Respekt hat; offenbar mehr als wir verdienen.
Aber die Hauptsache, sein eigentliches Motiv ist der Haß des
Krautjunkers gegen die Rotüriers, ein Haß, der von dem Justiz-
minister Steinbach, dem gegenwärtigen regens Mori, in cäsari-
st Ische Bahnen gelenkt wird. —
Ich sage Dir, es ist ein Hauptspaß — dazu ist es für uns
'In wahres Glück. Durch die überhitzte Agitation und die
Phrasenmäuligkeit gewisser Genosisen waren wir eben in einer
Sackgasse angelangt. Den Generalstreik konnte ich eben noch
in der Reichskonferenz auf eine recht lange Bank schieben —
wo sie nun liegen bleibt.
Soviel in größter Eile! Grüße mir Luise — lasse hören
wie es Dir geht und wie Dir der Kontinent anschlug.
Lebe wohl, es grüßt
D^oh Dein V. Adler.
78 Briefe : Oktober 1893 bis Mai 1894
39.
Engels an Adler.
London, 11. Okt. 1893.
Lieber Victor
Am 29. September sind wir wieder hier angekommen und
haben uns mit steigender Todesverachtung in den Haufen
Arbeit gestürzt, den wir vorfanden.
Die „einen Eingstraßen hinter den anderen" in Berlin des
Genossen Höger habe ich zwar nicht entdecken können, doch
ist Berlin von außen wirklich schön, selbst in den Arbeiter-
vierteln lauter Palastfronten. Was aber dahinter ist, davon
schweigt man am besten. Das Elend der Arbeiterviertel ist
allerdings überall, aber was mich überwältigt, ist das „Berliner
Zimnaer", diese in der ganzen übrigen Welt unmögliche Her-
berge der Finsternis, der stickigen Luft, und — desi isich darin
behaglich fühlenden Berliner Philisteriums. Dank' schönstens!
Augusts Wohnung hat keins, sie ist die einzige, die mir gefällt,
in jeder anderen ging ich kaput.
Dieser Schrei aus gepreßter Brust ist aber nicht der
Zweck des heutigen Briefes. Sondern vie^lmehr. Dir und den
Wienern zu gratulieren.
Zuerst zu Deiner Schwenderrede*), die wieder ein Beweis
ist, wie sehr Du die vertuckten und verzwackten österreichi-
schen Verhältnisse stets richtig zu fassen und in dem Gewirr
stets den leitenden Faden festzuhalten verstellst. Und das ist
gerade im jetzigen Moment von der höchsten Wichtigkeit.
Nämlich zweitens gratuliere ich Dir und den Öster-
reichern überhaupt zu dem eklatanten Erfolg den Eure Wahl-
rechtsagitation gehabt hat: dem Wahlreformcntwurf Taaffes.
Hier muß ich etwas weiter ausholen.
Seit ich mir Euer Land und Volk und Eure Regierung
angesehen, ist mir immer klarer geworden daß da für uns
ganz besondere Erfolge zu holen sind. Eine in starker Ent-
wicklung begriffene, aber infolge langjährigen hohen Zoll-
schutzes meist noch mit zurückgebliebenen Produktionskräften
arbeitende Industrie (die böhmischen Fabrikanlagen, die ich
sah, beweisen mir das) ; die Industriellen selbst der Mehrzahl
*) Am 2. Oktober 1893 fand in Schwenders Kolosseum in Wien eine
große Volksversammlung mil der Tagesordnung: „Die politischen Rechte
■des Volkes und der Ausnahmszustand" statt. Die Hauptrede hielt Viktor
Adler. (Vergleiche ..Arbeiter-Zeitung" vom 6. Oktober 1893.)
Briefe : Oktober 1893 bis Mai 1894 79
nach — die größeren meine ich — ebensosehr mit der Börse
verwachsen wie mit der Industrie selbst: ein politisch ziemlich
indifferentes, in Phäakentum aufgehendes Philisterium in den
Städten, das vor allem seine Ruh' und seine Genüsse haben will;
auf dem Land rapide Verschuldung, recpektive Aufsaugung
des Kileingrundbesitzes; als wirklich herrschende Klassen den
Großgrundbesitz, der aber mit seiner politischen Stellung die
ihm eine mehr indirekte Herrschaft sichert, ganz zufrieden ist,
und eine Großbourgeoisie, wenig zahlreiche haute finance und
damit eng verknüpfte Großindustrie, deren politische Macht
noch viel indirekter zur Geltung kommt, die aber
ebenfalls damit ganz zufrieden ist; unt-er den besitzenden
Klassen, also bei den Großen, kein Wunsch, die indirekte
Herrschaft in eine direkte, konstitutionelle zu verwandeln, und
bei den Kleinen kein ernsthaftes Strel>en nach wirklicher Betei-
ligung an der politischen Macht; Resultat: Indifferenz und
Stagnation, die nur gestört wird durch die Xationalitätskämpfe
der verschiedenen Adeligen und Bourgeois untereinander, und
durch die Entwicklung des Verbands mit Ungarn.
Darüber schwebend eine Regierung, die formell nur
wenig und meist nur scheinbar in ihren absolutistischen Ge-
lüsten gehemmt, auch sachlich wenig Hindernisse findet. Denn
sie ist ihrer Xatur nacli konservativ, und das ist der Adel, der
Bourgeois und der Philister bonvivant auch. Der Bauer aber
kommt bei seiner ländlichen Zersplittertheit nicht zur organi-
sierten Opposition. Was von der Regierung verlangt wird, ist
leben und leben lassen, und das hat die öster-
reichische von jeher verstanden. Daher die, auch au? anderen
Gründen erklärliche, aber hierdurch auf die Spitze getriebene
und zum Prinzip erhobene Fabrikation von nur papierenen Ge-
setzen und Vorschriften, und die wundervolle administrative
Schlamperei, die in der Tat alles übertrifft was ich mir davon
vorgestellt hatte.
Nun gut. In einem solchen stagnierenden Staatszustand,
wo die Regierung trotz ihrer überaus günstigen Stellung* gegen-
über den einzelnen Klassen dennoch in ewigen Schwierig-
lieiten ist: 1. weil diese Klassen in x Nationalitäten geteilt sind
und daher, gegen die strategische Regel, vereint marschieren
(gegen die Arbeiter), aber getrennt schlagen (nämlich auf-
einander). 2. wegen der ewigen Finanznot. 3. wegen Ungarn,
80 Briefe : Oktober 1893 bis Mai 1894
4. wegen auswärtiger Verwicklungen — kurz in dieser *
Situation, sagte ich mir, muß eine Arbeiterpartei, die ein Pro- i
gramm und eine Taktik hat, die weiß, was sie will und wie sie es |
will, die die hinreichende Willenskraft hat und dazu das lustige,
erregbare, der glücklichen kelto-germano-slawischen Rassen-
mischung mit Vorwiegen des deutschen Elements geschuldete
Temperament — die muß da nur die hinreichende Fähigkeit
entwickeln, um ganz besondere Erfolge zu erlangen. Unter
lauter Parteien die nicht ^^'^ssen was sie wollen und einer Re- ;
gierung die ebenfalls nicht weiß was sie will, und von der i
Hand in den Mund lebt, muß eine Partei, die weiß was sie ^vül ;
und dies mit Zähigkeit und Ausdauer will, schließlich immer !
siegen. Und dies um so mehr, als alles, was die österreichische
Arbeiterpartei will und wollen kann, nur das ist, was die
fortschreitende ökonomische Entwicklung des Landes ebenfalls
verlangt.
Hier ist also die Lage eine so günstige für rasche Erfolge
wie nirgendwo, selbst nicht in Deutschland, wo die Entwicklung
zwar rascher, und die Partei stärker, aber auch der Wider-
stand, weit fester. Dazu kommt noch eins: der herabgekommene
Großstaat Österreich schämt sich noch vor Europa, ein Gefühl
das dem heraufgekommenen Kleinstaat Preußen stets fremd
geblieben ist. Und seit man 1866 in die Reihe der „modernen" \
Staaten eingetreten, schämt man sich in Österreich auch von
wegen innerer Blößen, was beim offen reaktionären Öster-
reich von früher nicht nötig war. Ja, je weniger man Lust hüt,
wirklich ein moderner Staat zu sein, desto mehr möchte man
einer scheinen, und je strammer sich die — dort weit mehr als
in Österreich gebändigte — Reaktion in Preußen auf die
Hinterbeine bäumt, desto liberaler stellt man sich aus Schaden-
freude in Österreich.
Nun nähert sich die europäische Lage — ich meine die
innere der einzelnen Staaten — immer mehr der von 1845.
Das Proletariat nimmt mehr und mehr die Stellung ein wie \
dazumal die Bourgeoisie. Damals fingen die Schweiz und
Italien an; die Schweiz mit dem innern Krakeel der demokrati-
schen und katholisclien Kantone, der im Sonderbundskrieg zum
Austrag kam; Italien mit Pio Nonos liberalen Versuchen, den
liberal-nationalen Wandlungen in Toskana, den kleinen
Herzogtümern, Piemont, Neapel, Sizilien ; der Sonderbunds-
Briefe : Oktober 1893 bis iJai 1894 81
krieg- und das Bombardement von Palermo wurden bekanntlich
die unmittelbaren Vorspiele der Pariser Februarrevolution 1848.
— Heute, wo die Krisis auch schon in fürf bis sechs Jahren
reif werden kann, scheint Belgien die Eolle der Schweiz, Öster-
reich die von Italien, und Deutschland die von Frankreich über-
nehmen zu sollen. Der Wahlreohtskampf fängt in Belgien an.
und wird in großartigem Maßstab aufgenommen von Österreich.
Daß die Sache mit einer beliebigen halben Wahlreform abge-
macht werden könne, davon kann keine Bede sein; ist der Stein
einmal im Rollen, so wirkt der Anstoß nach allen Seiten fort,
und ein Land wirkt dann zurück aufs andere. Xeben der
Möglichkeit großer Erfolge ist also auch die Gelegenheit, also
auch die Wahrscheinlichkeit gegeben.
Das ist so ungefähr der Inhalt dessen, was ich gestern
nachmittags der Luise als meine Ansicht vom nächsten Beruf
Österreichs auseinandersetzte. Und abends 8 Uhr brachte der
Evening Standard die — noch ganz unbestimmt gehaltene —
Ts achricht von Taaffes Kapitulation, und heute kennen wir den
Vorschlag wenigstens in seinen allgemeinsten L'mrissen. Nun,
jetzt ist der Stein im Bollen und Ihr werdet schon dafür
sorgen, daß kein Moos darauf wächst. Ich will über den Ent-
wurf nichts sagen, ehe ich mehr davon weiß, nur das scheint
mir sicher, daß Taaffe ä la Bismarck die städtische Bepräsen-
tation aus einer liberalen in eine geteilte verwandeln, die Ar-
beiter gegen die Bourgeois ausspielen will. Das kann uns soweit
recht sein; die Liberalen und andere Bourgeoisparteien werden
versuchen die Zulassung zum Wahlrecht noch mehr zu be-
schneiden, so daß Ihr in die angenehme Lage kommen könnt,
den biederen Taaffe gegen sein Parlament zu unterstützen.
Jedenfalls ist die Abschlagszahlung schon anzunehmen, und
so wirst L^u wohl, ehe ich wiederkomme, wohlbestallter Reichs-
ratsabgeordneter sein. Der Daily Chronicle spricht schon von
20 sicheren Arbeitervertretern. Mit 20 und selbst mit
weniger ist der Reicbsrat eine ganz andere Körperschaft als
bisher. Die Herren werden sich wundem über das Lel>en was
dann in die wackelige Bude kommt. Und, wenn es gelingt, neben
den deutschen ein paar tschechische Leute hineinzubringen,
dann wird der Nationalitätenhader einen Damm vorgesetzt be-
kommen und Jungtschechen und Alttschechen und Deutsch-
nationale werden einander mit ganz anderen Augen ansehen.
82 Briefe : Oktober 1893 bis Mai 1894
Hier kann man sagen: vom Eintritt der ersten Sozialdemokraten
in den Eeichsrat datiert eine neue Epoche für Österreich.
Und das habt Ihr fertiggebracht, und weil jetzt die^e
neue Epoche anbricht deshalb sind wir alle froh daß wir einen
so klaren Kopf in den Eeichsrat bekommen wie Dich.
Herzliche Grüße von Luise und Deinem F. Engels.
Gruß von Luise an Dich und auch von mir an Popp
Reumann, Adelheid*), Ulbing **) und tutti (luanti.
40.
Engels an Adler.
London, 10. Nov. 93.
Lieber Victor — Ich schicke Dir hiemät ein Stück von
einem Brief von August. Ich teile seine Befürchtungen nicht,
diese Möglichkeiten scheinen mir zu fern zu liegen und teil-
weise schon jetzt ausgeschlossen. Sieh daß der Brief wie er
wünscht vernichtet wird.
Mein Brief vom 10. Okt. kreuzte sich mit Deinem vom
selben Tage. Du wirst gesehen haben, daß wir in der allge-
meinen Auffassung der Lage in Österreich vollkommen
einstimmen. Diese Lage scheint mir eher noch g-ünstiger als
damals. Die Wahlreform mit Taaffes Vorschlag als Minimum
verschwindet in Wien nicht mehr aue dem Vordergrund. Der
Kaiser Kat sie genehmigt und der Kaiser kann nicht zurück;
er aber repräsentiert Österreich weit mehr als der Eeichisrat.
*) Adelheid Dworzak, die 1894 Julius Popp heiratete. Engels halle sie
schon beim Züricher Inlernalionalen Kongreß 1893 kennen gelernt und er-
wähnt sie bereits in einem Brief aus Zürich an seinen Bruder Hermann,
datiert 16. August 1893, den Gustav Mayer in der „Deutschen Revue'V
August 1921, Seite 156, in einer Serie: , .Briefe von Friedrich Engels an
Muller und Geschwister" milteill. In diesem Brief heißt es: „Auf dem
Kongreß waren drei bis vier Russinnen mit wunderschönen Augen ungefähr
wie Deine Schwägerin Berta sie hatte, als ich sie in Allenahr vor Jahren
sah. Aber mein eigentliches Schatzerl war doch ein allerliebstes Wiener
Fabrikmädel, reizend von Angesicht und liebenswürdig von Manieren, wie
man's selten findet. Ich werde es dem Bismarck nie verzeihen, daß er
Österreich aus Deutschland ausgeschlossen hat, schon der Wienerinnen
wegen."
**) Dr. Richard Ulbing war zu Anfang der neunziger Jahre in einigen
Prozessen der Verteidiger von Sozialdemokraten, auch Adlers. Er war damals
auch in der Partei aktiv tätig, schrieb in der ,, Arbeiter-Zeitung" vor allem,
über juristische Fragen. Der Leitartikel in der Maifestschrift 1891 und Bei-
träge im Arbeitjerkalender 1892 und 1893 sind von ihm.
Briefe : Oktober 1893 bis Mai 1894 83
Wie es scheint, scheitert das Koalitionsministerium schon in der
Geburt, aber selbst wenn das nicht der Fall, geht's bei der
ersten positiven Aktion in die Brüche. Selbst wenn es, wie
Aug[ust] vermutet, die Bärnreitherei*) ins Feld führen sollte, so
wäre das nur ein sehr momentaner Xotbehelf und würde den
Auseinanderfall bei jeder anderen aufstoßenden Aktionsfrage^
nicht hindern. Soviel ist sicher, Österreich steht jetzt voran in
der politischen Bewegung Europas und wir anderen hinken
nach — selbst die Länder die schon allgemeines Stinmirecht
haben, werden dem Anstoß von Österreich nicht entgehen
können. Bei Ronacher **) hat man Krawall haben w o 1 1 e n^
gelingt es euch, die Leute im Zaum zu halten, so kann es euch
nicht fehlen, das einzige was Windischgrätz, Plener, Jaworski
einigen könnte wäre ein ^Yiener Krawall und Sieg mit
Schießerei.
Hier geht's sehr nett. L)ie liberale Eegierung bricht bei
der ernstlichen Reform jammervoll zusammen, sogar die Fabian
Society kündigt ihnen den Gehorsam und verleugnet ihre ganze
Politik der permeation. Sieh den x\rtikel von Antolycus
(Burgess) auf der ersten Seite der Workm. Times über
das Fabiansohe Manifest, der in der Fortnightly Review er-
schienen. Bessern die Liberalen sich nicht, so gibt's bei den
nächsten Wahlen Arbeiterkandidaten in Massen, und 30 — 40'
werden wohl hineinkonmien. In den Munizipalwahlen am
1. Nov. haben die Arbeiter im Norden angefangen sich zu
zählen und manche Erfolge gehabt.
Gruß von Luise und Deinem F. E.
*) Der Liberale Dr. Baernreither hatte einen Wahlreformentwurf ein-
gebracht, nach dem eine Kurie für die „in die Krankenversicherung ein-
bezogenen Arbeiter" geschaffen werde sollte, der für ganz Österreich zwanzig
Mandate zugewiesen werden sollten. (Vergleiche „Arbeiter-Zeitung" vom
20. Oktober 1893, Seite 3.)
**) Für den 3. November 1893 hatte der bürgerlich-liberale „Verein
der Fortschrittsfreunde" eine Versammlung in Ronachers Saal einberufen,
um gegen die Wahlreform Stellung zu nehmen, auch soll eine Mißtrauens-
kundgebung gegen Dr. Kronawetter wegen seines Eintretens für das allge-
meine Wahlrecht geplant gewesen sein. Vor dem Versammlungslokal, das
durch ein großes Wacheaufgebot geschützt war, sammelten sich etwa 500
Sozialdemokraten an. Die Versammlung wurde aufgelöst, auf der Straße
kam es zu blutigen Konflikten zwischen Polizei und Arbeitern. (Ver-
gleiche „Arbeiter-Zeitung" vom 7. November 1893.)
84 Briefe: Oktober 1893 bis Mai 1894
41.
Adler an Engels.
Wien, 2e./ll. 1893.
Lieber Engels!
Vor allem begrüße ich Dich im Xamen von uns allen und
ganz speziell für niich selber zu Deinem Geburtstage. Was Du
<ler Partei, was Du mir persönlich biet, weißt Du. Bleibe uns
lange Jahre noch unser Rater und Lehrer, bleibe mir mein
Verehrtester, liebster Freund. Nebenbei, hast Du keine Ahnung,
-wie Du allen hier ins Herz gewachsen bist, seit sie Dich per-
sönlich kennen und mit dem Begriffe Engels eine konkrete
Vorstellung von dem lieben General verbinden. Aleo, tausend
Grüße und — bekneipe Dich nicht zu Ehren des Geburtstages —
das können wir Dir ja abnehmen, so ziemlich das Einzige,
worin wir Dich zu vertreten vermögen.
Deine Briefe habe ich alle erhalten; daß ich darauf nicht
reagierte, kam daher, daß ich zwischen Wien und Reichenberg
pendelte und dazwischen hart zu arbeiten hatte. Die Reichen-
berg[er] Af faire*) war sehr lustig; es gab nur einen, der sehr
geängstigt und blamiert aussah, und der war der Staatsanwalt.
Die Anklage war kläglich dumm aber enthielt Punkte die den
Spießern stark auf die Hühneraugen treten; sie haben ja auch
in zwei Fragen sieben Stimmen für das Einlochen abgegeben
— aber der eiserne Bestand von fünf Deutschnationalen, die
unter den gegenwärtigen politischen Verhältnissen fühlen, daß
sie zur Opposition verpflichtet wären, und zugleich Verfolgung
fürchten, rettete mich — nebst der Langeweile des Staats-
anwalts, der sich benahm, als hätte ich ihn bestochen. Er kam
vor lauter Hochachtung vor mir gar nicht zu Atem nnd als ich
erklärte, „ich könne ihm eeine Komplimente leider nicht zurück-
geben", hatte ich die Lacher, darunter die Geschworenen auf
meiner Seite. Sicher ist, daß Verurteilungen von Genossen jetzt
der Regierung ebenso erwünscht als von Geschworenen schwer
zu erreichen sind. Aber ebenso sicher ist, daß, wenn statt meiner
ein Arbeiter dagestanden wäre, er wahrscheinlich hineinflog
*) Gemeint ist der Prozeß, dessen Stenogramm in der Broschüre:
,,Sc]iwurgerichtsverhandlung gegen Dr. Viktor Adler über die Anklage des
Verbrechens der Störung der öffentlichen Ruhe, der Religionsstörung, des
Vergehens der Aufwiegelung etc. etc., begangen durch Reden im Gablonzer
Bezirk, durchgeführt vor dem Retchenberger Schwurgericht vom 17. bis
•20. November 1893" erschienen ist. (Wien und Reichenberg. 1893. Eine neue
-Vuflage ist 1920 im Verlag der Wiener Volksbuchhandlung erschienen.)
Briefe : Oktober 1893 bis Mai 1694 85
und /^rÜTidlich. Ks i«t eigentümlich, daß die Bourgeois mich von
allen Genossen am meisten hassen, aber sich gewissermaßen
noch immer vor mir genieren und mir beweisen möchten, wie
ich ihnen Unrecht tue. — Nun ist das Gefährlichste vorbei; in
Wien habe ich zwei Anklagen und zwei Anschuldigjmgen (noch
im 8tadiuni der Voruntersuchung) auf dem Halse. Die An-
klagen (woA-on die eine auch „Verbrechen" un<l (geschworene)
fürchte ich wenig; wenn aber aus den neuen Sachen was wird,
kostet es einige Monate. Aber das hat gute 'Weile.
Was Du zur j)oIitischen Lage in Österreich meinet, halte
eh für ganz richtig. Das Ministerium Windischgr[ätz] wird
wahrscheinlich sehr bald fertig sein un<l einem Nfinisterium
Plener — oder Taaffe Platz machen. Aber die Wahlreform
wird es — wenn es den böhmischen Landtag, seine gefährlichste
Klippe, überlebt, doch machen und zwar nicht so schlecht wie
Aug[astl meint, aber schlechter als die Taaffet?. Schlechter, das
beißt solider wird sie sein, haltbarer; etatt die bestehenden
Kurien du ich Einschiebung der Rechtlosen zu sprengen, wird
eine oder zwei neue Kurien angeflickt werden und zwar so,
daß ebensoviel Klerikale dazukoimnen als Sozialdemokraten und
Antisemiten. Für uns entsteht der Übelstand, daß wir auf den
Kampf mit Kleinbürgern und Kleinbauern statt mit der großen
Bourgeoisie angewiesen sein werden. Aber wie immer, es wird
ein riesiger Fortschritt sein und wer es den heuite am un-
zufriedensten sich (leberdendeu vor sechs Monaten, ja noch am
9./10. gesagt hätte, <Iaß wir heute so weit sein werden, wäre
gründlich ausgelacht woiden.
Wir selbet stehen zwischen zwei Gefahren. Die Wahl-
reform wird sicher ein bis zwei Jahre brauchen, bis ßie fertig ist
aber mindestens bis zum nächsten Herbst. Während dieser
ganzen Zeit müscien wir uns rühren, sonst schläft alles ein. Was
wir erzielt haben, erreichten wir nur (hidiirch, daß wir nicht
Österreicher sind, oder vielmehr uns als NichtÖsterreicher mar-
kierten, daß wir n i c h t schlampert, nicht flackernd, nicht
sprunghaft und schnell ermüdet waren. Nun denke Dir die
Hitze der Agitation durch viele, viele Monate auf der Höhe, ohne
— denn das ist die zweite Gefahr, das Einschlafen ist die erste
— sich zu überpurzeln, ohne zu Flxzessen es kommen zu lassen.
Und das in Österreich, ohne die Möglichkeit Scherze zu machen,
wie Probewahl oder Volkercichstag oder dergleichen. Wir
7
86 Briefe : Oktober 1893 bis Mai 1894
müssen IS'eueo bieten, denn wir sind Österreicher und
können nichts Neues bieten, denn wir leben in Österreich
Der Generalstreik" ist natürlich tot, respektive zum nützlichen
Hasenschrecken für die Gegner geworden; nicht einmal der
Ellenbogen glaubt mehr daran. Der „Vorwärte" hätte ihn bald
wieder galvanisiert und darum war ich so wütend. Kam ich da-
mals nicht — aus blolk-m Pflichteifer — auf drei Tage von
Reichenberg nach Haus, so schreibt Ellenb[ogen] die Antwort,
sie war schon fertig, und renommiert mit dem Generalstreik
wieder. So konnte ich den armen August abkanzelnd und da-
Maul recht voll nehmend abwiegeln. — — Apropos K. K.*)
fragt auch mich, ob er Ede über den Generalstreik schreiben
lassen soll ; in diesem Moment, bevor sich die Regierung er-
klärt hat, bin ich nicht dafür, aber in vier Wochen kann e-
kaum schaden, sondern vielleicht sogar nützen. Daß Du vor
vier Wochen den Artikel verhindertest, dafür bifi ich Dir un-
geheuer dankbar; er hätte damals meiner Stellungnahme noch
mehr geschadet wde die Dummheit im „Vorwärts". Ich habe
mich, aufrichtig gesagt, gewundert, daß August so wenig die
Psychologie der Massen kennt und ich vermute jetzt, daß die
Fehler, die die deutsch^ Parteileitung ab und zu macht, zum
großen TeiT aus solcher Unkenntnis stammen; daß sie zu naiv, .
fast hätte ich gesagt, zu ehrlich sind.
Aus dem oben geschilderten Dilemma werden wir nur
schwer herauskommen. Hoffentlich hilft uns die Regierung. Sie
tut es schon jetzt dadurch, daß sie uns einen ganzen Haufen
von Prozessen macht; sie weiß nicht, wie w^ohl uns das tut, es
beechäftigt uns und hilft uns warten.
Die JBärnreitherei**) iet tot und August irrt sich, wenn
er sich noch fürchtet. Sie ist für jede Regierung ebenso unan
nehmbar wie für uns; denn sie schüfe 20 verläßliche Oppo-
sitionsmandate ohne je<le Kompensation. Auch hat die Regierung ^
in ihrem Programm ausdrücklich von einem Wahlrecht, das an
Auedehnung nicht viel geringer als das Taaffeschc sein kann,
gesprochen.
Die Hoffnungen, die Du auf die österreichische Bewegung
setzt, möchte ich teilen können. Alles hängt davon ab, daß wir
den Kami)f ums Wahlrecht bald in den Hintergrund stellen
*) Karl Kautsky.
^*) Vergleiche Note ?.u Nr. 10
Briefe : Oktober 1893 bis Mai 1894 87
können; ich habe sehr empfindliche Tentakel*) und glaube
zu spüren, daß die einseitig politische Geschichte uns verflacht.
Nach der ersten Wahl werden wir ei-et klar sehen und — wenn
wir halbwegs so gescheit sind als wir Courage haben — soU'e
recht lustig werden in Österreich. Hoffentlich macht uns Plener
ein nettes Pantscherl, so einen kleinen „volkswirtschaftlichen
Aufschwung'" — es sieht ganz darnach aus, dann gibt's Krach
dort und — da.
Lebe wohl! Verbringe Deinen Festtag heiter und behalte
uns lieb. Grüße mir herzlich Luise und Tussy.
Dein V. A.
Aug[ust]'s Brief ist vernichtet.
42.
Adler an EngeLs.
Wien, l./L 1894**).
Verehrter Freund I
Tm Namen der ganzen Parteivertretung und Redaktion
bin ich beauftragt Dir unsere herzlichsten Neujahrswünsche
zu übermitteln. Möge.<t Du lange Jahre so frisch sein und uns
80 lieben, wie wir Dich zuletzt hier hatten.
Deinem guten Hausgeist, der lieben Luise, senden alle
nicht minder ihre Grüße. Ich danke sehr für die letzten Nach-
richten, die so außerordentlich erfreulich waren. Luise hat mir
n-imlich sehr viel Gutes von Dir geschrieben. Ich glaube immer
Du beschämst uns Junge alle miteinander.
Bei uns gibt's jetzt sehr viel zu tun. Die Bewegung muß
wieder einmal in ein anderes Geleise gebracht werden. Aber es
geht gut. Die Gefahren, die von den Narreteien drohten, sind
beseitigt ; einige Dummheiten wirst Du wohl ab und zu zu
hören kriegen, — aber im wesentlichen ist alles in Ordnung.
Das zweimalige Erscheinen macht mir furchtbare Ar-
beit***) [ — . — ] Aber ich will nicht 4as Jahr mit Flennen be-
ginnen; habe auch nicht Grund dazu. Denn eigentlich, fühle
ich mich innerlich ganz auf dem Damm und halte einen
l*uffer aus.
*) Orientieiungsorgane verschiedener niedriger Tierarten (zum Bei-
spiel die Fühlhörner der •Schnecken).
**) Infolge eines Schreibfehlers steht im Originalbrief anstatt 1891- die
Jahreszahl 1893.
***) Nach der Einbringung der Taaffeschen Wahlreform ging die
..Arbeiter-Zeitung" am 31. Oktober 1893 zum zweimaligen Erscheinen über.
88 Briefe: Oktober 1893 bis Mai 1894
^ {Sei mir vom Herzen gegi'üßt, Du, Luise, Dr. Frei-
berger*) und nicht zu vergessen. Edes und TiissysI
Dein V. Adler.
Es ist niunlich 4 Uhr früh — soeben ist ein Bandwurm
abgegangen**).
43.
Engels an Adler.
London. 11. .länner 04.
Lieber Victor
Vor allem meinen Dank und herzlich.ste Erwiderung aller
Eurer Glückwünsche, besonders der von Dir, Deiner Frau und
Kinder, und Dank für die Bunde.^nadel. die ich tragen werde,
sobald ich wieder im Besitz einer dazu passenden Halsbinde
bin — sie soll extra dafür angeschafft werden.
Daß es bei Euch viel zu tun gibt glaub" ich Dir gern, und
was uns alle wundert ist nui-. wie Du das alles fertigbringr^t,
und das >inter den schwierigsten Verhältnissen. Wir liewundern
Deine Fähigkeit und beneiden Dich darum. (Janz be<*onders
freut mich aber Deine Zusicheruiitg, daß es mit den Torheiten,
die dort zu befürchten standen, am Ende ist. Seitdem habe ich
die Berichte über die beiden Kongresse***) und daraus das ein-
zelne w-enigstens zum Teil gesehen. In Beziehung auf diese
Hauptfrage ist in der Tat alles vortrefflich verlaufen.
Für die gesunde Entwicklung der Bewegung war es ein
walires (ilück, daß der gescheite Högerf) erklärte, das Wahl-
recht sei bürgerlichei- Schwindel und dafür könne man nicht
streiken, und daß die Bergleute sich in ihrer Weise gegen jeden
Streik erklärten der nicht auch für den Achtstundentag sei.
) Dr. Ludwig Freybergcr, ein Wiener .\rzl, kam ]S1)8 nacli London,
wo er mit Empfehlungen Engelbert Pernerstorfers bei Engels eingeführt
wurde. Er wurde der Hausarzt von Engels und heiratete .Anfang 1894 Louise
Kautsky.
**) Langer Artikel ferliggeslelll.
***) Vom 2i. bis 27. Dezember tS93 (agte in Wien der Erste Kongreß
der Gewerkschaften Österreichs und in den Weihnachtstagen in Budweis
der Parteitag der tschecho-slawischen Sozialdemokratie.
t) Karl Ilöger hatte am Gewerkschaftskongreß gesagt; „Das all-
gemeine Wahlrecht könnte der revolutionären Arbeiterbewegung insofern
Nachteil bringen, als dadurch ihrer treibenden Kraft, der Erliitterung der
Proletarier eine Art Abzugskanal geschaffen würde; das allgemeine
Wahlrecht sei nur ein Vorteil für die Bourgeoisie." („Arbeiter-Zeitung" vom
r). .länner 1894.1
Briefe : Oktober 1893 bis Mai 1894 89
lad die Tschechen in Budweis haben uns auch jreholfen, indem
sie die Zulassung von Anerkcnnim^ des Pro<rramms und dier
Taktik abhängig machten (a la Zürich) und den Generalstreik,
der dort am meisten zu spuken scheint, auf die lange Bank des
Parteitages schoben, wo dieser ihn schon weiter schieben wird.
Der Artikel*) von K. K., den Du abdrucktest, wird Euch
sehr nützlich sein. Aber iK'zeichnend' ist er (hitiir, wie sehr der
V^erfasser die Fühlung mit der lebendigen l'aiteilveweguivg ver-
loren hat. Vor ein paar ^lonaten die unbegreifliche Taktlosig-
keit, inmitten einer Bewegung, die auf Leben und Tod gegen
die Phrase vom allgemeinen Streik ankJim])fte, eine rein
akademische Uuter.suchung über den Generalstreik in abstracto
und die allgemeinen Pros und Kontras der Sache schleudern
zu wollen. Und jetzt dieser Artikel, der wenigstens in diesen
Stellen ganz vortrefflich das Richtige trifft!
Jedenfalls geht bei Euch im nächsten ^ionat mit der Walil-
reformvorlage die Agitation wieder lustig: los. Es ist ganz gut
daß das erste akute Fieber etwas Gelegenheit hatte seinen
Verlauf durchzuiiuichen. jetzt werden die Leute die Dinge etwas
kühler ansehu. Wie et? auch gehu mag. die Kegierung und der
F^eichsrat müssen E^uch neue Waffen in die Hand geben, und
im nächsten Jahr sitzen Eurer ein halbes oder ganzes Schock
im Parlament. Und Pro'letarier in dieser altfränkischen,
ständisch abgestuften Versammlung:! Die werden den Fran-
zosen beweisen daB das Proletariat nicht, wie sie in falscher
Analogie so gern sagen, le quatrieme etat ist, sondern eine ganz
moderne jugendliche Klasse, die mit dein ganzen alten Stände-
kram unverträglich ist und ihn sprengen mul:?, ehe sie soweit
kommt, ihre eigene Aufgabe in die Hand nehmen zu können,
die Sprengung der Bourgeoisie. Ich freue inich schon auf das
erste Erscheinen unserer Leute im Reichsrat.
Ich bin übrigens noch immer der Ansicht daß das Koa-
litionsministerium auseinanderfallen muß sobald es ernstlich
'/,u handeln anfangen will. Zur einen reaktionären Masse scheint
mir in Österreich die Zeit noch nicht gekommen — wenigstens
nicht zur dauernden Bildung dieser Masse. Und .selbst wenn
die im Kabinett sitzenden Chefs sich einigten, die I^nterleute
*J Karl Kautsky: „Ein sozialdemokratischer Katechismus". „Neuo
Zeit", XlI/1. Seite 402. Die „Arbeiter-Zeitung" vom .5. .länner 189i druckte
aus dem Abschnitt „Revolution und Anarchismusi" dieses Artikels einen
Teil ab.
90 Brieie; Oktober lS9;i bis Mai 18W
na Parlament brächten es nicht fertig ; und wenn hinter all
dem ein Franz Josef steht, der sich nach seinem Taaffe zurück-
sehnt, so will mich bedünken als wären die Tage des Windisch-
grätz gezählt. Und Taaffe, das heißt jetzt praktisch all-
gemeines Stimmrecht.
loh bin begierig, wie sich die angeblichen 60 Sozialisten
im frajnzösisohen Parlament machen werden. Es ist eine ge-
mischte Bande, selbst die socialistes de la veille *) sind teil-
weise sehr unbestimmter Natur und dabei trotz aller Fusions-
liust doch von allerlei alten, häßlichen Erinneiningen erfüllt,
dazu aber sind) diese alle zusammen nur die Minorität gegen-
über der aus socialistes du lendemain**) bestehenden Millerand-
tlauressohen Majorität Auch schweigen sich die Franzosen auf
alle Anfragen über den Charakter ihrer Fraktion hartnäckig
aus, Sonntag kommt Bonnier von Paris zurück hier durcii,
da werde ich ihn ausfragen und wohl etwas erfahren.
Der 3. Band ist endlich im Druck. Die ersten 20 Kapitel
(664 S. aus ca. 1870 S. Manuskript) sind' bereits fort, am zweiten
J)rittel bin ich, es bedarf nur noch der Schlußredaktion, und
das dritte Drittel, das wohl noch etwas mehr Arbeit erfordern
wird, kommt dann auch bald dran, im September erscheinen
wir denke ich.
Jetzt muß ich aber wieder an mein geliebtes 23. Kapitel^
ich habe in den Feiertagen leider arg viel Zeit vei'lieren müssen.
Herzliche Grüße an Deine Frau und Kinder, Popp^
Illbing, Pernerstorfer, Eeumann, Schrammel, Adelheid, die
kleine Kyba *'"*) und tutti quanti und besonders auch Dich
selbst von Deinem F. Engels.
44.
Adler an Engels.
Wien, am 19. '3. 1894t)
Lieber General!
Ich bin als „Sekretär des ÄiLßern" beauftragt, Dich
sohwungvol'l zu unserem Parteitag einzaüaden. Ich denke. Du
***s
*) Die Sozuilislen von gostein.
*) Die Sozialisten von morgen.
) Amalia Ryba (später verehelichte Seidel) \vin-de am i. Jänner 1904
von dem ITolzingersenat „wegen Aufforderung zur Revolution" zu drei
Wochen Arrest verurteilt. (Vergleiche „Arbeiter-Zeitung" vom 9. Jänner 1894.)
t) Der Originalbrief trägt infolge eines sonderbaren Schreibfehlers
das Datum 19. 4. 1894. Doch ist der Brief, wie aus den behandelten
Fragen und der Antwort Engels' vom 23. März hervorgeht, unzweifelhaft im
März geschrieben. • <>
Briefe: Oktober 1893 bis Mai 1894 91
schenkst mir den Schwung- und erlaubst, daß ich Dir lieber ein
paar Worte über unsere Lag© sage. Ich ganzen bin ich weit
zufriedener als ich noch vor wenigen Wochen hoffen durfte.
Daß Plener mit einer Wahlreform, herausrückte, hat uns über
den toten Bunkt weggeholfen — bei uns immer die große Ge-
fahr. Die .Wahlreform ist elend, so elend, daß wir sicher den
Erfolg von erheblichen Verbesserungen daran erzielen werden,
wenn auch die Aufhebung der Kurien natürlich zunächst nicht
erreicht wird. Der Parteitag wird uns sicher da« Mittdl des
Generalstreiks im Auge zu behalten beauftragen, ohne uns aber
zur Durchführung zu drängen. Das gefährlichste Element, die
Bergarbeiter, hoffe ich durch Separatabmachungen zu ge-
winnen, so daß sie uns nicht zum Generalstreik durch Ver-
quickung ihrer Achtstundenschichtforderung drängen, wohl
aber sich der politischen Bewegung- anvschließen. im ganzen
glaube ich also, daß der Parteitag gut verlaufen wird, wenn
er auch manche schmutzige Wäsche waschen und manchen Un-
sinn „in Wort und Schrift'* produzieren wird.
Edes Artikel *) war gut, erschien zur richtigen Zeit und
hat uns genützt. Zwei Monate früher hätte er geschadet; heute
.iber ist der erste Bausch der Phrasen vorbei; man kann mit
den Leuten vernünftig reden. Fast ist mehr zu fürchten, daß
der Parteitag zu nüchtern ausfällt, was den Gegnern
gegenüber ein politischer Fehler wäre.
So haben wir eine heiße aber lustige Sommerkampagne
vor uns, die ich persönlich im Kühlen sitzend genießen werde —
i!V{> ^lonate Sitz- und Hitzferien habe ich schon beisammen und
noch einige Kleinigkeiten in Aussicht**). Aber ich sitze durch-
aus in Löchern, wo ich mündlich und schriftlich werde ver-
kehren können, also nicht völlig lahmgelegt bin — daß ich aber
*) Eduard Bernstoin: „Der Streik als polnisches Kampfmittel."
..Neue Zeit", XH/l, Seite 689 (Februar 1894).
**) Diese 2% Monate Arrest setzten sich folgendermaßen zusammen:
Adler wurde am 28. Dezember 189B von dem Kreisj^ericht in Böhmisch-Leipa
wegen Beleidigung des Bezirkskommissärs zu 14 Tagen Arrest verurteilt
vergleiche „Arbeiter-Zeitung" vom 2. Jänner 1894). Sotlann erhielt er am
IS. Jänner 1894_ vom Bezirksgericht Rudolfsheim wegen einer am HO. Oktober
1893 in einer Volksversammlung beim Schwender gehaltenen Rede einen
Monat Arrest (vergleiche ..Arbeiter-Zeitung" vom 23. Jänner und 2. März
1894). Am 17. März 1894 wurden vor demselben Gericht Adler und Schuh-
meier wegen Reden in einer Volksversammlung beim Schwender am
28. Jänner 1894 zu je einem Monat Arrest verurteilt (vergleiche „Arbeiter-
Zeitung" vom 20. März 1894). Eine weitere Strafe von einem Monat Arrest
prfolgte erst im Dezember 1894.
92 Briefe : Oktober 1893 bis Mai 1894
werde täglich acht Stunden schlafen müssen und wieder ein
mal was lernen kann, wird mir wohl tun.
Von Dir hoffe ich, daß Dir der Aufenthalt an der See
die gewünschte Erfrischung gebracht. 8eit Louise Madame Frey-
berger ist, scheint sie stolz geworden zu sein. Meinen letzten
langen Brief (acht Seiten — für iriich eine Riesen leistung) be-
antwortete vsie nicht und läßt mich olme' Artikel und olme Nach-
richten. Na, vielleicht begeistert sie die Einladungskarte 'zu
ein paar Zeilen.
Von Dir hoffe ich einen Brief an den Parteitag, so kurz
er sein mag. Ich kann Dir nicht oft genug schildfern, wie die
Wiener Genossen an Dir hängen.
DaJ3 die Deutschen drei schicken, insT^esondere den
August, ist mir äußerst wertvol'l und wnrd intra et extra großen
Eindruck machen.
Es grüßt Diel) herzlich. Dein V. Adler.
Trotz all(^deni herzlich(> (Irüße an Luise und Dr. Fr.*).
45.
Engels an Adler.
London, 20. März 94.
I>ieber Victor
Vor einiger Zeit frugst Du mich an wegen (Tbersetzfung
de& Artikels in der ,,Critica Sociale" über die Lage etc. Italiens.
Louise antwortete gleich auf einer Postkarte in meinem Namen
that you were wclcouu' to it**), und ich l)estätigte dies wenige
Tage darauf in einem Brief an Dich. Bald darauf kam eine- An-
frage von K. K., ob ich ihm das Ding für die ,,N. Zeit" über-
lassen wolle. Darauf antwortete icli ihm, Du habest es ihm
weggeschnappt.
Seitdem aber ist <k'r Art|ikel| n icht in der ,,Arb.-Ztg."
erschienen und ich komme dadurch in Verlegenheit gegenüber
K. K. "Ich möchte Dich also bitten, mir zu sagen, wie es damit
steht. Ich kojume mir allerdings dabei vor wie die englische
Zimmervermieterin, die im Besitz einerseits einer heirats-
lüsternen Tochter und anderseits eines rühnungsfähigen deut-
schen „Chani'bregarnistcn" ist, und die bei der ersten Sj^nr
einer flirtation diesen letzteren fragt: what are your intentions
*) Dr. Kreyberger.
*) Daß er Dir zu Dicnslen stt-lit.
Briefe : Oktober 1893 bis Mai 1894 9.^
witli regard to my daug-hter?*) aber die Dir von K. K. er-
öffnete Konkurrenz muß mich entscluuldigen.
Hier geht's auf die Neuwahl lo>s, alles, was geschieht, ge-
schieht nur in Vorbereitung darauf. Die Liberalen sind wie
gewöhnlich feig. Sie müssen wissen, daß sie sich nur halten
können durch Stärkung der politischen Macht der Arbeiter,
und doch zaudern, zippeln und zappeln sie ängstlich. Weder
ent'^chiedene Ausdehnung des Stimmrechtes, noch Beseitigung
des Wählbarkeit-^zensus, der in der Belastung der Kandidaten
mit allen Wahlkosten und in der Diätenlosigkeit liegt, noch
Ermöglichung der Aufstellung dritter Kandidaten (außer-
halb denen der beiden offiziellen Parteien) durch Stichwahl.
Dabei soll dann das Haus der Lords abgeschafft werden, aber
kein Schritt geschieht um ein Unterhaus zu schaffen, da« dazu
Mut und Fähigkeit besitzt. Anderseits machen die Tories
Dummheiten über Dummheiten, sie haben zwei Jahre lang das
ganze Parlament in eine l'arce verwandelt, unter dein Vorwand
die Homei'ule kaput zu machen, haben mit den Liberalen, die
sich dies gefallen ließen, das i-einste Schind'luder g(^trieben, und
setzen dies, wie gestern abends Randy Churchill bewies, aiudi
jetzt noch fort, obwohl das bei dem Herannahen der Wahlen
gefährlich wird und den britischen friedliehen |^1 l'hilister arg
in .seinem konservativen Vertrauen erschüttern könnte. Auch
hat Salisbury bei der Parish Councils Bill versucht seinen
uuionist. liberalen Alliierten Devons!hire und (^hajuberlain
einen argen Streich zu spielen und sie zu puren Torymaßregeln
auszubeuten, so daß diese Allianz auch nicht mehr so fest wie
einst. Kurz die Sache wird arg konfus und bis jetzt ist schwer
zu i-ateu wies verlaufen wird.
Zu der Art wie Du den Ceneralstiike in Sclilummer
gewiegt hast gratuliere ich Dir, aber auch nicht minder zu
Deinen Artikeln über die Koalitionswahlreform**) -und die
ganze Lage in Österreich. Namentlich der in der Nummer vom
6. d. M. war Itriilant*** ). Ich zweifle keinen Augenblick am
glänzenden Verlauf Eures Parteitages, grüße alle Freunde, auch
August und Paul S.f) und Cerisch wenn sie dort hinkommen.
Viele (Irüße von Luise und Deinem F. E.
*j Was für Absichten lial)en Sic iiiii meiner Tochter.
"'*) „Arbeiter-Zeitung" vom 6., 9., IH. und IH. März 1891
***) Der Artikel trägt den Titel: „Die VVcihlreform Stadnicki"
t) Paul Singer. ,^ ',
94 Briefe : Oktober 1893 bis Mai 1894
46.
Engels an Adler.
London, 22. März 1894.
Lieber Victor
Vorgestern schrieb ich Dir. Gestern schrieb Dir Louise
.^eingeschrieben'' nach Kopernikusgasse.
L)eine Nachrichten über den Stand der Dinge bei Euch
haben uns sehr erfreut. Weniger die Aussicht auf Deine
Sommerfrische in ., geschlossenen Räumen", von denen uns
einiges schon an-tj der ,,z\rbeiter-Zeitung" 'i (in Untei-echied
von der „Arbeiter-Zeitung'*' 9 ) bekannt war. Über hiesige
Angelegenheiten schrieb ich vorgestern.
Mit dem Verschwinden der Briefe an Dich wird es aber
nachgerade doch zu arg. Nachdem Louise Dir gestern
geschrieben, haben wir ihre Briefe nach dort so gut es ging
aus dem Gedächtnis wieder hergestellt. Und zwar wie folgt:
1. Sie schickte Mitte Dezember einen Artikel über
weibliche Fabrikinspektoren an Adelheid D., dabei verschied;ene
Notizen für die „Arbeiter-Zeitung" '^ — Adelheid schreibt,
sie habe den Brief nicht erhalten.
2. Kurz vor Weihnachten schrieb L[ouise] an Dich, um
einige Auskunft bittend wegen des von Dir an Tiissy
empfohlenen Doktors,
3. Im Jänner an Dich, u. A. Dich bittend, mich bei
Deiner Frau zu entschuldigen, ich sei nicht wohl.
4. Gegen Ende Jänner, als Lafargue hier war und liurns
mit ihm bei uns zusammentraf, über dessen Besuch und die
f^nglischen Verhältnisse überhaupt — der Brief war von L[ouii&e]
an D i c h.
.5. Im Februar schrieb sie an Dich, Du solltest nieinen
Artikel in der Oritica Sociale nur benützen.
6. und 7. Zwei Briefe von ihr an Dich von Eastbourne,
zwischen 9. Februar und ]. März.
8. Schrieb sie an Schacher I, Adresse „Arbeiter-
Zeitung", da.ß sie den Artikel nicht sofort schicken könne.
Nicht angekommen.
9. Am 4. März schrieb sie Dir mit Bitte, die Arbeiterin-
nenzeitung an Dr. Bonnier, 19 Regent st. Oxford zu schicken,
Engels an den Parteitag in Wien (1894j 95
c.nd machte Mitteilungea über Jaures und die 30z[ialistische]
Fraktion der franz[ösischen] Kammer.
Die Briefe an Dich gingen zum Teil an die Redaktion der
„Arbeiter-Zeitung'' zum Teil an Deine Privatwohnung, beide
scheinen mit gleicher Regelmäßigkeit verschwunden zu sein.
Dagegen Louisens sonstige Wiener Korrespondenz auch mit den
Gasarbeitern — ebenso regelmäßig angekommen und die
Antwort auch.
Dein acht Seiten langer Brief an Louise ist ebenfalls
nicht angekommen.
Wir versuchen es jetzt aJso für einige Zeit mit
registrierten Briefen. Vielleicht wäre eine Deckadresse
in Wien nützlich.
Hierbei dats Gewünschte für den Parteitag. Ich bitte alle
Freunde und anch die Berliner bestens zu grüßen. Luise und
Freyberger grüßen herzlich, ditto
Dein F. E.
Engels an den Parteitag in Wien (1894)*).
47.
London, 22. März 1894.
Dem österreichiechen Parteitag
danke ich herzlich für die mir freundlichst zugesendete Ein-
ladungskarte, die persönlich zu benützen ich leider verhindert
bin. Ich übersende aber nichtsdestoweniger den versammelten
Delegierten der Partei meine aufrichtigsten und wärmsten
Wünsche für einen erfolgreichen Verlaiuf ihrer Arbeiten.
Der diesjährige Parteitag hat besonders wichtige Auf-
gaben zu erfüllen. Es handelt sich in Österreich um die Er-
kämpfung des allgemeinen Wahlrechtes, jener Waffe, die in der
Hand einer klassenbewußten Arbeiterschaft weiter trägt und
-icherer trifft als das kleinkalibrige Magazing'cwehr in der
Hand des gedrillten Soldaten. Die herrschenden Klassen —
Feudaladel wie Bourgeoisie — sträiuben sich aus allen Kräften
dagegen, den Arbeitern diese Waffe zu überliefern. Der Kampf
*) Abgedruckt aus „Verhandlungen des vierten öslerreichischen
sozialdemokratischen Parteitages". Wien 1894. Seite 189.
96 Briefe : April 1894 bis Juli 1895
wird langwierig- und heftig sein. Aber wenn die Arbeiter die
politische Einsicht, die Geduld und Ausdauer, die Einmütigkeit
und Disziplin beweisen, denen sie mm schon so A-ifle echöno
Erfolge verdanken, so kann der endliche Sieg ihnen nicht ent-
gehen. Auf ihrer Seite kämpft die ganze geschidht'liche, die
ökonomische wie die politische Notwendigkeit. Und mag auch
das volle, gleiche Wahlrecht nicht auf den ep.^ten Schlag er-
kämpft werden, schon jetzt dürfen wir ein Hoch ausbringen
den künftigen Vertretern des Proletariats im österreichischen
Reicbsrat. F. Engels.
48.
Briefe: April 1894 bis Juli 1895.
Adler an Engels.
Wien, 4./4. 1894.
Lieber Genera'l!
Wenn ich Dir bisher nicht schrieb, verzeih'. Von der
Plage der letzten Woche kann ich Euch gar keinen Begriff
geben. Mit dem Ausfall des Parteitages bin idh zufrieden, weit
mehr als ich hoffte. Der Generalstreik ist als ,,1 e t z t e s
Mittel" anerkannt worden, was alle von einer großen Laer
befreite, nicht nur mich. Trotz der großen Worte waren sie
froh, als ich iJhuen die goildene Bnicke baute, auf der sie mit
Ehren vernünftig sein konnten. Wichtiger noch ist die An-
näherung an die Tschechen und die Oewinnung der Berg-
arbeiter.
Der Generalstreik kriegt soeben einen furchtbaren Schlag
durch das Mißglücken des» Gasarbeiterstreiks*). Es ist ein
schweres, auch politisches Unglück — aber lieilsam nach
mancher Richtung. Vorläufig sind wir freilich bis über die
Ohren drin im Decken des Pückzuges, der iunausweichlich ist,
trotzdem die Gasarbeiter selbst noch immer sanguinisch sind.
Deinen Hrief an Turati brachte icli nicht, obwohl er schon
übersetzt war, wei'l als Luiisens zustinwnende Karte eintraf die
A k t u a 1 i t ä t vorbei war und sein Inhalt oder vielmehr sein
*) Die Albeiter der „Imperial Koniinenlal Gasassoziaüon" in Wien
traten am 29. März 1891 in den Streik. Er endete nach neunlägiger Dauer
mit der Niederlage der Arbeiter. 000 Arbeiter wurden ausgesperrt. (Vert;leichn
„Arbeiter-Zeitung" vom 3.. bis 20. April IHIH.)
Briefe : April 1894 bis Juli 1895 97
Gegenstand niit dem Zusammenbruch der A'ufstände in Sizilien
und Obcritalien doch gar zu sdlir kontrastiert. Ist der frische
KLndnick dieser Katastrophe vorbei, dann kann meines Er-
achtens Dein Briet' gebracht werden und wird aus sehr vielen
(iründen höchst nützlich sein. So sehr ich ihn für die ,, Arbeiter-
Zeitung"' wünsche^ .«jo wenig bist Du gehunden, wenn Karl mir
wie in so vielem, den Kang abläuft. Nebenbei gesagt verstehe
icti den ganzen Turati mit seiner deklamierenden Untätigkeit
nicht. Wir können doch nicht davon allein leben uns die Hände
in Unschuld zu waschen.
Der Kossuthrummel*) hat mich in große Verlegenheit
gesetzt, dagegen aufzutreten, hieße unseren Sch'warzgelben
Vergnügen machen, geht also nicht; für den unglaublichen
Schwindel auch nur ein Wort zu sagen, schäme ich mich, .der
einzige, der die Wahrheit über Koss[uth] sagen könnte, wärest
D u; kaum wage ich es. Dich darum ziu bitten
Briefe sind gestohlen worden: ich habe nicht erhalten
(von den von Dir aufgezählten Briefen) : Nr. 2 Tussy und den
Wiener Doktor betreffend, Nr. (J oder 7 — ^ ich habe nur einen
Brief aus Eastbourne; Nr. 9 der Brief Di-. Bonnier und Jaures
betreffend, vielleicht noch andere Briefe, aber diese sind
sicher nicht eingelangt, insbesondere der Janresi betreffende
Brief wäre mir sehr interessant gewesen. Ich meine Deck-
adressen sind zu umständlich ; am besten ist künftig alles zu
rekommandieren. Bitte d'ie nächste Zeit für mich an Popp zu
adressieren, da idh Sonntag in& Loch gehe. Er oder sie besorgt
die Post regelmäßig. Verzeih' die Form des Briefes: ich habe
'ien ganzen Tag wie ein Vieh gerackert und muß sofort in die
(rasarbeiterversammlung**). Ich freue mäch unmenschlich
aufs Sitzen.
Herzlichen Gruß an Dich, Luise und Freiberger
von Deinem V. A.
Seit ihr von Eastbjourne] zurück seid, sind ^fbänder ge-
kommen, und zwar eines mit Au^ssclhnitten und einmal
Vv'orkmen Times.
) Ludwig Kossuth starb am 20. .März 189i in Turin. Die „Arbeiter-
Zeitung" brachte kurze Glossen am 23. März und 13. April 1894.
**) Am i. April 1894 abends fanden in Wien fünf Versammlungen
mit der Tagesordnung „Der Gasarbeiterstreik" statt.
98 Briefe : April 1894 bis Juli 1895
49.
Adler an Engels.
Wien, Bezirksarrest Neoibau, 17./6. 94.
Lieber Engels!
Der Überbring-er dieser Zeilen ist Dr. Benno Karpe'les,
der die Dir gewiß zugekommene Arbeit über die Lage der
Ostrauer Kohlenarbeiter gemacht hat. Dr. K. kommt nun
nach England um zu lernen und ich bitte Dich ihn in jeder
Beziehung darin zu unterstützen. Bis jetzt schon hat er uns
manchen wertvollen Dienst geleistet und es bangt mir von
seiner nächsten Entwicklung ab, wie wertvoll seine Arbeit
werden kann. Sein besonderes Fach ist Sozial Statistik, wie mir
scheint in einer etwas allzu engen Umgrenzung; alles Weitere
kann Dir Wittelshöfer*) sagen, der ja wohl zu Euch kommt,
und Dr. K. selbst. Lasse ihn Dir bestens empfohlen sein.
An Luise, der ich morgen meinen längst versprochenen
Brief schreiben und hinaussohVärzen will, sowie an Ludwig
meine herzlichen Grüße.
Dein getreuer Dr. V. A.
50.
Adler an Engels.
Wien, Bezirk-sgericht Rudo^Ifsheim, 13./7. 94.
Lieber Engels!
Zu meiner größten Überraschung erhielt ich gestern von
Dietz in Deinem Namen Mk. 937'50 — Du wendest mir also
wieder Dein Arbeitsprodukt zu Wie sehr ich es bedaure
nicht sofort den ganzen Betrag in die Parteikasse abführen zu
können, brauche ich Dir nicht zu sagen. Aber Du wirst meinen
dreifachen Dank zu würdigen wissen, wenn idh Dir erzähle,
daß mich dieses Geld aus einer Klemme befreit, die mir in den
Wochen der LIaft so manche bittere Stunde gemacht hat.
Die allmählige Genesung Emmas nähert mich ja hoffentlich
normalen Verhältnissen und einem geordneten Budget. Bisher
aber habe ich sowohl' unter den Folgen der außerordentlichen
Bedürfnisse als auch noch unter Anforderungen zu leiden, die
die absolut notwendigen Maßregeln, welche ihre Rekonvaleszenz
nötig machten. Gerade jetzt stand ich vor der Frage, woher
das Geld nehmen, um sie — und wenn ich Zeit finde auch
*) Otto Wittelshöfer aus Wien.
Briefe : April 1894 bis Juli 1895 99
mich — für einige Wochen aufs Land zu .schicken, Deine Sen-
dung- war ein wahrer Dens ex machina — und ain Tage, oder
vielmehr in der Nacht, nachdem Dietz mir das Geld avipiertp,
habe ich weit besser geschlafen als seit lange.
Nun weiß ich, daß diese Zuwendungen nicht nur mir per-
sönlich gelten — soweit sie ein Beweis Deiner Freundschaft
sind, gelten sie mir als höchste Genugtuung — sondern^ daß
Du auch der österreichischen. Partei damit nützen willst, daß
Du hilfst, mich sorgenfrei zu machen. Und in dieser Beziehung
beschleichen mich immer häufiger ernste Zweifel. Es ist nicht
Kleinmut und Hypochondrie, zu der ich — in physischer Be-
ziehung zum wenigsten — gar kein Talent habe, aber ich fühle
mich gealtert und weit weniger kampfestüchtig als ich es
war. [ — . — ] Dazu konmie ich mir wie ausgeschöpft vor. Das
ewige Ausgeben, die Unmöglichkeit einmal geordnet und ruhig
zu studieren — auch im Gefängnis nicht — wieder einmal zu
einer Kritik oder gar zum Lernen zu kommen, alles das quält
mich oft sehr, macht mi'eh unsicher und nimmt mir die Zuver-
sicht, die ich brauche.
Karl schrieb mir. Du seist mit dem Artikel in der
,, Neuen Zeit'" zufrieden gewesen*); aber ich selbst war es nicht.
Ich wollte alle Hauptfäden klarlegen und eine rücksichtslose
Kritik unserer Parteitaktik geben, die ja zum Teil eine Auto-
kritik sein mußtp. unrl finde sie jetzt unvollständig und
schwächlich.
Das Arge aber ist, daß von der Partei und auch von mir
persönlich gerade in nächster Zeit eine starke Anstrengung
verlangt wird. Wir müssen den Wahlrechtssturm noch einmal
machen, dem Nachteil, der in der Wiederholung an sich schon
liegt, durch doppelte Energie wettmachen und kegeln uns das
Hirn aus, neue Mittel der Agitation zu finden. Dabei leiden
wir natürlich unter der doppelten Depression, die einerseits
das Nachlassen der Nerven nach dem Sturm und andei-seits die
Erschöpfung durch die wahnsinnigen Streiks zur Folge gehabt.
Das zeigt sich auch in dem Geldmangel, den wir momentan
haben. Allerdings fehlt es auch nicht aai günstigen Symptomen.
Es scheint, daß wir einer augenblicklichen Periode des Auf-
*) Es handelt sich um den Artikel „Die Lage in Österreich und der
sozialdemokratische Parteitag". „Neue Zeit", Band 2 des Jahrganges XII.
Seite 197 und 3.32 (Mai d8M).
100 Briefe : April 1894 bis Juli 1895
echwungs entgegengehen; und wenn das noch so kurz dauert,
wäre es genügend, U7n unseren Gewerkschaften Zeit zur Kon-
solidierung zu geben. Weit günstiger ist aber noch, daß wir in
Österreich die einzige ernste Oppositionspartei sind. Die
Koalition zeigt Sprünge, das ist wahr; aber noch ärgere die
jungtschechische und antisemitische üppoisition.
Und das dritte (Dünstige ist, daß wir leider gezwungen
sind an ein tägliches Blatt zugehen. Ich .sage leider,
denn es wird furchtbare Arbeit in jeder Beziehung machen und
wenn wir nicht m ü ß t e n, hätten wir nicht die Courage dazu.
Es wird aber einen großen Anstoß geben und vielleicht nicht
nur auf die Länge sondern ganz akut ein Faktor von politischer
Bedeutung. Wir müssen aber, weil die Preßreform, über
die wir so unbändig schimpfen geradezu nur die Bedeutung
hat uns ein Tagbiatt zu ermöglichein, indem sie den Verschleiß
freigibt. ]\[achen wir das Tagblatt nicht so gibt irgendeine
große Druckerei es sofort heraus; das Geschäft liegt auf der
Straße ist für andere natürlich weit besser als für uns, die
wir nicht stehlen dürfen.
Wir warten also nur die Sanktion des (lesetzes ab um
einen Aufruf für einen Gründungsfonds zu erlassen und im
'Spätherbst oder doch Jänner 1895 wird dae Tagblatt da sein.
F3ie Ungexlukl unserer Leute, die Begeisterung dafür ist groß
und so hoffe ich das Geld — 30.000 fl. Gründungsfonds — in
wenigen Monaten aufzubringen. Weit mehr Sorgen als das Geld
macht mir die Organisation des Blattes. Wir haben nicht einen
einzigen Menschen, der gelernter Journalist ist; ich selbst bin
blutiger Dilettant in der ganzen Technik eines Tagblattes. Es
wird w^eit aktueller sein müssen aJs der „Vorwärts"; in Wien ist
man verwöhnt. Zudem wird man gerade an unser Blatt große
Erwartungen knüpfen, die nicht zu enttäuschen schwer sein
wird. Daß Ärgste aber ist nicht der Mangel an Kräften, sondern
der Überfluß an Leuten die nicht zu brauchen sind. Alle
wollen hinein [ — . — ], ich werde mich stark auf die Hinter-
pfoten stellen müssen, um nicht eine (larde von Partei-
schmöekcn zusammenzukriegen.
Um die Verbreitung ist mir nicht bange; bei etwas
-Glück and wenn wir nicht gar zu ungeschickt sind, haben wir
am Ende des ersten Jahres 15.000 Abnehmer und sind aktiv,
wenn der Fonds glücklich perdu ist. Du k^nn^t Dir denken, diaß
Briefe : AprU 1894 bis Juli 1895 . 101
ich mich ja eigentlich darauf freue; aber die Arbeit und all
das Gezanke, das vor mir ist, macht mir Graus. — —
Hoffentlich kann ich zum Herbst wenigstens einen
erheblichen Teil dee Geldes, das Du mir gegeben, der Partei
wieder zurückstellen. Ich tröste mich damit, daß wir es später
genau so brauchen werden, als wir es heute brauchten.
Die Neuauflage des Anti-Dühring hat mich ganz über-
rascht*). Ich habe ihn noch nicht in Händen und sehe nur aus
•dem Vorw[ärts], daß ein neues Kapitel darin ist, daß Du also
neue Arbeit aufgewendet. Wie ist's mit dem dritten Band?
Louise ist böse und schweigt hartnäckig, so daß ich gar nichts
weiß. (Und trotzdem kann sie sich rühmen den längsten Brief
meines Lebens zu besitzen.) So weiß ich auch gar nichts' von
Deinen und ihren Sommerplänen. Ich selbst sitze hier
(zusammen mit Schuhmeier) bis 29. Juli; dann will ich Emma
womöglich in eine Wasserkur oder mindestens nach Parschall**)
führen. Die Kinder sind schon dort bei Pernerstorfer. Emma
war nicht zu bewegen abzureisen, solange ich sitze. Täusche ich
mich nicht, so geht es ihr wirklich weit besser.
Meine Haft ist sehr erträglich; sogar eine Art Kneippkur
habe ich für uns beide eingerichtet. Aber mit der Arbeit ist
nicht viel los; zuviel Verkehr mit außen uHd zuviel Zwang
Artikel zu 'Schreiben, die hier länger und langweiliger werden
wie draußen.
Dadurch, daß ich seit mehr als drei Monaten immer nur
auf kurze Zeit frei war, habe ich mir den Sommer für mich
eelbst gründlich verpatzt; und doch habe ich große Sehnsucht
nach Luft.
Lasse mich hören, wie es Dir und den Freunden geht,
was Du vorhast und sei nochmals bedankt von
Deinem getreuen V. Adler.
1
50.
Engels an Adler.
London, 17. Juli 1894.
Lieber Victor
Es freut mich daß die paar Mark Dir so gelegen kommen,
ich hoffe. Du benützest sie um Dir die so absolut nötige Ruhe
*) Das Vorwort der dritten Auflage von Engels' „Herrn Eugen
Dührings Umwälzung der Wissenschaft" trägt das Datum 23. Mai 1894.
) Am Attersee.
102 Briefe: April 1894 bis Juli 1895
und Erholung auf dem Lande zu verschaffen. Du mußt
absolut fort, die Nachkur nach den Gefäng>nisstrapazen ist Dir
nötiger als irgend etwas. Du sagst selbst Du fühlst Dich ab-
gespannt, und das ist wahrhaftig kein Wunder, also sobald Du
herauskommst, fort aufs Land'! Für die vollständige Wied»er-
herstellung Deiner Frau ist das aucli das beste.
Das zusiätzliche Kapitel (es ist mur eine Erweiterung eines
schon bestehenden) im Anti-Dührin"g ist von Marx, hat mir also
bloß Kopier- und Redigierarbeit gemacht.
Vom dritten Band sind zirka 36 Bogen gesetzt, e.s werden
wohl über 50 werden. Da Meißner *) alles Interesse daran hat
im September damit herauszurücken, ward's wohl bis dahin
fertig.
Zu Eurem Tagblatt gratuliere ich, und freue mich schon
darauf. Es ist wirklich nötig, daß dem unerträglichen A^orwärt-
ein Beispiel gegeben werde, „wie man's macht". Die Leute
werden dann schon folgen müssen. Allerdings merkt man,
wenn Du sitzest, der Arb[eiter]-Z[ei]t[un]g auch von Zeit zu Zeit
an, daß Ihr ebenfalls unbrauchbare Leute habt, die sich dahin
vordrängen, wohin sie nicht gehören. Aber wenn das TagMatt
da ist, wirst Du Deine rednerische Tätigkeit schon von selbst
auf wenige entscheidend wichtige Momente beschränken müssen
und daher weniger sitzen, und beim Blwtt selbst ist ja der Sitz-
redakteur ohnehin unumgänglich, das Lamm das der Redaktion
Sünden trägt.
Und dann habt Ihr in Wien augenblicklich einen besseren
Boden für ein Tagblatt als Berlin ihn bietet. Ihr steht in einer
aufsteigenden politisichen Bewegung; Wahlrcform ist Euch
sicher, und schon der Kampf um ein solches Ziel, um einen
unmittel'baren politischen Fortschritt, ist ein enormer Vorteil
für Euer Blatt; die Wahlreform aber ist nur der Anstoß, der
den Stein ins Rollen bringt und andere Konzessionen wegen
Presse, Vereinen, Versainimlungen, Gerichtspraxis etc. zur
Folge haben muß. Kurz, Ihr seid in der Offensive, und zwar in
einer, die zunächst noch des Sieges gewiß ist. Dagegen in
Frankreich, Deutschland, Italien stehen unsere Leute in einer
nicht einmal immer hoffnungsvollen Defensive, haben den An-
sturm einer sich immer stärker aus den verschiedensten
Parteien zusammenballenden Reaktion auszuhälten. Es i-t ds'='
") Der Verleger von Marx' „Kapital".
Briefe : April 1894 bis Juli 1895 103
Beweis — wenigstens in Deutschland — daß die unseren eine
wirkliche Großmacht im Lande geworden, und in Frankreich
iat's Beweis, daß man auf diesem revolutionär unterwühlten
Boden die Unseren wenigstens für eine Großmacht hält.
Aber bei alledem ist Eure Lage für den Kampf momentan gün-
stiger — ■ Ihr greift an, erobert Schritt vor Schritt Terrain,
jeder errungene und besetzte neue Bodenabschnitt stärkt nicht
nur Eure Stellung sondern führt Euch Massen neuer Ver-
stärkungen zu ; bei Eurem primitiven Konstitutionalismus
könnea die Arbeiter wenigstens noch einige der Positionen
erobern, und das auf gesetzlichem Weg, also 'auf dem Weg,
der sie selbst politisch schult — der Positionen, die die Bour-
geoisie hätte erobern sollen. Ancli bei uns gibt's noch
solche Positionen zu nehmen, aber die kriegen wir erst, wenn
ein Anstoß von außen kommt, von einem Land, wo die Ver-
quickung der alten feudalen, bürokratisc'hen, polizeilichen
Formen mit annähernd modernen bürgerlichen Institutionen
den ersteren ein so starkes Übergewicht gelassen, daß die
Situation zu unmöglichen Verwicklungen führt. Und in dieser
glücklichen Lage seid Ihr, und in der noch glücklicheren, daß
Eure Arbeiterbewegung groß und stark genug ist^ hier die Ent-
scheidung zu geben, und damit, wie ich hoffe, für Deutschland,
Frankreich und Italien den Anstoß, der dort nötig ist um die
viel zu früh, sich bildende ,,eine reaktionäre Masse" momentan
wiederum zu sprengen, und statt des chronischen reaktionären
Drucks einige bürgerliche Reformen im Sinne der Bewegungs-
freiheit der Massen ins Leben zu rufen. Erst von dem Tage an,
wo Ihr die — einerlei- welche — Wahlreform .erkämpft, erst
von da an .hat eine Agitation gegen die Dreiklassenwahl in
Prenßen einen Sinn. Und schon jetzt hat die Tatsache daß es
m Österreich eine W^ahlreform irgendeiner Art geben wird,
da.'^ bedrohte allgemeine Stimmrecht in Deutschland sicher-
gestellt. Ihr 'habt also in diesem Moment eine sehr bedeutende
historische Mission. Ihr sollt die Aiv^antgarde des europäischen
Proletariats bilden, die allgemeine Offensive einleiten, die
ffentlich nicht wieder ins Stocken kommt bis wir den Sieg
auf -der ganzen Linie errungen — und Du sollst diese Avant-
garde führen — wenn Du da nicht baldigst aufs Land gehst
und Dich ausgiebiig mit neuen Kräften versorgst, dann ver-
imst Du Deine erste Pflicht.
104 Briefe: April 1894 bis Juli 181)5
Und diese Pflicht wird um so emsthaftiger, je mehr Du
an die einzigen Rivalen denkst die Ihr als Avantgarde haben
könntet — die Franzosen. Du schriebst an Louise ich möchte
Dir darüber berichten. Ich habe es bis heute anfgeschoben^
M'eil 1. T'uesy vorige Woche von Paris vom Glasarbeiterkongreß
zurückkam und 2. vorgestern Bonnier bei uns war, und ich erst
hören w^ollte, was d i e erzählten. Well, soweit ich sehen tann,
liegen die Sachen wie- folgt.
Die letzten Wahlen brachten etwa 25 „Sozialisten'" —
Marxisten, Broussisten, Allemanisten, Blanquisten, Unab-
hängige — in die Kammer. Gleichzeitig vernichteten sie die
bisherige „radikale Fraktion", die sich auch republicains
socialistes nennende Gruppe, namentlich durch Ausschluß aller
früheren Führer. Da taten sich etwa 30 der zu dieser Gruppe
gehörigen und wieder gewählten zusammen unter Millerand
und Jaures und boten den „Sozialisten" die Fusion an. Es war
dies ein sehr sicheres Manöver ihrerseits ; denn nicht nur waren
sie zahlreicher als die Altsozialiston, sondern auch einig,
während diese in x Gruppen gespalten, Sie wurden also wieder
eine respektable Gruppe von 50 bis 60 Mann in der Kanmier,
ohne daß sie den Altsozialisten mehr zu bieten brauchten als
ein sehr platonisches soz[ialistisches] Programm, dessen politisch
radikale Artikel wie die allgemeine Arbeiterfreundlichkeit sie
schon früher im Programm gehabt, während die socialisation
des moyens de production einstweilen noch unschuldige
Zukunftsmusik war die vielleicht für die dritte oder vierte
Generation praktische Bedeutung bekommen könnte, früher
sicher nicht.
Unsere 25 Altsozialisten griffen mit beiden Händen zu.
Sie waren nicht imstande Bedingungen zu stellen, dazu waren
sie viel zu uneinig. Zwar wollte man, wie schon bei den Wahlen,
in der Kammer zusammengehen, aber im übrigen sollten die
besonderen OrganiBationen alle nebeneinander bestehen
bleiben; welche Gruppe da hätte den Neusozialisten spezifische
Bedingungen stellen wollen, die wäre mit den anderen in Kon-
flikt gekommen. Und zudem hätten es keine Franzosen sein
müssen, um bei der plötzlichen Aussicht, von 25 auf 55 oder
t'tO Mann in der Kammer anzuwachsen, nicht in Begeisterung
zu geraten und über dem augenblicklichen Schein oder wirk-
lichen Erfolg die Gefahren der Zukunft außer Augen zu lassen.
Briefe : April 1894 bis Juli 1895 105
Was Kuckuck, die Deutschen renommieren so mit ihren 44, amd
wir haben über Nacht 55 wo nicht 00! La France reprend ^a
place ä la tete d'u mouvement!*)
Die 30 oder 35 Neusozialisten sind mit dem Sozialismus
eine Verstandesehe eingegangen. Sie liätten's ebenso gern auch
nicht getan, aber es war für sie das Gescheiteste den Sprung zu
machen. Sie merken, d'afi sie nun einmal ohne die Arbeiter sich
nicht halten können, und wohl oder übel sich an diese
anschließen müssen. Aber ganz freiwillig ist der Anschluß bei
allen anfangs nidht gewesen, und bei manchen gewiß
auch jetzt noch nicht.
Von den Hauptrertretern ist Millerand einer der geschei-
testen und ich glaube auch aufrichtigsten, aber ich fürchte bei
itm sitzt noch manches bürgerlieh-juristische Vorurteil fester
als er selbst weiß. Politisch ist er der tüchtigste Mann der
ganzen Gruppe. Jaures ist ein Professor, Doktrinär, der sich
gern reden hört und den die Kammer lieber reden hört, als
Guesde oder Vaillant, weil er den Herren der Majorität doch
verwandter ist. Ich glaube er hat die ehrliche Absicht sidh zu
einem ordentlichen Sozialisten zu entwickeln, aber Du weißt
der Tatendrang 'dieser Neophyten steht im direkten Verhältnis
zu ihrer Sachunkenntnis, und letztere ist bei J. sehr groß.
So konnte es kommen, daß J. in Paris denselben Vorschlag als
sozialistisch einbrachte, den Graf Kanitz in Berlin im Interesse
der Junker deponierte: Verstaatlichung der Getreideeinfuhr
zum Zweck der Hochstellung der Kornpreise. Und da bei den
Altsozialisten der Kammer die Sachunkenntnis in oeconomicis
— seit Lafargues Durchfall in Lille ist keiner drin, der etwas
davon weiß, — ebenfalls ziemlidli hochgradig ist, so konnte
Guesde sich nicht versagen, wenigstens einen Teil dieses An-
trages als „sozialistisch'* und gegOiii die ,, Spekulation" gerichtet
zu verteidigen. Die „Spekulation" dadurch zu stürzen, daß man
den Getreidehandel einer aus Panamaschwindlern bestehenden
Regierung und Regierungspartei überträgt, ist allerdings eine
famos sozialistische Idee. Ich habe den Herren audh durch
Bonnier und Lafargue meine Meinung über diesen Riesenbock
iinverhohlen gesagt.
*j Frankreich stellt sich wieder an seinen Platz an der Spitze der
Bewegung.
106 Briefe : April 1894 bis Juli 1895
Ich habe ihnen ferner gesagt: die Fusion, statt der bloßen
Allianz, mit den Neusozi allsten war ein vielleicht unvermeid-
liches Schicksal. Aber dann haltet die Möglichkeit im AAige,
daß hier bürgerliche Elemente vorliegen, mit denen ihr in
prinzipiellen Koaiflikt kommen könnt; daß also eine Trennung^
unvermeidlich werden kann. Bereitet euch darauf A'or, dann
kann gegebenenfalls die Überführung in eine einfache Allianz
leicht erfolgen, Uind ihr braucht in der Überraschung keine
Dummheit zu machen. Vor allem, wenn die Leute in der
gemeinsamen Fraktion Dinge vorbringen, die ihr nicht billigen
könnt, und ihr werdet überstimmt, so behaltet euch vor, diese
Maßregeln in der Kammer nicht d'urch Reden verteidigen zu
müssen, sondern im Gegenteil in eurer Presse eure abweisende
Meinung zu be-gründen, selbst wenn ihr der Einigkeit zulieb
für diese Dinge stimmen müßt. — - Nun, wir wollen sehen.
ob's was hilft.
Also: einerseits sind es die Neusozialisten, die den ver-
schiedenen Gruppen der Altsozialisten eine gewisse Einigkeit
aufnötigen. Anderseits wollen die Leute im Ausland' es ©ich
nicht einleuchten lassen, daß nun plötzlich eine Gruppe von
60 Mann „aus nichts" entstanden ist und daß die Hauptredner
Millerand und Jaures bisher nicht als Sozialisten bekannt
waren; daher der ganz natürliche Zweifel an der Waschechtheit
dieser 60, namentlich nach dem brillanten Eindruck, den die
französischen Delegierten in Zürich hinterlassen.
Unter der Hand gehen die Klüngeleien und Befehdungen
der verschiedenen Sekten ruhig voran. Namen tlic^h klagen die
Marxisten über Vaillant, der viel Propagandareisen in der
Provinz macht und dort über die Marxisten allerhand falsche
Verlästerungen ausstreuen soll. Vaillant ging früher mit den
Marxisten fast immer zusammen, aber 1. ist er ein strikter
blanquistischer Parteimann, der Parteibeschlüsse unter allen
Umständen durchführt, und seit zwei Jahren existiert Krakeel
zwischen Bl[anquisten] und Marxisten; und 2. gibt's in seinem
Wahlkreis viel Possibilisten, er braucht sie und daher zum Teil
seine Schwenkung zu diesen.
Sehr möglich ist es, daß die neuen Reaktionsmaßregeln in
Frankreich die Neusozialisten weiter treiben und allmählich
eine wirklich soz[iail istische] Fraktion aus den 60 wird. Aber das
ist eben noch nicht wirklich und es kann auch anders kommen.
Briefe : April 1894 bis Juli 1895 107
Hier geJit"s den alten engliscLen Schlendrian. Die ökono-
mische wie politische Entwicklung- treibt die Massen der engli-
schen Arbeiter mehr und mehr in unsrer Richtung voran, aber
bis diese aller theoretischen Anschauung-sweise entwöhnten, nie
über ihre Nasenlänge hinaussehenden „Praktiker" sich über
ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse eiti Bewußtsein bilden,
können Jabre vergehen, es sei denn, sie werden direkt mit der
-Vase darauf gestoßen. In der Zwischenzeit blüht unter den
„Filhrern" die politische Mogelei nach bürgerlicih-parlamentari-
scher Art lustig fort und man erlebt da täglich neue Wunder.
Ludwng ist heute im Examen zum ^lember (nicht mehr
bloß licenciate) of the Eoyal College of Physicians. Das Ding
dauert 14 Tage. Nachiher werden wir hoffentlich bald an die
See gehen können — wegen Hausangelegenheiten kann ich dies
Jahr nicht von England weg.
Luise grüßt herzlich, sagt von Bösesein sei keine Eede,
nächstens würdest Du die Ursache erfahren warum Du nooli
keine Antwort hast.
Herzliche Orüße an l>eine P>au, Adelheid, Popp und alle
Freunde Dein F. E.
52.
Engels an Adler.
London. 4. August 94.
Lieber Victor
Inliegender] Brief und ein Paket wurden hier abgegeben,
nebst umstehendem Anonymen*) für mich. Wahi-scheinlich, von
dem anarchist. Philologen Nettlau \ — .— i Wa^ mit dem Paket
geschehen soll bestimmst Du wohl gelegentlich.
Ich habe Cerny**) gebeten Euch die wieklerholte Bitte des
spanischen Nationalrates zu überbringen, ihnen zu ihrem am
*) Das auf dei Rückseile des Briefblattes Ijefindliche SchreiL>en
lautet: Sehr geehrter Herr! Beiliegendes Paket und der dabei befindliche
Brief gehört Herrn Dr. Viktor Adler in W^ien. der mich vor längerer Zeit
ersuchte, dieselben bei Ihnen abzugeben. Das Paket enthält Zeitungen,
die nicht nach Österreich geschickt werden können; den Brief, der auch
zirka 2 Pfund Sterling in Geld enthält, ersuche ich Sie, demselben sicher
zukommen zu lassen; er wird dadurch über den Inhalt des Pakets in ent-
sprechender Weise unterrichtet; ich weiß seine jetzige Adresse nicht und
lege eine 2K'-Penny-Marke bei. Ihr (Unterschrift unleserlich).
**) Der tschechische Sozialdemokrat Cerny war gelegentlich des Inter-
nationalen Textilarbeiterkongresses durch London gekommen.
108 Briefe : April 1894 bis Juli 1B%
29. August stattfindenden Kongreß ein spanisch oder
französisch abgefaßtes kurzes Glückwunschschreiben zu
schicken. Ich wiederhole dies vorsichtshalber. Adresse:
Pablo Iglesias Hernan Cortes 8, pral. Madrid.
Herzliche Grüße an Deine Frau und Dich
Dein F. E.
Louise .und Ludwig grüßen Dich ditto herzlichst.
53.
Engels an Adler.
41 Kegents Park Road N. W.*)
London, 14. Dezember 1894.
Lieber Victor
Deine Briefe vom 12. und 26. habe ich richtig erhalten.
Die Geschichte mit K. K. ist also erledigt. Für Deine Glück-
wünsche zu meinem Geburtstag herzlichen Dank, und die Ver-
sicherung, daß es mir in meinem Fünfundsiebzigsten zum
Bewußtsein gebracht und zu Gemüt geführt worden ist, wieeo
ich mir die von Dir gerügten Unvorsichtigkeiten nicht mehr
erlauben darf. Im Gegenteil! Ich treibe Diät nacJi Noten,
behandle meinen Verdauungskanal wie einen mürrischen
bürokratischen Vorge-'^etzten. dem man immer nach der
Pfeife tanzen muß, und lasse mich gegen Husten. Bronchial-
katarrh und dergleichen einwickeln, einheizen und überhaupt
in allen Richtungen mißhandeln, ganz wie es einem krank-
brüchigen alten Mann geziemt. Genug davon.
Daß ich über Bebeis entschiedenes Auftreten nach dem
schlaffen Parteitag erfreut w^ar, brauch' ich Dir wohl nicht erst
zu sagen. Ebenso darüber, daß Vollmar niicli indirekt zwang,
auch ein Wörtlein in der Sache mitzusprechen. Wir haben
tatsächlich auf der ganzen Linie gesiegt. Erst das Abbrechen
des Kampfs durch Vollmar nach Bebeis vier Artikeln, das
schon entschiedener Rückzug war; dann Abfuhr durch den
Vorstand; dann Zurückweisung der Zumutung an die
Fraktion, sie solle, statt des Parteitage entscheiden. Also die
Niederlagen hintereinander in dieser dritten unglücklichen
*) Engels' Adresse nach dem Umzug, über den er im Brief an .Sorge
vom 10. November 1894 berichtet.
Briefe : April 1894 bis Juli 1895 109
Kampagne Vollmars. Das sollte doch selbst einen Ex-Zuaven
des Papstes genügen. Dem Liebknecht habe ich in der Sache
zwei Briefe geschrieben, an denen er keine Freude erlebt hat.
Der Mann wird immer hinderlicher. Er sagt er habe noch die
besten Nerven in der Partei, sie sind aber auch danach, auch
-eine vorgestrige Eede im Eeichstag ist schlecht. Man scheint
das auch in der Regierung zu merken und will ihm offenbar
durch die Majestät^beleidigung die er a posteriori begangen
haben soll, wieder etwas auf die Beine helfen.
Diese Geschichte übrigens beweist, daß Wilhelm und
V. Koller entweder total verrückt sind, oder aber planmäßig auf
den Staatsstreich hinarbeiten. Hohenlohe beweist sich durch
seine Eede als ein vollständig versimpelter schwachsinniger
willenloser, alter Herr, reiner Strohmann des Herrn v. Koller.
Dieser ist ganz der eingebildete schneidige bornierte Junker,
der imstande ist sich Wilhelmchen vorzustellen als der Mann,
der dem "Umsturz" ein Ende maoht und die Intentionen S[einer]
Majestät wegen Wiederherstellung der könglichen Machtvoll-
kommenheit bis aufs Tüpfelchen über dem i durchführt. Und
Wilhelm ist imstande zu antworten: Sie sind mein Mann! Wenn
sich das so verhält — und jeden Tag gibt's neue Andeutungen
in dieser Eichtung — dann vogue la galere!*) dann wird's lustig.
Nun aber die Haupteache. Du wunderst Dich nichts von
Louise zu hören. Aber dann sei doch vor allem so gut und ant-
worte auf die allerdringendsten Briefe die sie Dir geschrieben
hat, nicht nur wegen der Einrichtung ihrer Korrespondenz von
hier aus, ob da auch noch andere korrespondieren sollen und
wer? — sondern speziell wegen des offerierten Geldes.
Schon vor Monaten, im September oder Anfang Oktober
schrieb sie Dir: &^ habe sich ein Konsortium gebildet von Leuten,
die außerhalb der Partei stehn, die aber Vertrauen in Dich haben
und speziell glauben daß Du der Mann seist, der täglichen
Arb[eiter]-Z[ei]t[un]g auf die Wege auch des finanziellen Erfolgs
zu helfen, vorausgesetzt daß Du die leitende Stellung
erhältst. Sie sind also bereit für die tägliche „Arbeiter-
Zeitung" eine ansehnliche Summe, wie es heißt, bis etwa
5000 fl. Dir zu überweisen, vorausgesetzt, daß
1. Du die leitende Stellung bei dem Blatt einnimmst,
') Auf gut Glück!
110 Briefe : April 1894 bis Juli 1895
2. die Sache als rein geschäftlicher Einschuß behandelt und
regelmäßige Zineen bezahlt werden,
3. alle Verhandlungen, Zahlungen etc. durch Dich in Wien
and Louise hier vermittelt werden.
Dies sind, so weit ich mich erinnere, die Bedingungen der
Offerte. Nun ist hierauf ebensowenig wie auf alle späteren
Briefe Louisens irgendwelche Antwort von Dir eingetroffen.
Vorige Woche schrieb sie nochmals und bat um um-
gehende Nachricht, die spätestens Dienstag 11. ds. bier sein
mußte. Vergebens. Nun sind nur zwei Dinge möglich: Entweder
bist Du in Deiner Korrespondenz so von postalischen und an-
deren Intrigen umgarnt, daß es faet unmöglich ist. Dir einen
Brief zuzustellen; (xler Deine Abneigung gegen Brief beant-
wortung geht so weit, daß Du lieber dies Geld verlieret, das Dir
geboten wird, als daß Du an Louise schreibst.
fFedenfalls müssen wir wissen woran wir sind. Die Leute
drängen auf Bescheid, denn wenn Du auf das Geld
verzichtest legen sie es wo anders an. Wir sind also genötigt
diesen Brief an Frau Anna P.*) zu schicken mit der Bitte ihn
Dir und nur Dir persönlich zu behändigen, und bitten jetzt,
aber auch zum allerletzten mal um gefälligen Be-
scheid, ob Du wegen des Geldes mit uns, respektive Louise
in Verhandlung treten willst oder nicht. W^nn ja, dann sage ihr
wie die Briefe an Dich zu befördern sind, wir antworten dann
„eingeschrieben".
Louise und das Kleine sind sehr wohl, das Kleine wachet,
gedeiht und schreit, sie stillt es selbst und hat mehr als genug.
Sie und Ludwig grüßen, dilto Dein
F. E.
54.
Adler an Engels.
Wien, 17./12. 1894.
Lieber General!
Dein Brief, den mir Pernerst[orfer] vor zwei Stunden
übergab, hat mich in eine unbeschreiblidhe Aufregung versetzt.
Ich habe nämlich nicht einen einzigen der Briefe,
die von dem Gelde handeln, erhalten. Das ist mi'r nun nicht
etwa wegen des Inhalts allein, der mir übrigens wichtig genug
*) Anna Pem^rstorfer.
Briefe: April 1894 bis Juli 1895 111
ist, unangenehm, sondern goiadezu niederschmetternd bezügliclir
der Unsicherheit in der ich offenbar lebe Nun ist aber die
Frage, w o h i n w a r e n d i e B r i e f e a d r e s s i e r t ? ? [ — . — ]
Zunächst bitte ich Dich mir an demselben Tage, mit der
nämlichen Post drei Briefe gleichgültigen Inhalts mit
Adresse vonLuise geschrieben an meine Wohnung,
an Popps und an Pernerstorfer zugehen zu lasssen — letztere
unbedingt verläßliche Adresse ist wichtig, damit ich
avisiert bin, daß ein Brief zii Hause und bei Popp sein muß,,
und mit welcher Post er gekommen, dann kann ich viel-
leicht recherchieren.
Und nun das Offert selbst. Wir gehen wie ich Louise vor
einigen Tagen schrieb mit ganz ungenügendem Fonds an das-
Tagblatt, für das sonst die größten Chancen da sind. Ein 1^-
trag von 5000 Fl. ändert die Sache wesentlich zum Günstigen;
insbesondere, wenn er nicht öffentlich ausgewiesen wird, den
Fortgang der Sammlungen also nicht hindert. Unsere Leute
sind trotz aller Belehrung so wenig gewohnt mit Greld umzu-
gehen, daß sie meinen die 7000 FL die sie gesammelt haben,,
nehmen nie ein Ende. Wir werden dazu am l./I. etwa noch
2000 Fl. haben, die ich von verschiedenen Leuten, die Aus-
weisung nicht brauchen, erhalte, und w-eitere 2000 Fl. durch
Sammlung haben. Alles das ca. 11.000 bis 1*2.000 Fl. ist absolut
als f o n d p e r d u gegeben. Ich habe mich trotz aller An-
erbieten auf Anteilscheine etc. nicht eingela-s-sen — vestijgia
terrent *) (An Kredit erhalten wir vom Dinicker 30.000 Fl.
für fünf Jahre unkündbar.) Einrichtung, Reklame,,
Probenummer etc. verschlingen (Zeitungsstempel) sehr viel
Geld und wir werden zu schwimmen haben, wollen wir in drei
Monaten lo.OOO Ex[emplare] erreichen und damit aktiv sein.
Du siehst ich verberge Dir nichts. Aber ebenso kann ich sagen,,
daß ich meine, daß im Jahre 1896 die Arb.-Z. bereits einen
erheblichen Reingewinn abwerfen wird: die jetzige zweimal
wöchentliche Ausgabe trug 1894 mehr als 4000 Fl. trotzaehr
schlechter Zeiten. Ich kann das angebotene Darlehen
also mit gutem Gewissen annehmen. Was die Bedingungen
betrifft, so bin ich Chefredakteur, trage der Partei
gegenüber die volle Verantwortung und habe die uneinge-
schränkte Leitung des Blattes. Die Formen, in welclien das
Die Spuren schrecken.
112 Briefe: April 1894 bis Juli 1895
Darlehen gegeben, verzinst und riickerstattet werden sollen,
bitte ich mir bekanntzugeben. Daß es rein geschäftlich
behandelt wird, ist natürlici und ich bitte nur zu erwnrken,
daß es möglichst lange — mindestens zwei Jahre —
unkündbar bleibt und dann, wenn möglic,h — das steht
aber in zweiter Linie — in Eaten rückzahlbar ist.
Ich habe mir nicht Zeit genommen mit Popp zu sprechen,
der unser Finajizmann ist, aber ich kann ohne weiteres sicher
sein, d'aß er mit dem, was ich gesagt, einverstanden ist. Daß
Du an uns gedacht, denn ganz außerhalb Deiner Initiative ist
es ja doch wohl nicht geworden. Es ist uns ein ganz ungeheurer
Dienst.
Ich schließe um die Post nicht zu versäumen. Über die
Korrespondenz erhalte ich wohl von Luise, die ich mit den Ihren
grüße, Antwort auf meinen Brief.
Bitte vorläufig alle Briefe durch Pernerstorfer gehen zu
lassen, der sie sofort besorgen wird.
Dich herzlich grüßend
Dein getreuer Viktor.
P. S. Habe doch noch mit Popp gesprochen, der mit
Obigem ganz einverstanden ist. Es handelt sich also nur darum,
daß 'die Darlehensgeber ihre Bedingungen fixieren. V. A.
55.
Engels an Adler.
41 Regents Park Road N. W.
London, 22. Dez. 94.
Lieber Victor
Also endlich sind wir mit der Geldofferte so weit daß
geschäftlich verhandelt werden kann. Louise wird Dir Nälieres
darüber mitteilen.
Was hiesige Korrespondenten angeht so bitte gib
M. Beer eine so deutlich von allen anderen Korresp[ondenten]
zu unterscheidende Chiffre, daß keine Verwechslung möglich.
Der Mann ist sehr grüner Junge in England mit galizisch-
talmudistischer Brille. — E. B.*) wird schwerlich viel liefern
können, er hat schon für Vorwärts-Korrespondenzen oft wenig
Zeit, arbeitet lieber für die N. Z. **).
) Eduard Bernstein.
**) „Neue Zeit."
Briefe : April 1894 bis Juli 1895 113
Lafargue f ra^t an ob ihr seine Mitarbeiterschaft brauchen
könnt? Ich habe ihm gesagt ihr würdet in erster Linie an
Frankel denken müssen, doch wisse ich nichts Näheres und
würde schreiben. Er — Laf. — schreibt lebhaft und interessant,
aber, wie seine Galluskorrespondenzen im Vorwärts, nur
französisch, auch seine Frau schreibt nicht deutsch
und spricht es auch ziemlich selten und nicht so fließend wie
Tussy. Ob euch das passen kann, dort selbst zu übersetzen,
weiß ich nicht. Natürlich würde L. auf Honorar reflektieren,
da ihm seine Deputiertendiäten ausgegangen sind; auch dar-
über konnte ich ihm nichts sagen.
Die Sachen auf dem Ko-ntinent verwickeln sich. Während
bei euch Wahlreform sicher — und' Steine die heut einmal ins-
Rollen kommen, bleiben nicht so bald wieder liegen — in Ruß-
land der Anfang des Endes der zarischen Allgewalt, denn diesen
letzten Thronwechsel übersteht die Selbstherrsclierei schwer-
lich; in Italien treibt's direkt der Revolution zu, die der Mon-
archie den Kopf kosten kann, und im Deutschen Reiche will
Wilhelmchen mit Gewalt über den Halys gehn und ein großes
Reich zerstören. Einen besseren Moment für Tagblattgründung
kannst Du Dir nicht wünschen; Stoff genug, und zwar solchen,
bei dem die anderen Parteien schief sehn und schief urteilen
müssen, während unsere Partei die einzige ist die ihn von vorn-
herein richtig beurteilen wird.
Und nun vergnügte Weihnachten Dir, Deiner Frau (die
ich herzlich zu grüßen bitte) und Deinen Kindern ! Dein
F. E.
Adler an Engels.
56.
Wien, 25./12. 1894.
Lieber General!
Auf meinen Brief vom 18./12. habe ich noch keine Ant-
wort, ebensowenig von Luise wegen der Korrespondenz. Daß
der Brief an letztere angekommen, weiß ich von Karpeles, bin
aber unruhig, ob Du meinen erhieltest. Ich schrieb nicht nur
über das Geldoffert, sondern bat auch mir behilflich zu sein
bei Eruierung des Briefmarders. Sollte dieser Brief nicht
angekommen sein bitte ich um sofortige Nachricht.
Ich wollte die erste Nummer wäre schon erschienen und
das Werke] im Gang — lange hielte ich die Arbeit und Auf-
lU Briefe : April 1894 bis Juli 1895
regung nicht aus. Unsere Aussichten werd'en aber täglich besser,
"die Stimmung für das Blatt ist glänzend und sein Erscheinen
wird von allen Kreisen mit Spannung erwartet. Wenn ich
nur nicht unter der Erwartung zurückbleibe — ich schwanke
zwiscJicn Größenwahn und Kleinmut —
Luise bitte ich dringend, da sie sich ja für die Korrespon-
denz opfern will, s o f o r t zu schreiben — einen kurzen über
die politische Situation orientierenden Brief, der einführt, ohne
den Schein zu haben, pedantisch ex ovo zu beginnen.
Verzeih, daß ich abbreche, obwohl ich manches zu er-
zählen hätte, ich bin todmüde.
Hoffentlich habe ich bald Nachricht von Euch.
Herzlich Dein . V. A.
Gruß an Luise und Ludwig.
57.
Adler an Engels.
Wien, 27./12. 1894.
Lieber General!
Nochmals Dank für die Intervention in der Pumpaffäre,
worüber ich Luise schreibe.
Was Lafargue anlangt, so habe ich gar nichts gegen
französische Korrespondenzen, selbst wenn sie seine
Klaue haben; ich werde viel übersetzen müssen. (Wenn Du
Vandervelde zu sehen bekommst, bitte, rede i'hm zu, daß er
meine Bitte uns zu korrespondieren nicht abweist, oder
Anseele bestimmt; Belgien ist für uns sehr wichtig.) Natürlich
v.-ird Frankel regelmäßig schreiben, aber Leo ist schrecklich
ledern und pedantisch, aber gewissenhaft. Laf. ist ein Korre-
spfondent] wie ich es für den Vorwärt» bin, selten, aber dann
ohne Ende. Nun wäre mir ja mit seinen geistsprühenden Ar-
tikeln sehr gedient, wenn ich -nicht fürchtete, daß er mir die-
selben schickt, die Vorwärts und Echo haben und wir
dann dasselbe in zwei verschiedenen Übersetzungen in drei
Blättern zu lesen kriegen. Kannst Du arrangieren, daß er mir
etwa zweimal im Monat oder bei besonderen Anlässen schreibt,
wäre es mir ein großer Gefallen; wir können nur nicht viel
zahlen, 20 Frcs, für den Artikel müßte ihm genügen. Noch
eines: Ich möchte gern ein Feuilleton haben: Karl Marx
in Wien und habe einige Anhaltspunkte in dem Becherschen
,, Radikale'^ gefunden und lasse die Zeitungen weiter durch-
Briefe : AprU 1894 bis JuÜ 1895 115
stöbern. Mit Becher habt Ihr Euch später überworfen, er oder
Jellinek schimpft am 2T./9. 48. gräulich über Buren Wiener
Korrespondenten. Vielleicht ist Dir der Name dieses Korresi^on-
denten erinnerlich oder hast Du sanst irgendwelche Daten über
den Aufenthalt von K. M. in Wien? Das könnte eine sehr inter-
essante Arbeit werden *). Für baldige Antwort wäre ich se!hr
dankbar.
Ich lerne jetzt erst kennen, was arbeiten heißt. Schlafen
wird mir mehr und mehr zur Nebensache. Wenn wir die ersten
14 Tage hinter uns haben sind wir aius dem Wasser!
Herzlichen Neujahrswunsch von Emma und mir!! und
vergelt's Gott, daß Du uns Österreichern so mit Rat und Tat
beistehst.
Es grüßt Dich herzlichst Dein getreuer Viktor Adler.
58.
Engels an Emma Adler.
41 Regents Park Road N. W.
London, 1. Jänner 95.
Verehrte Frau Adler!
Vielen Dank für Ihre liebenswürdigen Glückwünsche und
Ihres Mannes und Ihrer Kinder! Ich erwidere sie von Herzen
und hoffe daß das neue Jahr ein recht erfreuliches in jeder
Beziehung für Sie sein möge. Ihnen und Viktor eröffnet sich
heute ein neues aussichtsvolles Tätigkeitsfeld, wir werden
dort ja auch wähl Ihre Hand nicht selten entdecken können.
Diesem neuen Unternehmen, der täglichen Arbeiter-Zeitung,
wünschen wir alle hier den besten praktischen Erfolg.
Bitte sagen Sie Viktor, dessen letzten Brief ich dieser
Tage beantworten werde, daß ich heute per Post „einge-
schrieben'* an ihn ein Ex[emplar] des 3. Bandes von Marx'
Kapital abgesandt habe, das bei Ankunft dieses wohl schon
angekommen sein sollte**). Es ist wie dieser Brief adressiert
Windmühlgasse 30 A.
Nochmals herzliche Glückwünsche und Grüße an Sie alle
von Ihrem F. Engels.
*) Der Artikel über „Karl Mar.x in Wien" kam tatsärlilich zustande,
er hat Max Bach zum Verfassf-r und erschien am 24. .Jänner 1895 in dei
,, Arbeiter-Zeitung" über „Karl Marx in Wien" vergleiche auch den Artikel
von G. Hermann (Carl Grünberg) im „Kampf", I. Band, Seite 266 (1908).
*•) Der III." Band von Marx' „Kapital" in Victor Adlers Bibliothek
trägt die Widmung: „Seinem Victor Adler, London l./l. 95."
116 Briefe: April 1894 bis Juli 1895
59.
Engels an Adler.
41 Regent 6 Park Road N. W.
London, 9. Jan. 95.
Lieber Victor
Ich. schreibe Dir heute eigentlich nur um Dir anzuzeigen
daß Sonntag Abend Louise unter Streifband ein Ms.*) ent-
haltend drei Notizen, an die Ee[daktion] der A. Z. 10 Sohwarz-
sp[anier]ötr[aße] abgeschickt hat; sie enthalten
1. etwas über Baumwollindustrie.
2. etwas über die Aktion des Parlamentary Committee
des Trade Unions Kongresses (teilweise schon antizipiert
in der A. Z.).
• 3. etwas aus einer Pariser Korrespondenz der Mrs. Craw-
ford. Da Ihr früher mit M[anuskript]sendungen unter Streif-
band Schwierigkeiten hattet, halte ich diese Anzeige für ge-
boten.
Sollte man wieder versuchen Euch nachträglich Porto-
zü schlag zu erheben unter dem Vorwand fdie jSendung als
Brief zu behandeln, so wäre es an der Zeit Beschwerde zu
führen. Nach dem im eng{I[ischen] Posthandbuch amtlich gege-
benen Auszug (in Anführungszeichen gegeben) sind unter
Streifband zu I/2 Penny für zwei Unzen Porto versendbar im
internationalen Verkehr des Weltpostvereins „manujscript of
books or other literary productions". Dae muß doch auch dort
durchzusetzen sein, oder wnll die A[rbeiter]-Z[edtung] freiwillig
zwanzigfaches Strafporto (2^/2 Penny für eine V2 XTnze) zahlen?
Ferner. Wir erfahren aus Rußland, daß im „Europäischen
Boten" (Vestnik Jevropy), Dezemberheft, ein äußerst scharfer,
für rueisische Zensurverhältnisse sogar unerhört scharfer Artikel
über Alexander III. steht — da Deine Frau ja vollkommen
russisch kann, wäre es nicht der Mühe wert, ihn anzusehen und
womöglich zu verwerten? Es wäre ja ein Hauptspaß, wenn auch
in solchen Dingen die „Arbeitea-'-Zeitung" den bürgerlichen
Blättern den Rang abliefe.
Bis jetzt sind von der A[rbeiter]-Z[eitung] hier Nummer
1 und 3 — 8 angekommen, alle adressiert an Ludwig Freyberger,
dazu ein Ex[emplar] Nummer 1 adressiert von Deiner Hand
an mich. Der Übergang, in der Anordnung des Stoffes, von dem
zweimal wöchentlichen zum täglichen Blatt ist noch nicht ganz
*) Manuskript.
Briefe : April 1894 bis Juli 1895 117
vollendet, man sieht aber daß er im Gang ist, und daß die
Donnerstag-Abend-Nummer und die Sonntagsnummer jede mit.
besonderem Cbaratter und für ein bej^onderes Publikum sieh von
den anderen Nummern herausheben. Daß Du einstweilen keine
Zeit hast zu Leitartikeln, begreift ^ich, es ging Marx bei der
N[euen] Rh[einischen] Z[6itung] ebenso, im ganzen ersten Monat
sind nur zwei von ihm, und im ganzen ersten Vierteljahr kaum
fünf. Der Chefredakteur hat anfangs genug zu tun mit dem
Organisieren, und das ist das wichtigste. Im übrigen macht sich
das Blatt schon recht gut für die erste Woche, was noch fehlt
wird sich schon finden.
Vandervelde haben wir Deinen Auftrag am l./l. aus-
gerichtet, wo er einen Augenblick hier war.
Laura habe ich das Nötige aue Deinem Brief mitgeteilt,
aber seitdem nichts mehr darüber gehört, vielleicht hat Lafargue
Dir direkt geschrieben.
Wegen .,Marx in Wien 1848'" kann ich Dir nicht viel
Material liefern. Ich will mal die N[eue] Eh[einische] Z[&itung]
wegen Daten nachsehen, auch ob ich Näheres wegen Becher finde.
Unser Wiener Korreepondent war ein gewisser Müller-Tallering
aus Koblenz, fanatisch wie alle Koblenzer, und ein Krakeeler
erster Klasse; nach seiner Rückkehr nach Deutschland kam er
erst nach Köln Ende 49 und fing Krakeel mit dem roten Becker
an, kam dann nach London, hatte wegen einer unbedeutenden
persönlichen Geschichte (die bei etwas weniger Verkehrtheit
seinerseite durch zwei Minuten Gespräch auszugleichen war)
sofort Krakeel auch mit uns, und ließ sogleich eine Broschüre
von Stapel: Vorgeschmack der Diktatur von Marx und Engels.
Dann ging er nach Amerika, versuchte gegen uns zu stänkern,
verscholl aber sehr bald. Seine Wiener Berichte bis zum Einzug
von Windischgrätz waren übertrieben gewaltrevolutionär was
gegenüber der überall mächtiger auftretenden Reaktion uns
ganz recht war; was er aber über Persönlichkeiten sagte,
konnten wir damals aus der Ferne nicht beurteilen, war aber
sieher stark durch persönliche Strömungen beeinflußt. Wir
mußten für derlei in so bewegter Zeit eben unseren Korrespon-
denten viel Verantwortlichkeit und im Verhältnis auch viel Frei-
heit lassen.*)
*) Diese Mitteilung wurde in dem Artikel der „Arheiter-Zeilung'
über „Karl Marx in Wien" vom 24. Jänner 1895 benützt. Vergleioho aiul
die Mitteilungen im Brief von Engels vom 12. Jänner 1895.
118 Briefe : April 1894 bis Juli 1895
Noch eine politische Nachricht, die Dir vielleicht nützen
kann, wenn wieder die Eede auf derartigem kommen sollte:
vorgestern abend war hier politisohes Gerede von Minii&terkrise :
der Schatzkanzler Ilaroourt wollte abdanken. Er desavouierte
aber gleichzeitig : die Behauptung, wie sie aufgestellt
sei (as made), sei absolut erfunden. Es war nioiht wahrscheinlich
daß ein Schatzkanzler allein sich zurückzieht im Moment wo
er drei Millionen Pflund Überschuß hat. also ein brillantes
Budget machen kann. Die Sache war aber die : Harcourt ist f ü r
Einführung von Diäten für die Parlamentsmitglieder v o r der
Auflösung; und findet starken Widerstand im Kabinett —
wahrscheinlich auch bei der Königin. Er scheint mit Rücktritt
gedroht und Konzessionen in obiger Frage erlangt zu haben,
jedenfalls ist einstweilen alles wieder im Geleise. Du siehst wie
hier die Dinge in der offiziellen Welt wacklig stehn.
Wegen des Geldes sind alle erforderlichen Schritte ge-
schehen, ich denke in ein paar Tagen wirst Du Näheres erfahren
und hoffentlich auch das Bare erhalten.
Luise will noch ein paar Zeilen drunter schreiben. Sie
und Ludwig grüßen. Ditto Dich und Deine Frau
Dein F. Engels.
Am 5. d. schickten wir Dir drei Ex[emplare] von engl[i-
schen] soz[ialistischen] Blättern: Clarion, Justice, Labour
Leader (Keir Hardie) und werden auch fernerhin diverse
N[uramern] von diesen von Zeit zu Zeit schicken, damit Du
selbst wählen kannst, welches Dir am besten gefällt. Bitte,
sieh sie an.
(Nachschrift Louise Kautskys zu dem Brief von Engels vom 9. Jänner 1895.)
L. V.
Die finanziellen Geschäfte sind nun soweit erledig-t, daß
das Geld nun bald in Wien sein wird. Eines möchte ich doch noch
ersuchen, laß mir und Ludwig eine Legitimationskarte aus
stellen. Ludwig läßt sich als temporäres Mitglied im National-
Liberal Club aufnehmen, dem T. liberalen Club hier in der
Nähe des Parlaments, wo alle Liberalen, Radikalen M. P. ver-
kehren und Journalisten aller Schattierungen. Hier muß man
sich für alles legitimieren können und Euch schadet es ja
nichts. Herzlichen Gruß von den drei L. L. L.
Briefe: April 1894 bis Juli 1895 119
60.
Engels an Adler.
London, 12. Jan.. 95.
Lieber Victor.
Ich scliri^b Dir zuletzt am 9. ds. nach Schwarzspa-nier *).
Heute nur der Sicherheit halber, die wiederholt^ Anzeige, daß
Louise gestern per eingeschriebenen Brief an Dich Ferstel-
gasse 10, einen Cheque abgesandt hat für 3500 Gulden, gezogen
am 10. ds. von der Anglo-Foreign Banking Company, Limited,
auf die Union Bank in Wien, an die Ordre von Dr. Victor
Adler, payable dans le« huit jours **).
Hast Du denselben richtig eAalten so bitte gib Luise
durch zwei Zeilen Nachricht damit die Leute hier in Kenntnis
gesetzt werden können zur Beruhigung. Das formale Dokument
mit den diversen Unterschriften kann dann nachkommen.
Hast Du den Cheque aber nicht erhalten, so stürze ja
gleich zur Unionbank und i>top payment***). Der internationale
Postverkehr läßt leider keine Wertdeklaration resp[ektive] Ver-
.sioherung zu, daher hier eine ge^visse Ängstlichkeit.
Wegen Marx habe ich in der X. Rh. Ztg. nachgesehen,
ich finde nur dies: Die N[umme]r vom 25. Aug[u'St] 1848 zeigt
an, daß „K. M. gestern auf einige Tage nach Wien abgereist ist",
(Nämlich nicht von Köln, er war schon fort, idh glanbe, er ver-
anlaßte von Hamburg aus daß dies hineingesetzt wurde.) Und
dann später von Wien, 81. August die Nachricht, daß Marx
gestern im Wiener Arbeiterverein in der Josefstadt über die
sozialen Verhältnisse Westeuropas einen Vortrag hielt (nach
ihm sprach Stift im selben Verein) (N. Rh. Ztg., 6. Sept[em-
ber]), und nach der N[ummer] vom 8. Sept[ember]' sprach Marx
am 2. Sept[ember] „in der Versammlung des Ersten Wiener
Arbeitervereines über soziale ökonomische Zustände''. — Das
ist alles. Inzwischen war am 7. Sept[ember] in Berlin die ent-
scheidende Abstimmung über den Steinschen Antrag, das Mini-
sterium Hansemann stürzte und der Konflikt war da, und M.
kam eiligst zurück. Am 12. Septfember] schrieb er wieder
*) Als die „Arbeiter-Zeitung" Tagblatt wurde, befand sich die
Redaktion Schwarzspanierstraße 10, die Administration Ferstelgasse 6.
**) Zahlbar in acht Tagen.
***) Verhindere die Auszahlune.
120 Briefe : Aprü 1894 bis Juli 1895
einen Leitartikel für die dent^elben Nachmittag erscheinende
N[umme]r vom 13. SeiJt[ember] 1848.
Gestern abciul hat Louise wieder zwei Notizen untei'
Streifband abgeschickt. Dein F. E.
Clarion tind Lahour Leader heute wieder an die Eed. ab-
gegangen.
Dir und, Deiner Frau noch meinen schönsten Dank für
den prächtigen Kalender!
61.
Adler an Engels.
Wien, am 33./J. 1895.
Lieber General!
Für Deine beiden Briefe und Deine Mitwirkung- beim
Darlehen sage ich Dir besten Dank. Wir sind, nicht zuletzt
•dank Eurem Eingreifen, daß wir uns z%\'ar mit Ach aber ohne
Krach werden durohw^ursteln können. Das Blatt geht sehr gut,
das heißt wir sind viel weiter, als wir um diese Zeit zu sein
hoffen durften. Ich rechnete für Anfang Februar auf 10.000
und wir drucken jetzt an Wochentagen 15.000 an ISonntagen
22.000, ohne daß sehr viel zurückkommt.
Redaktionell bin ich noch immer nicht zufrieden. Da?
Blatt ist noch immer zu ernist, zu wenig wienerisch. Prinzipielle
Plutzer dürften nicht allzu viele unterlaufen sein, obwohl ich
die Augen überall haben muß, damit nichts passiert. Der Nach-
richtendienst würde weit besser sein, wenn ich mich an bürger-
liche Journalisten statt an unsere Genossen wenden könnte;
die sind alle so schlechte KorreS'pondenten, wie" ich selber. Uns
interessiert alle weit mehr das Gewicht der Sache als, daß sie
neu ist. Nun kann man in Wien aber absolut nicht ä la Vor-
wärts arbeiten, der die Oasimiriaide mit einem Leitartikel eine
halbe Woehe später abgetan hat. Ja, unsere eigenen Leute sind
verrückt genug, ausführliche Originaltclegramme zu verlangen! !
Dazu müßte ich in Paris und Berlin Gelddepote errichten
denn unsere Leute können uns nichts vorschießen — abgesehen
davon, -daß die Sache schweres Gekl, das wir nicht haben,
kostete. Ich erzähle Dir das nur, damit Ihr seht, was von uns
erwartet und beansprucht wird. Ich kann mir voi-stellen, daß
das Blatt Di eh sehr sonderbar anmuten wir^; und doch ist es.
wie gesagt, noch immer zu wenig Klatsch blatt.
Briefe : April 1894 bis Juli 1895 121
Mit der Redaktion scheine icli ganz ^t gefahren zu sein.
Austerlitz ist eine Arbeitskraft allerersten Ranges, zieht wie
ein Roß und versteht sofort, was man will. Er schreibt nur noch
zu gebildet. Daß ich sehr selten dazu komme Artikel zu
schreiben, hast Du richtig erraten. Die Arbeitslast ist eine
furchtbare und daß meine Nerven sie aushalten, macht ihnen
alle Ehre. Mein Papierkorb kostet mich weit mehr Arbeit als
das Blatt und ich soll eigentlich jede Zeile lesen bevor sie in
Druck geht. An mancher Lokaluotiz redig:iere ic'h länger als
m.ich ein Artikel Zeit kosten würde. Hier steht für uns der
Krakeel im Schöße der Klerikalen im Vordergrund. Unsere
Haltung wird sehr beachtet und beide Parteien zitieren uns
lustigerweise als Autorität. Die Christlichsozialen sind für uns
unbezahlbar, vielleicht nur noch in Belgien haben sie dieselbe
Wichtigkeit — sie sprengen uns den ungeheuren Block der
klerikalen Bauernschaft und machen uns den Weg frei. Darum
folgen wir allen Phasen so genau, was Euch vielleicht nicht
recht verständlich ist.
Für die Korrespondenzen bin ich L. K.*) sehr dankbar.
Bisher habe ich wie Ihr gesehen, alle gedruckt, bis auf die
Anarchistengeschichte, die das offizielle Korrespondenzbüro
erst gemeldet und dann dementiert hatte: sie flößte mir, offen
gesagt recht wenig Vertrauen ein und ich wußte nicht recht,
was daraus zu machen.
Die Wirren im englischen Ministerium werden hier
Differenzen über das Marinebudget zugesdhrieben ; was ist
denn an der Sachet) ?
Von den englischen Zeitungen kann ich leider nicht so viel
Gebrauch machen als ich möchte, mehr noch als die Zeit^ fehlt
mir der Raum. Nur bitte mir mitzuteilen, ob Clarion und
Justice von Euch stammen? Der Clarion bekommt nämlich
Change und zwar seit lange.
Sehr dankbar werde ich für recht ungeschminkte Kritik
de« Blattes sein ; ich verliere nach und nach das Auge für das
Canze und -die Wirkung allein ist doch nicht maßgebend.
Bitte Luise zu sagen, daß sich die Quittung verzögerte,
weil Reumann, der unterschreiben mußte, nicht da war.
t) Deine Andeutung, daß es sich um die Diätenfrage
handle, erklärt mir einiges, aber nicht alles.
'') Louise Kautsky-Freyberger.
122 Briefe : April 1894 bis Juli 1895
Jetzt bin ich so weit, daß icti meinen Monat Arrest um
ca. acht Wochen hinausgeschoben habe und die Wahl habe,
wann ich hineingehen will. Dafür habe ich Samstag eine ekelige
Ehrenbeleidigung^saohe, die ich nicht abschütteln kann;
hoffentlich ist sie mit Geld abzumachen. Man "darf nämlich bei
uns einen Lumpen nicht Lump nennen, selbst wenn man es
beweisen kann *).
Die Legitimationskarten schließe ich gleich bei und bitte
Dich die drei L herzlich zu grüßen. Dein getreuer
(Adlers Unterschrift ist im Orifrtnalbrief ausgeschnitten.)
62.
Engels an Adler.
London, 28. Jan. 95.
Lieber Victor
Meinen und unser aller besten Glückwunsch zum raschen
Erfolg der Arbeiter-Zeitung! Ich habe es zwar erwartet, aber
die Bestätigung durch die Tatsache ist doch auch viel wert.
Wegen der Redaktion laß Dir nur keine grauen Haare
wachsen. In den ersten Wochen bist Du als Organisator viel
wichtiger denn als eigentlicher Redakteur. Ist erst alles im
richtigen Geleise, dann wirst Du schon dahin kommen, der
Zeitung den richtigen Ton beizubringen. Du hast ganz recht, bis
jetzt ist das Blatt noch bissei zu ernst, etwas mehr Humor,
besonders auf der ersten Seite, die in der zweiwöchentlichen
Ausgabe immer sehr lustig war, könnte nicht schaden. Indes
das wird schon kommen.
Originaltelegramme aus fremden Hauptstädten könnten
Euch absolut nichts nützen. Dazu gehörte in jeder Stadt ein voll-
ständig organisiertes Büro mit einem Ohefkorrespondenten,
der die Sache berufsmäßig speziell für Euch betriebe; kostet
hier in London 600 bis 1000 Pfund jährlich, und würde Euch
doch nicht die besten Nachrichten aus den Minister- resp[ektive]
Oppoeitionschefkreisen besorgen, aus dem einfachen Grund weil
man diese Art Nachrichten nur dann privilegiert, vor allen
andern, ehe sie Gemeingut geworden, erhält, wenn man den Mit-
teilenden Gegendienste durch Unterstützung und Veröffent-
lichung fertig gesandter Reklameartikel leisten kann. Das kann
*) Zu dieser Verhandlung ist es nicht gekommen. Vergleiche „Arbeiter-
Zeitung" vom 27. Jänner 1895.
Briefe : April 1894 bis Juli 1895 123
aber unsere Presse grade nicht. x\lso in Naclirichten aus offi-
ziellen Kreisen werdet Ihr nie mit den großen Bourgeois-
blättern konkurrieren können, die nicht nur die Quellen mono-
polieieren, sondern auch den Nachrichtendienst auf groß-
industriellem Fuß organisieren können.
Ein Pech ist für Euch daß Ihr Eucli in den ersten Wochen
mit den kleinen Landtager zu begnügen habt, aber der Reichs-
rat fängt ja bald wieder an, und da bekommt Ihr Stoff genug,
und da wird Dein persönliches Eingreifen auch nötig werden.
Die Differenzen im hiesigen Ministerium sind nicht weit
her, was praktische Folgen angeht. Die liberale Regierung um-
faßt soviel Schattierungen als Köpfe. Der Liberalismus ist,
seitdem die große Bourgeoisie und mit ihr die Whigaristokraten
und die Universitätsideologen ins konservative Lager abge-
schwenkt (fing an nach 1848, stieg nach der Reform 1867, wurde
sehr entschieden seit der Homerule bill) vorwiegend ein Sam-
melsurium aller Sekten und Sektenschrullen dieses sektenreichen
Landes. Und da jede einzelne Sekte ihre absonderliche Schrulle
für die einzige Panazee hält — ewig'er Krakeel.
Mächtiger als der Krakeel aber ist die Gewißheit, daß nur
Zusammenhalt nach außen hin sie noch ein paar Monate an der
Regierung halten kann. Und' da ist's reiner Zufall, welche
(Strömung gerade die Oberhand bekommt.
Von den drei Arbeiterblättern, die hier noch bestehen,
habe ich Dir abwechselnd Ex[emplare] geschickt. Da Du den
Clarion im Tausch erhälst, verschone ich Dich mit diesem
in Zukunft. Viel steht ioi allen dreien nicht, es ist aber immer
gut, wenn Du von Zeit zu Zeit eine Nummer zu sehen bekommst.
Der Labour Leader ist ein Vergötterungsinstitut für Keir
Hardie, er ist ein schlauer durchtriebener Schotte, falscher
Biedermann und Klügler ei"ster Klasse, möglicherweise aber
zu schlau un<l zu eitel. Seine Geldquellen, zur Haltung des
Blatts, sind sehr zweifelhafter Natur, was bei der Neuwahl un-
angenehm werden kann.
A propos. Die Donnerstag-Abend-N[umme]r (konfiszierte)
ist in keinem einzigen Ex[emplar] hiehergekommen. Ich
möchte aber doch den Artikel K. M. in Wien*) lesen. Kannst
Du mir nicht noch ein Ex[emplar] besorgen? Übrigens ist es
) „Karl Marx in Wien." (Vergleiche Anmerkungen zu den Briefen
vom 27. Dezember 1894 und 9. Jänner 1895.)
124 Briefe : April 1894 bis Juli 1895
eine namenlose Frechheit, anzuzeigen, die Konfiskation sei
so brillant wirksam gewesen, daß ihr Euch die Kosten einer
zweiten, ganz zwecklosen Ausgabe ersparen könnt. Ihr habt's
grut in Österreich, sage das in Preußen und Du bekommst gleich
drei Umsturzvorlagen an den Kopf.
Wir schicken Dir so oft Interessantes drin steht, Auszüge
aus den Pariser Briefen der Crawford. Ich mache Dich be-
sonders aufmerksam drauf. Sie ist seit über 40 Jahren in Paris,
kennt jede Maus persönlich, hat Dossiers über den Lebens-
lauf aller Politiker, und ist eine gute Beurteilerin von
Charakteren. An Personalkenntnis kommt ihr kein Mensch
in Paris gleich, und daher wirst Du gut tun, auch solche
derartige Artikel, die augenblicklich unverwendbar sind, für
späteres Nachschlagen zurückzulegen. Sie hat noch immer und
alle ihre radikalen und republikanischen Freunde in den
Schmutz der Korruption eintauchen gesehen, und ist dadurch,
Bourgeoise wie sie ist, den Sozialisten merkwürdig zugewandt
worden. Nur von einem läßt sie sich nicht abbriai,gen: daß
J. Guesde ein Schwiegersohn von Marx ist.
Gestern ging Dir wieder ein Auszug ihrer Korres-
p[ondenz] zu.
Louise freut sich besonders über die entschiedene
Zurückweisung- der Frauenvereinspetitionen — siehe Clara
Zetkins Artikel in Donnerstags Vorwärts-Beilage. Clara hat
recht und hat die fest und lang bekämpfte Aufnahme des
Artikels doch durchgesetzt. Bravo Clara!
Gruß von Louise und Ludwig und dem Baby, das immer
vor Vergnügen brüllt wenn die Arbeiter-Zeitung konmit und
Deinem F. E.
63.
Engels an Adlei-*).
London, 16. März 1895.
]Jeber Victor
Hiemit sogleich die verlangte Auskunft. Sombarts Ar-
tikel**) ist recht gut nur leidet seine Auffassung de? Wert-
*) Diesen Brief hat Victor Adler in der Marx-Festnummer des
„Kampf" (I. Jahrgang, Heft 6, März 1908) veröffentlicht. Seine dort gegebene
Erläuterung ist im zweiten x\bschnitt des vorliegenden Heftes unter dem Titel
„Ein Biief an Friedrich Engeb" wiedergegeben (Nr. 73).
**) Werner Sombart „Zur Kritik des ökonomischen Systems von Karl
Marx". Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik. Band VH. S. 555 ff,
Briefe: April 1894 bis Juli 1895 125
gesetzes an einiger Enttäuschung von wegen der Lösung der
Profitratenfrage. Er hatte offenbar auf ein Wunder gerechnet,
und findet statt dessen das einfach Rationelle, das alles nur
nicht wundertätig ist. Daher seine Reduktion der Bedeutung
des Wertgesetzes auf Durchsetzung der Produktivkraft der
Arbeit als entscheidender ökon[omischer] Macht. Das ist viel zu
allgemein und unbestimmt. — Sehr gut ist der Art[ikel] vom
kleinen Konrad Schmidt im Soz[ial]pol[itisohen] Zentral-
blatt*). E. Bernsteins Art[ikel]**) waren sehr konfus, der
Mann ist noch immer neurasthenisch und dabei schmählich
überarbeitet, hat zuviel Verschiedenes in der Hand, ließ die
Sache liegen, und wurde dann plötzlich von K. K.***) um den
Artikel getreten.
Da Du im Loch Kapital II und III ochsen willst so will
ich Dir zur Erleichterung einige Winke geben.
Buch IL Abschnitt I. Lies Kap[itell 1 gründlich, dann
kannst Du 2. und 3. Kap[itel] leichter nehmen, Kap[itel] 4
wieder als Resümee genauer; 5. und 6. sind leicht und beson-
ders 6. behandelt nebensächliches.
Abschnitt IL Kap[itel] 7 — 9 wichtig. Besonders wichtig
10. und 11. Ebenso 12., 13., 14. Dagegen 15., 16., 17. zunächst
nur für kursorische Lektüre.
Abschnitt III. Ist eine ganz ausgezeichnete Darstellung
des hier seit den Physiokraten zum erstenmal behandelten
Gesamtkreislaufs von Waren und Geld in der kapitalist[ischen]
Gesellschaft — ausgezeichnet dem Inhalt nach, aber furchtbar
schwerfällig der Form nach, weil 1. zusammengeflickt aus zwei
Bearbeitungen die nach zwei verschiedenen Methoden ver-
fahren, und 3. weil Bearbeitung Nr. 2 in einem Krankheits-
zustand gewaltsam zu Ende geführt wurde, wo das Hirn an
chronischer Schlaflosigkeit litt. Das würde ich mir auf-
bewahren bis ganz zuletzt, nach erster Durcharbeit
von Buch III. Es ist auch für Deine Arbeit noch am ersten
entbehrlich.
*) Konrad Schmidt „Der dritte Band des Kapital". ..Sozialpolitisches
Zentralblatt", Band IV, Seite 255 ff. — Vergleiche hiezu auch Fr. Engels
letzte Arbeit: „Ergänzung und Nachtrag zum dritten Buch des „Kapital".
„Neue Zeit". XIV/1, Seite Hf.
**) Eduard Bernstein: ,,Der dritte Band des Kapital". ..Neue Zeit",
XIII/1, Seite 333 ff.
***) Karl Ka.utsky.
126 Briefe : April 1894 bis Juli 1895
Dann das dritte Buch.
Hier ist wichtig: Im I. Abschnitt, Kap[itel] 1 — 4,
dagegen für den allgemeinen Zusammenhang weniger
wichtig, also zunächst nicht viel Zeit darauf zu verwenden,
Kap[itel] 5, 6, 7.
Abschnitt II. Sehr wichtig Kap[itel] 8, 9, 10. Kursoriisch
ZV. behandeln 11 und 12.
Abschnitt III. Sehr wichtig, alles, 13 — 15.
Abschnitt IV. Ebenfalls sehr wichtig, aber auch leicht
zu lesen 16 — 20.
Abschnitt V. Sehr wichtig Kap[Ltel] 21—27. Weniger
Kap[itel] 28. Wichtig Kap[itel] 29. Im ganzen unwichtig für
Deine Zwecke Kap[itel] 30 — 32, wichtig sobald es sich um
Papiergeld etc. handelt, 33 und 34, über internationalen
Wechselkurs wichtig 35, sehr interessant für Dich
und leicht zu lesen 36.
Abschnitt VI. Grundrente. 37 und 38 wichtig. Weniger,
aber doch mitzunehmen 39 und 40. Mehr zu vernachlässigen
41 — 43. (Differentialrente II, Einzelfälle). 44 — 47 wieder
wichtig und' meist auch leicht zu lesen.
Abschnitt VII sehr schön, leider torso und obendrein
auch mit starken Spuren von Schlaflosigkeit.
So, wenn Du hiernach die Hauptsache gründliich 'und das
weniger wichtige zunächst oberflächlich durchnimmst (am
besten vorher die Hauptsachen aus Bd I nochmals zu lesen)
so wirst Du einen Überblick über das Ganze bekommen und
nachher die vernaohlä;ssigten Stellen auch leichter verarbeiten.
Deine Nachrichten über das Blatt haben uns sehr gefreut.
Die politische Wirkung- ist die Hauptsache, die finan-
zielle folgt schon und wird sehr erleichtert und beschleunigt
sobald jene gesichert. Ich sehe mit Vergnügen Deine Hand in
den Wahlreformnotizen der ersten Seite — da liegt das fulcrum
für die entscheidende Wirkung.
Ich bin wieder ein bischen lahm von wegen der alten
Geschichte, die periodisch, besonders im Frühjahr mich etwas
plagt, doch ist's weniger als früher und leichter, in ca
14 Tagen denk ich ist's vorbei, ohne daß ich wie 93 und 94
Seeluft brauchen muß.
Die hiesige Bewegung- resümiert sich dahin: In den
Massen geht der instinktmäßige Fortschritt seinen Gang, die
Briefe : April 1894 bis Juli 1895 127
Tendenz wii-d einf^ehalten ; sowie es aber dahin kommt,
diesen Instinkt und dieser triebmäßigen Tendenz bewußten
Ausdruck zu geben, geschieht dies durch die Sektenführer in
einer so dummen und bornierten Weise, daß man rechts und
links Ohrfeigen austeilen möchte. Aber dies ist nun einmal die
richtige angelsächsische Methode.
Viele Grüße Dein F. E.
64.
Adler an Engels.
Bezirksarrest Eudolfsheim. 15./6. 1895.
Lieber Generali
In wenigen Tagen ist meine Haft abgesessen. Dank
meinem Entchluß, einmal auch mir zu leben und aller^
,, Zeitliche'' für ein paar Wochen abzuschütteln, ist mir die 2eit
vom 18. Mai bis jetzt zu einer so genußreiehen und ersprieß-
lichen geworden, wie keine andere seit vielen, vielen Jahren.
Ich habe Kapital II und III ganz durchgearbeitet und fast
ganz den I. Band und „Zur Kritik"' repetiert. Ich gestehe, daß
insbesondere in II mir mitunter der Atem ausging, aber III
entschädigt reichlich. Der III. Abschnitt gab mir das Gefühl
des Rausches, wie ihn der Ausblick auf einem mühsam erreichten
Berggipfel gibt, wo man plötzlich sieht, we man gegangen
und warum. Auf die Gefahr hin, daß Du mich im Verdacht
hast, die Einsamkeit habe mich überschnappen gemacht, muß
ich Dir erzählen, wie der Eindruck der Erhabenheit
alles Andere überwog. Und Marx selbst hat in diesem
Gefühle geschrieben, das zeigt die wahrhaft sieghafte
Sprache, in der alle die abschließenden Stücke geschrieben
sind. Selbstverständlich wird durch den II. und III. Band
das Verhältnis zum I. ein ganz anderes. Jedes ^System ist ein
geschlossener Ring, und wer es darlegt muß ihn an einem
Punkt öffnen ; begriffen wird es erst, wenn der Ring wieder
geschlossen ist. — Wie Alle, habe auch ich die Lücken, die
Wiederholungen, die abgerissenen Gedankenfäden schmerzlich
empfunden. Und doch gebe ich Dir nun, nachdem ich durch
bin, ganz recht, daß Du getreu wie<lergogeben, was Du
gefunden, ohne viel abzuschleifen, zu feilen und wegzulaseen,
sondern nur mit treuer, liebender Hand verbunden hast, was
128 Briefe : April 1894 bis Juli 1895
zerriösen dalag. Abgesehen davon, daß wir literarisch genommen
ein Recht an dem ungekürzten Text haben, ist es ein Ersatz
für den Mangel an Vollendung und Rundung, daß wir in die
Arbeitsmethode und Denkmetho<le des Mannes hineinsehen,
sehen, wie er mit seinem Stoffe ringt, die Gedanken gleichsam
in statu nascendi überkommen. Dieses intime Interesse am
Denker entschädigt für den Mangel an Rundung des Gedanken-
ganges und es kommt noch eines dazu: der Dank für den, der
in unerhörter, beispielloser Selbstlosigkeit das Riesenwerk
hingestellt und rekonstruiert. Dieses persönliche Element
machte auf mich wiederholt einen geradezu rührenden Ein-
druck; man spürt nicht nur den Mitarbeiter, man spürt den
Freund.
Was die Welt, was die Bewegung' Dir an Dank schuldet,
wird sie Dir oft noch sagen; ich will Dir nur als Mensch, als
einzelner herzlich danken für das, was ich persönlich durch
Deine Arbeit gewonnen.
Nun freilich kommt auch gleich eine Aufgabe oder
eigentlich deren zwei. Erstens für die Wissenschaft: ist jetzt
m[eines] E[rachtens] neben und auf Grund von les Oeuvres de
K. M. darzustellen „Foeuvre" de K. M., eine geschichtliche
Darstellung seiner Leistung zu geben. Wer das machen wird?
Du hast andere Dinge noch in Fülle zu tun, die nur Du leisten
kannst, und von den unsern scheint mir Ede zu viel Detaillist
und Karl steckt in der Historie. Schmidt kenne ich zu wenig,
um ihn beurteilen zu können. Aber einer wird drangehen
müssen, freilich nicht gleich. Denn Zeit wird jeder brauchen
bis er das Ganze assimiliert hat. Dann aber zweitens, was
mir weit mehr am Herzen liegt: wie nun den Inhalt des
Ganzen dem Proletariat zum Bewußtsein bringen, wenigstens
in dem Grade, wie es der I. Band besitzt? Das ist noch weit
schwerer. Das Beste und Wichtigste hast Du in „Utopie z[ur]
Wissensch[aft]'' geleistet, aber Du hast es mit einer Diskre-
tion, ich kann es nicht anders nennen, getan, für die jetzt der
Grund weggefallen ist. Aber wer ist reich genug, um die
Tausendpfundnote auf Kleingeld zu wechseln? Karl hat mit
dem I. Band m[eines] E[rachtens] sein Ziel nicht erreicht und
obwohl er seitdem gelernt hat, sehr populär zu reden (Erf.
Progr.), so kann ich das Gefühl nicht loswerden dabei, daß er
sich die Herablassung zum gemeinen, unstudierten Volke zu
Briefe : Apri] 1894 bis Juli 1895 129
^ehr merken läßt. Das ist aber nun nicht anders und er wiid
v;ohl dran müssen.
Daß Sombart an einem KarJ Marx arbeilet, weißt Du
wohl schon? Was es werden eoll, ob Darstellung oder Kritik,
weiß ich nicht. Von den Kathedermenschen ist er wohl der
einzige, der dazu berufen ist.
Für mich beginnt natürlich jetzt erst die Arbeit des Ver-
dauens. Ich hatte zu kämpfen genug, um durchzukommen, da
ich nicht nur kurzatmig bin in der Abstraktion, sondern mir in
Kredit und Banksachen die elementarsten Vorkenntnisee
fehlen. Aber jetzt will ich das nachholen und hoffe bald festen
Boden unter den Füßen zu haben. —
Politisch steht's bei uns vortrefflich. Nicht nur ist
irgendeine Sorte von Wahlrecht errungen, sondern die
Koalition, jenes System, daß immer zu fürchten war als eine
der echwersten Gefahren, hat sich daran zu Tode gestrampelt.
Das Ministerium wird nächstens fliegen; da man sich bei uns
wie die polnischeii Juden immer mit der rechten Fland ans
linke Ohr greift, natürlich nicht über die Wahlreform,
sondern über irgendeinen nationalen Dreck. Aber sie sind
fertig und alle bürgerlichen Parteien haben ebenso an
Ansehen eingebüßt, wie wir gewonnen haben. Die Wahlreforra
des Subkoraitece mit ihren schäbigen Unmöglichkeiten hat das
Gute, daß sie die Antisemiten und ihre „Demokratie"
demaskiert hat. Was für ein Wahlrecht wir kriegen? Wahr-
scheinlich Taaffe, im schlimmsten Falle eine ungeteilte
fünfte Kurie. Jedenfalls kriegen wir mehr Mandate, als wir
anständig besetzen können und das macht mir die meisten
Sorgen. Dadurch, daß wir wenig wirklich tüchtige Leute haben,
kommen die Jüngels, die sich uns anhängen und von sich reden
machen, obenauf. Die Kerls können „sich räuspern und
spucken", drängen manche brave Arbeiter, die alles können,
nur nicht kunstgerecht ,, spucken", in den Hintergrund. Doch
vertraue ich auf die Gesundheit unserer Leute und daß sie
ihnen, wenn's zum Klappen kommt, den Weg weisen. An
mir soll'ß nicht fehlen, ich bin ohnehin schon berüchtigt als
Massenmörder der ,, Intelligenzen".
Das Blatt geht gut und, wenn Du es liest, wirst Du
sagen müssen, daß ee auch während meiner Haft nicht schlechter
war, wie sonst. Ich bin geradezu stolz darauf, daß ich mich
130 Briefe : April 1894 bis Juli 1895
fast überflüssig gemacht habe. Ich sage — fast, denn es hapert
schon manches und es wird gut sein, wenn [ich] wieder die
Zügel in die Hand nehme. Aber idie Tradition ist geschaffen und
dann habe ich das ungeheure Glück gehabt, einen Redakteur
zu finden von seltener Tüchtigkeit und unerhörter Arbeits-
kraft: A u s t e r 1 i t z, merk Dir den Xamen, der Mann wird
von sich reden machen. Bis zum ersten Jänner war er Buch-
halter und Geschäftsführer in einem Exporthaus; nebenbei
Organisator der Wiener Handlungsgehilfen. Er hat noch ein
wenig den Literaten in den Knochen, aber er ist ein braver Kerl
und wie gesagt eine phänomenale Arbeitskraft. Sonst klappt
freilich noch nicht alles, aber es wird hoffentlich werden.
Jedenfalls haben wir es in den paar Monaten zu einem Blatte
gebracht, das überall und von allen ernstgenommen wird, sogar
von den Inserenten, den Geschäftsleuten. Zum Herljst hoffen
wir drei Seiten Inserate an Wochentagen zu haben und sind
dann mit 12 Seiten im ganzen redaktionell und finanziell au<
dem Wasser.
Von Dir höre ich seit langem kein Wort, selbst Luise ist
offenbar ganz Mutter geworden und schreibt nichts.
Hoffentlich geht's Euch allen gut. Offenbar denkt Ihr schon an
die seaside?*) Wenn ich nur loskönnte, das ist meine Privat-
utopie, ein paar 'Wochen mit Dir an der See! Xun, wird's nicht
heuer, so übers Jahr, wenn der Kongreß tagi; ; der wdrd wohl
etwas ledern werden, fürchte ich.
Na, jetzt habe ich aber genug von Deiner Zeit genommen;
lies den Brief in Fortsetzungen auf Raten (für die Warnung
iet der Schluß ein gut gewählter Ort.) Wenn Du Zeit findest,
mir eine Zeile zu schreiben, wie Dein Befinden ist, und was
Du treibst, so tue es ja!
Grüße L. L. u. L. und sei herzlich gegrüßt
von Deinem V. Adler.
W^ann icli den Brief hinausschwärzen kann, weiß ich
nicht. Ich kriege zwar Besuche, aber neuestens sieht man mir
auf die Finger. Die Trottel bilden sich nämlich fest ein, ich
arrangiere von hier alle Demonstrationen, und ich bin stolz
darauf, daß alles ohne mich so am Schnürl geht ! !
'') Meeresküste. , . . .
Briefe : April 1894 bis Juli 1895 131
65.
Adler an Engels.
Wien, am 13./7. 1895.
Lieber Engels!
Soeben wurde entschieden, daß ich im Laufe nächster
Woche einen Urlaub von ca. 14 Tagen antreten kann. Xun
möchte [ich] diese Zeit dazu benützen, um Dich in Eastbourne
aufzusuchen. N'eben dem Wunsch, Dich wieder einmal zu
sehen und mit Dir zu sprechen, habe ich nocli als Parteimensch
sehr triftigen Grund Deinen Eat einzuholen, und zwar aus-
führlicher als das schriftlich möglich ist. Wir werden im Herbste
entweder vor Wahlen stehen oder vor einer entscheidenden
Parteiaktion, die nach allen Seiten überlegt sein will. Und
w^enn es Wahlen — mit unserer Beteiligung — gibt, werden
wir sehr große Schwierigkeiten zu überwinden haben innerhalb
der Partei, insbesondere was das Verhältnis zu Tschechen und
Polen angeht. Ich möchte nun nicht einen Plan fassen ohne
Deinen Eat — wenn es Dir also nicht sehr ungelegen ist, so
hoffe ich Dich in kurzer Zeit zu sehen*). Bis dahin grüßt Dich,
und falls sie bei Dir sind Freybergers herzlich
Dein getreuer Dr. V. Adler,
loh schreibe nach London, da ich Dein^e Eastbourner
Adresse nicht weiß.
*) Engels war im März 189.5 an einem Krebsleiden erltrankt, das,
von der Speiseröhre ausgehend, rasch um sich griff. Der Arzt von Engels,
Dr. Freyberger, verständigte Viktor Adler über die ernste Gefahr, von der
Engels selbst nichts wußte. Adler entschloß sich, nach England zu fahren,
um den verehrten Freund, wie er mit Sicherheit wußte, zum letztenmal
zu sehen. Um ihn nicht etwa durch diesen Besuch auf die Gefahr aufmerksam
zu machen, in der er schwebte, schrieb Adler obigen Brief, der der letzte
war, den er an ihn richtete. Viktor Adler blieb bis 3. August bei Engels,
der die letzten Tage das Bewußtsein schon vollkommen verloren hatte.
Adler sah, daß das Ende unmittelbar bevorstand, aber er konnte seinen
Aufenthalt in England nicht länger ausdehnen. Als er nach Österreich
zurückgekehrt war. traf das Telegramm ein, daß Friedrich Engels am
5. August gestorben sei.
IL Aufsätze und Reden Adlers
nach Engels Tod.
Friedrich Engels 135
66.
„Arbeiter-Zeitung." 11. August 1895.
Friedrich Engels.
Wien, 10. August.
Heute bestatten sie in London den besten Mann der Sozial-
demokratie, und nun gilt es Abschied nehmen. Noch scheint
es unfaßbar, daß wir ihn verloren, daß wir seinem Wort nun
nicht mehr lauschen sollen, daß wir ohne seinen Rat uns behelfea
anüesen. So sehr wir unseren Verlust betrauern, noch könneii
wir ihn nicht ermessen.
Wir haben uns den Verlauf seines reichen Lebens ins Ge-
dächtnis gerufen und damit die Geschichte des revolutionären
Proletariats seit fünfzig Jahren. Wir haben die Reihe seiner
Schriften überechaut und damit die Umwälzung im Denken
unseres Jahrhunderts. Und doch ist damit nicht erschöpft, was
i^v uns war. Uns Jüngeren, die wir Karl Marx nicht mehr ge-
kannt, uns bindet an Friedrich Engels die Liebe für den Lehrer,
die Dankbarkeit für das Vorbild. Was er geleistet, liegt offen
zutage und iet unvergänglich; nur die das Glück hatten, ihm
nakezustehen, wiss-en, was er gewesen, und er ist unersetzlich.
Zum Lehrer befähigte Engels vor allem seine Universalität,
•die unerhört ist in der Zeit der Spezialitäten und der Fach-
simpelei. Er war ein Polyhistor im besten Sinne des Wortes,
ein vieles Wissender. Auf die Grundlage einer tiefen philo-
sophischen Schulung baute er die Kenntnis nicht nur der
Ökonomie, sondern auch der Geechichte in ihrem ganzen
I'^mfang, insbesondere auch die der vergleichenden Sprach;^
Wissenschaft und der Naturwissenschaft. Dabei besaß er da«
ganze praktische Rüstzeug des modernen Kaufmanne und
Fabrikanten. Oft rühmte er sich lachend, er sei stolz darauf, in
seinem ganzen Leben keine Prüfung bestanden zu haben. Aber
wie verstand der Mann zu lernen! Als er dem Joche des
136 Friedrich Engels
Comptöirs in Manchester entfliehen konnte, war seine erste
Sorge eine vollständige ., mathematische und naturwissen-
schaftliche Mauserung", und den besten Teil von acht Jahren
verwendete er darauf. Marx wollte dem Abschnitt über Grund-
rente die russischen Verhältnißse des Grundbesitzes zugrunde
legen, wie im Buch I des „Kapital" die industrielle Lohnarbeit
in England. Engels lernt russisch und hilft seinem Freunde die
umfangreichen Quellen exzerpieren. Noch im vorigen Jahr
vertiefte er sich in die Geschichte des Urchristentumß — ein
Aufsatz in der „Neuen Zeit" zeugt davon — und nimmt die
ganze neuere Literatur darüber durch. Wenige Monate vor
seinem Tode bemerkt er, daß er des genialen Meynert For-
schungen über Leben und Leistung der Gehirnrinde nur aus
zweiter Hand kenne, und studiert in einem Zuge seine Haupt-
werke durch. Das alles zu einer Zeit, wo ihn die Herauegabe des
dritten Bandes des „Kapital" voll in Anspruch nahm.
Nur wer so lernen konnte, vermochte ein Lehrer wie
Engels zu sein. Der Sozialismus im Sinne von Marx und Engels
ist nicht eine ökonomische Doktrin, er ist eine Weltanschauung.
Die Bewegung des revolutionären Proletariats ist nur ein Teil
der Umwälzung der Gehirne, die unser Jahrhundert zu einem
Zeitalter der Eevolution macht. Aber den Zusammenhang
festzuhalten, wird schwer für den, der im Gewühl des täglichen
Kampfes steht. Engels war ee, der uns lehrte, zusammen-
zufassen, das Gesamtbild der Entwicklung festzuhalten, jeden
Fortschritt auf allen Wissensgebieten einzureihen und fruchtbar
zu machen. Der Mann, der schreiben durfte: „Wir deutschen
Sozialisten sind stolz darauf, daß wir abstammen nicht nur von
Saint-Simon, Fourier und Owen, sondern auch von Kant,
Fichte und Hegel", ihm verdanken wir es als Partei wie als
einzelne, daß die Sozialdemokratie sich die Partei der Wissen-
schaft nennen darf.
Aber noch in einem anderen Sinne kam die Universalität
von Engels uns zugute. JTnsere Bewegung ist international, das
will aber keineewegs heißen, daß sie gleichmäßig in Form und
Tempo in allen Ländern vorrückt. Sie ist weit hinausgewachsen
über die Möglichkeit, durch einen Bund, wie die alte „Inter-
nationale" war, geleitet zu werden. Die Verständigung
zwischen den Bruderparteien der einzelnen Länder ist jedoch
notwendiger als je, aber freilich schwerer als je geworden,.
Friedrich Engels 137
seitdem die proletarische Revolution aus einer Vorstellung-
und einem Wunsche in den Köpfen einzelner zur Tatsache
und Massenbewegung geworden ist. Denn die Verständigung
hat zur Voraussetzung das Verständnis, die Kenntnis der
besonderen Bedingungen der Bewegung in jedem einzelnen
Lande. Jeder unserer internationalen Kongresee, und führe
er nur Fachgenossen zusammen, lehrt, wie viel das sagen will.
I>a war nun die genaue Kenntnis der Dinge und Personen in
jedem einzelnen Lande, über die Engels verfügte, unschätzbar.
Nicht als ob sein Urteil maßgebend in dem Sinne gewesen wäre,
■daß eich ihm alle fügten oder als ob er das auch nur je
beansprucht hätte. Aber aufklärend hat er stets eingegriffen,
und auch wo er uns nicht überzeugen konnte, hat er uns stets
l^elehrt. Er hat uns einander verstehen gelehrt und dadurch
zusammengeführt und zusammengehalten. Denn neben seiner
Wissenschaft besaß er auch Kunst in seltenem Grade. Es war
ihm gegeben, aufzuhellen, klarzumachen, was dunkel und
verworren schien. Jedes Gespräch mit ihm, jeder seiner Briefe
über politische Dinge brachte Licht. Der glühende Wunsch,
das Ziel, die Befreiung des Proletariats zu sehen, verleitete ihn
mitunter zu sanguiniechen Prophezeiungen auf Jahrzehnte
hinaus, worüber dann die Gegner spöttelten. Aber derselbe
Mann mit der Hoffnungsfreudigkeit des Jünglings war
nüchtern und kaltblütig, so wie es sich um Entscheidungen
handelte. Sein Sinn für Tatsachen ließ ihn seine „Lage der
arbeitenden Klasee in England" schreiben, zwanzig Jahre bevor
die deutschen Professoren der Nationalökonomie entdeckten, es
sei nützlich, die Dinge zu kennen, von denen man spricht, und
die „historische Methode'' erfanden. Was sie aber nicht von ihm
lernten und nicht lernen dürften, war die Grundanschauung,
daß die politischen Machtverhältnisse sich ableiten von den
ökonomischen. iSie bringen nun Material herbei in Scheffeln,
aber sie wissen damit nichts anzufangen. Für ihn aber gewann
jede Tatsache Leben, sie war ihm nicht nur eine Wirkung,
sondern auch eine L^rsache. Es hat niemals einen konkreteren,
sachlicheren Denker gegeben. Darum haßte er nichte so sehr
als die hohle Phrase, und wer dem begreiflichen Hang erlag, die
Ereignisse optimistisch auszudeuten, war ihm nicht nur Schön-
färber, er nannte ihn kurzweg „Lügner". Unaufhörlich zwang
er uns, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, und je bitterer sie
138 Friedrich Engels
war, um so feeter. Vor keiner Gefahr warnte er eifriger als vor
der Selbsttäuschung, und wen er über Deklamation ertappte^
der konnte seine herzerfrischende, wackere Grobheit zu spüren
bekommen. Gerade nach dieser Seite war es schwer, sein
Vertrauen zu erringen; wer es aber einmal besaß, der konnte
sicher auf ihn rechnen. Verschwenderißch stellte er nicht nur
seine Erfahrung und sein Wissen, sondern auch seine Zeit zur
Verfügung. Er gehörte zu den Leuten, die noch Briefe
schrieben; sie sind im Aussterben, und der Nachwuchs muß mit
seinem spärlichen Gute knausern und geizt sich jedes Wort ab
für die Druckerpresse. Die Korrespondenz von Engels war
enorm; er schrieb nicht nur fließend deutsch, französisch,,
englisch, italienisch und spanisch, sondern, wenn es sein mußte,
auch schwedisch und russisch. Und wie schrieb er! Wenn einmal
die Korrespondenz zwischen Marx und Engels veröffentlicht i.<t,
wird man die beiden von einer ganz neuen Seite kennen lernen.
Engels schrieb in feinen, fast zierlichen Zügen und im Stil sa
sorgfältig wie für den Druck, wie ihm überhaupt jede Schlam-
perei fremd war. Niemand konnte entfernter sein als er von der
Pose würdevoller Steifheit, aber stramm war er in allen Dingen
und jederzeit.
Engels verfolgte natürlich mit größtem Eifer die
Bewegung in allen Ländern, und das Parteiblatt mußte schoa
die reine Scherenarbeit sein, das er nicht wenig'stens durchflog.
Und das will was sagen, wenn man bedenkt, daß ihm jede Post
Berge von Zeitungen auf den Tisch warf. Für die österreichische
Bewegung interessierte er sich ganz besonders, und wir können
es mit Stolz sagen, er hielt große Stücke auf die österreichieciie
Sozialdemokratie und setzte große Hoffnungen auf sie. Ganz
regelmäßig las er unsere Zeitungen, nicht nur die deutschen,
sondern auch die tschechischen, und war in erstaunlicher Wei^e
über alle Einzelheiten unterrichtet, eine Kenntnis, die allerdings
auch durch die Genossin Louise Kautsky-Freyberger vermittelt
wurde, die sein Hauswesen seit fünf Jahren führte und seine
aufopfernde Pflegerin war, als ihn die tückische Krankheit
packte.
Sein schweres Leiden trug er mit iStoizismus, ja mit
Humor. Wenn ihm auch bis zuletzt verborgen blieb, daß er
unrettbar verloren sei, so wußte er sich doch längst in Lebens-
gefahr und ordnete alles mit größter Ruhe. Er war ruhig, denn.
Friedrich Engels 139
was er für sein Lebenswerk hielt, die Herausgabe des dritten
Bandes vom „Kapital", hatte er vollendet.
Damit berühren wir eine der merkwürdigsten Seiten des
merkwürdigen Mannes. Was ihn an Karl Marx feseelte, war
anderes und noch mehr als hingehendste, zarteste Freundschaft:
seine ganze Persönlichkeit unterordnete er dem Zweck, dem
Genius von Marx den Weg zu bereiten. Er sah in sich selber nur
den Helfer dee großen Denkers, und seine Selbstverleugnung
äußerte sich auch darin, daß ihm nichts mehr am Herzen lag,
als seinen eigenen Anteil an dem gemeinsamen Werke so
gering als möglich erscheinen zu lassen, wahrscheinlich geringer,
als er in Wirklichkeit war. Freilich war eine Abgrenzung der
Leistung der beiden Freunde nicht einmal ihnen selbst möglich.
Aber Engels ging weiter; mit einer Selbstlosigkeit ohnegleichen
stellte er seit dem Tode von Marx seine eigene Arbeit völlig
zurück und widmete sich der unsäglich mühevollen Heraus-
gabe von dessen Nachlaß. Und wie hat er die Riesenarbeit ge-
macht! Wer leeen kann, der findet die Spuren der Liebe, der
Hewunderung und Verehrung für den Toten in seiner Aus-
gabe vom zweiten und dritten Band des ,, Kapital". Nicht nur
der Mann der Wissenschaft, die zarte Hand de> Freundes hat
da gewaltet.
Friedrich Engels war ein Mann aus einem Stück. Der Ge-
lehrte, der Kämpfer, der ^lensch, das waren nicht getrennte
Seiten seines W^eeens, es war ein Ganzes, eine ebenso mächtige
wie bezaubernde Persönlichkeit. Höchste Bildung, energischestes
Wollen vereinigten sich in ihm. Dabei war sein Wesen schlicTit,
man möchte sagen : er hatte nicht Enthusiasmue, aber Leiden-
schaft.
Er wird uns fehlen überall, beim Rat, wie bei der Tat,
und lange werden wir uns wie verwaist fühlen. Aber wenn die
brennende Wunde vernarbt sein wird, bei jedem Schritt, den das
revolutionäre Proletariat tut, wird sein Name auf unser aller
Lippen schweben. Wie Karl Marx der größte Theoretiker, so
war Friedrich Engels der größte Taktiker der internationalen
Sozialdemokratie. Großen ^Eännern gegenüber gibt ec nur eine
Art von Dankbarkeit: von ihnen zu lernen und ihnen zu folgen.
J >as Proletariat aller Länder wird verstehen, dankbar zu sein.
]hr Denkmal wird die Befreiung der Arbeiterklasse sein.
V. a.
140 Genosse Leo Frankel
67.
„Arbeiler-Z^itung." • 31. März J896.
Genosse Leo Frankel
ist nach langer Krankheit vorgestern im Spital Laribrisiere zn
Paris gestorben. Er lag zwei Monate an einem schweren Lungen-
abszeß darnieder, und schon ließen günstigere I^achrichten seine
Genesung hoffen, da uns die Drahtnachricht von seinem Tode
schmerzlich enttäuscht. Leo Frankel war einer von der alten
Garde der Internationale. Am 28. Februar 1844 in Budape.-^t
geboren, wurde er Goldarbeitergehilfe und wanderte einige
Jahre in Österreich und Deutschland. Etwa 23 Jahre alt, kam
er nach Frankreich, und dem Sozialismus mit Leib und Seele
ergeben, beteiligte er sich an der Gründung der Lyoner Sektion
der Internationale. Knapp vor dem Sturze Napoleons im Juli
1870 wurde er wegen „Beteiligung an geheimen Gesellschaften'^
zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt, und die Proklamierung
der Republik befreite ihn aus dem Kerker. Er genoß, obwohl
er Ausländer war, in dem Grade das Vertrauen der Pariser
Arbeiter, daß er beim Ausbruch des Commune-Aufstandes am
26. März 1871 zum Mitglied des Ausschusses gewählt und zum
Delegue au Travail, etwa „Arbeitsminister", ernannt wurde.
Von ihm stammen die zahlreichen ^ ebenso klug durchdachten
wie energischen Dekrete, die mitten im Waffenlärm den Ar-
beiterschutz in Paris weiter förderten als jahrelange parla-
mentarische Quälereien. Als die Commune zusammenbrach,
gelang es ihm als einem der letzten, mit einem Verwundeteu-
transport, in den Mantel eines bayrischen Dragoners gehüllt,
durch die feindlichen Linien zu kommen und nach England zu
flüchten. Dort wurde er von Marx und Engels wie ein
alter Freund in die Familie aufgenommen und verdankte
ihrem intimen Umgang eine tiefe theoretische Ausbildung.
Dieser Proletarier war eine wahre Gelehrtennatur, unermüd-
lich im Studium, gewissenhaft, nüchtern, der Phrase abgeneigt
bis zur Trockenheit. Dabei aber war Leo Frankel ein prakti-
scher Organisator und ein unermüdlicher Agitator. In London
war er Mitglied des Generalrates der Internationale und korre-
spondierender Sekretär für Österreich-Ungarn. Im Jahre 1871
kehrte er nach Ungarn zurück, und seiner Tätigkeit zumeist
ist es zu danken gewesen, daß die ungarländische Arbeiter-
Bleanor Marx-Aveling tot 141
partei sich rasch entwickelte und in der „Arbeiter-Wochen-
chronik" ein tapferes, nach den Grundsätzen des wissenschaft-
lichen Sozialismus geleitetes Blatt bekam. Wegen eines Preß-
vergehens saß er achtzehn Monate im Gefängnis und kam dann
auf kurze Zeit nach Wien. Aber seine Sehnsucht zog ihn nach
Paris zurück, wo er seit 1889 lebte. Zuletzt haben wirLeoFrankel
auf dem ititernationalen Kongreß in Zürich 1893 gesehen, und
nichts ließ idamals aihnen, daß der Mann, der in vier Sprachen
mit dem größten Eifer alle prinzipiellen und praktischen
Fragen erörterte, der von Engels als sein „lieber Junge" be-
g:rüßt wurde, dem Alten so bald ins Grab nachfolgen werde.
Die „Arbeiter-Zeitung" verliert an Leo Frankel einen treuen
Mitarbeiter, der in den Zeiten der „Gleichheit" Beiträge
theoretischen Inhaltes lieferte, von Paris aus Korrespondenzen
schrieb, die sich durch ihre absolute Verläßlichkeit und' Gründ-
lichkeit auszeichneten. Wer ihn kannte, hat ihn geliebt, den
alten Communard, der weich und gut war wie ein Kind, aber
in dem eine Heldenseele stürmte, wenn es den Kampf galt
gegen die Tyrannei des Kapitalismus. Ehre seinem Andenken!
68.
,, Arbeiter-Zeitung." 4. April 1898.
Eleanor Marx-Aveling tot.
Eine Trauernachrioht aus London erreicht uns mit be-
dauerlicher Verzögerung. Freitag wurde die Genossin Eleanor
Marx-Aveling tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Während
ihr Mann vom Hause abwesend war, scheint sie Blausäure ge-
nommen zu haben. Nichts Näheres ist noch über die Motive
ihrer Tat bekannt. Man telegraphiert uns, sie habe unter dem
Einfluß tiefer geistiger Depression ihrem Leben ein Ende
gemacht, aber ob es eich um einen akut eingetretenen Zu-
sammenbruch oder um einen langsam heranschleichenden Er-
schöpfungszustand gehandelt hat, wissen wir bisher nioht'. Daß
alle näheren Nachrichten fehlen, erklärt sich zum Teil daraus,
daß ihr Mann Dr. Edward Aveling noch Rekonvaleszent nach
einer schweren Krankheit ist, wegen der er sich mehrfachen
lebensgefährlichen Operationen unterziehen mußte. Gewiß hat
auch die Aufregung und' Angst um das Leben des geliebten
142 Eleanor Marx-Aveling tot
Mannes, die Überanstrengung in der Krankenpflege das
tragische Ende Eleanors beschleunigt*).
Eleanor Marx-Aveling, die jüngste Tochter von
Karl Marx, sein Lieblingskind, war eine der bedeutendsten
und sympathischesten Gestalten der neueren Internationale.
Im Jahre 1855 geboren, zei^e sie sehr bald eine außerordent-
liche Begabung. Wie ihr Vater, sprach und schrieb sie deutsch,
englisch und französisch gleich vollkommen. Schon als junges
Mädchen konnte sie dem altwerdenden Vater als Hilfs-
arbeiterin zur Seite stehen. T u s s y, wie sie die Freunde
nannten, begleitete ihn auf allen Reisen, war auch 1874 und
1876 mit ihm in Karlsbad und war nicht nur seine Pflegerin,
sondern auch sein Sekretär. Die beiden anderen Schwestern
waren in Frankreich, Jenny an L o n g u e t, Laura an
Lafargue verheiratet, und so blieb sie allein dem Vater
nahe bis an sein Ende. Ihren eisernen, hingebungsvollen Fleiß
widmete sie dem Lebenswerke von Marx. So hat sie, um ein
Beispiel zu nennen, für die englische Übersetzung de&
., Kapital", die Sam Moore und Aveling besorgten, sämtliche
vielen Hunderte von Zitaten, die das Werk enthält, nach den
Quellen kontrolliert. Aber Eleanor entfaltete bald auch eine
energische und erfolgreiche Tätigkeit auf dem Gebiete der
Agitation und Organisation. Sie war die Begründerin einer
der größten neuen Gewerkschaften, der Gasarbeiter- und Tag-
löhiierunion, und der Erfolg dieser Organisation verhalf dem
Prinzip, die ungelernten Arbeiter einzubeziehen, zum Durcli-
bruch. Aber nicht nur bei den Gasarbeitern war sie unermüd-
lich tätig, sie durchzog ganz England und war eine der hervor-
ragendsten Agitationskräfte der englischen x\rbeiterbewegung-
sowohl auf gewerkschaftlichem als auf politischem Gebiete.
Eine ganze Anzahl der jüngeren englischen Genossen, die heute
im Vordergrund stehen, nennen sich ihre Schüler. Dabei mußte
sie um des Lebens Notdurft hart kämpfen ; auch nachdem sie
den Lebensbund mit Dr. Edward Aveling geschlossen, war
ihr Tag mit Unterricht, Übersetzungen und Zeitungsarbeit
ausgefüllt, und ihre Arbeit für die Partei, an der allein andeie
übergenug zu tun gehabt hätten, war für sie Erholung am
*) Die tatsächlichen Motive, die Eleanor Marx-Aveling zum Selbst-
mord tiieben, wurden erst später bekannt. VerKleiche Eduard Bernstein:
„Was Eleanor Marx in den Tod trieb." »Neue Zeit', Band 2 des Jahr-
gang XVI, Seite 481 (auch Seite 118) 1898.
Was uns Karl Marx ist 143
Feierabend. Ihre besonders in England seltene Sprachen-
kenntnis machte sie zu dem natürlichen Dolmetsch der inter-
nationalen Arbeiterbewegung. Xoch bei dem letzten Streik der
englischen Maschinenbauer verfaßte und übersetzte sie die
meisten Zirkulare, die ins Ausland gingen, und die Delegierten
der internationalen Sozialistenkongresse von Paris 1889 bis
London 1896 werden eine schöne Erinnerung an sie als Über-
setzerin haben, an die wunderbare Geistesbereitschaft, Ge-
wissenhaftigkeit und Unermüdlichkeit dieser Frau. Wir haben
sie einmal in Brüssel nach zehnstündiger angestrengtester
Kongreßarbeit spät nach Mitternacht in einer Gewerkschafts-
versammlung d€r Kellner reden hören, mit einem Feuer, einer
Eindringlichkeit und einer Kraft, als komme sie direkt aus den
Ferien.
Nicht nur die englische Arbeiterbewegung, die ganze
internationale Sozialdemokratie trauert an der Bahre von
Marx' Tochter, die an Leib und Seele ein prächtiges Weib war,
Ann echtem Vollblut, von höchstem menschlichen Adel. Ehre
und Liebe ihrem Andenken I
69.
Marx-Feslschrift der österreichischen Sozialdemokratie. März 1903.
Was uns Karl Marx ist.
Zwanzig Jahre ist es her, daß Karl Marx seine Augen für
immer geschlossen. Die Arbeiter der ganzen Welt schicken sich
an, sein Andenken zu feiern: aber nicht als einen Toten feiern
««ie ihn, sondern als einen Lebendigen.
In der Tat, nie ist von einem Mann mehr lebendige,.
wirkende Kraft ausgegangen, als von diesem Toten ausgeht,,
dessen Gedanke heute das Denken der Arbeiterklasse aller
Länder beherrscht und durchdringt. Mit jedem Jahre mehr
wird das Proletariat zum weltgeschichtlichen Faktor und so
wächst in demselben Maße noch heute der Einfluß des Denkers,,
der ihm zuerst die Erkenntnis seiner selbst gebracht, ihm die
Bedingungen seiner Existenz, die Gesetze seiner Entwicklung
enthüllt, ihm die Ziele seiner Kämpfe gezeigt hat. Mehr als ein
halbes Jahrhundert ist dahingegangen, seit Karl Marx — und
wer von Karl Marx spricht, spricht auch von Friedrich
144 Was uns Karl Marx ist
Engels — im* Kommunistischen Manifest den
Weckruf der Arbeiterklasse hinausgerufen und noch heute tant
das Echo nach aus immer gewaltigerem Umkreis.
Der Sozialismus war ein Notschrei, ein Hilferuf, eine
Anklage. Heute ist der Sozialismus eine zielbewußte Politik
■«der Arbeiterklasse geworden, eine Politik, die auf einer deut-
lichen Erkenntnis der Bedingungen der wirtschaftlichen Ent-
wicklung fußt, die die Mittel kennt und abzuwägen weiß, die
der Arbeiterklasse zu Gebote stehen und die den Weg kennt,
den sie zu gehen hat. Daß dem so ist, das hat das Proletariat
vor allem Marx und Engels zu danken.
Zwei Namen sind es, die die Brücke schlagen vom neun-
zehnten zum zwanzigsten Jahrhundert: Darwin und Marx.
Sie haben die tiefsten Furchen gegraben in die Gehirne der
heute lebenden Generationen, sie haben unsere ganze Vor-
^tellungswelt umgewälzt und neu geordnet. Darwin hat die
Naturbeschreibung zur Naturgeschichte umgeschaffen, hat uns
das organische Leben als einen Werdegang erkennen gelehrt.
Marx zerstörte den Aberglauben an die Ewigkeit der Eigen-
tumsordnung und der Wirtschaftsverhältniss-e und zeigte sie
■als historisch bedingt von der Entwicklung der Produktions-
weise, die ihrerseits von der Entwicklung der materiellen
Produktivkräfte bestimmt wird. Die Entfaltung der Produktiv-
kräfte ist der Untergrund der Geschichte der Gesellschaft.
Ewig ist nichts in ihr als das Werden und Vergehen ihrer
Lebensformen. Immer wieder rebelliert das Werdende gegen
-das Gewordene, in Eigentumsformen und HJerrschaftsverhält-
ni!3sen Erstarrte. Die wirtschaftliche Entwicklung gestaltet die
"Geschichte der Gesellschaft zu einer Geschichte der Kämpfe
Ton. Klassen, die Träger der ökonomischen Gegensätze sind.
Die moderne Industrie hat die Bourgeoisie zur herr-
schenden Klasse gemacht und ihre Lebensbedingung ist, daß
^ie schneller als je zuvor den ganzen Produktions-
ii p p a r a t, damit aber die Eigentumsverhältnisse und die
gesellschaftlichen Verhältnisse umwälzt. Mit der rapid ins
Bi€senhafte ansteigenden Produktivkraft wächst aber der
umfang und der Grad der Aiisbeutung des Proletariats. Mehr
und mehr verschwindet die Selbständigkeit der Mittelschichten,
•«Ue, wenn sie nicht ins Proletariat hinabsinken, in offene oder
verhüllte Abhängigkeit von der Kapitalistenklasse geraten.
Was uns Karl Marx ist 145
Immer mehr häuft sich der Eeichtum in den Händen weniger^
immer geringer wird im Verhältnis zu dem ungeheuren An-
schwellen der Produktion der Anteil der arbeitenden Klassen.
Aber die Entwicklung treibt über den Kapitalismus und die
kapitalistische Form des Privateigentums hinaus. „Es ent-
wickelt sich die kooperative (genossenschaftliche) Form
des Arbeitsprozesses auf stets wachsender Stufenleiter, die
bewußte technologische Anwendung der Wissenschaft, die
planmäßig gemeinsame Ausbeutung der Erde, die Ver-
wandlung der Arbeitsmittel in nur gemeinsam verwend-
bare Arbeitsmittel und die Ökonomisierung aller Produktions-
mittel durch ihren Gebrauch als gemeinsame Produktions-
mittel kombinierter, gesellscihaftlicher Arbeit."
Während die Produktion durch die Entwicklung ihrer
Technik immer mehr eine gemeinsame, genossenschaftliche,
gesellschaftliche wird, verschärft sich der Monopolscharakter
der Eigentumsordnung. Zugleich wächst jedoch die Aus-
beutung, „aber auch die Emj)örung der stets anschwellenden
und durch den Mechanismus des kapitalistisclien Produktions-
prozesses selbst geschulten, vereinten und
organisierten Ar heiter klass e". . . . „Der Fort-
schritt der Industrie, dessen willenloser, widerstandsloser
Tiäger die Bourgeoisie ist, setzt an die Stelle der Isolierung
der Arbeiter durch die Konkurrenz ihre revolutionäre
Vereinigung durch die Assoziation. Mit der
Entwicklung der großen Industrie wird also unter den Füßen
der Bourgeoisie die Grundlage selbst weggezogen, worauf sie
produziert und die Produkte sich aneignest. Sie produziert vor
allem ihre eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg
des Proletariats S'ind gleich unvermeidlich. Von allen Klassen,
(lie heute der Bourgeoisie gegenüberstehen, ist nur das Prole-
tariat eine wirklich revolutionäre Klasse." Die Arbeiter sind
somit die Träger der revolutionären Entwicklung, die dazu
führen wnrd, „das vom Kapitalismus vernichtete, indivi-
duelle Eigentum wieder herzustellen, aber
auf Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen Ära,
der Kooperation (genossenschaftlichen x\rbeit) freier
Arbeiterund ihrem Gemeineigentum an der
Erde sowie an den durch die Arbeit selbst
produzierten Produktionsmittel n''.
146 Was uns Karl Marx ist
Der Kapitalismus selbst also schafft die objektiven Be-
dingungen für seine Überwindung, und noch mehr, er schafft
-die subjektiven Bedingungen, durch die das Proletariat sein
Überwinder werden muß : Schulung, Vereinigung
und Organisation der Arbeiter, „Organisation
-der Proletarier zur Klasse und damit zur
politischen Parte i." In den ersten Stadien schon
kommt es zu Kämpfen ; von Zeit zu Zeit siegen die Arbeiter,
aber nur vorübergehend, das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe
ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um
sich greifende Vereinigung der Arbeiter. Die Organisation
wird jeden Augenblick wieder gesprengt durch die Konkurrenz
unter den Arbeitern selbst, aber sie ersteht immer wieder,
stärker, fester, mächtiger. Sie erzwingt die Anerkennung ein-
zelner Interessen der Arbeiter in Gesetzesform. Jeder dieser
Erfolge aber ist ein Schritt dem Ziele zu.
Wir haben früher das Ziel des proletarischen Kampfes in
•den Worten des „Kapital" und des ,, Kommunistischen
Manifest" ausgesprochen; an einer anderen Stelle hat Marx es
in anderer Weise ausgedrückt, die unseren zaTimen Zeiten
vielleicht minder herb klingt, obwohl sie genau dasselbe sagt:
,,Die durch soziale Fürsorge geregelte soziale
Produktion, das ist der Inbegriff der politischen Ökonomie
der Arbeiterklasse." Und desihalb, so fährt er fort, „war die
Forderung der Z e h n s t u n d e n 'b i 1 1 in England nicht bloß
■em großer praktischer Erfolg, sie war der Sieg eines
Prinzips; zum erstenmal am hellen, lichten Tag unterlag
die politische Ökonomie der Bourgeoisie der politischen
Ökonomie der Arbeiterklasse". Das ist 1865 geschrieben, aber
^chon 1847 — im „Elend der Philosophie" — verteidigt Marx
die Bedeutung der gewerkschaftlichen Koalition gegen ihre
.„transzendentale Geringschätzung" durch die Utopisten. Schon
damals spricht er klar aus, was das Grundgesetz aller soziali-
stischen Taktik ist, daß der wichtigste Faktor der ökonomischen
Umwälzung der Grad der Entwicklung des Proletariats selbst
sei. „Soll die unterdrückte Klasse sich befreien können, so muß
■eine Stufe erreicht sein, auf der die bereits erworbenen
Produktivkräfte und die geltenden gesellschaftlichen Ein-
rieb tu ngen nicht mehr nebeneinander bestehen können. V o n
allen Produktionsinstrumenten ist die
Was uns Karl Marx ist 147
größte P r o d u k t i V k r a f t die r e \- o 1 u t i o n ä r e
Klasse selbst. Die Organisation der revolutionären Ele-
mente als Klasse setzt die fertige Existenz aller Produktiv-
kräfte voraus, die sich überhaupt im Schoß der alten Gesell-
schaft entfalten konnten.'' Der objektive, ökonomisch-technische
Faktor und der subjektive, proletarische Faktor der revolu-
tionären Entwicklung bedingen sich gegenseitig. So setzt sich
denn die internationale Arbeiterassoziation
zum Zweck, „eine Verbindung zu schaffen zwischen den in ver-
schiedenen Ländern bestehenden Arbeitergesellschaften, die
dasselbe Ziel verfolgen, nämlich den Schutz, dieHebung
und die ^•öllige Emanzipation der arbei-
tenden Klasse n''. Alles das hat längst aufgehört die
Lehre eines einzelnen Mannes zu sein, es ist in Fleisch und
Blut des kämpfenden Proletariats übergegangen und so erfüllt
und angezogen haben wir uns mit den Gedanken, die Marx
zuerst gedacht, daß es unmöglich ist, fe-'?tzustellen, was in uns
von ihm herrührt. Schopenhauer bemerkte einmal, nur eiu
kurzes Siegesfest sei der neuen Wahrheit beschieden zwischen
den langen Zeiträumen, da sie als paradox verdammt und. als
trivial geringgeschätzt wird. Nicht ganz so verhält e,^ sich mit
den Erkenntnissen, die uns Marx übermittelt hat, sie werden
nicht alt und setzen keinen Eost an. Denn es sind nicht fertige
Maximen, sondern das Beste, was er uns gegeben, sind Methoden
des Erkennens geschichtlicher, wirtschaftlicher und politischer
Zusammenhänge. Und diese Methoden haben die Welt erobert,
weit über das kämpfende Proletariat hinaus. Die Zunft-
gelehrten sträuben sich gegen die materialistische Geschichts-
auffassung, aber jeden ernstlichen Fortschritt ihrer Wissen-
schaft danken sie ihrer widerwilligen und selbstverständlich
anonymen Anwendung. Die Lehre vom Klassenkampf freilich
gilt der bürgerlichen Welt noch heute als paradox und mit
gutem Grunde. Nicht die Theorie bekämpfen sie in ihr, sondern
die politische Praxis des Proletariats, die auf ibr fußt, und
zwar überall auf ihr fußt. Denn, sei es an dieser Stelle
gesagt, man möge sich durch den jetzt wieder so heftig gewor-
denen internationalen Streit nicht irremachen lassen, der
immer wieder um die sozialistische Taktik geführt wird: nicht
die prinzipielle Grundlage steht in Frage, i^roletarische
Klassenpolitik wollen alle machen, Franzosen
148 Was uns Karl Marx ist
und Italiener, Belgier und Engländer nicht weniger wie die
Deutschen. Freilich, welches jedesmal die richtige Klasseh-
politik, das heißt die den dauernden Eigentümlichkeiten jedes
Landes und ihrer eigenen augenblicklichen Lage entsprechende
Politik der Arbeiterklasse sei, darüber gehen die Meinungen
oft weit auseinander. Begreiflich genug, denn das Problem
wird komplizierter und schwieriger mit jedem Schritt, den das
Proletariat nach vorwärts macht, mit jedem Stück politischen
Gewichtes, das ihm zuwächst. Die Politik der revolutionären
Minorität war einfach im Vergleiche zur Politik einer stetig
wachsenden revolutionären Partei, die sich dem Punkte nähert,
wo sie die entscheidende Macht im Staate werden kann.
Unabsehbar vielfältig sind heute die Formen geworden, in
denen das proletarische Klasseninteresse geltend gemacht
werden kann und darum muß. Wenn es möglicli war, das allge-
meine Wahlrecht, „das bisher ein Mittel der Täuschung war,
umzuwandeln in ein Mittel der Befreiung", warum s-ollte es
von vornherein und gänzlich ausgeschlossen sein, den
wachsenden Einfluß auf die Staatsverwaltung, die bisher die
Maschinerie der Klassenherrscbaft war und ist, im Interes-se
des Proletariats zu nützen? Gewiß, der Weg, so verlockend er
sei, ist voll von Gefahren und von der gutgläubigen Selbst-
täuschung über den Wert kleinlicher und vorübergehender
Vorteile bis zu der mehr oder minder bewußten Preisgebung
jeder selbständigen proletarischen Politik droht da jede Art
von Irrtum. Wir wollen auch mit der Meinung nicht zurück-
halten, daß da und dort in Handlung und Unterlassung solche
Irrtümer begangen wurden, ja wir wollen zugeben, daß sie fast
unvermeidlich sind. Aber wenn wir sie als Irrtümer erkennen,
wenn wir mit Erfolg zu lernen suchen, me die proletarische
Klassenpolitik anzuwenden sei auf ihre neuen, täglich schwie-
rigeren Aufgaben, so danken wir das vor allem Karl Marx und
Friedrich Engels, die uns gelehrt, vor nichts mehr auf der Hut
zu sein als vor unseren eigenen Vorurteilen, keine Pflicht höher
zu achten, als die gewissenhafte Erwägung der Tatsachen. Dem
Klassenkampfe des Proletariats seine unabänderliche Bahn zu
weisen, haben unsere Meister weder vermocht noch gewollt,
aber ihm Licht zu sc 'h äffen auf, den Weg, daß es
ihn zu finden und sehend zu wandeln vermöge, das war ihre
Was uns Karl Marx ist 14!)
große Tat. Und je schwieriger der Weg wird, um so mehr
bedürfen wir ihrer Leuchte.
Gewiß, in dem Werke von Marx war vieles vergänglich
und seine enivsigen Eezensenten bemühen sich unermüdlich um
die Schlacke, die der Verlauf der Geschichte aus ihm aus-
geschieden. Marx war eben nicht nur der kühne Denker, der
zuerst einen geschichtlichen Prozeß in seinem Wesen erkannte,
sondern er war auch das Kind seiner Zeit, unterworfen jedem
Irrtum in der Schätzung von Gewicht und Dauer der augen-
blicklichen Ereignisse. Und überdies war er ein leidenschaft-
licher Kämpfer, der selbst handelnd eingriff, und mit jedem
j^erv beteiligt an dem Drama, das zu deuten seine Tat war.
So hat der dreißigjährige Marx des Manifests einen Geschichts-
verlauf in genialer Verkürzung gesehen, dessen Etappen sich
als weit, ach allzu weit, auseinanderliegend erweisen sollten.
Aus einer mit einem Fleiß sondergleichen aufgehäuften Fülle
von Tatsachen hat er das Bewegungsgesetz des Kapitalismus
abgeleitet, aber er hat freilich nicht alle Erscheinungen vorher-
gesehen, in denen sich dieses von ihm erkannte Gesetz durch-
setzen sollte. Marx war ein Seher, ein unfehlbarer Wahrsager
zu sein, hat er nie prätendiert. Er war auch nicht der Mann der
einfachen Formeln, der bequemen Schablonen und nichts war
seinem Wesen mehr entgegen, als jede Art sektiererischer
Rechthaberei und dogmatischer Starrheit. Das letzte Wort von
Friedrich Engels, das man oft sein Testament genannt hat, war
jene berühmte Vorrede zu den ,, Klassenkampf en'* (1895), die
mit einem bewundernswerten Mute zur Wahrheit alle bisherigen
Anschauungen über proletarische Taktik revidiert. Dem
„Manifest", dessen Schluß gelautet hatte: „Die Kommunisten
erklären es offen, daß ihre Zwecke nur erreicht werden können
durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschafts-
ordnungen"', stellt Engels die Tatsachen der Geschichte gegen-
über und kommt zu dem Schluß: „Die Creschichte hat uns
Unrecht gegeben'". „Die Ironie der Weltgescliichte stellt alles
auf den Kopf. Wir, die ,Eevolutionäre', die ,Umstürzler', wir
gedeihen weit besser bei den gesetzlichen Mitteln als bei den
ungesetzlichen, dem Umsturz." Und schon 1871 schrieb Marx
im „Bürgerkrieg": „Die Ar'beiterklasse hat keine fix und
fertigen Utopien durch Volksbeschluß einzuführen. Sic weiß,
daß sie — um ihre eigene Befreiung und mit ihr jene
150 Was uns Karl Marx ist
höhere Lebensform hervorzuarbeiten, der die gegen-
wärtige Gesellschaft durch ihre eigene ökonomische Entwick-
lung unwiderstehlich entgegenstrebt — lange Kämpfe,
eine ganze Reihe geschichtlicher Prozesse
durchzumachen hat, durch welche die Menschen wie die Um-
stände gänzlich umgewandelt werden. Sie hat keine Ideale zu
verwirklichen, sie hat nur die Elemente der neuen Gesellschaft
in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schöße der zusammen-
brechenden Bourgeoisgesellschaft entwickelt halben.'' Und er
fügt hinzu, was heute aktueller klingt als je: „Im vollen
Bewußtsein ihrer geschichtlichen Sendung und mit dem
Heldenentschluß, hier würdig zu handelh, kann die Arbeiter-
klasse sich begnügen zu lächeln gegenüber den plumpen
Schimpfereien der Lakaien von der Presse wie gegenüber
der lehrhaften Protektion wohlmeinender
B o u r g e 0 i s d o k t r i n ä r e, die ihre unwissenden Gemein-
plätze und Sektierermarotten im Orakelton wissenschaftlicher
Unfehlbarkeit abpredigen."
„Lange Kämpfe, eine ganze Reihe geschichtlicher Pro-
zesise" — wieviel davon liegt hinter uns, wieviel steht uns
noch bevor? Wer will es ermessen! Das Proletariat ist ein Stück
vorwärts gekommen in den zwanzig Jahren, die seit Marx' Tod
verflossen. Das Kampffeld hat sich erweitert, der Schauplatz
seiner Geschichte umfaßt nicht nur Europa und Amerika,
sondern schon heute Australien und Afrika und morgen auch
Asien. Der Kapitalismus zur Zeit des Kommunistischen Mani-
festes war eine lokale Erscheinung im Vergleich zu seiner welt-
umspannenden gigantischen Entwicklung in dem letzten
Jahrzehnt; die Wunder der Elektrizität haben die Wunder des
Dampfes weit überholt und die Wirklichkeit der technischen
Entwicklung läßt die ausschweifendsten Träume aller Utopisten
weit hinter sich zurück. Dabei stehen wir erst an der SchWelle
einer neuen Reihe von technischen, wirtschaftlichen und poli-
tischen Erscheinungen, die die eben beginnende Koalition und
Organisation der Kapitalisten zu Kartellen heraufführen wird.
Die Spannung der gesellschaftlichen Gej?ensätze wächst von
Tag zu Tag. Die pblitisdhe, gewerkschaftliche und genossen-
schaftliche Organisation hat die vorgeschrittensten Schichten
des Proletariats zu gemeinsamem, planmäßigem Handeln fähig
gemacht, fortgesetzt gliedern sich verspätete Schichten in das
Der Nachlaß von Marx, Engels und Lassalle
151
große Kampfheer ein, das vom Klassenbewußtsein zusammen-
gehalten, von den Zielen der Klassenpolitdk geleitet wird. Es
steigt die materielle und geistige Lebenshaltung des Prole-
tariats, es wächst seine Kampffähigkeit. Amdere sind die Mittel
des Kampfes geworden, andere die Maßstäbe, nach denen seine
Erfolge bemessen werden, die da und dort nicht in gewaltigen
Entscheidungsischlacliten, sondern in zäher rastloser Arbeit der
Übermacht der herrschenden Klassen abgerungen werden Not-
wendiger als je ist es, daß das Bewußtsein der revolutionären
Bedeutung alles dieses Kämpfens lebendig bleibe, daß über der
Fülle der Erscheinungen nicht das Erkenntnis des Wesens
zurücktrete, daß die mühselige Arbeit des Tages nicht kurz-
sichtig und stumpf mache und daß nicht das Bewußtsein sich
abschwäche, daß es das Ziel allein ist, das aller ^dieser Arbeit
Bedeutung und Wert gibt.
So möge denn dieser Gedenktag ein Anlaß sein, daß wir
von unserer Tage^arbeit aufsehen und wieder einmal ins Weite
blicken. So am besten feiert die Arbeiterklasse ihren Meister
Karl Marx, der ihrer Not die Sprache, ihrem Kampfe die
Würde, ihrem Eingen die Siegessicherheit gegeben hat.
Victor Adle r.
70.
„Arbeiter-Zeitung." 15 j^^^rz 1903.
Der Nachlaß von Marx, Engels und Lassalle.
neute, am Todestag von Karl Marx, geziemt es sich, von
einem Denkmal zu reden, das seinem Andenken aufgerichtet
wurde und das deutlicher spricht, als Stein und Erz je sprechen
könnten.
Die Sozialisten gehen mit ihren großen Männern ziemlich
schlecht um. Die Werke der großen Utopisten, der Vorläufer
des wissenschaftlichen Sozialismus, sind fast verschollen. Nur
von Fourier haben wir eine Gesamtausgabe, die übrigens
manches zu wünschen übrig läßt und zudem vergriffen ist; von
den Schriften Saint Simons gibt es keine vollständige, von
.denen Owens und Weitlings gar keine Sammlung, und von
vereinzelten Neudrucken einiger weniger ihrer Bücher
abgesehen, sind sie zu Raritäten geworden, nur wenigen
152 Der Nachlaß von Marx, Engels und Lassalle
Bevorzugten zugänglich. Und doch hätte die Verbreitung der
veralteten Werke dieser Denker noch anderen Wert als den
gefichichtlicher Zeugnisse; eine Fülle von Gedanken liegt in
ihnen — man muß es sagen — begraben, die noch heute keimfähig
sind, und so manches dünne Heft, das läng-et vergilbt ist, vermag
mehr Anregung zu bieten, als eine mäßige Wagenladung
moderner, populärer Lektüre.
Besser steht es um Lassalle. Seine Reden sind noch heute
lebendiges Eigentum der Älteren von uns, und es wäre
dringend zu wünschen, daß auch die Jüngeren davon in sich
aufnähmen, was unvergänglich ist. Von Lassalles politischen
und ökonomischen Schriften besitzen wir auch die von
Bernstein ganz vortrefflich besorgte Gesamtausgabe und
dürfen wohl hoffen, daß eine neue Auflage davon ihr noch einen
vierten Band anfügen wird, mit den in einem halben Dutzend
Sammlungen und Zeitschriften zerstreuten Briefen Lassalles.
Auch die Persönlichkeit Lassalles glaubten wir zu kennen; in
seinen entscheidenden Jahren stand er im grellsten Lichte der
politischen Bühne, der dramatische Verlauf seines Lebens macht
seine glänzende Gestalt deutlich, und ihm selbst war nichts
unwichtig, was ihn betraf. L^nd trotzdem ist uns vor kurzem
ein Laesalle enthüllt worden, den wir vordem nicht kannten.
Doch davon soll später gesprochen werden.
Das Lebenswerk A'on Karl Marx^ vermögen wir noch
heute nicht in seiner Gänze zu überblicken. Nach seinem Tode
erst hat Engels den zweiten und dritten Band des „Kapital"
veröffentlicht, und eben ist die treue Hand Karl Kautskys mit
der Riesenarbeit beschäftigt, vom vierten Band für die Welt
zu retten, was davon vollendet ist. Aber damit ist der hand-
schriftliche Nachlaß von Marx noch lange nicht erschöpft.
East alljährlich fördert die ,,Neue Zeit" und nun auch
Bernsteins „Dokumente des Sozialismus" einzelne Stücke
zutage, deren jedes wertvoll ist und une bereichert. Aber auch
vieles von den in den vierziger und fünfziger Jahren
veröffentlichten Schriften von Marx war uns bisher verloren.
Verloren in doppeltem Sinne: . Erstlich sind die Zeitschriften,
in denen die meisten erschienen, längst zu den größten Selten-
heiten geworden, die man nur vereinzelt in öffentlichen
Bibliotheken oder beneidenswerten privaten Sammlungen
findet; dann aber sind uns heute alle Vorauesetzungen verloren
Der Nachlaß von Marx, Engels und Lassalle 153
gegangen, einen großen Teil dieser Schriften zu verstehen.
Was der Marx der ersten Periode schrieb, war für seine Gegen-
wart; geschrieben, wuchs aus seiner Gegenwart heraus, die
immer mehr für uns Vergangenheit wird, zu der die Brücke
täglich schvverer zu finden ist. Um so schwerer, als es noch
k'ine Geschichte der deutschen Revolution gibt, deren Träger
ia allererster Eeihe Karl Marx war. Unser Bild von der öko-
r.omischen, politischen und geistigen Umwälzung, die das
deutsche Leben zwischen dem vierten und siebenten Jahrzehnt
des vorigen Jahrhunderts erfuhr, ist unvollständig, und kaum
sind die äußeren Vorgänge in ihrem Zusammenhange deutlich
geschildert. Wer uns den Karl Marx jener Jahre zeigen will,
hat somit ein Stück Geschichtsehreibung höchster Ordnung zu
leisten.
Franz M eh ring hat die^e große Leistung vollbracht.
Unter dem bescheidenen Titel ,,A us dem Nachlaß von
Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand
L a s s a 1 1 e" hat er vier Bände herausgegeben, in denen er
den größten Teil der von Marx-Engels bis 1850 veröffentlichten
Schriften und die Briefe Lassalles an diese beiden gesammelt
hat. Es fehlt in der Sammlung nur, was durch Neudruck ohne-
hin jedem zur Verfügung steht, wie „Das Elend der Philo-
sophie", „Das Kommunistische Manifest'"', „Die Lage der
arbeitenden Klassen in England''. Dagegen enthält sie nebst
den in den l'evuen zerstreuten größeren Aufsätzen, den Ar-
tikeln aus der „Rheinischen Zeitung"' und „Neuen Rheinischen
Zeitung", auch die niemals gedruckte Doktordissertation von
Karl Marx imd ein ganzes Buch „Die heilige Familie", das
Marx-Engels 1844 erscheinen ließen, das aber heute bis auf
ganz wenige Exemplare gänzlich verschwunden ist. Aber der
getreue Abdruck verschollener Schriften ist die Arbeit des
Verleger?, etwa auch- des kritischen Philologen, der für Rein-
lichkeit und Genauigkeit, für die Akribie zu sorgen hat. Mehring
hat weit mehr getan. Jedes einzelne Stück der Sammlung
ist durch eine ausführliche, weit ausgreifende Einleitung
historisch auf seinen Platz gestellt und verständlich gemacht
und durch Anmerkungen in allen Einzelheiten erläutert.
So ist unter seinen Händen lebendig geworden, was selbst den
wenigen, die es kannten, zum guten Teile totes Material
geworden war.
154 Der Nachlaß von Marx, Engels und Lassalle
Nun wollen wir ein Geständnis machen, das wie ein. höchst
pei peinliches aussieht, aber weit entfernt davon ist, es zu sein.
Der Schreiber dieser Zeilen bekennt sich dazu und weiß, daß
er ln\ Namen nicht allzu weniger spricht, daß eine gewisse
Unruhe wach wur'de, als die Nachricht kam, Franz Mehring
sei ausersehen, den Nachlaß von Marx-Engels herauszugeben.
Nicht als ob sich der gering.ste Zweifel an dem umfassenden
Wissen und den außerordentlichen Fähigkeiten des Verfassers
der ..Lessing-Legende", des Geschichtschrei'bers der deutschen
Sozialdemokratie hätte rühren können. Aber Mehring ist auch
ein glänzender Tagesschriftsteller, ein Polemiker ersten
Eanges und unterliegt gerade als solcher, wie wir alle, den
Lastern seiner Tugenden. Davon, von dem Überschäumen des
Tejf.perame-its, von der sich vordrängenden Kraft einer nicht
allen und nicht in allen Stücken gleich sympathischen Per-
sönlichkeit, die in der Wertung von Dingen und Menschen
nicht nur von der großen Leidenschaft des Tages, sondern auch
von dei' kl'^inen Laune der Minute beherrscht wird, war zu
befürchten, daß das ebenso notwendige wie ersehnte Werk
schrdigendo Spuren tragen werde. Nun wohl, wer mit uns
gszweifeit und gefürchtet hat, ist aufs glücklichste enttäuscht
und beschämt. Franz Mehring hat in den vier Bänden 'des
„Nachlasses' ein Werk der Selbstüberwindung, der Liebe, der
LIingcbung und des Fleißes geleistet, wofür ihm der inter-
nationale Sozialismus, die ganze gebildete W^elt dauernden
nnd innigsten Dank schulden. In überraschendem Maße hat
er sich, zur Höhe und Würde seiner Aufgabe erhoben und nur
an ganz vereinzelten und überdies nebensächlichen Stellen wird
der Leser vorübergehend daran erinnert, was der Autor in sich
überwinden tiuißte.
Allerdings, wer einen geistlosen. uni)ersönlichen Kom-
mentar erwartet von der Art, mit der gewisse Literatur-
professoren uns unsere Klassiker verekeln, das heißt denen von
une, die töricht genug sind, die Schmöker in die Hand zu
nehmen, wird sich sehr getäuscht sehen. Mit Recht verwehrt
sich Mebiing auch gegen „jene heuchlerische Objektivität, die
nur in den interessierten Vorurteilen der herrschenden Klassen
ihr gespensterhaftes • Dasein führt"; vielmehr hat er, so sagt
er selbst, srine subjektive Auffassung nicht zu verbergen ge-
sucht, sondern sie geflissentlich hervorgekehrt, eben um das
• Der Nachlaß von Marx, Engels und Lassalle 155
eigene Urtf-ii des Lesers nicht zu kaptivieren, e-s nicht einzu-
schläfern, sondern anzuregen. Auch keine Apologie der großen
Männer, mit deren Schriften er sich beschäftigt, .gibt sein Buch,
vielmehr steht er ihnen so unbefangen und kritisch gegenüber,
als nur immer dem Jüngeren gegeben sein kann, der auf den
Sibuliern des Meisters steht.
Den ersten Band des „Nachlasses" hat bei seinem Er-
scheinen August Bebel an dieser Stelle angezeigt. So sei nur
nochmals daran erinnert, daß in diesem Bande uns zum ersten-
mal der junge Marx gezeigt wird. Es ist ein Stück Biographie,
das uns zum erstenmal den Menschen Marx in intime Nähe
bringt. Was man bisher von ihm wußte, beschränkte sich auf
eiae Zahl von Skizzen, die seine Töchter Laura und Eleanor,
seine Freunde Engels und Liebknecht da und dort veröffent-
licht. Aber alles das waren, soweit es sich nicht um Bilder des
Forschers und Politikers handelte, nur gelegentliche, ver-
einzelte, fa^t anekdotenhafte Züge. Sonst war Marx für uns
Jüngere, die ihn nicht mehr gesehen, persönlich fast ein
Fremder, eine Erscheinung von fast unheimlicher, ganz unver-
mittellpi' Größe. Nun lese" man — und jeder kann das lesen
und verstehen — das Stück Jugendgeschichte, das uns Mehring
als Einleitung zur Doktordissertation gibt, und man wird Marx
werden und wachsen sehen. Die stilistische Meisterschaft
Mehrings wird hier fast übertroffen von einer Herzens wärme,
die unwiderstehlicii wirkt. Wir lernen Marx, zu dem wir mit
dankbarer S-'^erehrung und scheuer Bewunderung hinaufsahen,
al-i Menschen lieben und wir, lernen einen zweiten lieben, seinen
Vater. Den Briefwechsel zwischen dem alten Marx mit dem
Zwanzigjährigen wird man nicht lesen können, ohne im
Innersien ergriffen zu werden. Zugleich aber ist man starr vor
Erstiunen darüber, welches Quantum von Arbeit das junge
Gehirn von Karl Marx schon damals zu bewältigen imstande war.
und v/ird wieder daran erinnert, daß das Beste im Genie sein
Fleiß ist.
Nun kommen die ersten schriftstellerischen Arbeiten
von Marx in der „Rheinischen Zeitung", sein Aufsatz über die
Zensur in den Anekdota und seine Beiträge zu den Deutsch-
französischen Jahrbüchern. In diese Zeit fällt auch der Glücks-
fall seineb' Lebefns; er kommt mit Friedrich Engels zusammen.
E? i>l dif Zeit, wo sirh Marx-Engels mit der Hegeischen Philo-
156 Der Nachlaß von Marx, Engels und Lassalle
Sophie und mit dem damaligen, wesentlich französischen Sozia-
lismus auseinandersetzen, zu sich selbst kommen. Um die zahl-
reichen, damals entstandenen Arbeiten verständlich zu machen,
die bis an das Ende des zweiten Bandes reichen, mußte
Mehring', wie er es ausdrückt, „das Milieu erneuern", worin
sie entstanden sind. Aber welche Arbeit bedeutet das und
welche ungeheuerlichen Vorbedingungen sind zu erfüllen!
Jene vierziger Jahre sind uns heute fremd geworden, bis ßogar
auf dif Sprache der Hegel-Schüler, die wir keineswegs ohne-
weitor^> verstehen. Weit ferner zurückliegende Zeiten der
geistigen Entwicklung Deutschlands oder Frankreichs sind uns
heute viel verständlicher, und Mehring mußte in der Tat d^e
philoe^ophische, politische und ökonomische Geschichte jener
Zeit erst heraufbeschwören und deutlich machen, er mußte die
Personen, die die Träger jener Gedankengänge waren, mit
denen sich Marx-Engels' auseinandersetzten, wieder lebendig
machen, um uns jenes Stück großartigen Kampfes zu zeigen,
das unsere Meister in jenen Jahren vollbrachten, die sie zu dem
machten, was sie 1847 geworden waren, die Verkünder des
,, Kommunistischen Manife&ts". Wir gestehen, daß für den heute
Lebenden die Aufbewahrung einzelner, der im ,, Nachlaß" ab-
gedruckten kleineren Aufsätze unserer Meister, unbeschadet
ihres hisiorLschen und persönlichen Wertes, an Wichtigkeit
zurücktritt gegen die Vermittlung der geschichtlichen Kennt-
nis, die Mehrings Einleitungen darbieten.
Wir haben nicht vor, ein Inhaltsverzeichnis des Werkes
zu geben, und erwähnen nur noch, daß wir im dritten Band
Marx und Engels als Journalisten kennen lernen in einer Anzahl
Leitartikel jener berühmten „Neuen Eheinischen Zeitung", ge-
schrieben zwischen dem 31. Mai 1848 und dem 18. Mai 1840,
mitten in den Wettern der Eevolution, mitten in persönlichen
Gefahren aller Art. Es geht eine berauschende Kraft von
diesen Zeitungsartikeln aus, die eine unvergleichliche Vereini-
gung von revolutionärer Leidenschaft und gewissenhaftem
Verantwortungsgefühl darstellen. Weniges, was Marx und
Engels geschrieben haben, hat neben dem hohen sachlichen
Interesse den gleichen Zauber der Persönlichkeit.
Der vierte Band bringt eine unerwartete Gabe, die Briefe
Lassalles an ]\[arx und Engels. Wir haben es schon angedeutet:
Wir glaubten Lasealle zu kennen, und nun erleben wir einen
Marx-Feier 1903 157
.ganz reuen Lassalle, einen weichen, liebenswürdigen Menschen,
einen hingebenden Freund und zugleich einen Mann, der mit
iieroischer Kraft und wühlender Wahrheitsliebe mit sich selbst
ringt. Zum ersten Male sehen wir LassaHe und durch ihn Marx
und Engels in intimer Nähe. Leider sind die Antworten
an ihn in der Familie LEatzfeld Beeitz, und sie hat
sich noch nicht entschließefi können, davon abzustehen,
sie dem einzig berechtigen Erben, der Geschicht-
schrei'bung des Sozialismus, vorzuenthalten. Aber auch die
Hälfue dieses Briefwechsels, die wir nun kennen, ist ein
historische? Zeugnis ersten Ranges und gibt erst den Schlüssel
^u der Persönlichkeit und der Politik Lassalles. Die Briefe,
«die Lassalles Tragödie „Franz von Sickingen'' betreffen, ent-
halten ein Stück Philosophie der politischen Taktik von nnaus-
•schöpfbarem Werte . . .
Mehring nennt die vier Bände „Nachlaß" eine der unum-
gänglichen Vorarbeiten zu einer wissenschaftlichen Gesamt-
ausgabe der Schriften von Marx und Engels. Gewiß sind sie
das, aber sie sind auch eine Arbeit von selbständigem und
bleibendem Werte, unschätzbar und unentbehrlich für jeden,
der die proletarische Bewegung unserer Tage, der unsere eigene
Geschieht'^ begreifen will. Durch dieses Werk w'ird uns im
^einzelnen zum Bew^ußtsein gebracht, was der Stolz und die
Würde unserer Bewegung ist, daß sie in allen Höhen des
menschlichen Gedankens nicht minder wie in den Tiefen der
wirtschaftlichen Zusammenhänge wurzelt. Und noch einmal sei
^es am Schlüsse gesagt: wer den Mann, dessen wir heute ge-
-denkrn, wer Karl Marx mehr als verehren, wer ihn lieben
lernen will, der nehme diesen Nachlaß zur Hand. V. A.
71.
„Arbeiter-Zeilung.' 17. März 1903.
Marx-Feier 1903.
dedenkrecle. gehalten von Victor .V d 1 e r am 16. März 1903 im Sofiensaal,
Wien III.
Parteigenossen und -Genossinnen!
W^ir haben Sie liier zusammengerufen zu einer Feier des
MäiZ, zu einer Feier, die die Fortsetzung der Feier ist, die Sie
gestern begangen haben. Ln März 1848 trat zum erstenmal
das deutsche Proletariat auf die Bühne der Weltgeschichte.
158 Marx-Feier 1903 i}
und im Miiiv 1883 starb der Mann, der dem Proletariat seine
Mission zeigte, der verstanden hat, was im März 1848 ge-
schehen. Es sind nicht nur die Märzgefallenen hier und in
Berlin, es smd die Märzgefallenen des Jahres 1871 in Paris,
es sind alle, die im Kampfe für die Freiheit gefallen sind, die
wir heute grüßen, wenn wir darangehen, Marx zu feiern. Was
war die Märzrevolution? Was war die Commune? Versuche,.
Stiirm.e, die zurückgeschlagen wurden, verunglückte Versuche.
Und heute hebt sich die Weisheit mancher hoch und sieht
zarück auf die armen Irregeführten, die ihr Blut gelassen
haben um eine Täuschung, um ein verunglücktes Experiment.
Wir aber sagen : Weiser war der Naivste, weiser war der Ein-
fältigste von denen, die dort liegen, weiser war er und frucht-
bringender als diese Weisen, die heute wissen, wie kostbar jeder
ihrer Blutstropfen ist, die heute wissen, daß man ja nichts
anfangen darf, dessen Ende man nicht absehen kann. Weiser,
sage ich, und fruchtbringender war jene Torheit, als es die alt-
kluge Philisterhaftigkeit unserer Tage ist.
Gev.'iß, heute sind die Formen der Eevolution andere
gewor-len. Heute hat die Arbeiterklasse andere Mittel, als sie
die Opfer des März hatten. Aber wenn sie andere Mittel hat,
wenn die Arbeiterklasse eine andere geworden ist, so dankt sie
das mit und zuerst denen, die ihr Leben geopfert haben jenen
Zwecken, verdankt sie das denen, die geopfert haben, was sie
hatten, mit einem Schlag, so wie jener Karl Marx geopfert hat,
das größte Gehirn des Jahrhunderts, die tiefste Denkerarbeit
des Jahrhunderts, wie er sie in den Dienst gestellt der großen
heiligen Sache, in deren Namen wir hier versammelt sind.
Karl Marx war 1848 ein junger Mann, kaum dreißig
Jahre alt. Und da wir hier in Wien sind, so will ich Ihnen einen
Begriff geben, wie er über Wien gesprochen hat. Sie wissen,
daß Marx zu jener Zeit. der Chefredakteur jener „Neuen Eheiui-
sehen Zeitung*' war, die das Organ der vorgeschrittensten Revo-
lutionäre Deutschlands gewesen ist. Die man damals Revolu-
tionäre nannte, die kämpften alle für die Ideale, für die Frei-
heit, aber für wessen Freiheit und gegen wen sie kämpften, das
wußten sie nicht. Die Proletarier selbst, die mit in ihren Reihen
standen — und in allerereter Linie — und die die Schlachten
gesciilagen haben, sie selbst hatten nur ganz instinktiv eine
Ahnung von dem, was sie selbst verrichteten. Das Bürgertum
Marx-Feier 1903 159
und die Arbeiterschaft waren damals noch nicht differenziert.
Das Jahr 1848 war einer der Hebel dieser Differenzierunjj-.
In dem gemeinsamen Kampfe kamen sie aus-
einander, in dem gemeinsamen Kampfe wurde der Gegen-
satz offenbar und in ihm zeigte sich, daß die bürgerliche
Freiheit ein ganz anderes Ding ist als die
proletarische Freiheit. Und in dem Moment, wo die
Klassengegensätze in diesem Kampfe zum Bewußtsein kamen,
da gab es für das Bürgertum in Deutschland wie in Österreich
eine Wahl ebensowenig wie in Frankreich. Es ließ sich lieber
s.eine ijolitische Macht nehmen, es streckte seine Hände denen
hin, die sie ketteten, es ergab sich hier dem Windischgrätz und
dort dem Napoleon, ergab sich um den Preis, daß das Prole-
tariat zu Boden gerungen, daß es festgehalten und daß ihre
bürgerliche Revolution vor der proletarischen Revolution
geschützt werde. Das wußte man damals nicht. Aber Marx
hat es gewußt, und wenn ich Ihnen ein paar Zeilen von
jenem Leitartikel vorlese, den er schrieb, als die Xachricht kam.,
daß Wien gefallen sei, so tue ich es, um Ihnen einen Probe zu
geben zugleich von dem Stil dieses Mannes und von dem, wio
Marx Journalist war :
Der Artikel ist datiert von Köl n, 6. November 1848:
Die kroatisclie Freiheit und Ordnung Jiaben gesiegt und rnit Mord,
Brand, Schändung, Plünderung, mit namenlos verru'ciiten Untaten ihren
Sieg gefeiert. Wien ist in den Händen von Windischgrätz, Jellacic und
Auersperg. Hekatomben von Menschenopfern werden d-'m srei^en Verräter
Latour in sein Grah nachgeschleudert.
Verrat jeder Art hat Wiens Fall vorbereiloL Die ganze Ge-
schichte des Reichstages und des Gemeinderates seit dem
6. Oktober ist nichts als eine forlgesetzte Geschichte des Verrats. Wer
war repräsentiert im Reichtag und Genieindcrat? Die Bourgeoisie.
Ein Teil der Wiener N a t i c n a 1 g a r d o ergriff gleich irn
Begiim der Oktolierrevolution offene Partei für die Kamarilla. Und
am Schluß der Oktoberrevolution finden wir einen anderen Teil der
Nationalgarde im Kampfe mit dem Proletariat und der akademischen
Legion, im geheimen Einverständnis mit Jen kaiserlichen Banditen. Wem
gehören diese Fraktionen der Nationalgarde an? Der Bourgeoisie.
Wer lief in Scharen aus Wien fort und überließ der Großmut des
I Volkes die Überwachung der hinterlassenen Reichtümer, um es lür seinen
Wachtdienst während der Flucht zu verlästern, und bei der Wiederkehr
, niedermetzeln zu sehen? Die Bourgeoisie.
Wessen innerste Geheimnisse spricht das Thermometer aus, das
bei jedem Lebensatem des Wiener Volkes fiel, bei jedem Todesröcheln
160 Marx-Feier 1903
desselben stieg? Wer spricht in der Runensprache der Börsenkurse? Die
Bourgeoisie.
Die „deutsche Nationalversammlung" und ihre ,,Zentralge\valt"
haben Wien verraten. Wen repräsentieren sie? Vor allem die Bourgeoisie.
Der Sieg der „kroatischen Ordnung und l'reiheit" zu Wien war
bedingt durch den Sieg der „honetten" Republik zu Paris. Wer siegte
in den Junitagen? Die Bourgeoisie.
Mit ihrem Siege zu Paris begann die europäische Kontrerevolution
ihre Orgien zu feiern.
Wir baben sie erlebt. Begreifen Sie, wie anders diese
Sprache ist als die, die die Naiven von damals kannten? Be-
greifen Sie, daß das ein greller Mißton war für alle, die sich
Volksfreunde, die sich Demokraten nannten? Begreifen Sie,
daß Marx schon damals der proletarischen Demokratie den
Boden bereitete? Begreifen Sie, warum von damals an die
edelsten, die vorges-chrittensten, die menschenfreundlichsten
und freiheitlichsten Elemente des deutschen BürgertumS' bei
aller Einsicht, bei allem Fortschritt, bei aller Liebe zum Volke
niemand bitterer haßten als Karl Marx nnd die jSeinen ?
Karl Marx, der die Lüge zerstört hat — seien wir nicht unge-
recht, nicht die Lüge, sondern den Wahn und die Selbst-
täuschung zerstört hat — daß es ein Volk gebe, etwas Gemein-
sames, etwas Ununterschiedenes gebe mit gleichem Interesse,
und daß diese unterschiedslose Masse kampffähig sei!
Das war Marxens erster Eintritt in die aktive Politik.
Er hat aber da schon ein reiches Erbe mitgebracht, ein Erbe,
das er selbst errungen hat. Wenn wir heute Marx feiern, mehr,
lauter und wärmer feiern, alsi , es sich mit den nüchternen
Gewohnheiten unserer Partei verträgt, wenn wir ihm etwas •
mehr entgegenbringen als anderen, die auch gekämpft und ihr ;
Bestes getan, und wenn wir Marx feiern, die wir Heroenkultus
sonst nicht üben, so hat das seine guten Gründe. In Marx stellt
sich für uns dar das Beste, was die kämpfende Arbeiterklasse
empfunden hat, das Höchste, was die Arbeiterklasse gedacht
hat; in seinem Namen vereinigten sich für uns alle ihre
Hoffnungen, alle ihre Entschlüsse, in seinem Namen vereinigt
sich für uns, was wir erkennen und was wir wollen. Marx hat
uns die Lehre vom Klassenkampf gebracht, dais- heißt, er hat
die Entwicklung der Geschichte uns verständlich gemacht; er
bat die Arbeiterklasse, die anfing die ersten Schritte zu
machen, sehend gemacht, er hat ihr ein Ziel gezeigt — gezeigt.
Marx-Feier 1903 161
nicht gesteckt — , er hat die Tatsachen zu deuten gewußt, und
er hat dem Proletariat etwas gegeben, das das Wertvollste ist
für jeden einzelnen Kämpfer wie für jede kämpfende Klasse:
er hat ihr die S i c li e r h e i t des Sieges gegeben, die
entspringt aus der Ednsicht, daß wir die Träger des mensch-
lichen Fortschrittes sind, daß die Arbeiterklasse der Träger
jenes geschichtlichen Prozesses ist: der Träger der Revolution,
inmitten der wir stehen.
Es sind nüchterne Dinge, die er erzählt hat, und trockene
Bücher, die er gesiohrieben. Man sieht es den Bänden, des
„Kapitals" gar nicht an, welchen Sprengstoff sie enthalten, und
wer glaubt, eine aufregende, eine für Agitationsreden brauch-
bare Lektüre zu finden, der täuscht sich sehr. Harte Arbedt
eines langen Lebens ist da zusammengetragen. Wenn Marx im
,, Kapital" die Gesetze der kapitalistischen Ökonomie auf-
gezeichnet hat, wenn er gezeigt hat, dn welcher speziellen Art
in dieser kapitalistischen Periode Mehrwert aus den Ar-
beitenden gepumpt wird, wie da Eeiclitum aufgehäuft wird von
denen, die die Produktionsmittel besitzen, wenn er in diesen
Forschungen das Pätsel der Sphynx gelöst hat, so ist das nicht
seine größte Tat. Man streitet heute viel über Marxens Wert-
theorien, und man wird noch lange streiten. Sicher ist aber
eines: Es hat noch keine ökonomische Theorie gegeben, die so
fruchtbringend war für die Wissenschaft, und — ich scheue
mich nicht, es zu sagen — was höher steht: so fruchtbringend
für das Leben. Mit seiner Theorie gab Marx der Arbeiterklasse
das A u g e, i h r e eigene Lage zu sehen; er gab ihr
aber auch die Möglichkeit, zum erstenmal ihre
geschichtliche Würde zu empfinden.
Marx hat aber nicht nur Bücher geschrieben. Er hat kein
reiches Leben in dem Sinne, daß man viel von seiner Biogra-
phie erzählen könnte. Anfangs der fünfziger -Jahre, nach der
Revolution, ist er nach England verschlagen worden und ist
kaum wieder aus seinem Studierzimmer und aus dem Lesesaal
des Britischen Museums herausgekommen. Wenig äußere Er-
eignisse hat er erlebt. Aber in dieser Klause wurde der Mann
zu einem der wichtigsten Faktoren der europäischen Gesohichte
der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, und von diesem
engen Studierzimmer heraus ging die mächtigste geschichtliche
Wirkung. Allerdings, Marx war ein Mann der Wissenschaft,
162 Marx-Feier 1903
aber er war auch ein Politiker. Er ^ab dem Proletariat
nicht nur die Erkenntnis, er war auch der erste, der seine
Politik machte. Wie machte er sie? Wenn wir zurückdenken an
die ersten Zeiten der österreichischen Arbeiterbewegung, wenn
wir denken, wie damals von Deutschland ein Stück
Lassalleschen Feuers herüberflog und zündete; wenn wir uns
erinnern, wie das in die Höhe ging und wieder in kurzer Zeit
niedergeschlagen wurde — nicht nur niedergeschlagen — das
müssen wir bekennen — durch die Gewalt, sondern auch
niedergerungen durch die eigene Schuld des österreichischen
Proletariats, das noch nicht reif war für die Aufgaben, die es
sich damals stellte; wenn w^ir daran zurückdenken und den
Zustand der österreichischen Partei von damals mit den
gleichen Verhältnissen in England vergleichen, wo eigentlicu
von einer selbständigen poMtischen Bewegung des Proletariats
keine Rede war, wo sich das Proletariat in einer Gewerk-
schaftsbewegung auslebte; wenn wir es mit Frankreich ver-
gleichen, wo das Proletariat schon ein politischer Faktor war,
der eine solche große Tat wie die Commune zu leisten imstande
war, und mit Deutschland, das an der Schwelle jener Entwick-
lung zur deutschen Sozialdemokratie war, die heute das Prole-
tariat aller Länder führt; wenn wir so in einem kurzen Über-
blick unsere Lage vergleichen und daran denken, wie Marx von
seinem Zimmer in London aus die ganzen fünfziger und
sechziger Jahre Mndurch jedem einzelnen Mann, der in der
internationalen Bewegung tätig war und der Verantwortungen
auf sich nahm, zur Seite stand, sein Berater und Freund war,
und wie er diese ungeheuren Verschiedenheiten zusammenzu-
fassen wußte : da bekommen wir erst einen Begriff von der
ungeheuren politischen Leistung dieses Mannes.
Man pflegt heute so viel vom Marxischen Dogma zu
sprechen, und es gilt als bekannt, daß es nichts Unduldsameres
gegeben hat, als es Marx war, nicht nur in der Wissenschaft,
sondern vor allem auch in der Politik. Unduldsam, herrsch-
süe-htäg, eigenwillig soll Marx gewesen sein. Aber es ist von
vornherein unwahrscheinlich, daß ein Unduldsamer und
Herrschsüchtiger herrschen könne. Herrschen können die
Unduldsamen nie. Ist das also schon von vornherein unwahr-
scheinlich, so möchte ich Ihnen zwei kleine Belege bringen für
die Art, wie unduldsam er war.
Marx-Feier 1903 163
Die Internationale besaß in London ihren Generalrat, in
dem die Delegierten der Parteien aller Länder saßen — eine
Form, die heute längst gesprengt ist, weil die Parteien heute
weit über den Eahmen einer solchen zentralen Leitung hinaus-
gewachsen sind. Aber damals war diese zentrale Leitung sehr
wichtig, weil sich überall erst Embryonen der Entwicklung
einer Organisation der Arbeiter regten. Unter den Leuten, die
da im Generalrat der Internationale saßen, waren auch sehr
merkwürdige Marxisten. Wenn es, müßte man meinen, irgend-
einen Fleck gegeben hat, wo Marx vor allem jene schablonen-
hafte Führung, jene zwiingende Einseitigkeit ausgeübt hätte,
von der man heute spricht — und es gibt genug Leute, die das
ganz ernsthaft glauben — , so wäre ja gerade der Generalrat der
Internationale dieser Fleck. In diesem Generalrat saßen nicht
nur Kommunisten, also was wir heute Sozialdemokraten oder
Marxisten nennen würden, sondern da saßen neben Gewerk-
schaftern auch alte Oweniten, wie der alte W e s t o n, die
überzeugt waren, daß die Bewegung der x\rbeiterschaft, die
politische wie die gewerkschaftliche, zwecklos sei, und daß nur
auf dem Wege einer — man möchte heute fast sagen — über-
irdischen Erleuchtung der Herrschenden einerseits und au^
einer Einrichtung, die das Zirkulationswesen regelt, die Be-
freiung des Proletariats möglich sei. Mitte der Sechzigerjahre
entwickelten sich nun in ganz Europa, in den ersten Anfängen
einer wirtschaftlichen Hochperiode, auch Lohnkämpfe, und
diese nahmen so überhand, daß sich der Generalrat damit be-
schäftigen mußte, weil so, wie die englischen Gewerkschafter
im Generalrat absolut von nichts anderem wiesen wollten als
von ihrem gewerkschaftlichen Leben, die alten Oweniten, die
einen großen Einfluß hatten, wieder darauf hindrängten, daß
man gegen diese Streiks vorgehe. Nun mußte Marx seine An-
sicht durchsetzen, und er setzte sie durch. Er wendete daran,
den alten Weston zu überzeugen, einen Vortrag von ungefähr
sieben bis acht Druckbogen, in dem er ihm genau auseinander-
setzt, was an seinen Ansichten berechtigt, was daran falsch sei
und warum man Streiks nicht behandeln könne als eine Ver-
schwendung der Kräfte usw. Er mußte natürlich nach zwei
Seiten kämpfen, er mußte gegen die ünterschätzung und Ver-
urteilung der Gewerkschaften kämpfen und zugleich gegen
die Überschätzung der Gewerkschaften; das tat er in dem Vor-
164 Marx-Feier 1903
trage, der noch heute lesenswert ist. In der Internationale
'.varen alle diese Eichtungen vertreten, und er brachte sie auf
die Mittellinie in der aktuellen Frage, die für ihn lautet:
Die Gewerkscliaften sind wirksam als Zentren des Wider-
standes gegen übergriffe des Kapitals. Sie verfehlen aber den Zwecke
wenn sie sich auf einen Guerillakrieg gegen die Wirkungen des gegen-
wärtigen Systems beschränken, statt gleichzeitig auf seine ü m-
Wandlung hinzuarbeiten und ihre organisierte Kraft als
Hebel für die endgültige Emanzipation, das heißt Ab-
schaffung des Lohnsystems, zu gebrauchen.
Das wurde 1865 gesagt und das macht noch heute das
Prinzip unserer ganzen Gewerkschaftspolitik aus: den Inhalt
der gewerkschaftlich organisierten Kraft der Arbeiterschaft
auszunützen im täglichen Kampfe der Gegenwart, a b e r
diese G e g e n w a r t s a r b e i t zur Z u k u n f t s a r 1) e i t"
zu machen, indem sie benützt wird zur Organisation der
Armee des Proletariats, die die Befreiung bringen soll.
Etwas anderes: Marx wurde während der Zeit, wo er an
der Spitze der Internationale war, natürlich von allen Seiten^
als derjenige bezeichnet, der alles, w'as geschah, auch bewirke.
Wahr ist, daß er alles beeinflußte, -wahr ist, daß nichts Ernste-
vorging, wo sein Rat nicht zur Stelle war, aber ebenso wahr
ist, daß selbstverständlich die wichtigsten Entwicklungen über
seinen Kopf hinweggingen, und daß sein Eat eben nichts^
anderes sein konnte als ein Fingerzeig, dessen Benützung oft
von denjenigen gar nicht abhing, denen er gegeben war. Marx
wurde nach dem Falle der Commune als der hingestellt, der
die Commune gemacht und der alle sog'enannten Greuel der
Commune auf dem Gewissen habe — Greuel nennt die bürger-
liche Presse nämlich das, was die Commune in Verteidigung
ihrer Freiheit getan; Greuel w^aren ihr aber nie die nieder-
trächtigen Metzelungen, die die Ordnungsparteien verrich-
teten. Es ist für uns alle belehrend, wie sich Marx zur
Commune tatsächlich verhalten hat. Als Napoleon gefalleit
war, als die Republik in Paris ausgerufen w\ir, da richtete der
Generalrat der Internationale eine Adresse an die Arbeiter von
Frankreich, eine Adresse, in der er sie auf das ernsteste zut
Riihe mahnte. Es heißt darin :
Die französische Arbeiterklasse findet sich in äußerst schwierige-
Umstände versetzt. Jeder Versuch, die neue Regierung zu stürzen, \\r
der Feind fast schon an die Tore von Paris pocht, wäre eine v e r
Marx-Feier 1903 165
zweifelte Torheit. Die französischen Arbeiter müssen ihre
Pflicht als Bürger tun; aber sie dürfen sich nicht beherrschen
lassen durch die nationalen Erinnerungen von 1792 ... Sie haben nicht
die Vergangenheit zu wiederholen, sondern die Zukunft aufzubauen.
Mögen sie ruhig und entschlossen die Mittel ausnützen, die
ihnen die republikanische Freiheit gibt, um die Organisation
ihrer eigenen Klasse gründlich durchzuführen. Das wird ihnen
neue herkulische Kräfte geben für die Wiedergeburt Frankreichs und
für unsere gemeinsame Aufgabe — die Befreiung des Proletariats.
Kann man klarer und deutlicher die besonnene, ruhige
Taktik empfehleai, kann man ruhiger und besonnener reden
und in stärkeren Worten zur Besonnenheit auffordern? Aber
die Tatsachen waren stärker als die Katschläge. Marx hat
wenige Monate darauf den Aufstand der Commune erlebt und
er hat sich nicht an die Communarden herangedrängt mit
neuen Eatschlägen, er hat sie nicht mit Vorwürfen verfolgt,
daß sie seiner Klugheit nicht gefolgt waren, er hat ihnen nicht
hinterher zeigen wollen, wie weise er war, und er hat nicht,
wie das heute möglich und traurige Wirklichkeit geworden
ist, den Versuch gemacht, die Eevolution der Commune als
einen Fehler hinzustellen. Marx wußte ganz genau, wieviel
die Taktik im vorhinein feststellen kann, er wußte auch ganz
genau, daß die Dinge stärker sind als alle unsere Überlegungen,
un-d daß es .schließlich darauf ankommt, in jedem Moment seine
Pflicht zu tun, in jedem Moment aber auch nicht zu vergessen,
daß die Zukunft eine andere werden kann. Aber während
andere die Communarden im Stiche gelassen hatten, die, weil
sie Marx nicht gehört haben, so Furchtbares über sich gebracht,
stand Marx in dem Moment, wo die Commune entzündet war,
in dem ]\roment, wo die Commune erlaig, stand mit der gesamten
Internationale bei ihr und war mit ihr solidarisch, als ob die
Commune auf den Rat von Marx unternommen worden wäre.
Ich möchte hier eine kleine Einschaltung machen. Ein
merkwürdiges Zusammentreffen hat mir hier im Saale von
einer Totenfeier für Marx Kunde gebracht, die unter ganz
merkwürdigen Umständen — Umständen, die sich nicht
mehr wiederholen können und ein bezeichnendes Bild öster-
reichischer Zustände zur Zeit, als Marx starb, liefern —
begangen wurde. Einer, der bei dieser Totenfeier dabei war,
schrieb mir davon. Sie wissen, daß zu dieser Zeit in Wien der
Merstallinger-Prozeß stattfand. Es war von einer
166 Marx-Feier 1903
Gruppe von Leuten, die auch allerhand andere unklare Dinge-
getan hatten, ein armer Schuster überfallen worden, um Gelder
für revolutionäre Zwecke zu gewinnen. Eine große Anzahl
,,Terroristen" wurde verhaftet, und der gestern verstorbene
Graf L a m e z a n trat als Staatsanwalt in dem Prozeß auf.
Während der Dauer de» Prozesses starb Marx. Da ließ, als die
Kunde vom Tode Marx' kam, Graf Lamezan die Verhafteten
holen, erzählte ihnen, was geschehen, ließ :sie zum ersten und
einzigen Mal in eine Zelle führen und gestattete ihnen,
gemeinsam zu essen. Einer der Verhafteten — Wenzel
Führer — es sind vielleicht noch einige da, die seinen
jS amen kennen — hielt die erste Gedenkrede auf
Marx — im Wiener Lande sgericht! Eine
Anekdote, nur eine Anekdote, und doch so bezeichnend. Be-
zeichnend für die Arbeiter, die solcher Verbrechen angeklagt,
die niemand mehr verurteilt hätte als Karl Marx, Leute, die
sich wirklich zum Teil von der Linie, die Marx vorgezeichnet
hatte, entfernt hatten, die aber davon so wenig wußten, daß
sie ganz ehrlich und naiv auch diesem Stück ihres besonderen
Kampfes einordneten in die Gedankenreihe, die von Karl Marx
ausging.
Wenn wir uns auf das Gebiet der Taktik begeben haben,
so wacht eine ganze Reihe aktuellster Fragen auf, und ich
glaube, es geht einfach nicht an, ,daß man an einer Stelle, wo
man des Werkes des Karl Marx gedenkt, daran vorübergeht,
was heute die Marx- Krise heißt. In allen Ländern bestehen
Diskussionen, ob das Werk von Marx noch aufrecht steht.
Diskussionen taktischer und wissenschaftlicher Natur. Über
die wissenschaftlichen Diskussionen will ich hier nicht
sprechen, aber die taktische Diskussion will ich kennzeichnen
an ihrer jüngsten Erscheinung. In Frankreich geht heute
ein Streit, wie sich die Sozialisten nennen sollen: revolutio-
när oder reformistisch? Ein Streit, an .dem sich
zwei Männer beteiligen, die sonst nahe genug nebeneinander
stehen, J a u r e s und M i 1 1 e r a n d. Millerand will das
Wort „revolutionär" beseitigt, es habe keinen Wert mehr
und drücke nichts mehr als ein Mißverständnis aus.
Jaures will es aufrechthalten und hält das Wort
„reformistisch" für einen Mißstand und eine Gefahr. Partei-
genossen! Wenn es etwas gibt, was allen Marxisten klar
Marx-Feier 1903 167
— V
ist, so ist es das: daß alle diese Streitigkeiten Streitigkeiten
um Worte, wenn nichts Schlechteres sind, wenn sie nicht eine
Verführung sind, die Arbeiterklasse in den Dienst einer Sache
zu stellen, die ihr fremd ist. Marx hat sich nie einen
Revolutionär genannt, und wir hören es
nicht auf, zu sein, wenn unsere Mittel auch
friedliche sind. Ja: je friedlicher sie sind,
desto notwendiger ist es, uns zu erinnern,
(laß wir revolutionär sind. Gewiß, die Partei hat
heute eine komplizierte Tätigkeit zu entfalten; der Weg zur
politischen Macht, der Weg zur Umgestaltung der Gesellschaft
ist ein langer, ein durchaus nicht einfacher, er zerschlägt sich
in hundert kleine Pfade oder, wenn Sie wollen, aus hundert
kleinen Quellen wird der große Strom! Wenn das so ist, wenn
wir jede harte Arbeit verrichten müssen, Tagesarbeit, ich
möchte sagen: Fronarbeit der Partei, Arbeiten im Interesse
einzelner Gruppen, mühselige Kleinarbeit; wenn wir von den
Parlamentsmandaten bis hinab zu den Gewerbegerichts-
mandaten Besitz ergreifen wollen, wenn wir uns einnisten und
festkrallen in diese alte Gesellschaft, wenn wir Stück für Stück
die Macht der Arbeiterschaft zur Geltung bringen, so ist all
das nur erträglich, weil wir revolutionär sind, weil die Idee
unsere Arbeit belebt. Sonst müßte jeder von uns längst
zugrunde gegangen sein in dieser kleinen, elenden Stückarbeit!
Nun sollen aber Reformen erobert, durchgeführt werden und
die Sozialdemokratie, so sagt man uns, soll sich gemausert
haben, indem sie diese Reformen für das Wichtigste hält.
Parteigenossen! Wir Sozialdemokraten haben nie anderes von
uns gewußt als daß wir Reformisten sind, und wir haben nichts
anderes gewußt, als daß wir z\i gleicher Zeit Revolutionäre sind.
Jede Reform ist wichtig und wert jeder Mühe, aber jede
Reform ist soviel wert, als Revolution in
ihr steckt! Wenn man uns fragt: Revolution oder
Reform?, so antworten wir: Revolution und
Reform! Oder : Reform, nur um derRevolution
willen! (Lebhafte Zustimmung und Bravorufe.) Ich gebe
mir Mühe, jeden Gegner zu verstehen, am meisten, wenn er
Parteigenosse ist. Wofür ich aber — ich gestehe es — gar kein
Verständnis habe, das ist, daß diejenigen, die den Marxismus
auf dem Boden der Partei angreifen, sich einbilden, Idealisten
168 Marx-Feier 1903
zu sein, während sie tatsächlich nichts anderes sind als
klägliche Philister, Erzphilister wie der Famulus
Wagner:
"Wie nur dem Kopfe nicht alle Hoffnung schwindet,
Der immerfort am schalen Zeuge klebt,
Mit gieriger Hand nach Schätzen gräbt
Und froh ist, wenn er Regenwürmer findet.
Ja, wenn es sich nur um. die „Eegenwürmer" handelte,
um die Dinge, mit denen man hier ein kleines Loch stopft, dort
ein kleines Gesetz macht, wenn es sich bei unserer Arbeit nur
immer darum liaadeln würde, das hielten, wir nicht
aus! Das ist das Große an Marx, daß das Bürgertum nach ihm
offen ins Philisterium zurückkriechen mußte und daß er den
Arbeitern das revolutionäre Ideal gegeben hat. (Lebhafter
Beifall.) Freilich, Marx hat Fehler gemacht in Wissenschaft
und Taktik. Von der Wissenschaft will ich nicht viel reden, ich
bin kein Mann der Wiseenschaft, kein Theoretiker, aber soviel
weiß ich, daJ3 selbst in hundert Einzelheiten die Wissenschaft
von Marx lebt. Im übrigen bekämpfen sie ihn. Aber, indem
sie ihn bekämpfen, hat er sie gefangen!
Worauf die heutige Ökonomie so stolz ist, die beschreibende
Nationalökonomie, die Bhilisterökonomie, auch sie stammt von
Marx und Engels her. D^s erste Werk dieser Schule war „Die
Lage der arbeitenden Klassen in England" von Engels und noch
vor ihr das kleine Werkchen von Marx, das anläßlich der Holz-
diebstähle in Baden entstand.
Aber die Taktik von Marx i'st verfehlt? Wer hand'elt,
mackt immer Fehler. Die einzigen Unfehlbaren
das sind die, die nichts sind als. die Re-
präsentanten der Taktik. (Heiterkeit.) Niemand
war mehr bereit, es einzusehen, wenn er irrte, als Marx. Darin
können wir von ihm lernen : die Geduld mit unseren
Parteigenossen! Freilich, Marx war auch sehr unduld-
sam. Derselbe Mann, der sich wochenlang hinsetzte, um einem
englischen Arbeiter beizubringen, was die Gewerkschaften
können und was nicht, war sehr unduldsam gegen andere Leute.
Noch heute kann man ihm nicht verzeihen, was er der euro-
päischen Demokratie angetan, als die M a z z i n i, Rüge und
andere einen großen Demokratenbund stiften wollten, in dem
alle Demokraten beisammen und alle Gegensätze ausgewischt
Marx-Feier 1903 169
«ein sollten, wie da Marx dazwischenfnhr und sagte: ,,Was ihr
wollt, ist Phrase! Was ihr Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit
nennt, das ist die Xacht, in der alle Katzen grau sind. Es
handelt sich nicht um einen Kampf aller um die Freiheit,
sondern um eineij Kampf der Arbeiterklasse für ihre Frei-
heit!" — Das war hart, unduldsam. So sprach er mit den
Gegnern d'er Arbeiterklasse. Aber milde, brüderlich, ver-
söhnlich mit seinen Genossen.
Er war ein armer Mann, der von seiner Arbeit
leben mußte, nachdem er das bißchen, das er hatte, für die
Eevolution geopfert hatte. Als armer Mann kam er nach
London. Wie schwer sein Leben war, das sehen Sie aus einer
Stelle aus einem Briefe Lassalles an Marx, der im
Juni 1852 geschrieben war:
Seit langem selie icli mit Ingrimm und Trauer, wie Deine große
Kraft durch den beständigen Kampf mit der Misere unterminiert zu
werden oder mindestens an ihrer Frische zu verlieren Gefahr läuft. Das
,.ganz Gemeine" ist's, mit welchem der Kampf am meisten den
Genius ermattet, weit mehr als große, tragische Schläge, die
zugleich heben und alle Elastizität, die im Geiste schlummert, ins
Leben ruft.
Den ganz gemeinen Kampf mit dem ganz gemeinen
Elend mußte dieser Mann führen, und während dieses Kampfes
nicht nur Politik treiben, sondern auch seine ganze theoretische
Leistung vollbringen. Auf den erwähnten Brief Lassalles
besitzen wir die Antwort nicht, aber wir haben eine Antwort in
einem Briefe, den er gerade zehn Jahre früher an Rüge schrieb.
Dort heißt es :
Meine Familie legte mir Schwierigkeiten in den Weg, die mich
trotz ihres Wohlstandes momentan den drückendsten Ver-
hältnissen aussetzten. Ich kann Sie unmöglich mit der Er-
zählung dieser Privatlumpereien belästigen. Es ist ein wahres Glück,
daß die öffentlichen Lumpereien jede mögliche
Irritabilität für das Private einem Menschen von
Charakter unmöglich machen.
Daß er sein Privatelend aushalten
konnte, dazu hat ihm die Kraft gegeben:
sein öffentliches Wirken! Daß er das Privatelend
ertragen konnte, dazu hat er die Kraft geschöpft aus dem
gewaltigen Kampfe, den er führte! Daß er das Leben ertragen
konnte, das macht, daß er ein großer Idealist war ! —
Idealist? Der Mann, den sie als groben Materialisten ver-
170 Marx-Feier 1903
fehmen! Ja, er war ein Mann von großem Herzen, das erfüllt
war von Liebe wie kein zweites! Der Mann, dem sie nach-
sagen, daß er das Gehässigste, das Boshafteste war, das je die
Welt getragen!
Genossen! Wenn wir heute um uns sehen, wie weit wir
in den zwanzig Jahren, seit Marx starb, gekommen sind, so
haben wir die Empfindung, daß er selbst nicht ahnen konnte,
wie ungeheuer groß sich das verwirklichen sollte, was er lehrte.
Die Internationale, die er gegründet und die er auflösen mußte,
verfügt heute über eine Summe von Kraft, von bewußt gelei-
steter Arbeit, wie sie in gleicher Weise in der Welt nicht da
war. Vor mehr als hundert Jahren haben wir die Bewegung
gekannt, die von den Enzyklopädisten ausging. Aber
was ist diese Bewegung von damals gegen die internationale
Arbeiterbewegung von heute, eine Bewegung, die alle Welt-
teile, alle Rassen, alle Farben umfaßt, ihnen demselben Geist
einflößt, dasselbe Wort auf die Lippen legt und dabei jedem
Teil doch die Freiheit läßt, sich anzupassen und anziußchmiegen
den Verhältnissen jedes einzelnen Landes?
Soll ich von Österreich reden? Wir haben ein
schweres Los, daß wir hier proletarische Politik machen
müssen ! () s t e r r e i c h ist, hat man uns vor kurzem gesagt.
Eine genügsame, bescheidene Wahrheit! Österreich ist eine
Tatsache, und daß das Lob so bescheiden ist, das ist eine
traurige Tatsache. (Heiterkeit.) Was ist Österreich?
Ist Österreich eine Förderung für die Völker, die verurteilt
sind, in diesem Staate zu leben, oder ist Österreich vielleicht
schon eine Kette geworden, die die Entwicklung hemmt?
Österreich ist — ja, das spüren wir in allen Gliedern (Heiter-
keit), aber alle aufsteigenden Klassen, auch das Bürgertum,
leiden schwer unter dieser offiziellen Tatsache. Kein Wunder,
daß auch unsere Gegner die Spuren, fast möchte ich sagen:
den Makel an sich tragen, daß sie B ü r g e r e i n e s S t a a t e s
sind, der längst ausgelebt hat, dessen Formen längst
erstarrt sind und der der Gegenwart nichts mehr zu sagen hat.
tiberall hat das Bürgertum seine eigene Revolution verraten,
aber so schmachvoll preisgegeben wie in diesem Österreich
nirgends. Heute haben wir in Österreich ein Bürgertum, das
ängstlich und scheu geworden ist, aus dem nichts mehr werden
kann, das das empfindet und sich vor lauter Angst bald au
Marx-Feier 1903 171
die Rockschöße des w i 1 d und auch korrupt .gewordenen
Kleinbürgertums hängt, bald' sich an die Arbeiterschaft heran-
biedert. Wie Marx eiüst im „18. Brumaire" sagte: „Die
Bourgeoisie muß die Dummheit derMassen
fürchten, so lange sie konservativ bleiben,
11 nd die Einsicht der Massen, sobald sie revo-
lutionär werde n."
Wir haben ein schweres Los. Wir haben das traurige
Schicksal, daß die Arbeiterschaft dieses Staates weiter ent-
wickelt ist als die politischen Verhältnisse dieses Staates, ja,
daß sogar die wirtschaftlichen Verhältnisse weiter Strecken
dieses Staates zurückgeblieben sind hinter der Entwicklung der
Arbeiterklasse in den vorgeschritteneren Teilen des Reiches.
Wir haben das Wirrsal der Nationen, wir haben eine rück-
ständige Verfassung, staatsrechtliche Verhältnisse, die in ihrer
Eigenheit unmöglich sind wie unser Verhältnis zu Ungarn, wir
luiben mit einem Wort von allen P r o 1 e t a r i a t e n
aller Länder das schwerste Los zu tragen!
Wenn wir unseren Weg zu gehen imstande sind, wenn
wir hier den Weg finden in diesem Nebel, der dicker ist als
-onst irgendwo, so verdanken wir das Marx und der marxisti-
schen Gedankenrichtung, die uns gelehrt hat, jedem äußeren
Schein seinen inneren Kern zu entlocken, uns vor Selbst-
täuschungen zu schützen und in diesem Lande der
liroßen Worte, dergroßen Illusionen die verhält-
nismäßig nüchternste Partei zu bleiben. Wir Österreicher haben
allen Grund, Marxisten zu sein, mehr wie andere!
Die heutige Internationale umschließt die proletarische
Bewegung aller Länder, die immer größer, immer breiter,
immer tiefer wird, und wenn Marx erlebt hätte, was nicht nur
aus den versprengten Österreichern, die er kennen gelernt,
■sondern was aus der Bewegung dieses Landes geworden ist, von
der damals erst die ersten Anfänge zu erkennen waren, wenn
er erlebt hätte, was aus der russischen Revolution heute ge-
worden ist, wenn er mithoffen könnte wie wir auf diese in ganz
Europa entscheidende Revolution, wenn er mithoffen könnte
wie wir, daß endlioh auf dem langsamen Wege auch einmal ein
Kuck nach vorwärts erfolgen werde, den wir alle ersehnen;
wenn Marx das erlebt hätte, so würde er zurückdenken an sein
Kommunistisches Manifest : Proletarier allerLän der,
172 Marx-Feier 1903
vereinigt euch! Proletarier aller Länder ! Und da lassen
Sie sich noch eines sagen, was Marx charakterisiert. Marx war
nicht der Führer einer Partei. Marx hat nicht Partei-
politik gemacht. Marx hat K i a s « e n p o 1 i t i k gemacht,
und von ihm sollen wir lernen und in seinem Geist denken und
handeln, wenn wir uns über die Politik der Partei, über die
täglichen Pflichten des Parteimannes erheben und den Blick
auf 'die gesamte Arbeiterklasse und ihren Fort-
schritt richten, deren Diener, d'eren Mittel,
deren Werkzeug die Partei ist. Traurig wäre es,
wenn das, was die Sozialdemokratie heute bedeutet, das Um
und Auf der proletarischen Kräfte, wäre. Aber wir müssen uns
in jedem Moment bewußt sein, daß das unser Ziel ist, d i e
Sozialdemokratie zum Führer .der proletari-
schen Bewegung zumachen, der sich die Partei und
.jeder einzelne sehr oft unterordnen müssen.
Parteigenossen und Genossinnen! Ich habe sehr deutlich
die Empfindung, daß, was ich in diesen Worten geben konnte,
lange nicht das ist, was ich Ihnen geben möchte. Ich habe sehr
deutlich die Empfindung, daß es sich in kurzem nicht au.s-
sprechen läßt, was der Inhalt aller unserer Vorstellungen, was
das Ziel alles unseres Wollens ist und was nns Marx ist, der
uns mehr ist als ein Lehrer, mehr als ein Vorkämpfer, der uns
auch ein Symbol ist. Aber, und mit dem Gedanken wollen wir
auseinandergehen : wenn das Proletariat durch irgend etwas
befähigt ist, seinen Weg zxf finden, so ist es es dadurch, d a ß
es sich als Klasse empfindet, und wenn es dnrch
irgend etwas befähigt ist,* seinen Willen zu verwirklichen, so
ist es der Gedanke, der echt marxistische Gedanke, daß das
Durchsetzen seines Willens eine Aufgabe ist, die nur dem
Proletariat gestellt ist und von sonst niemandem erfüllt werden
kann, daßda&Proletariat es ist, dasder Träger
seiner Befreiungnicht nurs einkann, sondern
sein muß und sein wird, daß das Proletariat es selbst
und einzig das Proletariat es ist, das diese Befreiung be-
wirken kann. Das ist es, was der Name Karl Marx
sagt, das ist es, was uns die Kraft geben wird,
überall h i n w e g z u s c h r e i t e n über die T r ü in m e r
der feudale n V e r g a n g e n h e i t, das uns die Kraft
geben wird, die Ketten der kapitalistischen
Ein Gedenktag 173
Gegenwart zu brechen, und die Kraft, die uns ermög-
lichen wir<3, aufzubauen d i e g r o ß e sozialistische
Zukunft.
In diesem Sinne grüßen wir das Andenken von Karl
Marx, und in seinem Namen und in seinem Geiste rufen wir
den alten Feldrui: Es lebe die internationale, es-
lebe die revolutionäre Sozialdemokratie, sie
lebe hoch! (Stürmische, begeisterte Hochrufe. Lebhafter,
andauernder Beifall.)
72.
„.Arbeiter-Zeitung." 5. August 1905.
Ein Gedenktag.
Wien, 4. August.
Morgen werden es zehn Jahre sein, daß Friedrich
Engels dahingegangen, daß in seinem stillen Hause in
London der Mann die Augen zum letztenmal geschlossen, der
dem kämpfenden Proletariat der ganzen Welt Führer und Be-
rater war.
Zehn Jahre sind es schon, aber wir haben den Verlust
noch nicht verschmerzt, das Gefühl, daß wir verwaist sind, ist
noch nicht von uns gewichen, er fehlt uns wie am ersten Tage.
Denn Friedrich Engels war uns nicht nur der große Denker,
der unübertreffliche Lehrer, er war der große Praktiker der
proletarischen Bewegung. Mit Marx hat er den Gedankenbau
des modernen Sozialismus aufgerichtet, hat ihn von der Utopie
zur Wissenschaft geführt. Die unerhörte Energie seines
Lernens hat ihm ermöglicht, den Wissensinhalt des Jahr-
hunderts zusammenzufassen und der grandiosen Gesamtauffas-
sung, der sozialistischen Weltanschauung anzugliedern und ein-
zuverleiben. So ist er unser Lehrer im höchsten Sinne geworden,
der uns die Bewegung des Proletariats in allen ihren Zu-
sammenhängen begreifen ließ. Die Klarheit, die Frische, die
Energie seines Geistes machen jede einzelne seiner kleinen
Schriften, die nun endlich zum großen Teile gesammelt und
zusammengefaßt sind, zu einer unversiegbaren Quelle jener
liöchsten Form der Belehrung, die nicht fertig Gedachtes
vermittelt, sondern zum selbständigen Denken zwingt.
l74 Ein Gedenktag
Friedrich Engels hat Karl Marx um zwölf Jahre überlebt
und auch nach dessen Tod galt ihm als Höchstes, sein Mit-
arbeiter zu bleiben. Die Arbeit, die er dem zweiten und dritten
Bande des „Kapital" gewidmet, ist ein Denkmal unvergleich-
licher Treue. Aber in diesen zwölf Jahren war die Arbeiter-
bewegung mit Riesenschritten gewachsen. War sie in ihrem
embryonalen Zustand schon schwer in der alten „Inter-
nationale" zusammenzufassen, so wurde es nun von Tag zu Tag
schwerer, sie auch nur zu übersehen. Je weiter die Bewegung
fortschreitet, je mächtiger sie in den einzelnen Ländern wird,
desto mehr differenziert sie sich auch, desto mehr gewinnt sie
in jedem Lande ihr besonderes Gepräge, das von den beson-
deren Verhältnissen dieses Landes abhängt. Aber die inter-
nationale Zusammenfassung wird in demselben Grade not-
wendiger, als sie schwerer wird. Da ist nun Friedrich Engels
mit seiner Kenntnis der Dinge und Menschen eingetreten. Er
hat uns einander verstehen gelehrt und so ermöglicht, daß wir
uns verständigen. Erst als er uns entrissen wurde, mußten wir
uns unser internationales Büro errichtet. Solange er lebte, hat
er ganz allein diesen Dienst versehen und mit ganz unver-
gleichlichem Erfolge. Weil er ein wahrer Führer war, ist ihm
nie eingefallen, zu gängeln; weil er ein wahrer Lehrer war, ist
ev weltweit davon entfernt gewesen, ein Schulmeister zu sein.
Niemals hat er seine Meinung als eine entscheidende auf-
gedrängt, aber keiner ist ohne Bereicherung von ihm gegangen,
und auch wo er nicht überzeugen konnte, hat er die Klarheit
des Erkennens gefördert. So hat Friedrich Engels der inter-
nationalen Verständigung als Mittelpunkt gedient, weil er uns
geholfen hat, einander zu verstehen.
Unser größter Politiker, unser größter Taktiker war
Friedrich Engels, Er ist es geworden, weil er, der ein jugend-
lif iier Feuergeist geblieben war bis zur Stunde, da er als fünf-
undsiebzigjähriger Greis die Augen schloß, den nüchternen
und ehrlichen Blick für die Tatsachen hatte. Nichts dünkte
ihm gefährlicher als Selbsttäuschung, nichts war ihm zuwiderer
als Deklamation, und wäre sie noch so gutgläubig gewesen.
Al»cr auch der (Jefahr aller systemisierenden Köpfe, die Er-
kenntnis der Tatsachen, dem Willen zum System zu beugen,
ist er so selten unterlegen wie wenige. Wo es aber geschah, da
tjiit seine Selbstkritik berichtig'end ein. Diejenigen unserer
Ein Gedenktag 175
Genossen^ die ihren angeblichen Revisionismus dem fabel-
haften Dogmatismus entgegensetzen zu müssen wähnen,
können an Engels lernen, welcher Unterschied besteht zwischen
zersetzendem, unfurchtbarem, jedes Handeln lähmendem Ske}>-
tizismus und nüchterner, rücksichtsloser, aber schöpferischer
Selbstkritik. Niemand hat gründlicher, ja grausamer seine
eigenen Anschauungen unaufhörlich revidiert als Engels. Sein
letztes Wort an das revolutionäre Proletariat, jene berühmte
Vorrede zu den „Klassenkämpfen in Frankreich", ist so ein
Stück Selbstkritik, das ruhig einbekennt : ,,die Geschichte hat
uns unrecht gegeben"' ujad das auf die Erkenntnis der neuen
Tatsachen die moderne Taktik des kämpfenden Proletariats
aufbaut.
Wie oft, seit wir Engels entbehren müssen, hätten wir
ihn so bitter nötig gehabt! Sein klares Auge, das durch keine
Spur von Rechthaberei getrübt war, hätte uns manche Wirren
leichter lösen lassen, seine erfahrene Hand hätte uns über
manchen Streit hinübergeholfen. Er war der Vertrauensmann
der Sozialdemokratie aller Länder und mühsam müssen wir
nun gemeinsam suchen, die Leistung zu ersetzen, der nur er
gewachsen war. In seinem Geiste zu wirken, ist das Höchste,
vvtis wir von uns selbst verlangen können.
Jedes Jahr, seit Engels gestorben, hat große Verände-
rungen gebracht. Immer mehr wird die proletarische Bewegung
der Kern und die Achse der Geschichte unserer Zeit. Die
Gedankenwelt des Sozialismus bemächtigt sich aller Gehirne,
sie wird die treibende Kraft des Proletariats und wirkt
lähmend auf die herrschenden Klassen, die sich ihr trotz alles
Widerstrebens nicht versehließen können. Der Klassenkampf
geht in die Breite wie nie, nimmt die mannigfaltigsten Formen
an und spitzt sich da und dort zu kritischen Phasen zu. Aber
alle Einzelheiten der Geschehnisse treten in ihrer Bedeutung
zurück liinter der entscheidenden Wucht der Tatsache, daß
Rußland in die Ära der Revolution eingetreten. Man kann
nicht ohne Schmerz daran denken, daß Marx und Engels diese
Tage nicht erlebt, die sie herbeisehnten mit allen Fibern ihres
Seins. Daß der Endkampf gegen den Zarismus, dessen Erfolg
sein Sturz sein muß. nicht nur für Rußland, sondern für die
Gesamtbewegung die größte Bedeutung haben wird, das
empfinden wir alle. Die russische Revolution wird der
176 Ein Brief von Friedrich Engels
Arbeiterbewegung des Westens einen neuen Anstoß und
neue, bessere Kampfbedingumgen geben und
damit den Sieg des modernen, industriellen
Proletariats beschleunigen, schrieb Engels 1894.
Wir stehen davor, diese Weltenwende zu erleben. Wie das
neunzehnte Jahrhundert von der Französischen Revolution, so
wird das zwanzigste von der russischen Revolution eingeleitet.
Ein neues Jahrhundert der Revolution bricht an, der Revo-
lution, deren Träger aber nicht mehr das Bürgertum, sondern
das Proletariat sein wird. Den Weg dieser Revolution haben uns
Karl Marx und Friedrich Engels erleuchtet. Das Vermächtnis
Engels' insbesondere, unseres ,, Generals", ist die Strategie und
die Taktik der revolutionären Bewegung. Unvergeßlich ist sein
Angedenken, unsterblich sein Werk, unerschöpflich die Wir-
kung, die über sein Leben hinaus von seiner Persönlichkeit
ausgeht.
73.
„Der Kampf." 1. März 1908.
Ein Brief von Friedrich Engels.
Die Redaktion des ,, Kampf ' hat mich aufgefordert, ihr
den unten folgenden Brief von Friedrich Engels zum Abdruck
zu überlassen, und ich bin mit ihr der Meinung, daß sein Inhalt
durch ein nicht geringes sachliches und persönliches Interesse
die Veröffentlichung rechtfertigt. Vor allem trägt der Brief,.
Avie jede Zeile, die Engels schrieb, das Gepräge des ganzen
Menschen, seiner Kraft und Liebenswürdigkeit. Dann ist er
cm Beispiel dafür, wie hilfsbereit unser „General" für seine
Schüler und Freunde war und wie etwa die Korrespondenz
aussah, die er in einem 'halben Dutzend Sprachen bis in die j
letzten Wochen todbringender Krankheit hinein führte, und |
das neben seiner schweren schriftstellerischen Arbeit, seinen ■
umfassenden und intensiven Studien; weiter aber ist die An- |
Weisung, die Engels für das Studium des dritten Bandes ||
,, Kapital" gibt, wichtig, weil niemand kompetenter dazu war
als er. Schließlich werden unsere österreichischen Genossen
in diesem Briefe wieder einen Beweis dafür finden, mit welchem
gespannten Interesse Engels unsere Bewegung in allen ihren
Ein Brief von Friedrich Engels 177
Einzelheiten verfolgte. Welch herzliche Sorgfalt er ihr widmete
und welch große Hoffnungen er auf sie setzte, das hat er selbst
anderthalb Jahre vorher im Wiener Sofiensaal ausgesprochen.
Zum näheren Verstäntdnis einiger Einzelheiten des Briefes
diene folgendes: Es war das erste Quartal der täglichen „Ar-
beiter-Zeitung'' und das letzte Quartal der Koalitionsregiei"ung.
Unser Wahlrechtskampf hatte wieder einen Hö-hepunkt. Das
famose „Subkomitee" war im Begriff, an seiner impotenten
Schuftigkeit kaput zu gehen. Wie sehr die Arbeiterschaft be-
griffen hatte, daß die Wahlreform „das Fulcrum für die ent-
scheidende Wirkung" in der österreichischen Politik sei, konnte
ihm die jSiummer der „Arbeiter-Zeitung" sagen, die er einen
Tag später erhielt, nachdem er seinen Brief abgeschickt hatte,
und die von dem gewaltigen Aufmarsch beim Märzmonument
und einer noch wirksameren Demonstration vor dem Parlament
erzählte.
Ich mußte damals auf einen Monat „ins Loch"; eigentlich
auf sieben Wochen in zwei Raten. Warum, weiß ich nicht mehr
genau. W'ahrscheinlich hatte ich meinem Zweifel an der politi-
schen Weisheit der Herren Windischgrätz und Plener be-
scheidenen Ausdruck gegeben. Wir lösten uns ja damals in den
„besseren" Bezirksgerichtsarresten — ich schwärmte für Sechs-
haus — ab, wie die Schildwachen. Das waren die in ihrer Art
guten Zeiten, wo die österreichische Regierung noch etwas für
unsere theoretische Weiterbildung tat; jetzt ist es uns schwerer
geworden, die Muße für ruhiges Studium zu finden. Hinzufügen
will ich noch, daß ich wie manche Freunde das von Engels ge-
gebene Rezept zum Studium des „Kapital" fleißig befolgt habe
und daß ich es bestens empfehlen kann. Probatum est.
Das Leiden, über das Engels klagt, war ein altes chroni-
sches Übel, ein unbequemes, aber sonst harmloses Bruchleiden.
Er ahnte nicht, daß ihn wenige Wochen später jene furchtbare
Krankheit packen sollte, der er im August desselben Jahres
erlag. Ende März zeigten sich die ersten ernsten Symptome von
Krebs der Speiseröhre, der dann rapid um sich griff. Er mußte
doch Seeluft brauchen; zum letztenmal. Als ich ihn im Juli in
Eastbourne aufsuchte, fand ich einen sterbenden Mann.
So ist der hier veröffentlichte Brief einer der letzten, die ich
A'on ihm erhielt.
(Folgt der in dieser Ausgabe als Nr. 63 abgedruckte Brief.)
178 Der Briefwechsel zwischen Marx und Engels
74.
„Der Kampf." 1. Oktober 1913.
Der Briefwechsel zwischen Marx und Engels.
Die Briefe, die Karl Marx und Friedricli Engels einander
schrieben, liegen nun, soweit sie erhalten sind, in vier starken
Bänden der Öffentlichkeit vor. Der erste der abgedruckten
Briefe ist Ende September 1844 aus Barmen von dem vierund-
zwanzigjährigen Engels an den zwei Jahre älteren Marx nach
Paris gerichtet, den letzten schreibt „der Mohr" am 10. Jänner
lfc83, drei Monate vor seinem Tode. Es sind die Dokumente
eines gemeinsamen Lebens von beispielloser Fülle, Kraft und
Spannung. Sie zeigen, wie sich im Kopfe jedes der beiden
Männer die Geschichte dieses Zeitraumes, deren Inhalt die
revolutionäre Umgestaltung Europas ist, aufgelöst in Tages-
geschichte, spiegelt, wie die Verbindung von gewaltigster
Denkarbeit der Schöpfer des wissenschaftlichen Sozialismus
mit täglich betätigter Energie politischen Handelns der Grün-
der und Führer der Internationale, der Berater des Proletariats
von zwei Weltteilen, erstaunlichstes Ereignis wurde. Aber
dieser Briefwechsel bringt mehr als das Bild der Leistung von
zwei Männern, er führt uns eine Gemeinsamkeit vor, die ganz
einzigartig ist. Was Marx und Engels verband, wird durch das
Wort Freundschaft nur sehr unvollkommen ausgedrückt; es
war Gemeinschaft und Gemeinsamkeit der Arbeit, des Denkens^
Forschens, Handelns, Kärapfens, des ganzen Lebens nach
seinem ganzen Inhalt und in allen seinen Formen. Von diesem
Verhältnis bekommt man erst durch diesen Briefwechsel eine
ausreichende Vorstellung. Was beide als. Hemmung empfanden,
daß Marx in London und Engels bis 1870 in Manchester
wohnte, wird uns nun zur unschätzbaren Quelle deutlichster
Einsieht in ihr Leben. Denn da sie — von kargen Tagen des
Beisammenseins abgesehen — auf schriftlichen Verkehr an-
gewiesen waren, haben wir nun in Briefen aller Art, vom flüch-
tigen Zettel bis zur ausführlichsten Darlegung, Zeugnisse von
dem Leben fast jeden Tages.
Die Frische, Unmittelbarkeit, Lebendigkeit dieser Briefe
gibt ihnen einen unerschöpflichen Reiz. Sie ersetzen den münd-
lichen Gedankenaustausch der zwei Freunde und sind darum
ursprünglicher, ungehemmter im Ausdruck als selbst Tage-
Der Briefwechsel zwischen Marx und Engels ITi)
bücher gemeinhin sind, die doch die Absicht haben festzu-
halten, was von dem Eindruck, der Stimmung de's Augenblicks
aufbewahrt werden soll. Diese Briefe aber sind aus der Stunde
für die Stunde entstanden und haben ihren Beruf erfüllt,
wenn sie das Auge — fast möchte man sagen das Ohr! — des
Empfängers getroffen, der seinerseits sie als aus dem Flusse
der Gedanken und der Stimmung entspringend aufnimmt und
nicht als festgefrorene, starrgewordene Meinungen mißversteht.
Das Bild dieser absoluten Offenheit, Ungezügeltheit und ün-
genjertheit in dem Verkehr zweier gewaltiger Menschen gibt
dem Briefwechsel ein ganz besonders psychologisches Inter-
esse; aber gerade hierin liegt auch eine ernste Gefahr des Miß-
verständnisses, ja des Mißbrauchs solcher Veröffentlichungen.
Bedarf es schon großer Vorsicht , und Liebe zur Wahrhaftig-
keit, aus einzelnen aus dem Zusammenhang gerissenen Stellen
von Werken und Reden, die für die Öffentlichkeit bestimmt
sind, die richtigen Schlüsse zu ziehen, .so ist die Gefahr hier
um so größer, daß Kommentatoren, auch wenn sie besten
Willens wären, aus einzelnen Äußerungen dieser Briefe völlig
falsche Schlüsse ziehen, in dem. sie für fest und starr ansehen,
was fließt, als Meinung, was nur Einfall, als Urteil, was nur
Stimmung. Aus Zeugnissen größter subjektiver Wahrheit
können so Bilder größter objektiver Unwahrheit gewonnen
werden. Marx und Engels hatten nicht nötig, in ihrem Ver-
kehr vor Einseitigkeiten auf der Hut zu sein, denn sie waren
sicher, daß vom Empfänger die andere Seite gekannt und
vorausgesetzt wurde. Wenn Marx sich über das, was er als
Lassalles ökonomische Mißverständnisse und persönliche Takt-
losigkeiten bezeichnete, in heftigen Worten an Engels austobt,
hat er nicht nötig immer hinzuzufügen : „Aber politisch war er
sicher einer der bedeutendsten Kerle in Deutschland und der
einzige Kerl in Deutschland selbst, vor dem die Fabrikanten und
Fortschrittsschweinehunde Angst hatten.'' Engels wußte ganz
genau, was Marx von dem „toten Löwen" hielt, und war darin
mit ihm einig, daß Lassalles „unsterbliches Verdienst es ist,
nach fünfzehnjährigem Schlummer die Arbeiterbewegung in
Deutschland wieder wachgerufen zu haben". Und so in hundert
anderen Dingen. Die Briefe sind erfüllt von einem unaufhör-
lichen Ringen nach Selbstverständigung, von schonungsloser,
bohrender Selbstkritik, daneben aber findet man auf jeder
180 Der Briefwechsel zwischen Marx und Engels
Seite übermütig-ste Paradoxie bis zur burschikosen, ja blutigen
Selbstironie. So unvergleichlich abziehend und fesselnd das ist,
die Empfindung wird manchen Leser beschleichen, daß es in-
diskret ist und daß eine Art Schamhaftigkeit sich dagegen
sträubt, sich in das nun nackt daliegende innerste Gedanken-
leben dieser zwei großen Menschen zu drängen. Aber eben ihre
geschichtliche Größe macht, daß sie den Anspruch ^uf
Schonung verwirkt haben, und Bebel hat recht, wenn er im
Vorwort sagt : „Vor allem hat die sozialistisch denkende Welt
Anspruch, ein unverfälschtes Bild von dem Werdegang, dem
Fühlen und Denken der beiden Männer zu erhalten, die als die
Begründer des modernen wissenschaftlichen Sozialismus an-
gesehen werden müssen und die für ihn als die Sache des Prole-
tariats ihre ganze Persönlichkeit einsetzten."
So empfand auch Engels selbst; er hat die Veröffent-
lichung des Briefwechsels gestattet, ja gewünscht, und man
muß ihm dankbar sein dafür sowie seinen Willensvollstreckern
Bebel und Bernstein, die sich ihrer ungemein schwierigen Auf-
gabe mit Takt und Geschick unterzogen haben. So imponierend
das Bild der Persönlichkeit von Marx und Engels auch schon
bisher erschien, im wesentlichen konnte es nur aus dem Ergeb-
nis, aus der vollendeten Leistung entnommen werden. Erst jetzt
kann man die ungeheuerliche Größe der Arbeit ermessen, die
sie für notwendig gehalten, um ihrer Aufgabe zu genügen. Und
diese Arbeit wird getan unter einer Fülle von Schwierigkeiten,
deren jede einzelne auch willensstarke Menschen erdrücken
konnte. Als Marx mit seiner Familie in London ankam, mußte
er das Flüchtlingselend in allen seinen Bitterkeiten auskosten
bis auf die Neige. Not und Krankheit, der widerwärtige und
zeitraubende Emigrantenzwist raubten ihm Zeit und Kraft.
Dabei ist er ununterbrochen tätig, die Fäden der durch den
Sieg der Reaktion zertrümmerten revolutionären Organisation
in Deutschland durch eine umfangreiche Korrespondenz wieder
ajizuknüpfen und zu vervollständigen, steht mit den Führern
der Bewegung in England selbst in engster Fühlung und führt
einen endlosen, mühevollen Kleinkrieg für die reinliche
Scheidung der Kommunisten von bürgerlichen Demokraten
und unklaren Köpfen und Phrasendreschern aller Nationen
und jeden, zum Teil sehr bedenklichen Kalibers. Und während
'Cr so leistet, was allein schon die Kraft von zwei tüchtigen
Der Briefwechsel zwischen Marx und Engels 181
Menschen hinreichend in Ansprucii nehmen würde, findet er
Zeit und Kraft, nicht nur im Le-sesaal des British Museum das
Material für sein ökonomisches Werk zu saimneln, sondern
sogar diese Arbeit, die den höchsten Grad von geistiger An-
spannung und Sammlung fordert, in gewaltigen »Stößen weiter-
zubringen. Über jeden Schritt dieser Arbeit gibt er Engels
Bericht, und wie er in politischen und organisatorischen
Dingen auch nicht das geringste unternimmt, ohne Engels be-
fragt zu haben : was denkst du davon ? so unterrichtet er ihn
in langen Auseinandersetzungen über den Stand seiner theo-
retischen Arbeit; jeden Zweifel, jede,s Bedenken legt er ihm
vor und sie beruhigen sich nicht, bevor sie zu Übereinstimmung
und Klarheit gekommen.
Engels* Leistung und Persönlichkeit und sein Verhältnis
zu Marx kann erst aus diesem Briefwechsel voll erkannt wer-
den. Man liat immer gewußt, daß Engels dem Freunde nach
Kräften geholfen hat, die schlimmste Not zu überwinden, und
daß er Anteil hatte an seiner wirtschaftlichen und politischen
Arbeit. Jetzt wissen wir mehr und erkennen aus den Briefen
mit wachsender Ergriffenheit, daß Engels seines Lebens Inhalt
darin gesehen hat, Helfer des Genius und seines Werkes zu
sein. Aber diese Hingebung bedeutet für Engels keineswegs
zurücktreten oder gar sich unterordnen. Dazu war Engels
eine viel zu starke und reiche Persönlichkeit, und gerade die
Selbständigkeit und Kraft seiner Persönlichkeit machte aus
ihm den Helfer, den Marx brauchte, und ohne den er sein
W^erk nicht hätte vollbringen können. Mehr als dreißig Jahre
ist Engels ihm helfend zur Seite gestanden, und jedes Blatt
dieser Briefe gibt davon Zeugnis. Aber nicht in einem einzigen
Worte dieser tausend Briefe kommt etwas zum Ausdruck, was
nach Entsagung schmeckt und nach Opfer bringen oder Opfer
annehmen. Engels will dasselbe, was Marx will; sie tragen ge-
meinsam die gemeinsame Last. Immer wieder muß man an die
naiven Worte denken, die der junge Engels im Jahre 1844 an
Marx schreibt. Er kündigt ihm das Erscheinen von Stirners
Buch „Der Einzige und sein Eigentum" an, natürlich nicht
ohne es sofort in Grund und Boden zu kritisieren als „voll-
kommenen Ausdruck der bestehenden Tollheit". Und er fügt
gleich hinzu, was „man dem Kerl erwidern muß", daß nämlich
seine egoistischen Menschen notwendig aus lauter Egoismus
182 Der Briefwechsel zwischen Marx und Engeln
Kommunisten worden müssen und daß „das menschliche Herz
von vornherein, unmmittelbar in seinem Egoismus uneigen-
nützig und aufopfernd ist'*. Wahr aber an Stimers Prinzip sei
allerdings, daß .,w i r erst eine Sache zu unserer
eigenen egoistischen Sache machen müssen,
che wir dafür etwas tun können" und', fährt er
fort, „daß wir also in diesem Sinne auch aus Egoismus Kom-
munisten sind, aus Egoismus Menschen sein wollen, nicht bloß
Individuen". Zu seiner „egoistischen Sache'' hat Engels den
Befreiungskampf des Proletariats gemacht, dessen schärfste
Waffe zu schmieden die Lebensarbeit von Marx ist. Dieses
Leben und diese Arbeit zu ermöglichen, ist nicht minder seine
Sorge wie die von Marx selbst. Unermüdlich schafft er Geld
herbei, um das Äußerste an Not von Marx fernzuhalten und
ohne Zweifel bleibt er, um diese Möglichkeit zu haben, Sklave
des ihm längst widerwärtig gew^ordenen „Kommerzes". Aber
alle diese Fürsorge, die ihn selbst oft in peinliche Verlegenheit
bringt, ist nichts im Vergleich zu der großartigen Selbstver-
ständlichkeit, mit der er seine Zeit und seine Arbeit in den
Dienst der Bedürfnisse des Freundes stellt. Marx gelingt es
endlich durch regelmäßige Mitarbeit an der „IS^ewyork
Tribüne" die ersehnte Quelle halbwegs regelmäßigen, wenn
auch elend kargen Erwerbes zu finden, aber noch macht ihm
das Englische Schwierigkeiten, die er übrigens überschätzt. So-
fort übernimmt Engels die Arbeit, indem er nicht nur über-
setzt und zurechtfeilt, was Marx geschrieben, sondern selbst
schreibt, sobald Marx irgendwie durch Krankheit oder Über-
lastung mit Arbeit verhindert ist, oder der zu behandelnde
Stoff seinem besonderen Arbeitsgebiet näher liegt. Und als
Marx später die Mitarbeit an einer in x\merika erscheinenden
Enzyklopädie, einer Art Konversationslexikon großen Stiles,
angeboten wnrd, ist er sofort Feuer und Flamme dafür und
übernimmt ganz, selbstverständlich alle Artikel, die mit Kriegs-
wissenachaft und Kriegsgeschichte irgendwie zusammen-
hängen. Mit welcher in die Tiefe der Probleme gehenden
Gründlichkeit, mit welchem ungeheuren Aufwand an Fleiß
und Ausdauer er diesen Zweig der Geschichte studierte, er-
fährt man deutlicher noch als aus seinen veröffentlichten
Schriften aus diesem Briefwechsel und sieht zugleich, daß er
meinte, durchaus nicht nur Wis^senschaft, sondern auch Vor-
Der Briefwechsel zwischen Marx und Engels 183
bereitung für ihre praktische Anwendung zu treiben. Bis weit
in die Sechzigerjahre hinein hoffte er noch immer, ea werde ihm
vergönnt sein, zu Pferde zu steigen und ein Revolutionsheer
zu führen.
Denn daß die Ära der Revolutionen durch die Reaktions-
periode der Fünfzigerjahre nur unterbrochen, aber keineswegs
geschlossen sei, war beider Überzeugung und leidenschaftlich
gehegter Glaube. Jedes der großen Ereignisse, die an ihnen
vorüberziehen, untersuchen und werten sie von diesem
Gesichtspunkt, und nichts ist fesselnder, als zu sehen, wie jede
Enttäuschung ihnen ziuii Ausgangsf^unkt neuer Erkenntnis,
aber auch neuer Hoffnung wird. Die Umwälzung,, die sie er-
i-ehnten, hat sich freilich in anderer Form vollzogen, als sie
meinten, und schmerzlich enttäuscht wurde ihre Sehnsucht
nach der deutschen Revolution, die dem deutschen Volke Ein-
heit und Freiheit bringen und das Signal zum entscheidenden,
weltumspannenden Kam.pfe -sein sollte. Aber wenn Marx noch
Ende 1867 knirschend der „deutschen Philister'" gedenkt,
,, deren ganze Vergangenheit bewiesen, daß ihnen die Einheit
nur von Gottes und Säbels Gnaden oktroyiert werden kann'',
so zieht Engels — und Marx stimmt ilim zu — schon Ende
Juli 1866 in einem sehr merkwürdigen Brief kaltblütig die
Konsequenz aus den Ereignissen. ,,Wir müs^n ebensogut wie
andere die Tatsache anerkennen, sie mag uns gefallen oder
nicht" .. . . „Die Sache hat das Gute, daß sie die Situation ver-
einfacht, eine Revolution dadurch erleichert, daß sie die
Krawalle der kleinen Hauptstädte beseitigt und die Entwick-
lung jedenfalls beschleunigt. Am Ende ist doch ein deutsches
EVtrlament ein ganz anderes Ding als eine preußische Kammer.
Die ganze Kleinstaaterei wird in die Bewegung hineingerissen,
die schlimmsten lokalisierenden Einflüs-se hören auf und die
Tarteien werden endlich wirklich nationale, statt bloße lokale.
Der nauptnachteil ist die imvenneidliche Überflutung
Deutschlands durch das Preußentum und der ist ein sehr
großer. Dann die momentane Abtrennung Deutschö.sterreichs,
die ein sofortiges Vorschreiten des Slawischen in Böhmen,
Mähren, Kärnten zur Folge haben wird. Gegen beides ist leider
nichts zu machen. Wir können also gar nichts anderes tun, als
da-^ Faktum einfach akzeptieren, ohne es zu billigen, und die
sich jetzt jedenfalls darbieten müssenden größeren Fazilitäteu
184 Der Briefwechsel zwischen Marx und Engels
zur nationalen Org'anisation und Vereinigung des deut-
schen Proletariats benützen, soweit wir können.'' Vielleicht
war so nüchterne Auffassung der Tat-sachen in London leichter
zu gewinnen als auf dem deutschen Schauplatz der Ereifgnisse,
wo die kleine Partei unter Liebknechts Führung nicht nur
gegen Bismarck, sondern auch und hauptsächlich gegen die
Lassalleaner zu kämpfen hatte. Wenn sich Liebknecht von
seinem Bismarckhaß an die Seite der süddeutschen Parti-
kularisten drängen ließ, wird er immer und sehr lebhaft von
London zur Ordnung gerufen und die Kritik seiner Politik
ist fortgesetzt Gegenstand der Erörterung. Für seine Taktik
kann ihm Engels „nur zwei Hauptgesichtspunkte geben : 1. sich
zu den Ereignissen und Resultaten von 1866 nicht rein negativ,
das heißt reaktionär, sondern kritisch zu verhalten, und 2. die
Feinde Bismavcks ebensosehr anzugreifen, wie diesen selbst,
da sie ebenfalls nichts wert sind". Die zum guten Teil neue
Beleuchtung zu erörtern, die das Verhältnis zu Schweitzer und
der Bruch mit ihm erfährt, würde hier zu weit führen. Wie wir
überhaupt zunächst der großen Verlockung widerstehen müssen,
aus dem ilberreichen Stoff einzelnes herauszugreifen. Soweit
die vier Bände geschichtliches Material bringen, wird es von
berufenen Kennern gefördert, geordnet und nutzbar gemacht
werden müssen. Das Bild der großen i*ersönlichkeit aber, das
die Briefe gewissermaßen als eine Reihe von Momentaufnahmen
darbieten, kann durch keinen Bericht auch nur annähernd
wiedergegeben werden. Die Vollblütigkeit des Temperaments,
der sprühende Geist, dabei vor allem die nie ermattende Leiden-
schaft, die nicht minder der Wissenschaft gilt als der Revolu-
tion, der faustische Trieb, die ganze geistige liitwicklung in
sicJi aufzunehmen, zu verarbeiten und ihrer wissenschaftlichen
Leistung einzuordnen, Tind das alles mitten im politischen
Tageskampf und gehetzt von der aufreibenden Qual des
Ringens um die elende Notdurft der Existenz, gepeinigt von
dem eklen Detail des Lebens in allen seinen widerwärtigsten
Fonnen — das alles läßt aus dem Briefwechsel einen in seiner
Art einzigen Eindruck gewinnen, der nicht abgeschwächt
sondern verstärkt wird dadurch, daß er nichts verbirgt, sondern
im Gegenteil niclit nur alle Irrtümer, sondern auch alle Mensch-
lichkeiten der beiden Männer unverhüllt bloßlegt und in
grellem Tageslicht zeigt.
Der BriefwechseJ zwischen Marx und Engels 185
Eine eigene Darstellung müßte der Entstehungsgeschichte
des ..Kapital'' gewidmet sein, des Schmerzenskindes von Marx
und in mehr als einem Sinne auch von Engels. Die Konzeption
reicht bis in die vierziger Jahre zurück und wenn auch Marx
schon damals vielleicht so ungeduldig, aber kaum so sanguinisch
war wie Engels, so hatte er gewiß keine Ahnung davon, daß
dieses Werk bis an sein Lebensende den Mittelpunkt seiner
ganzen Existenz bilden werde. Engels allerdings schreibt ihm
am 20. Jänner 1845 — man liest es mit wehmütigem Lächeln:
.,Was uns jetzt vor allem nottut, sind ein paar größere
Werke . . . Mache, daß Du mit Deinem nationalökonomischen
Buche fertig wirst, wenn Du selbst aucJi mit Vielem un-
z^iifrieden bleiben solltest, es ist einerlei, die Gemüter sind reif
und wir müssen das Eisen schmieden, weil es warm ist . . .
• letzt aber ist hohe Zeit, darum mache, daß Du vor April fertig
wirst, mach's wie ich, setze Dir eine Zeit, bis wohin Du positiv
fertig sein willst, und sorge für baldigen Druck . . .
Aber heraus muß es bald." Und so hat er immer gedrängt, noch
mehr als zwanzig Jahre lang, bis auch nur der erste Band er-
schienen war. Dabei hat Marx wahrhaftig seine Zeit nicht ver-
loren, trotz Politik, trotz der Jagd nach dem Schilling und
häufiger Krankheit. Im Mai 1863 klagt er über die Leiden, die
ihm die Anschwellung der Leber bereitete ,,und Du glaubst
nicht wie das auf die Moral eines Men.schen einwirkt, die
Dummheit im Kopf und die Paralysis in den Gliesdern, die man
fühlt . . . Ich war natürlich in der Zwischenzeit nicht
müßig, aber ich konnte nicht arbeiten. Was ich
tat, war teils meine Lücken (diplomatische, historische) in der
russisch-preußisch-polnischen Geschichte ausfüllen, teils aller-
lei Literarhistorisches in bezug auf den von mir bearbeiteten
Teil der politischen Ökonomie zu lesen und exzerpieren. Dies
auf dem British-Museum . . .'' Und damit man einen Begriff
bekomme, welchen Zustand bei Marx der technische Ausdruck
„Arbeitsunfähigkeit" bezeichnet, sei noch angeführt, daß er
am 4. Juli 1864 schreibt: ,,Immer noch Influenza, bis in Mund
und Nase ist es, so daß ich weder rieche noch schmecke. In'
dieser Zeit, wo ich ganz arbeitsunfähig, gelesen : Carpenter :
Physiology, Lord: ditto. KöUiker: Gewebelehre, Spurzheim:
Anatomie des Hirn- und Nervensystems, Schwann und Schiei-
den über die Zellenschraiere." Und wie er gelesen, das kommt
186 Der Brietwechsel zwischen Marx und Bngel.4
in den kritischen Berichten an Engels zum Ausdruck, der ihm
übrigens in dieser erstaunlichen Schwerathletik des Lernens
durchaus nichts nachgab. Sein besonderes G-ebiet ist neben der
Kriegswi^isenschaft die vergleichende SprachforsoKung und
Germanistik. Die slawischen Sprachen lernt er, weil man sie
brauchen wird, er vor allem vschon jetzt russisches Material
exzerpieren muß und so nebenbei nimmt er Persisch mit und
teilt dem Freunde interessante Lesefrüchte mit. Aber Engels
ist für Marx vor allem der Gewährsmann für die Technik des
Geschäftlichen im industriellen und kaufmännischen Betrieb.
Unaufhörlich stellt er seine Fragen, die oft nur durch mülisame
Erhebungen beantwortet werden können. Aber trotz des Riesen-
fleißes, den Marx aufwendet, sieht er lange kein Ende, denn
das Problem gewinnt E-iesendimensionen und der Kapitalis-
mus, dessen Bewegimgsgesetze er ergründen will, ist gerade in
diesen Jahrzehnten in stürmischer Entfaltung begriffen. Es
ist ein Fest für beide, als endlich das Manuskript zum ersten
Band nach Hamburg abgeht und Engels, der schon die wichtig-
sten Gedankengänge, aber noch nicht die Darstellung kennt,
die ersten Druckbogen bekommt. Wie Marx sein urteil ein-
schätzt, sagt er ihm in einem Worte am 22. Juni 1867: ,Jcb
hoffe, daß Du mit den vier Bogen zufrieden bist. Deine bis-
herige Satisfaktion ist mir wichtiger als irgend etwas, was die
übrige Welt darüber sagen mag." Und als Marx in der Nacht
des 16. August den letzten Bogen abschickt, richtet er an Engeis
den Brief (die Herausgeber haben den glücklichen Gedanken
gehabt, das Faksimile beizugeben), dessen schlichte Worte
doppelt ergreifen, weil zwischen Männern gesprocJien, denen
nichts verhaßter war als jede Art von Pathos und Pose.
2 Uhr Naclit; 16. August J867.
Deal Fred!
Eben den letzten Bogen (ift.) des Buclies feitig korrigiert. Der An-
hang — Wertform — klein gedruckt, umfaßt IV* Bogen.
Vorrede ditto gestern korrigiert zurückgeschickt. Also dieser Band
ist fertig. Bloß Dir verdanke ich es, daß dies mösflich war! Ohne Deine
Aufopferung für mich konnte ich unmöglich die Ungeheuern Arbeiten
zu den drei Bänden machen. I emljrace you, füll of thanks! (Ich um-
arme Dich voll des Dankes.)
Beiliegend zwei Bogen Reinahzug
Die J5 Pfund Sterling mit besten Dank erhallen
Salut, mein lieber teurer Freund!
Dein K M
Das Jahrhundert von Karl Marx 187
Es war ein Höhepunkt in Ihrem Leben und Triumph des
Sieges über eine Welt von Widerständen verband sich mit dem
Bewußtsein, ein bahnbrechendes Werk zu einem ersten Ab-
.'^ehluß gebracht zu haben.
Der Briefwechsel bringt die Lebensführung von Marx
und Engels in nächste Nähe vor das betrachtende Auge, in jene
gefährliche Nähe, die alles Große in triviale Einzelheiten auf-
zulösen droht. Es ist die Feuerprobe auf den Edelgehalt ihres
Wesens, daß man dieses Buch aus der Hand legt mit gesteiger-
ter Bewunderung und Verehrung für ihr G^nie und ihr
Heldentum.
75.
„Der Wahre Jacob" (Stuttgart). April 1918.
Das Jahrhundert von Karl Marx.
Hundert Jahre sind e^, seit Karl Marx die Augen auf-
schlug, um die Welt zum erstenmal zu sehen, die er wie kein
anderer durchschauen sollte. Es war der etille Augenblick, die
Atempause nach der Umwälzung Europas, die von Frankreich
ibren Ausgang nahm, und heute, da wir sein Zentenarium feiern,
geschieht es mitten in einer blutigen Umwälzung der ganzen
Welt, deren Ausgang und Ergebnis noch kein Sterblicher zu
ermessen vermag. Dazwischen liegt ein Jahrhundert der un-
geheuersten Entwicklung. Das damals junge Kapital, das in
seinen Anfängen steckte, umfaßt heute die Welt, beherrscht,
umklammert, vv'ürgt sie; das Proletariat, das ein Kind war, ist
zum Manne erwachsen und mitten im Kampfe nicht nur als
leidendes, sondern als in erster Linie mit entscheidendem
Element.
Kaum dreißig Jahre war Marx alt, da schleuderte er zu-
-aramen mit Engels das Kommunistische Manifest in die Welt,
und mit einem Schlage gab er dem Proletariat, das sich noch
in seinen ersten Jugendjahren befand, Augen, um eich selbst
zu erkennen, und wies ihm das Ziel für sein Wollen. Nicht
Vorschrift brachte er ihm, sondern Erkenntnis. Er deutete ihm
die kapitalistische Welt mit einem Wissen von Dingen ohne-
gleichen, erworben schon damals und wie erst epäter mit jener
Arbeitsenergie, die ims immer gigantischer ersclieint, je mehr
allmählich aus seinen hinterlassenen Schriften davon enthüllt
188 Das Jahrhundert von Karl Marx
wird. Er gab dem Proletariat die Leuchte iu die Hand, sich
selbst zu erkennen, seine eigene Rolle in der Geschichte zu
begreifen, seinen Weg zu finden und damit die Kraft und eein
Wollen zur Tat werden zu lassen.
Wer von Karl Marx spricht, spricht auch von Friedrich
Engels. Der Lebensbund dieser beiden Männer steht einzig da
in der Geschichte: mehr als Freundschaft, mehr als bi-üderliche
aufopfernde Liebe, eine Arbeitsgemeinschaft, die fern von aller
sentimentalen Gefühlsprotzerei zwei geniale Menschen ver-
einigte, in allen ihren Lebensäußerungen, nicht minder in dem
trivialen Detail des Alltäglichen als in dem, was ihr Wesen war,
dem faustischen Ringen nach Erkenntnis und dem Kampfe nm
die Zukunft der Menschheit und die Befreiung der Arbeiter-
klasse. Als vor wenigen Jahren die Veröffentlichung des Brief-
wechsels ein Stück des Vorhangs von diesem erhebenden Bilde
wegzog, war die Welt, Feind wie Freund, voll der staunenden
und verehrenden Bewunderung. ISTun erst ist Engels neben Marx
zu seinem Recht gekommen, er, dessen Hingebung und Be-
scheidenheit selbst daran schuld war, daß er gew4ssenmaßen nur
als Hilfskraft von Marx eingeschätzt wurde, nicht aber als gleich-
wertiger und gleichwirkender Mitarbeiter, der er in Wirklich-
keit gewesen und als der er von Marx anerkannt und geliebt
wurde.
Da wir nun diese Feier begehen, endet das Jahrhundert
in jener furchtbaren Katastrophe, die uns den Atem raubt und
fast die Besinnung nimmt. Der geschichtliche Inhalt dieser
hundert Jahre ist die Riesenentwicklung des Kapitalismus über
die ganze Erde, seine Ausweitung zum Imperialismus, eine
grandiose ungeahnte Entfaltung der Produktivkräfte mit wach-
sender Unfähigkeit der besitzenden Klassen, sie zu beherrschen,
bis es zu einer jener Krisen gekommen, die Marx und Engels
oft beschrieben und gedeutet, deren Umfang und Tiefe, wie
wir sie erleben, sie jedoch nicht ahnen konnten. In diese Krise
aber treten die Proletariate ein, ganz anders gewappnet und
gegliedert, als sie Marx seinerzeit gekannt hat. Trotzdem werden
sie vom Wirbel erfaßt und mit fortgerissen, auseiuandergerissen,
gegeneinander geschleudert. Dieser Krieg hat gleich einem
gewaltigen Erdbeben einen Zustand geschaffen, der alles zu ver-
nichten droht, 'die primitivsten Existenzverhältnisse jedes ein-
zelnen, jeder Klasse, jedes Staates und jeder Nation, der die
1
Das Jahrhundert von Kad Marx 189
natürlicheten Bedingungen des Lebens und der Zukunft des
Menschengeschlechtes an ihrer Wurzel vergiften, wenn nicht
ausroden muß. Da ist es denn kein Wunder, daß überall, über
[alle Klassengegensätze hinweg, die Solidarität der Lebens-
geuieinschaft und Sehicksalsgemeinsehaft in Nation und Staat
sich geltend macht, daß die nationale Selbstbehauptung und
Landesverteidigimg als durch die Not der Zeit jedem Proletariat
unvenneidlich auferlegte, bitter empfundene, abel- restlos er-
füllte Pflicht erscheint und daß es, weil der Widerspruch zu
dem bereits klar erkannten B&«<itztum der Arbeiterklasse ge-
wordenen Bewußtsein der internationalen Solidarität des Prole-
tariats schmerzlich gefühlt wird, zu Verwirrung und Ver-
worrenheit kommt. Solche Wirrnis war auch bei frühei'cn Kon-
flikten nicht unbekannt, und der Briefwechsel von Marx und
Engels zur Zeit des Deutsch-Französischen Krieges zeigt mit
größter Deutlichkeit, mit welcher Schärfe und unbeirrbaren
Überlegenheit die beiden in London die Folgerungen aiLS der
Tatsache zu ziehen wußten, daß der Krieg in Deutschland zum
„Nationalkrieg'' geworden.
Die Internationale hat die (iefalir seit langcMu klar
erkannt und noch zuletzt in Basel Worte und Losungen
gefunden, die vom besten Geiste von Marx und
Engels getragen waren. Aber als das Gefürchtete und
Vorhergesehene in entsetzlicher Wirklichkeit hereinbrach,
da zeigte sich, daß das Proletariat noch zu schwach
war, um es zu hindern, aber schon zu ,stark. um sich
aller Verantwortungen entledigen zu können und wie einst mit
mutigem Protest zur Seite stehen zu dürfen. So kam Verwirrung
in die Politik de« Proletariats: in der Zerklüftung wurde die
Organisation der Internationale zur praktischen Wii-kungslosig-
keit verurteilt. Aber wei- meint, daß sie auf iuuiicr in Scherben
gegangen ist, der verkennt zweierlei: erstens, wie ti'otz aller
Verschiedenheit und alles Gegensatzes sich in fa-<t allen Ländern
dieselben einander bekämpfenden Tendenzen innerhalb der
Arl)eiterklasse zeigen, erzwungen durch die allen auferlegten
unausweichlichen Notwendigkeiten, und zweitens, wie mitten in
dem grausen Schicksal, einander morden zu müssen, der über
allem stehende Gedanke der brüderlichen Solidarität der
Arbeiter aller Nationen nirgend und nicht einen Moment lang
verlorengegangen ist. Auf allen vom Graus beherrschten Kriegs-
14
190 • Das Jahrhundert von Karl Mai-x i
Schauplätzen, aus allen Schützengräben wird uns täglich Kunde
von Zeugnissen für das durch nichts zu vei"drängende und aus-
zutilgende Bewußtsein der Zusamraengeliörigkeit der arbeiten-
den Massen diesseits und jenseits der ßlutströme. Was wird,^
weiß heute niemand. Das aber läßt sich schon erkennen, daß wir!
den in aller bisherigen Ge>schichte gewaltigsten Bankrott eines-
weltumfassenden Systems erleben, daß die kapitalistische Oe-
sellschaft unfähig geworden ist, die Widersprüche zu bewältigeu,
die aus ihrer eignen Machtentwicklung entspringen, und daß jes
riesenhafter die Gewaltmittel werden, die ihnen unerhörte tech-'
nisehe Entwicklung in die Hand gibt, um so mehr ihre Macht ^
schwindet, sie zu gebrauchen. Immer mehr werden sie willen-|
los die Gefangenen der von ihnen entfesselten Gewalt. Das ist
jener die (j^schichte beherrschende Konflikt, den Marx mit
genialem Blick gezeichnet, aber nun auf einer von ihm und
Engels kaum geahnten Höhe der Stufenleiter.
»Schon ist das Angesicht Europas völlig verändert durch
den Sieg der russischen Revolution, den heißersehnten Sieg:
über den Zarismus, der bisher Hebelpunkt und Rückhalt aller I
konterrevolutionären Kräfte war. Was immer das Ergebnis des
russischen Dramas sein möge, der Alpdruck ist abgewälzt, mit ,
der Beherrschung Europas ist es vorbei, und dafür, daß die
Mission, Kerkermeister und Henker jeder befreienden Ent
wickUmg zu sein, da sie in Petersburg vernichtet, nicht weiter
westlich übernommen w^erde, dafür wird die Arbeiterklasse
sorgen, die trotz alledem, zwar dezimiert und zunächst durch
Blutverlust bedrängt, aber im Geist und Willen gestählt, neu
erleuchtet durch übermenschliche Erfahrung und — kaum wagt ,
man das scheinbar Widerspruchsvolle auszusprechen — einander '.
nähergebracht worden ist gerade durch die gemeinsam durch
lebten Schrecknisse des Krieges.
Freilich, schwere Wirrnis, die der Krieg geschaffen, wird
überwunden werden müssen und überwunden werden. Ist doch
sogar die machtvolle Einheit der deutschen Sozialdemokratie, ;
der Stolz und der Ruhm der ganzen Internationale, auf das ^
schwerste gefährdet und scheinbar in die Brüche gegangen. So
schmerzhaft das ist, so wenig ist es erstaunlich. Wir mußten
das Schicksal des Krieges auf uns nehmen bis in alle seine Kon-
sequenzen und dabei jede Verantwortung für seine Entzündung
und Fortführung ablehnen. Wir mußten dem Proletariat in der
Das Jahrhundei-t von Karl Marx 191
Not dee Tages zu helfen suchen, uns auf den Boden des National-
krieges begeben und doch eben diesen Krieg verurteilen. Die-
ijenigen von uns, die das Auge auf das Ganze der Entwicklung
richteten, die weltgeschichtlichen Geschehnisse verfolgten und
übersahen, geraten in Gefahr, zu einer Politik zu kommen, die
zwar häufig der Stimmung entspricht, die aus den Nöten, des
Tages geboren ist, aber nicht ihren wirklichen und wirksamen
Bedürfnissen. Gegenseitig verführt man einander zu Exzessen,
die um so schmerzlicher empfunden werden, je näher uns der
Verüber gestanden war. Da kanu es geschehen, daß Genossen
meinen, die vom Kriege erzwungene Einheit des Volkes, die
Marxens Kritik erbarmimg-sios in Klassen zerriseen hat, sei
wieder auf die Dauer zusammengeleimt, und daß auf der andern
Seite, die jede Berührung mit den heutigen ^[achthabern als
unsühnbaren Sündenfall verdammt, die Besorgnis sich zeigt,
der Klassenkampf und das Bewußtsein von seiner unerbittlichen
^Notwendigkeit könne den Massen abhanden kommen. Und je
trüber die Zeit ist, um v'^o mehr wird der Streit vergiftet, allzu
Menschliches mischt sich überall ein. Je schmerzliafter wir dJfs
alle empfinden, um so besser für uns und unsere Zukunft, um
so sicherer und schneller wird es in jedem Lande, vor allem in
Deutschland überwunden sein. Wenn sich der Bhitnebel ver-
zogen haben würd, wenn vor unseren Blicken das Neue liegen
wird, das sich dem Mutterschoße des Gewesenen unter furcht-
barsten Krämpfen entbunden liat, wenn die neuen Aufgaben
erkennbar sein werden, die dem Proletariat gestellt sind, dann
^vird auch die Einheit wieder kommen, weil sie kommen muß,
dann wird gutgemacht werden, was durch den Streit jetzt in
Vergeudung edelster Kräfte gesündigt wurde. Es wird uns
wieder zum Bewnißtsein kommen, das was Marx den Ausgebeu-
teten der ganzen Welt als befreiende Losung zurief: „Prole-
arier aller Länder, vereinigt euch!" — soll es erfüllt weixlen
iber zur Voraußsetzung hat, daß zunächst zur Wahrheit w-erde:
Proletarier jedes Landes, vereinigt euch! Auf dieser neu-
rrungenen, vom Bewußtsein der täglich wachsenden Macht des
Proletariats in der neuen kommenden Welt wird die erneute
fnternationale errichtet werden und wird sie, die bisher nur Er-
ebnis und »Summe der erst allmählich wachsenden Macht des
roletariats sein konnte, nunmehr auch zu ihrer ergiebigsten
Quelle werden.
192 Das Jahrhimdert von Karl Maix
Voranleuchten aber wird der Internationale der Name des
Mannes, der dem Jahrhundert, dessen Verenden nun von einem
Cxlühen ohnegleichen beleuchtet wird, mehr als irgend ein an-
derer seinefi Stempel aufgedrückt, der den Werdegang der
kapitalistischen Welt durchschaut, dem Proletariat seinen Weg
erleuclitet und seine Würde gegeben hat, der es schon im Kom
iniinisti sehen Manifest vor siebzig Jahren aufgerufen ak „d i c
revolutionäre Klasse, welche die Zukunft in
ihren Händen trag t". Viktor Adler (Wien).
Victor Adlers
Aufsätze, Reden und Briefe
Herausgegeben vom Parteivorstand der Sozial-
demokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs
Zweites Heft:
Victor Adler vor Gericht
Wien 1923
Verlag der Wiener Volksbuchhandlung-, Wien VI.
Alle Rechte vorbehalten.
Copyright 1923 by Wiener Volksbuchhandlung-
Wien VI, Gumpendorferstraße 18.
Druck- und Verlagsanstalt „Vorwärts", Wien V, Rechte Wienzeile 97.
Inhaltsverzeichnis.
Seite
^'ol■\vort des Herausgebers ^
I. Adler als Angeklagter.
Prozesse in den Jahren 1887biblS8 9.
r>er Münzverfälschungsprozeß und der Polizeirat Frank] (1887) ... 13
l'olizeirat Frankl rächt sich höchstpersönlich (1887) 17
Zwei Geheimbundprozesse (1888) 20
Unbefugte Verteilung der „Gleichheit" an die Ziegelarbeiter (1888) . 26
Fine Ehrenbcleidigungsklage wegen der BlechA\irtschaft (1888) ... 27
Wegen Beleidigung eines Regierungsvertreters (1888) 30
Vor dem A u s n a h m e g e r i c h t s h o f (1889).
\\'egen anarchistischer Bestrebungen vor dem Ausnahmegericht . , 30
Die Einstellung der „Gleichheit" und Adlers Selbstanzeige ..... 37
Adler vor dem Holzinger-Senat 44
Die Schlußverhandlung am 27. Juni 1889 47
Prozesse in den Jahren 1890 bis 189 3.
Anklagen infolge der Kandidatur in Nordböhmen (1891) 104
„Singt's nur weiter!" (1892) 106
Die Auflösung einer Versammlung in Warncdorf (1893) 107
Eine Portion Hirn für Taaffe (1893); .109
Die verkleinerten Delikte (1893) 111
Dunkel sind die Wege der Staatsanwaltschaft (1893) 117
Der R e i c h e n b e r g e r S c h w u r g e r i c h t s p r o z e ß (1893). ,
Der große Schwurgerichtsprozeß in Reichenberg (1893) , 117
Eine Volksversammlung nach der Verhandlung (1893) 204
Prozesse in den Jahren 1894 bis 189 9.
Für die Rechte der tschechischen Arbeiter in Wien (1894) 206
Die Ehrenbeleidigungsklage eines Gesinnungslumpen (1894) .... 207
Der unbefangene Holzinger (1894) .20.8
Die Schüsse in Falkenau und Ostrau (1894) 210
Beleidigung eines Erzherzogs und des Kaisers 215
Die Wienerberger Ziegelfabriken und die Behörden (1895) 21.7
Pater Stojalowski (1896) 230
Die galizischen Wahlgreuel (1896) 241
Adler wegen Mißhandlung eines Arbeiters angeklagt (1897) ..... 245
Er darf kein Verbrechen begangen haben (1897) 247
1*
Seite
Adler übernimmt sofort die Verantwortung (1898) 252
Bei den streikenden Textilarbeitern in Brunn (1899) 252
Wegen Auflaufs veruneilt! (1899) 255
Steckengebliebene Verfolgungen (1894, 1895, 1899) 255
A n h a 11 g :
Recht.san\vält(> über Adler 256
Adlers Strafregister 260
IL Adler als Ankläger.
Gegen die scblechteu Richter 265
Die Richter und die Polizei 265
Graf Lamezan und die Advolvaten 272
Einer vom Holzinger- Senat 276
Die Verurteilung zweier Rednerinnen 285
Drei vielsagende Zeilen 287
Der Selbstmord Holzingers 288
III. Adler als Verteidiger.
Weshalb damals kontiszieit wurde 293
Die Konfiskation wegen Beleidigung der Polizeilockspitzel 298
Ein konfisziertes Lied und ein „konfisziertes" Gesicht 300
Die konfiszierte Wahlrechtsbroschüre 304
Ein verurteilter Landesgerichtsrat 317
IV. Adler als Zeuge.
Als Entlastungszeuge in einem Anarchistenprozeß 321
Nicht auf der Tagesordnung 322
Die militärgerichtliche Untersucliung gegen Dr. Soukup und Genossen 323
Als Zeuge im Prozeß gegen Friedrich Adler 324
V. Adler bei Demonstrationen.
Wir lassen uns nicht einschüchtern 339
Adler als Standartenträger 339
Die gestörte Maifeier 340
Bei der Polizeiattacke am Praterstern 341
Beim Einbrucli der Polizei ins P^avoritener Arbeiterheim 342
Die Arretierung bei der Demonstration gegen lAieger 347
Die letzte Verurteilung Adlers 349
Adler über das Davonlaufen 354
VI. Adler im Arrest.
Einleitung 359
Zarte polizeiliche Fürsorge bei Strafantritt und Strafbeendigung . . 360
Erinnerungen 361
Mit Victor Adler im Arrest. Von Dr. Wilhelm Ellenbogen . . . . 304
Als der Wahlreformentwurf veröffentlicht wurde. Von Friedrich
A u s t e r 1 i t z 367
Adlers erste Maifeier im Arrest 369
Victor Adler: Mein erster Mai 369
VICTOR ADLER,
Staub liegt auf den J^äiulen, die Deine Werke, nein, die D e i li
W e r k. Dein Lebenswerk enthalten, auf den alten Jahrgängeii
der „Cr 1 e i c h li e i t" und der ,.A r b e i t e r - Z e i t u n g" aus
den achtziger und neunziger Jaliren; aber da ich sie auf-
schlage und Bbitt für Blatt wende, schwebt Deine Gestalt
frisch und lebendig hervor, als wäre das alles, was sie von Dir
erzählen, nicht drei Jahrzehnte alt, als wäre alles erst gestern
gewesen. Es rauscht und raschelt in dem vergilbenden Pai)icr
und die Gestalten Deiner Freunde und Kampfgenossen scharen
sich um Dich, und euch gegeniVber sammeln sich wie Spnk-
gestalten die dununen. boshaften Polizeikonmiissäre, die euch
das Wort abschnitten und die Versammhingen auflösten; die
bornierten Bezirkshauptniänner, die euch die Versammlungen
verboten; die streberischen Staatsanwälte, die euch auf Wunsch
der jeweiligen Eegierung anklagten und eure Zeitungen und
Schriften konfiszierten; die knechtischen und gewissenlosen
Richter, die euch auf Ihd'ehl von o1)eii verurteilten; die brutalen
Polizisten, Gendarmen und Soldaten, die als unbewußte
Büttel des Kapitals ;iut" iMich einhieben; die ihrer ]ioll(^ als
Werkzeug der l)esitzenden Klasse b e w u 1? t e n Minister uml
Parteiführer im Peichsrat, Landtag und Gemeinderat, die
sich gegen die ])olitischen Rechte des Volkes verschworen
hatten; die l)iirgerlicheii /.(dtungsmachcr, die eucli totschwiegen
oder verlästerten, je na(didem es ol)en gewünscdit wurde. G(;gen
eine Welt von Feinden hattet ihr, die wenigen Wortführer der
Armen und Klemh n, zn kämpfen. Aber ihr liabt sie besiegt;
ihr habt so l;iiii:c die sittliche Fntriistung der Öffentlichkeit
über sie wachgeiufen. -o lange ihre numnulreicstigkciten
dem Spotte [)reisgegeben, bis sie an ihrer Lächerlichkeit
starben. Es ging heil.» zu in diesen Kämpfen, und ohne Ver-
luste, ohne Wunden ging es nicht ab. Sie alle wareii tapfere
Seite
Adler übernimmt sofort die Verantwortung (1898) 252
Bei den streikenden Textilarbeitern in Brunn (1899) 252
Wegen Auflaufs veruneilt! (1899) 255
Steckengebliebene Verfolgungen (1894, 1895, 1899) 255
Anhang:
Rechtsanwälte über Adler 256
Adlers Strafregister 260
II. Adler als Ankläger.
Gegen die schlechten Richter 265
Die Richter und die Polizei 265
Graf Lamezan und die Advokaten 272
Einer vom Holzinger- Senat 276
Die Verurteilung zweier I^ednerinnen 285
Drei vielsagende Zeilen 287
Der Selbstmord Holzingers 288
III. Adler als Verteidiger.
Weshalb damals konfisziert wurde 293
Die Konfiskation wegen Beleidigung der Polizeilockspitzel 298
Ein konfisziertes Lied und ein „konfisziertes" Gesicht 300
Die konfiszierte Wahlrechtsbroschüre 304
Ein verurteilte!" Landesgerichtsrat 317
IV. Adler als Zeuge.
Als Entlastungszeuge in einem Anarchistenprozeß 321
Nicht auf der Tagesordnung 322
Die militärgerichtliche Untersuchung gegen Dr. Soukup und Genossen 323
Als Zeuge im Prozeß gegen Friedrich Adler 324
V. Adler bei Demonstrationen.
Wir lassen uns nicht einschüchtern 339
Adler als Standartenträger 339
Die gestörte Maifeier 340
Bei der Polizeiattacke am Praterstern 341
Beim Einbruch der Polizei ins Favoritener Arbeiterheim 342
Die Arretierung bei der Demonstration gegen T>ueger 347
Die letzte Verurteilung Adlers 349
Adler über das Davonlaufen 3.54
VI. Adler im Arrest.
Einleitung 359
Zarte polizeiliche Mirsorge bei Straf antritt und Strafbeendigung . . 360
Erinnerungen 361
Mit Victor Adler im Arrest. Von Dr. Wilhelm Ellenbogen . . . . 364
Als der W^ahlreformentwurf veröffentlicht wurde. Von Friedrich
A u s t e r 1 i t z 367
"Adlers erste Maifeier im Arrest 369
Victor Adler: Mein erster Mai 369
VICTOR ADLER,
Staub liegt auf den Bänden, die Deine Werke, nein, die Dein
Werk, Dein Lebenswerk enthalten, auf den alten Jahrgängen
der mCt 1 e i c h h e i t" und der .. A r 1) e i t e r - Z e i t u n g" aus
den achtziger und neunziger Jahren; aber da ich sie auf-
schlage und Blatt für Blatt wende, schwebt Deine Gestalt
frisch und lebendig hervor, als wäre das alles, was sie von Dir
erzählen, nicht drei Jahrzehnte alt, als wäre alles erst gestern
gewesen. Es rauscht und raschelt in dem vergilbenden Papier
und die Gestalten Deiner Freunde und Kampfgenossen scharen
sich um Dich, und eucli gegenüber sammeln sich wie Spuk-
gestalten die dummen, boshaften Polizeikommissäre, die euch
das Wort abschnitten und die Versammlungen auflösten: die
bornierten Bezirkshauptmänner, die euch die Versammlungen
verboten; die streberischen Staiitsanwälte, die euch auf Wunsch
der jeweiligen Begierung anklagten und eure Zeitungen und
Schriften konfiszierten; die knechtischen und gewissenlosen
Richter, die euch auf Befehl von oben verurteilten; die brutalen
Polizisten, Gendarmen und Soldaten, die als u n b e w u ß t o
Büttel des Kapitals auf euch einhieben; die ihrer Rolle als
Werkzeug der besitzenden Klasse bewußten Minister und
Parteiführer im Reichsrat, Landtag und Gemeinderat, die
sich gegen die politischen Rechte des Volkes verschworen
hatten; die bürgerlichen Zeitungsmacher, die euch t(jtschwiegen
oder verlästerten, je nachdem es oben gewünscht wurde. Gegen
eine Welt von Feinden hattet ihr, die wenigen Wortführer der
Armen und hdcnden, zu kän)i)fen. Aber ihr ha])t sie besiegt;
ihr habt so lange die sittliclie Entrüstung der Öffentlichkeit
über sie Avachgerufen, -o lange ihre Dummdreißtigkeitcn
dem Spotte preisgegeben, bis sie an ihrer Lächerlichkeit
starben. Es ging heiß zu in diesen Kämpfen, und ohne Ver-
luste, ohne Wunden ging es nicht al). Sie alle waren tapfere
Vorwort des Herausgeber.^
Kämpfer in dieser Heroenzeit der österreichischen Arbeiter-
partei, und Du, Victor Adler, gingst ihnen voran.
Du hast den alten k. k. Polizeistaat, den „Absolutismus,
gemildert durch Schlamperei" Dir gegenüber gehabt und hast
nie verzweifelt. Du hast mit dem noch größeren Feind zu
ringen gehabt, mit dem eingefressenen Mißtrauen der
gespaltenen, mit Polizeispionen und Lockspitzeln durch-
seuchten Arbeiterschaft; Du hast es überwunden. Du hast
eine Generation von Sozialdemokraten gelehrt, wie mau
kämpfen muß : mit äußerster Vorsicht, um der Ar-
beiterklasse keine überflüssigen Opfer aufzuerlegen, al)er
auch mit rücksichtsloser Entschlossenheit,
wenn es ohne Opfer nicht geht. Und alle folgten Dir gerne,
weil sie sahen, wie klug Du Stück für Stück Redefreiheit,
Preßfreiheit, Wahlrecht, Arbeiterschutz erkämpftest, und weil
sie sahen, wie Du auch kein Opfer Deiner Person, Deiner
Freiheit scheutest. Du warst kein Prahler und stets v.-ar es
Dir lieber, nicht angeklagt und nicht eingesperrt zu werden
und nie hast Du den Märtyrer gespielt. Aber wenn es nicht
anders ging, wenn es notwendig war, hast Du gesprochen und
geschrieben, in dem Bewußtsein, daß ee zur Anklage konnuen
werde, zur Verurteilung, zum Gefängiiis.
Teurer Meister, ich sehe Dich noch, wie Du eines
Abends nach Hauise kamst, an dem Tage, als das Wiener
Landeegericht unter der Führung des verruchten Ritters
V. H o 1 z i n g e r eine unserer Rednerinnen, Charlotte Glas,
wegen Verbrechens der Beleidigung von Mitgliedern des
kaiserlichen Hauses zu vier Monaten schweren Kerkers vor-
urteilt hatte. Du warst aufs tiefste empört über das Urteil,
gingst eine Weile im Bibliothekzimmer umher und überlegtest,
ob Du einen scharfen Artikel darüber schreiben solltest,
einen so scharfen, daß er das öffentliche Gewissen, vielleicht
gar das des Obergerichts gegen jenes Urteil wecken könnte.
Dazu war nach allen Erfahrungen wahrhaftig wenig Aus-
sicht, um so mehr aber dafür, selbst angeklagt und möglicher-
weise verurteilt zu verden und so den Triumph jenes ])ös-
artigen Henkerknechtes nur zu vergrößern. Nach zehn
Minuten warst Du zu einem Entschluß gekommen und
diktiertest mir den berühmten Artikel gegen H o 1 z i n g e r,
der das größte Aufsehen hervorrief, derart, daß der Oberste
Vorwort des Herausgebers
Gerichtshof das Urteil über Genossin Glas aufhob — etwas,
was dem Holzinger gegenüber und gar bei einer
Prinzenbeleidigung noch nicht da war.
So hast Du nicht gezögert, in Wort und Schrift zu
sagen, was für die Arbeiter, was für die Partei, der Du Dein
Leben geweiht hattest, zu sagen notwendig war. In
jener Zeit der politischen Verfolgungen warst Du ein
ständiger Gast bei den Bezirks- und Landesgerichten, vor
den .Berufsrichtern wie vor den Geschwornen bist Du
immer wieder gestanden. Und alle diese Prozesse, ob
Du freigesprochen oder verurteilt wurdest, wurden zu
Waffen gegen Altösterreich, gegen die Willkür der Be-
hörden, gegen die politische und soziale Unterdrückung. Nie-
mals gingst Du von einem Prozeß ohne moralischen
Sieg fort, niemals, ohne vor aller Welt mit dem Finger auf
ein Geschwür am sozialen Körper hingewiesen zu haben. Jede
Verurteilung war wie jeder Freispruch eine Agitation für die
politischen Rechte der Arbeiter, eine gelungene Werbung neuer
Anhänger für die Partei. Den schlechten Richtern
warfst Du in solcher Form, daß sie es deutlich spürten, aber
nichts dagegen tun konnten, Deine Verachtung als die Ver-
achtung aller ehrlichen Leute ins Gesicht, bei den Ge-
schwornen, damals ausschließlich der besitzenden Klasse
angehörig, machtest Du durch Dein sittliches Pathos, durch
Dein Wissen, durch Deinen schneidenden Witz jedesmal den
tiefsten Eindruck.
Diese Wirkung blieb gleich, wenn Du nicht als Ange-
klagter vor Gericht erscheinen mußtest, sondern als Zeug e,
und ich erinnere mich an einen solchen Prozeß in Graz, wo
einige „Anarchisten" wegen einer Broschüre ob Hochverrats
angeklagt waren. Du wurdest als Zeuge geführt, und zur
Überraschung des dummen Staatsanwalts, der offenbar ge-
glaubt hatte. Du würdest die „Anarchisten", die Dich und die
Sozialdemokratie in dieser selben Schrift ebenso scharf als
ungerecht angegriffen hatten, dafür strafen, zeigtest Du den
Geschwornen die Lächerlichkeit der Anklage so deutlich, daß
das freisprechende L'rteil zweifellos dadurch zustande kam.
LTnd wenn Du nicht als Angeklagter vor Gericht
standest, gingst Du als Verteidiger und Ankläger
hin. Die Konfiskationen der „Gleichheit" und der „Arbeiter-
S Vorwort des Herausgebers
Zeitung", die ja bald — für Wien wenigstens — praktisch
wirkungslos geworden waren, weil die Vertrauensmänner der
Partei am Abend die ganze Auflage in Sicherheit brachten,
bevor die Sicherheitswachleute sie holen konnten, mußten in
besonders wichtigen Fällen ebenfalls zur Gelegenheit dienen,
dem Staatsanwalt und den Richtern Verlegenheiten zu bereiten
und vor allem die Aufmerksamkeit weiter Kreise darauf zu
lenken, agitatorisch zu wirken. Der Ausgang dieser E i n-
s p Y u c h s V e r h a n d 1 u n g e n war bei den Berufsrichtern,
war gar bei einem Holzin ger als Vorsitzenden von vorn-
licrein klar; aber Du triebst doch die hohe Justiz mit Deinem
ätzenden Spott in die Enge und trugst doch auch dort zur E r-
z i e li u n g der Behörden bei.
Das war ja Dein Hauptberuf und dieses Buch könnte
ebensogut die Aufschrift tragen : Victor Adler als
E r z i e h e r. Du hast sie zur Gesetzlichkeit erzogen, die Eegie-
rungsvertreter in den Versammlungen und die Bezirkshaupt-
männer, die Statthalter und Minister, und selbst die Staats-
anwälte und die Wachleute ■ — wenn es da auch am schwersten
ging und bei Demonstrationen oft Rückfälle eintraten. Du
hast aber auch die Arbeiter erzogen; Du hast mit Deinen
Kampfgenossen ihnen die Straße erobert, indem Du sie
gelehrt hast, entschlossen, aber w ü r d i g zu demon-
strieren. ,,W i r lassen uns nicht provozieren und
nicht einschüchtern!" Mit diesem Zauberspruch hast
Du uns diese gewichtige, aber zweischneidige Waffe handhaben
gelehrt. Und wie Du gefährliche Artikel mit Deinem Namen
oder Deinen Anfangsbuchstaben gezeichnet hast, wie Du auch
ohne das bei wichtigen Prozessen die Verantwortung vor Ge-
richt übernommen hast, so warst Du bei den D e m o n s t r a-
t i o n e n mit dabei und hast Vernunft hüben und drüben ge-
predigt, auf die Arbeiter hier und auf die Wache dort einge-
wirkt, damit keine unnötigen Opfer fallen. Mehr als einmal
warst Du dabei in Gefahr, aber Furcht stand nicht in Deinem
Wörterbuch. Und was Du von Deinen Genossen verlangtest,
wenn es nicht anders ging, dazu warst Du selbst auch bereit.
Aber es wußten es auch alle, und sie wären ins Feuer gegangen,
weil sie wußten, daß Du mit Deinem höchstentwickelten G e-
f ü h 1 der Verantwortlichkeit für das, was dem ein-
zelnen Proletarier und der ganzen Partei passieren konnte, sie
Vorwort des Herausgebers
nur ins Feuer führen würdest, wenn es nicht mehr andei-s
ginge, und daß Du mit ihnen gehen würdest!
Eine schwere Zeit, teurer Meister, waren die achtziger
und neunziger Jahre, reich an Mühen und Sorgen, aber auch au
freudigen und lustigen Augenblicken. Wenn so ein Dummkopf
von Regierungsvertreter in einer Versannnlung recht blamiert
wurde, wenn der Preßpolizei ein Schnippchen geschlagen
wurde, wenn einer freigesprochen wurde, das war ein Fest!
Und wenn einer in einem Bezirksgericht oder im ,.<yrauen
Hause" verunglückte und der Verbrecher nach weidlicher Aus-
nützung des Unfalls in der Zeitung die Haft antreten mußte,
gab es keine Trauer. Nicht als ob Du oder einer Deiner
Genossen eine Freude daran gehabt hätten, aber jede Haft
hatte doch auch ihre Vorteile: ausschlafen, ausschlafen!
Welch ein Genuß, der bei den ewigen und endlosen Sitzungen
und Versammlungen so selten geworden war! Und dann:
lesen, lernen! Und das diabolische Vergnügen, wenn man
dem Arrestanten beim Besuch, trotz Anwesenheit des g(^-
strengen Gefangenenaufsehers, Briefe, eine Zeitung, ein Bucii
zustecken oder ins Bett schieben konnte! Das waren reine
Freuden! Du triebst es manchmal schon zu arg, denn ganze
Artikel diktiertest Du mir in der Zelle in der Form eines poli-
tischen Gespräches. Ob die Aufseher wirklich nichts merkten
oder manchmal nur so taten, ist schwer festzustellen.
Victor Adler,
als Dein historisches Verdienst gilt die Einigung
des in „Radikale" und „Gemäßigte" zerrissenen, durcli diese
Spaltung, die anarchistischen Torheiten, die Polizeispitzeleieu
und den Ausnahmezustand ohnmächtigen Proletariats in Öster-
reich. Aber ebenso ist es Dein geschichtliches Ver-
dien s t, die gesamten Behörden zur Gesetzlichkeit ge-
zwungen, den Ausnahmezustand zuerst praktisch und dann
formell beseitigt zu haben. Die in den Staatsgrundgesetzeii
festgelegten, aber durch die behördliche Praxis für die
Arbeiter in ganz Österreich aufgehobenen politischen Rechtem
hast Du erst für das Proletariat erobern müssen, bevor es zum
Sturm auf das Wahlprivilegium der besitzenden Klasse
schreiten, das allgemeine Wahlrecht erobern konnte. Was das
bedeutet, wie es damals in Österreich ausgesehen
10 Vorwort des Herausgebers
hat, als Du in der „Gleichheit" und „Arbeiter-Zeitung" die
Rubrik einführtest : Wie man uns behandelt. Kapitel
Versammlungsrecht . . ., Kapitel Vereinsrecht . . ., Kapitel
Hecht der Freizügigkeit . . ., Kapitel Koalitionsrecht usw. —
das möge dieses Buch zeigen! Der jungen Generation
zeigen, welcher die Früchte mühelos in den Schoß fallen
und die nicht wissen, daß Du und Deine Kampfgenossen in
den achtziger und neunziger Jahren mit unsäglichen Mühen,
Opfern und Gefahren erst das karstige Erdreich urbar machen
mußten, in dem der Baum so starke Wurzeln schlagen konnte.
Den Alten aber, die das Glück hatten, mit Dir zu-
sammen zu arbeiten, möge das Buch eine Erinnerung an
schwere und doch so schöne Stunden sein. Sprich wieder zu
ihnen, sprich wieder zu allen! Sieh, wir horchen alle auf, wie
es alle taten, in der Volksversammlung und in der Partei-
sitzung, im Parlament und vor Gericht, wenn es hieß:
Victor Adler hat das Wort !
Wien, im November 1922.
Dr. Michael Schacherl.
I.
Adler als Angeklagter.
ehrenvolle Wunde im Dienste
der Freiheit des Vaterlandes.
L a s s a 11 e.
Der Münzvei'fälschungsprozeß und der Polizeirat Frankl 13
Der Münzverfälschungsprozeß und der
Polizeirat Frankl.
In der Nummer 52 der „G 1 e i c h h e i f vom 17. Dezember 1887
schrieb Adler über den „anarchistischen" Münzverfälschungsprozeß:
Am 10. Dezember 1887 spielte sich vor dem Ausnahme
gericht unter Vorsitz des Landesgerichtsrats Herrn v. H o 1-
z i n g e r wieder einmal ein „Anarchistenprozeß" ab. Es
handelte sich um „Münzverfälschung", deren Resultat sechs
Guldenstücke und zwei Zehnkreuzerstücke waren, sämtliche
ganz ungeeig"net zur Ausgabe. Die Angeklagten: Anton
M 1 i c z k o, Ferdinand H i 1 b e r t, Viktoria T i t z, Ferdinand
E m m e r 1 i n g und Anton S c h r e g e r, verteidigt durch die
Herren Dr. Schmied], Dr. O r n s t e i n, Dr. M a n d ].
Dr. E 1 b 0 g e n und Dr. Weisel, waren sämtlich geständig.
Als Motive ihrer Handlungsweise führten Mliczko und Hu-
bert ihre traurige materielle Lage, Frau Titz ihr Mitleid mit
Mliczko, Emmerling den Wunsch, für die Familien der Inhaf-
tierten Geld herbeizuschaffen und' Seh reger den Auf-
trag des k. k. Polizeirates Frankl an. Der Prozeß
hätte also vor die Geschwornen und nicht vor das Ausnahme-
gericht gehört. Ein diesbezüglicher Antrag der Verteidigung
wurde jedoch vom Gerichtshofe abgewiesen. Der Staatsanwalt
verstieg sich sogar zu dem Satze, die von ihm behauptete Ab-
sicht der Angeklagten, die Familien der inhaftierten An-
archisten zu unterstützen, genüge allein schon, um die Handlung
als eine anarchistische zu kennzeichnen, worauf ihm Dr. E 1-
b oge n erwiderte, diese Aufstellung sei wohl nur ein „Ausfluß
der höchsten proze?*sualen Verlegenheit". Dr. Schmiedl
wie Dr. E 1 b o g e n verwiesen darauf, daß der „Verein für ent-
lassene Sträflinge", dem alle Gerichtsbeamten angehören, daß
Landesgerichtsrat Grinzenberger, durch dessen Hände so viele
Unterstützungen für Inhaftierte und ihre Familien gingen,
nach dieser Theorie strafbar wären. Freilich umsonst; der
Staatsanwalt behielt auch diesmal recht!
14 Der Münzverfälschungsprozeß und der Polizeirat Frankl
Mliczko und Hubert wurden zu 4 Jahren, Viktoria Titz
zu 11/4 Jahren, Emmerlin^ zu 1 Jahr und Schreger zu 5 Jahren
schweren Kerker verurteilt.
* *
Der k. k. P o 1 i z e i r a t F r a n k 1 spielte in diesem Pro-
z^isse eine Rolle, die nähere Beleuchtung erfordert.
Anton Schreger, 1884 ausgewiesen, .erlangt im März
1885 die Erlaubnis zur Rückkehr nach Wien. Der Polizei-
kommissär seines Bezirkes schickt ihn sofort zu Polizei rat
Frankl. Dieser erklärt ihm, daß es „eine Pflicht der
Dankbarkeit für die Erlaubnis zur Rückkehr sei, sich
wieder zum Scheine den Anarchisten anzuschließen" und ihra,^
dem Polizeirat Frankl, über ihre Tätigkeit zu berichten, mit
einem Worte Konfidentendienste zu leisten. Am 11. April 1. J.
teilte er Frankl mit, daß in Fünfhaus falsches Geld gemacht
werde. Wie Frankl vor dem Untersuchungsrichter angibt, habe
er nun erfahren, daß Schreger selbst beteiligt sei und „hielt
ihm das strenge vor" ; Schreger selbst erzählt bei der Verhand-
lung, Frankl habe gesagt, „das war doch ungeschickt von
Ihnen!" Tatsächlich hatte Schreger, der offenbar zu wenig
Material für seine Bezahlung liefern konnte, zwei junge, harm-
lose und unerfahrene Bursche, Spiegel und Emmerling, einfach
zur Falschmünzerei verleitet und die Werkzeuge dazu nach
seinem Geständnis für das Geld der Polizei angeschafft. Als
Frankl dies erfuhr, trug er ihm auf (nach Aussage Schregers
bei der Verhandlung), „die Fabrikation zu unterbrechen, die
Geldstücke zu bringen und die Formstücke zu zerschlagen". Er
überbrachte tatsächlich die sechs, ganz unbrauchbaren Guiden-
stücke und damit war zunächst für ihn und seine Mit-
schuldigen die Sache erledigt, ebenso für Polizeirat Frankl.
Bald darauf, am 24. April 1. J., berichtete Schreger dem
Frankl, er habe entdeckt, daß Nedomansky, Czaska und Presl
falsches Silbergeld gießen. Die erwiesene Glaubwürdigkeit
dieses Zeugen bewog Herrn Polizeirat Frankl, die sofortige
Verhaftung der Angeschuldigten zu veranlassen. Sie blieben
sieben Wochen in Haft, bis sich ihre Unschuld herausstellte;
Czaskas Frau war vor Kummer und Not inzwischen irrsinnig
geworden. Zwei Tage nach der Verhaftung dieser drei Un-
schuldigen, am Pfingstsonntag, war Spiegel noch eine Paß-
Der Münzverfälschungsprozeß und dor Polizeirat Frank! 15
anweisung vom Polizeikommissariat ausgefolgt worden, die
ihm die Flucht ermöglichte. Seine Verhaftung hätte eben auch
die von Schreger herbeiführen müssen. (Schreger wirkte auch
sonst „anregend"; so sagte er zu Mliczko, man solle doch beim
Blumenkorso „etwas ausführen". Auch schriftstellerisch war
er tätig und suchte bei der Eedaktion der „Gleichheit" ein
Manuskript einzuschmuggeln, in welchem er sich sehr abfällig
über „Denunziantentum" aussprach, welches aber, weil das'
Urteil über diese Tätigkeit als ohnehin feststehend angesehen
wurde, nicht zum Abdruck kam. Es ist nicht bekannt, ob der
Polizeirat Frankl auf die Abfassung dieses Aufsatzes Einflu!]
nahm.)
Die Berichte lieferte Schreger in die Privatwohnung
Frankls. Seine Verhaftung sowie die Emmerlings erfolgte erst
später. Nachdem der Untersuchungsrichter bei der Verfolgung
des Falles Mliczko auf ihn aufmerksam wurde, lud er Herrn
Polizeirat Frankl vor und legte ihm die Frage vor, „warum die
von Schreger über seine eigene sowie über die des Spiegel und
Mliczko erfolgte Beteiligung an der Münzverfälschung in der
Siebenbrunnengaese gemachten Mitteilungen nicht sofort
zum Gegenstand der in der Strafprozeßordnung vorgesehenen
Amtshandlung gemacht wurden"? Worauf Polizeirat Frankl
antwortete : „ . . . diese Erwägungen beruhen darauf, daß die
Mitteilungen Schregers lediglich auf Vorbereitungs-
handlungen schließen ließen . . ." usw. Diese „Vorberei-
tungshandlungen" waren Herrn Polizeirat Frankl als solche
gekennzeichnet durch Vorlage von sechs Münzen und führten
Schreger auf fünf Jahre ins Zuchthaus. Die Vorlage eines
falschen Zwanzigkreuzerstückes, welches Schreger von Czaska
erhalten zu haben behauptet hatte, gewann hingegen für
Herrn Polizeirat Frankl die Bedeutung eines wichtigen Corpus
delicti und führte die sofortige Verhaftung des Beschuldigten
herbei . . .
Die Verteidigung verlangte die Vorladung des Polizei-
rates Frankl als Zeuge, was natürlich abgelehnt wurde. Der
Staatsanwalt suchte dessen Vorgehen zu rechtfertigen; er
führte an, sein Bestreben hätte sein müssen, „die Frucht nicht
früher zu pflücken, bevor sie reif sei", das heißt so viele Mit-
schuldige als möglich fassen zu können. Die Erfahrung hat
gelehrt, daß erstens Unschuldige dadurch in Verdacht kamen;
16 Der Münzverfälschungsprozeß und der Polizeirat Frankl
daß zweitens Unschuldige wirklieh durch den Polizeibeamten
Schreger verleitet wurden. Der Herr Polizeirat Frankl scheint
also denn doch in seinem „Streben" etwas zu weit gegangen
zu sein.
Dr. Elbogen, als Verteidiger des armen, verleiteti?n
JMumerling, wies darauf hin, daß sich das ganze Delikt „unter
den Augen der Wiener Polizeidirektion zugetragen habe", daß
Schreger der „Vertrauensmann der Polizei" gewesen sei und
daß die Polizei an der Fortsetzung der Tat „moralisch wenig-
stens nicht loszuzählen" sei — daß man an § 212 des Straf-
gesetzes (Vorschul )leistung) hier zu denken habe — —
Fuimerling wurde verurteilt wie Schreger.
Die Verteidigung Schregers wurde unseres bescheidenen
Faachtens nicht richtig geführt; der Verteidiger Dr. Weisel
liätte darauf hinweisen können und müssen, daß niemand, nicht
einmal Polizeirat Frank], der das doch versteht, Schreger für
einen Anarcliisten gehalten habe; daß schon die fälschliche
Beschuldigung gegen drei gänzlich unschuldige Arbeiter be-
weise, daß er einfach in seinem Eifer über das Ziel geschossen
habe, vielleicht um seinen Posten nicht zu verlieren.
Was l)r. W e i s e 1 als Milderungsgrund anführte, „(I e-
h o r s a m gegen die Obrigkeit", nämlich Herrn
]*olizeirat Frankl, mußte, ins richtige Licht gestellt, den Mann
ganz freinuichen. Daß für einen Agent provocateur wie
Schreger keine Sti-afe zu liart ist, ist sicher. Aber gerade die
Verteidiger des Polizeirates Frankl waren unserer Meinung
nach nicht in der Lage, diese Strafe auszusprechen . . .
Bei unseren Preßverhältnissen ist eine freimütige Kritik
der Tätigkeit von Beamten unmöglich. Das eine aber möchten
wir denn doch uns zu bemerken erlauben, daß weder der
-Respekt vor der bürgerlichen Moral noch der Respekt vor
den Behörden dabei gewinnt, wenn man die „Anarchisten"
bekämpft, wie es hier geschehen — mit allen Mitteln.
Nun ist es freilich nicht unsere Sache, diese Interessen
xn wahren , aber es liegt uns daran zu konstatieren,
daß man auch \on der anderen Seite „gesetzliche und mora-
lische" Mittel nicht als ausreichend betrachtet! V. A.
Artikel wurde fasl zur Gänze 1^ o n f i s z i e r t.
Pcvlizeirat Frankl rächt sich höchstpersönlich
Polizeirat Frankl rächt sich höchstpersönlich.
Eine Anklage gegen Adler wurde nicht erhohen, aber Polizeiral
Frankl rächte sich selbst ;
Am i. Dezember war nämlich in Schwenders Kolosseum in Rüdolfs-
heim das zwanzigjährige Gründungsfest des Arbeiter-Bildungs-
vereines in Wien gefeiert worden, wo als letzter Redner Adler
sprach.
Adler erinnerte daran, daß der Arbeiter-Bildungsverein
vor zwanzig Jahren zuerst in Österreich die rote Fahne auf-
gepflanzt habe; daß er, obwohl kein politischer Verein, viel
lazu beigetragen habe, daß die „Arbeiter die Augen auftun";
auf den Sieg der roten Fahne brachte er ein
„Hoch!", in das die Tausende brausend einstimmten.
N e m e c schwenkte die rote Fahne, v'ährend das Orchester die
„Marseillaise'" anstimmte.
Einige Tage nach dem Angriff Adlers auf Polizeirat Frankl stand
Adler als Beschuldigter vor dem Gewaltigen. In der „Gleichheit"
vom 24. Dezember 1887 schilderte Adler die Szene;
Herr Polizeirat Frankl als Richter trat un.'< anl Montag
und Mittwoch — wenige Tage nach der eben erwähnten Konfis-
kation — gegenüber. Wir hatten nämlich etwas zu voreilig
unserer Verwunderung darüber Ausdruck gegeben, daß der
erhebende Verlauf des Arbeiter-Bildungsvereinsfestes von
keiner Seite für „staatsgefährlich" angesehen wurde. Herr
Polizeirat Frankl holte das Versäumte nach. Er erinnerte sich
einer alten Verordnung vom Jahre 1854, an welcher die „be-
freienden" Staatsgrundgesetze spurlos vorübergegangen sind
und nach deren § 11 „jede demonstrative Handlung, wodurch
Abneigung gegen die Regierung oder Geringschätzung ihrer
Anordnungen ausgedrückt werden soll, mit einer Ordnungs-
buße von einem bis einhundert Gulden Konventionsmünze oder
von sechsstündiger bis vierzehntägiger Anhaltung geahndet"
werden soll.
Die Genossen Xemetz und Dr. Adler wurden nun vor-
geladen und ihnen mitgeteilt, daß das Schwenken der roten
Fahne durch den ersteren sowie die Rede des letzteren, welche
mit dem „Hoch" auf den Sieg der roten Fahue schloß, auf
,.Abneigung" und „Geringschätzung" der Regierung schließen
lasse. Genosse Nemetz wurde vom Polizeirat Frankl zu
18 Pülizeirat Frankl rächt sich höchstpersönlich
25 Ghilden Geld.^trafe oder fünf Tagen Arrest, Genosse
Dr. Adler zu 5 0 Gulden Geldstrafe oder zehn Tagen
Arrest verurteilt.
Auch in diesem Falle haben wir rekurriert, um einmal
festzustellen, oh in Österreich wirklich jedei" Polizeikommissär
befugt ist. das angeblich bestehende .,Recht der freien
Meinungsäußerung" nach seinem persönlichen besten „Wissen
und Gewissen" durch derartige Polizeistrafen zu beengen.
Unter den vielen elastischen Gesetzen in Österreich ist diese
Verordnung das allerelastischeste: es gibt absolut keiue poli-
tische Handlung, die nicht durch ihre Anwendung der Polizei
verfallen könnte und es ist wirklich die pure Nachsicht des
Herrn Polizeirates Frankl, daß er sie nicht öfter in Anwen-
dung bringt. Wir glauben, daß das österreichische Defizit sehr
bald verschwinden müßte, w'enn alle, die „A'bneigung" gegen
die jeweilige Eegierung hegen, mit Geldstrafen belegt würden.
Wie wäre es, wenn Herr Polizeirat Frankl diese Idee Herrn
V. Dunajewski mitteilte; ihm wäre geholfen — er würde Hof-
rat im Finanzministerium; wir würden ihm zu seiner Bef<">rde-
rung nur mit geteiltem Herzen gratulieren können, denn seine
jetzige Tätigkeit ist für die Aufklärung der Arbeiter über die
bestehenden Zustände geradezu unersetzlich I
Auch dies&i' Artikel wurde konfisziert.
Beschwerde beim Reichsgericht über die Verurteilung durch
den Polizeispitzelrat.
Der Kampf Adlers gegen die Polizeiwillkür verlangte es, daß auch
seine Verurteilung zu .50 Gulden Geldstrafe durch den Polizeirat Frankl nicht
ruhig hingenoinmen, sondern dagegen an die niederösterreichische Statt-
halterei rekurriert und, als der Rekurs abgewiesen wurde, die Be-
schwerde an das Reichsgericht erhoben wurde.
Über die Verhandlung, die am 16. April 1888 stattfand, ])erichtete dis'
Nummer 16 der „Gleichheit'':
Die durch Dr. E p p i n g e r vertretene Beschwerde erblickt in der
Verurteilung zunächst eine Verletzung des dem Beschwerdeführer als
österreichischer .Staatsbürger durch Artikel 8 des Staatsgrundgesetzes vom
21. Dezember 1867, respektive § 1 des Gesetzes vom 27. Oktober 1862
(R.-G.-Bl. Nr. 87) gewährleisteten politischen R e c li t e s, daß
n i e m a nd seinem gesetzlichen Richter entzogen werden
dürfe, sowie eine weitere Verletzung des durch Artikel 13 des vorzitierten
Polizeirat Frankl rächt sich höchstpersönlich 19
Slaatsgrundgesetzes gewahrten Rechtes der freien Meinungs-
äußerung und führt diesbozüglich im wesentlichen folgendes aus:
-Als Richter darf nur jener Beamte angesehen werden, welcher die
durch besondere Gesetze und Vorschriften geregelte Befähigung zum Richter-
amt erworben, in gesetzlicher Weise zum Richter bestellt ist und nach dem
gesetzlichen Verfahren Recht spricht. Das Rechtsprechen durch Polizei-
beamte ist im Widerspruch mit Wort und Geist der Staatsgrundgesetze und
führt dahin, daß der Schutz dieser Gesetze vollständig illusorisch wird, daher
auch die Kompetenz der Polizeibeamten zur Fällung von Erkenntnissen be-
stritten wird. Durch den Artikel 13 des zitierten Staatsgrundgesetzes erscheint
die Bestimmung des § II. der erwähnten Verordnung vom Jahre 1854 natur-
gemäß aufgehoben, da bei dem Fortbestand derselben das Recht der freien
Meinungsäußerung und die Sicherheit des politischen Parteilebens überhaupt
nicht etwa beschränkt, sondern vollständig aufgehoben werde. Die Ehrfurcht
vor den Staatsgrundgesetzen zwinge zu der Annahme, daß sie nicht nur
leere Sätze seien, sondern daß sie rechtbildende Gesetze seien, daß sie
nicht bloß Versprechungen machen, sondern wirkliche Rechte gewährleisten.
Endlich müsse das Reichsgericht befugt sein, in jedem Falle zu prüfen, ob
tatsächlich Anlaß zu einer Verfügung nach § 11 gegeben war, denn mangels
der Befugnis zu einer solchen Prüfung bliebe es jedem Betroffenen un-
möglich, gegen die etwaige Willkür einer Administrativbehörde Schutz zu
suchen. Dr. Eppinger bemerkt, er verhehle sich angesichts der Präjudikate
des Reichsgerichts in analogen Fällen nicht die Schwierigkeit seines Stand-
punktes; wie immer aber auch das Erkenntnis fallen sollte, jedenfalls werde
es dazu dienen, den Wert der Staatsgrundgesetze in bezug auf
den Schutz politischer Rechte richtig beurteilen zu können. Er
schließt mit der Bitte, das Reichsgericht wolle erkennen: durch die gleichen
Entscheidungen der Polizeidirektion in Wien und der niederösterreichischen
Statthalterei hat eine Verletzung der obbezeichneten Rechte des Beschwerde-
lührers stattgefunden.
Der Vertreter der Regierung, Statthaltereiiat v. Kozaryn, betont, das
Hochlebenlassen der roten Fahne, eines Symbols des Umsturzes der be-
stehenden gesellschaftlichen Ordnung, hätte leicht zur Störung der öffent-
lichen Ruhe führen können; die Venirteilung wegen Übertretung nach § 11
der Kaiserlichen V'erordnung vom 20. April 1854 sei gerechtfertigt; übrigens
entziehe sich die Beurteilung dieser Verfügung der Kompetenz des Reichs-
gerichts.
Tatsächlich hat das k. k. Reichsgericht -.zu Recht" erkannt: Durch die
Entscheidungen der k. k. Polizeidirektion in Wien vom 21. Dezember 1887
und der k. k. niederösterreichischen Statthalterei hat eine Verletzung der im
Artikel 8 des Slaatsgrundgesetzes vom 21. Dezember 1867, respektive im § 1
des Gesetzes vom 27. Oktober 1862 R.-G.-Bl. Nr. 87) gewährleisteten
politischen Rechte nicht stattgefunden.
Das Erkenntnis hat also die Verordnung vom Jahre 1854 als zu Recht
bestehend anerkannt und dadurch den von Dr. Eppinger gewünschten :. .Maß-
stab für die Beurteilung de? Wertes der Staatsgrundgesetze" tatsächlich
geliefert!
20 Zwei Geheimbuudprozesse
Zwei Geheimbundprozesse.
Ali? Victor Adler daranging, die „Gleiichheit" erscheinen zu lassen,
rieten ihm gute Freunde aus seiner deutschnationalen Zeit besorgt davon
ab: „Man wird Sie wegen Geheimbündelei anklagen und in Ketten
nach Prag zum dortigen Ausnahmesenat des Landesgerichts liefern. Dort
werden Sie monatelang in Untersuchung sitzen und schließlich noch ver-
urteilt werden.''
.Adler wagte es. Gerade er, der die Arbeiter als öffentliche poli-
tische Partei konstituieren wollte und sie nicht genug vor der anarchi-
stischen Geheimbündelei warnen konnte, sollte wegen Geheimbündelei ver-
folgt werden können?
Im Mai 1888 schienen aber die Warner teilweise recht zu bekommen.
Am 5. Mai berichtete er in der „Gleichheit" (Nr. 18):
Hier scheint ein G e h e i m b u n d p r o z e ß beab-
sichtigt zu sein. Die Genossen G o 1 1 e i m, T i k a 1 und
Dr. Adler hatten ein Verhör zu bestehen, für welches ältere
Briefe das Substrat bildeten. — Genosse Anton König,
Kleidermacher, soll in Wien inhaftiert sein.
Am 16. Juni 1888 konnte aber die „Gleichheit" mitteilen:
Der Geheimbundprozeß, welcher gegen einige Wiener
Genossen im Zuge war, ist nicht zustande gekommen. Nach-
dem der Untersuchungsrichter Dr. Bürger über ein Dutzend
ausführliche Vernehmungen vorgenonnnen hatte, wurde die
Untersuchung von der Staatsanwaltschaft als gänzlich
resultatlos eingestellt.
Verfolgung wegen Geheimbündelei beim Reichenberger Kreis-
gericht.
Am 22. September 1888 berichtet Adler in der zweiten Auflage der
„Gleichheit":
Samstag den 22. Septem])er morgens fand in der Woh-
nung des Genossen Dr. Adler und in der Redaktion der
,. Gleichheit" eine äußerst gründliche Haussuchung auf
Requisition des Reichenberger K r e i s g e r i c h t s
statt. Gehaussucht wurde nach Briefen und vSchriftstücken.
Aus dem Haussuchungsbefehl geht hervor, daß es sich um den
Verdacht der Geheimbündelei (§ 285) handelt. Da die
Haussuchung noch nicht beendet ist, können wir über ihr
Ergebnis noch nichts mitteilen.
Zwei Geheimbundprozesse 21
In der nächsten Nummer 39 vom 29. Septembeil bericlitet Adler
darüber mehr:
Hausdurchsuchungen. Sam.stag den 22. Sep-
tember um halb 7 Uhr früh erschien bei den Genossen Adle r
und Pokorny je ein Polizeikomniissär mit zwei Detektivs,
der zunächst einen ,,Hausdurch.vuchungsbefehl" des Reichen-
berger Kreisgerichts vorwies. Aus diesem war vor allem die
den Besuchten bisher unbekannte und einigermaßen über-
raschende Tatsache ersichtlich, daß sie beide schon seit
18. August dieses Jahres in Untersuchung wegen
des Vergehens nach § 285 (Geheimbündelei)
s t e h e n, was den zunächst Beteiligten vom Beichenberger
Kreisgericht durch volle fünf Wochen absichtlich ver-
heimlicht wurde. Dieses scheint also selbst die Gefahr, in
welcher Stadt, Land und Reich, von der gesamten ..Ordnung""
ganz zu schweigen, durch diesen .,Geheinibund" geraten sind,
nicht sehr hoch zu veranschlagen, sonst hätte es wohl die Fort-
setzung des Verbrechens rechtzeitig gehindert.
Tu dem amtlichen Schriftstück wurde weiterhin eröffnet,
daß „Verdachtsgründe vorliegen, daß die beiden im Besitz von
Papieren und Druckschriften sich befinden, welche der sozia-
listischen Propaganda dienen'". Die Haussuchung hat nun
allerdings diesen scharfsinnigen Verdacht des Reichenberger
Untersuchungsrichters glänzend gerechtfertigt; bei beiden Be-
schuldigten, die seit Jahren für die sozialistische Propaganda
tätig sind, fanden sich „Druckschriften" in Menge, bei dem
einen, der Herausgeber eines Parteiblattes ist, auch .,Papiere".
das heißt Manuskripte und Briefe, die auf das Parteileben und
die Redaktion Bezug haben, natürlicli aV)er auch nicht eine
Zeile, aus der sich — selbst nach böhmischen Begriffen —
ein ,,Geheimbund" konstruieren ließe. Was den Reichenberger
Untersuchungsrichter besonders enttäuschen wird, ist, daß
sich auch nicht ein einziger Brief aus der schwer bedrohten
Stadt Reichen]>erg vorfand, der nicht rein a(hninistrativer
Natur gewesen wäre. Mitgenommen wurde also eine Menge,
gefunden, was einen Anhaltspunkt bieten könnte, konnte
nichts werden und wurde niclits.
So wollen wir denn ruhig abwarten, was man uns über
den jüngsten ..Geheimbund" Neues erzählen wird.
22 Zwei Geheimbundpi'ozesse
Das Prager Landesgericht wird delegiert!
Trotzdem schien die Warnung tatsächlich prophetisch gewesen zu
sein. Am IB. Oktober 1888 teilte Adler in der „Gleich'beit" (Nr. 41) mit:
Wien. Den (r e h e i m b n n d p r o z e ß, welcher gegen
Genossen Dr. Adle r vom R e i c h e n b e r g e r Kreisgericht
angestrengt wurde, hat das k. k. Oberlandesgericht Prag „nach
Anhörung des k. k. Oberstaatsanwalts" dem k. k. Landes
g e r i c h t in P r a g „zur weiteren Durchführung und Ent-
scheidung zuzuweisen befunden".
Der Ausfall des Rekurses wird beweisen, ob auch der
Oberste Gerichtshof die Kreisgerichte in Böhmen für un-
geeignet hält, Sozialistenprozesse zu führen. Seit Jahren
werden dieselben bekanntlich insgesamt ausschließlich nacli
Prag verwiesen. Natürlich enthält das Schriftstück als
einzige Motivierung der Delegierung des Prager Landes-
gerichts die vielsagenden, aber schwer verständlichen Worte :
,,aus Gründen für die öffentliche Sicherheit . . ."
Beschwerde gegen die Delegierung des Prager Blutsenats.
Die Beschwerde Adlers hatte Erfolg. Am 15. Dezemhoi schrieb
er in der „Gleichheit" (Ni. 50) folgenden Artikel:
Unser Geheimbundprozeß und das Prager Ausnahmegericht.
Seit Jahren sind Hunderte von unseren Parteigeno.ssen
in Böhmen aus allen Gerichtsbezirken des Landes i n K e 1 1 e n
nach Prag gebracht und dort nach m e li r m o n a-
t i g e r Untersuchungshaft meist wiegen G e h e i m-
b ü n d e 1 e i (§ 1285 Str.-G.) verurteilt worden. Dr. K r o n a-
Wetter sagte darüber im Abgeordnetenhause am 24. Mai 1888
wörtlich folgendes:
..Dort herrscht die> Klassenjustiz. Es besteht nämlich iii Prag seit
Jahren faktisch ein A u s n a h m e g e r i c h t s h o f, der ausschließlich über
alle sozialistischen, nicht a n a r c h i s t i s c h e n , sondern sozia-
listischen Delikte entscheidet, und zwar fungiert nicht das Prager Ge-
richt im allgemeinen als .Ausnahmegericht, sondern im Prager Gerichtshof
selbst ist wieder ein e i g e n e r Senat zusammengesetzt, dem allein und
speziell diese Delikte fiii- ganz Böhmen zui- .\burteilung zugeteilt sind, und
dieser Senat ist aus ganz entschiedenen Feinden einer jeden freiheitlichen
und fortschrittlichen Bewegung überhaupt, insbesondere aus Feinden jedei'
Bewegung mit sozialistischen Tendenzen zusammengesetzt. Wi/ finden i n
P r a g e i n e n G e i- i c h t s h o f wider Recht u n d Gesetz ad hoc zu-
Zwei Geheimbuudproze^se 28
sammengesetzl, vor welchen aus ganz Böhmen die Leute, die insbesondere
des Vergehens der geheimen Verbindung oder überhaupt eines Deliktes von
sozialistischer Tendenz angeklagt sind, gelangen. Ich habe bei früheren
Gelegenheiten erörtert, daß aus allen Gegenden Böhmens die Leute nicht
einfach, sondern mit Stricken und Fesseln gebunden viele
Meilen weit vor diesen Gerichtshof geschleppt werden."
Der Justizminister verwies in seiner sehr wenig sagenden
Antwort darauf, die Leute hätten ja das Eecht gehabt, an
den Obersten Gerichtshof zu rekurrieren. Dr. Kronawetter rief
ihm ganz richtig zu: ..Dazu haben sie kein Geld." Er hätte
aber noch zwei Umstände anführen können. Die meisten
Angeklagten wissen nichts von diesem Rekursrecht, sie
empfangen keine Rechtsbelehrung, und bis sie einen Ver-
teidiger haben, ist die Frist jedesmal schon versäumt. Weiter
aber, und das ist die Hauptsache, sie sind in Unter-
s u c h u n g s h a f t und man sagt ihnen — und sie wissen,
daß dies pünktlich ausgeführt wird — daß sie so lange in
Untersuchungshaft bleibe n, bis der Rekurs erledigt ist, was
monatelang dauert, während sie vielleicht eine Verurteilung
von sechs Wochen zu gewärtigen haben. So ist es gekommen,
daß unseres Wissens der Rekurs an den Obersten Gerichtshof
bis jetzt nicht ein einziges Mal ergriffen wurde.
Am 17. September dieses Jahres hat das Reichenberger
Kreisgericht gegen J. U 1 b r i c h, R. Po k o r n y und Doktor
V. Adle r die Anklage auf Geheimbündelei erhoben. Warum?
Das wissen wir nicht und hoffen es gelegentlich zu erfahren.
Am 4. Oktober teilte man uns mit, daß wir dem Prager
Landesgericht überantwortet seien. Wir reichten durch unseren
Vertreter Dr. Zweybrück die Beschwer d e ein. Nach
vollen zwei Monaten, am 7. Dezember, wurde uns folgende
Entscheidung zugestellt:
M.-E. 8362 St.-G.
Der hohe k. k. Oberste Gerichts- und Kassationshuf hat mit der
hohen Entscheidung vom 7. November 1888, Z. 13.042, nach Anhörung
der k. k. Generalprokuratur der Beschwerde des Dr. Victor Adler
und des Rudolf P o k o r n y gegen die Verfügung des böhmischen Ober-
landesgerichts vom 3. Oktober 1888, Z. 26.053, womit aus Rücksichten
der öffentlichen Sicherheit nach § 62 St.-P.-O. zur Untersuchung und Ver-
handlung wegen des den Beschwerdeführern zur Last gelegten Vergehens
gegen die öffentliche Ruhe und Ordnung nach § 285 St.-G. statt des
k. k. Kreisgerichts Reichenberg das k. k. Landes- als Strafgericht in
Prag delegiert wurde, stattgegeben und diese Delegation s-
24 Zwei Geheimbundproze^se
Verordnung behoben, weil derzeit weder aus dem staatsanwalt-
lichen Antrag, noch aus der Delegationsverordnung des k. k. Oberlandes-
gerichts, noch endlich aus den Akten solche Umstände zu entnehmen
sind, welche die Besorgnis zu begründen geeignet wären, daß die Durch-
führung dieser Untersuchung und die allfällige Hauptverhandlung dieser
Strafsache bei dem k. k. Kreisgericht Reichenberg eine Gefahr f ü r
die öffentliche Sicherheit herbeizuführen vermöchte und
sonach dermalen kein Grund vorliegt, die Beschuldigten
ihrem ordentlichen Richter zu entziehen.
Von diesem über die Entscheidung des hohen k. k. Obersten Gerichts-
ais Kassationshofes herabgelangten Intimat des hochlöblichen k. k. Ober-
landesgerichts vom 28. November 1888, Z. 30.672, geschieht die Ver-
ständigung.
Vom k. k. Kreisgericht Reichenberg, am i. Dezember 1888.
(Unterschrift unleserlich.)
Wir sind überzeugt und gewiß jeder Urteilsfähige mit
uns, daß alle die unzähligen Prozesse ganz gleichen Charakters
für den Sitz des jeweiligen Kreisgerichts genau ebensowenig
,,eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit herbeizuführen
vermochten", daß also die Angeklagten ohne Grund ihrem
ordentlichen Richter entzogen wurden.
Nun könnte man glauben, daß die Worte „dermalen'',
„derzeit" in dem Bescheid des Obersten Gerichtshofes irgend-
welche Bedeutung haben, daß eine vielleicht ehemals vor-
handene „Gefahr" jetzt nicht mehr existiere. O nein! Für
die Prager Oberstaatsanwaltschaft, für das Prager Ober-
landesgericht besteht auch heute diese „Gefahr", und wer aus
irgendeinem Grunde nicht rekurriert, wird auch heute „seinem
ordentlichen Richter entzogen".
Zugleich mit dem abgedruckten Bescheid erhalten wir
folgende Mitteilung: Am 15. Oktober d. J. erschien bei dem
Weber Karl Alber in Zwickau ein Bezirksgerichts-
adjunkt mit zwei Gendarmen und nahm eine Haussuchung
vor. Gefunden wurden angeblich Arbeiterblätter, von ver-
botenen Schriften eine einzige Nummer des „Sozialdemokrat".
A 1 b e r wurde verhaftet und am 2 2. O k t o b e r an das
Landesgericht in Prag eingeliefert, wo er
bis heute sitzt. Dieser Mann hat nicht rekurriert, er hat
noch keinen Verteidiger, ist also der „Rechtsanschauung" des
Prager Landesgerichts auf Gnade und Ungnade ausgeliefert.
Wir werden Gelegenheit haben, auf diesen Fall zurück-
zukommeu.
Zwei Geheimbundprozesse 25
Wir geben uns der Hoffnung hin, daß man künftig-
maßgebenden Orts in Prag den Wink mit dem Zaunpfahl ver-
stehen und daß man endlich einsehen wird, daß man selbst
gegen Sozialisten wenigstens in der Form gesetzlich vorgehen
muß. Diese gesetzlichen Formen und die Öffentlichkeit sind
die einzigen Waffen, die uns in dem Kampfe gegen die ,,Art,
mit uns umzugehen" zur Verfügung stehen. Wir müssen sie
ausnützen bis aufs äußerste und wir richten darum an alle
Genossen wiederholt die Mahnung, sich nichts still-
s c h w e i g e n d g e f a 1 1 e n z u 1 a s s e n, sondern alle Kechts-
mittel auszunützen und sofort an die A r b e i t e r 1) 1 ä 1 1 e r
zu berichten.
Nur diesem Vorgehen haben wir es zu danken, daß nun-
mehr ein Präjudiz geschaffen ist, welches hoffentlich einen
Abschnitt in der Geschichte der Sozialistenverfolgungen in
Böhmen bilden wird.
Am 12. Jänner 1889 konnte die rGleichheit'" dann mitteilen, daß die
L'ntersuchung wegen Geheimbündelei vom Reichenberger Kieisgericht ein-
gestellt sei.
In Nr. 3 der „Gleichheit" vom 18. Jänner 1889 erschien als Abschluß
folgender Artikel Adlers:
Das Ende eines Geheimbundprozesses.
Am 8. August vorigen Jahres wurden die Genossen
Pokorny und Adler in Reichenberg polizeilich angehalten „zur
Ausweisleistung". Am 18. August wurde von der Staats-
"anwaltschaft Keichenberg eine Hausdurchsuchung bei ihnen
und bei Genossen Ulbrich, mit dem sie in Eeichenberg ge-
sprochen hatten, beantragt. Am 2 0. September wurden
diese Haussuchungen auch wirklich vorgenommen und alle drei
wegen „Geheimbündelei" in Untersuchung gezogen. Am
;). O k t o b e r verfügte das Prager Oberlandesgericht die D e-
1 e g i e r u n g des P r a g e r L a n d e s g e r i c h t s für
diese Strafsache „aus Gründen füj- die öffentliche Sicherheit".
Am 7. Dezember entschied der Oberste Gerichtshof, diese
Delegierung bestehe zu Unrecht, es habe das Reichen-
berger Kreisgericht selbst vorzugehen. Und am 1 2. J ä n n e r
1889 wdrd den Beschuldigten mitgeteilt, das Verfahren gegen
f-ie sei eingestellt. Dazwischen spielte eine Reihe von
Verhören, bei welchen die Beschuldigten sich vergebens
bemühen, auch nur eine Andeutung darül)er zu erhalten.
26 UnljHfugte Vei-teilung der „Gleichheit" an die Ziegelarbeiter
welcher Tatsachen sie eigentlich beschuldigt seien.
Immer hören sie, daß die Tatsachen eben erst gesucht
w erde n.
Und nun ! Der Prozeß hat f ü n f M o n a t e gedauert, um
dann resultatlos in den Sand zu verlaufen. Für die diesmal
Betroffenen konnte die Langwierigkeit des Prozesses gleich-
gültig sein. Sie waren a ti f freiem Fuß e. Wie aber, wenn
.sie heute fünf Monate Untersuchungshaft hinter
•sich liätten, wenn sie nach fünf Monaten, die sie aus ihrem
Leben streichen müssen, nach Einbußen an Gesundheit und
Vermögen, die erfreuliche Genugtuung hätten zu hören, die
Herren L'ntersuchungsrichter hätten keinen Erfolg gehabt
beim „Suchen von Tatsachen" '(! Kurz, wie wenn es ihnen so
gegangen wäre wie Hunderten von böhmischen Genossen, wie
dem Genossen A 1 b e r, der seit Monaten in Prag schmachtet,
ohne zu wissen, warum ^ Bei Alber soll man eine Nummer des
„Sozialdemokrat" gefunden haben; nun, bei Genossen Adler
fand man sämtliche Jahrgänge dieses unseres Bruderorgaus,
bei Genossen Pokorny ganze Bündel von Parteiblättern — die
man freilich vorläufig wegtrug. Wir fragen: warum geschieht
und darf geschehen in Böhme n, was in W i e n selbst unter
dem Ausnahmezustand ganz undenkbar ist '. — Oder sollte für
die Verhängung oder Nichtverhängung der LTntersuchungs-
haft der Stand des Angeklagten maßgebend sein ff Sollten
Arbeiter wirklich Dingen ausgesetzt sein, die Doktoren,
sofern sie den Besitzenden zugerechnet werden, nicht zu
fürchten habend — Der Justizminister wird gelegentlich der
Budgetdebatte Gelegenheit haben, diese Frage zu beantworten.
Die Wirkung des Artikels war, daß auch A 1' 1) e r entliaftet und die
Untersuchung gegen ihn eingestelh wuide — nach zwölfwöchiger Unter-
suchungshaft.
Dieser großen Gefahr des Prager Ausnalimesenats war A d 1 e r also
entronnen; aber sie war groß genug gewesen!
Unbefugte Verteilung der „Gleichheit" an
die Ziegelarbeiter.
Im Dezembej 188S hatte sich Adler mit zwei Ziegelan-heitern,
Hader und Raal», verkleidet in die Ziegelwerke am Wienerberg ein-
geschlichen, um sich mit eigenen Augen von den entsetzlichen Verhältnissen
zu iiberzeuaen. [lic .\rtikel, ilie Adler darüber in der ..Gleichlieif ver-
Eine Ehrenbeleidigimg-kJage wegtun der Blechwirtsichalt
öffentlichte, erregten großes Aufsehen und hatten zur Folge, daß der Grevverbe-
inspektor eingriff und das ..Blechmarkensystem" eingestellt wurde. Die
Wienerberger Aktiengesellschaft rächte sich durch Entlassungen und die
Gendarmerie verhaftete die zwei Arbeiter wegen — Verbreitung der be-
treffenden Nummer der -Gleichheit'" und lieferte sie ans Bezirksgericht, wu
sie einige Tage in Haft saßen. Mit ihnen wurde Adler am 30. Dezember
1888 vom Bezirksgericht Aisergrund wegen „unbefugter Verbreitung" der
„Gleichheit" nach S 23 Preßgesetz angeklagt und zu je 3 0 Gulden Geld-
strafe veiurteilt.
Eine Ehrenbeleidigungsklage wegen der
Blechwirtschaft.
Von Anfang an hatte Adler in der „Gleichheit" eine eigene Rubrik
„Der G e w e r b e i n s p e k t 0 r" geschaffen, wo Beschwerden aus den
Werkstätten und Fabriken wegen Übertretung der spärlichen Arbeiterschulz-
gesetze veröffentlicht, der k. k. Gewerbeinspektor an seine Pflicht des
Schutzes der Arbeiter gemahnt wurde. Eine solche Beschwerde in Nr. 41 vom
10. Oktober 1887 beschuldigte den Altgesellen eines Schmiedmeisters, daß
er die Arbeiter zur Abnahme von Blechmarken als Zahlungsmittel statt
Geld, das für Bier und andere Artikel verausgabt und dann vom Lohn ab-
gezogen wird) zu zwingen wisse; wer nämlich nicht viel Blech nehme, ver-
liere als untauglich die Arbeit. Die Arbeiter wurden aufgefordert, ihn zu
verachten, er sei nicht wert, in ihren Reihen zu stehen.
Der also Angegriffene Th. A. stellte zwar die Tatsache der Blechwirt-
schaft nicht in Abrede, fühlte sich aber durch die Notiz in seiner Ehre ver-
letzt und brachte die Ehrenbeleidigungsklage gegen den Einsender, den
Schmied Anton Mahr, aber auch gegen Bretschneider als ver-
antwortlichen Redakteur und zudem noch gegen Dr. Victor Adler al-
Herausgeber ein.
Bei der Verhandlung vor dem Schwurgericht am 7. .April 1888 gab der
Angeklagte Mahr an, die Mißstände seien in Versammlungen der Schmiede
wiederholt besprochen worden. A. habe aus den Blechmarken Vorteil gezogen
und zwei Arbeiter, welche die Annahme vei-weigerten, entlassen.
Dr. Victor Adler
g'i'bt an, daß er den betreffenden Artikel selbst /um Druck ge-
geben und seinen Inhalt gebilligt hal)e. Er habe sich seli)st
über die Verhältnisse der Stiaßnysclien Schmiede nicht intVjr-
miert, aber ei- schenke Mahr, den er oft in Arbeiterversamm-
Inngen gesellen und gesprochen habe, vollständigen Glaui)en.
Als Redakteur der Rubrik ..dewerbeinspektor" der ..Grleich-
iieit" sei es ihm übrigens bei der Unzahl von Notizen, welche
einlaufen, ganz unmöglich, jedem einzelnen Fall persönlich
28 Eine Ehrenbeleidigungsklage wegen der Blechwirtschaft
nachzugeben. Er glaube, sieb auf seine Gewäbrsmänner ver-
lassen zu können. Scbließlich stebe ihm ja aucb nicbt die Be-
fugnis des Gewerbeinspektors zu, dessen Amtstätigkeit er als
Eedakteur nicht zu der seinigen machen dürfe. Als Redakteur
habe er el^en nur die Pflicht, Mißstände, die zu seiner Kennt-
nis gelangen, öffentlich zu rügen.
Dr. Scharf messer (als Vertreter des Klägers): Ist es bei Ihnen
so üblich, daß Sie ehrenrührige Artikel aufnehmen und dann später erst
nachfragen, ob deren Inhalt der Wahrheit entspricht?
Dr. Victor Adler: Ehrenrührige Artikel nehmen wir
überhaupt nicht auf.
Dr. S c h a r f m e s s e r ; Aber Sie werden doch zugeben, daß Ihr
Artikel objektiv ehrenrührig ist,
Dr. Victor Adler: Ich nehme nur Artikel auf, deren
(Glaubwürdigkeit mir nicht in Zweifel steht. Wenn die Dinge,
welche ich bringe, ehrenrührig sind, so sind dies eben die An-
gelegenheiten jener Leute, welche sie verübt haben, aber nicht
meine.
Dr. S c li a r f m e s s e r : Nun, es wäre Ihnen doch in diesem Falle
leicht gewesen, sich vorher über die Richtigkeit Ihrer Mitteilungen zu er-
kundigen.
Dr. Victor A<ller: Gewiß. Aber dann wäre mir die
Auskunft geworden, daß mich das gar nichts angehe
Dr. S c h a r f m 0 s s e r: Die großen Wiener Blätter ziehen doch auch
vorkommenden Falls Erkundigungen ein und erhalten Auskünfte.
Dr. Victor Adler: Wohl möglich, aber bei uns geht
das nicht. Ein großes Blatt ist gewöhnlich mit den Leuten, über
welche es etwas bringt, auf gutem Freundscbaftsfuß - — wir
aber nicht.
Dr. W u 1 f - E p p i n g e r zu Dr. Viftor Adler): Es ist Ihnen bekannt
geworden, Herr Doktor, daß nach dieser Notiz der Mißbrauch abgestellt
wurde?
Dr. Victor Adler: Jawohl. Man hat dieses Wueher-
system noch eine Woche fortlaufen lassen und hat es, wis ich
höre, dann gleich eingestellt. Es ist möglich, (hiß der Gewerbe-
in.-;pektor Einfluß genommen hat.
Dr. \V o I 1 - K p p i n g e r: Und Sie haben die Erfahrung, daß >olche
Notizen wiederholt von bestem Erfolg begleitet gewesen sind und daß das
lit'werbeuispektorat eingegriffen hat?
Eine Ehrenbeleidigiingsklage wegen der Blechwirt^chaft 29
Dr. Victor Adler: Ja! Der Angeklagte öcliildert
nun auf Befragen eines Geschwornen die Schädigung: e n.
denen die Arbeiter durch die B 1 e c h w i r t s c h a f t aus-
gesetzt sind, und bemerkt auf die Behauptung des klägerischen
Vertreters, die Blechmarken seien zugunsten der Arbeiter ein-
geführt, weil dieselben in der Woche kein bares Geld haben,
daß diese Entschuldigung, welche immer für das Trucksystem
vorgebracht werde, die gesetzgebenden Körperschaften der
europäischen Staaten nicht habe liewegen können, dieses
System zu dulden.
Redakteur B r e t s c h n e i d e r gibt zunächst Auskunfl über die Ein-
teilung der redaktionellen Arbeiten im Büro der „Gleichheit". Die Blechwirt-
schaft nennt er AVucher und benaerkt. daß es noch verdammenswerler
sei, wenn ein Mensch dieses System einführt, der früher selbst der Arbeiter-
schaft angehört hat. Dieses System, welches durch eine vorjährige Gerichts-
entscheidung verboten worden sei, komme leider noch häufig vor und habe
auch in der Stiaßnyschen Schmiede existiert. Auf Einzelheiten könne er
sich nicht einlassen und müsse in dieser Hinsicht auf die Zeugen ver-
weisen. Er betrachte die Blechwirlschaft als Wucher.
Es folgte nun die Vernehmung der Zeugen. Zeuge Franz K 1 e p-
parsch, früher Werkmeister der Stiaßnyschen Schmiede, gibt an, daß die
Blechwirtschaft in dieser Schmiede schon bestanden habe, ehe A.
in dieselbe eingetreten sei. Zeuge Heinrich Stiaßny: In meiner Schmiede
arbeiten zwölf Gehilfen und zwei Lehrlinge. A. beaufsichtigt dieselben.
Von der Blechwirtschaft, welche vom Wirt ausgeht, wußte ich nichts. Der
Altgeselle erhält von mir allwöchentlich das Geld für die Arbeiter und zahlt
dasselbe aus. Welches Übereinkommen er mit den Leuten trifft, weiß ich
nicht. Über Aufnahmen und Entlassungen entscheide ich ganz allein. Als ich
durch den Artikel der ..Gleichheit" von der Blechwirtschaft in meiner
Schmiede erfahren habe, habe ich sofort den Auftrag gegeben, dieselbe ein-
zustellen. — Die übrigen Zeugen wiederholen im wesentlichen die obigen
Zeugenaussagen. Schließlich wurde ein Ausgleich geschlossen, indem
Dr. W 0 1 f - E p j) i n g e 1 folgende Erklärung abgab:
„Der inkriminierte Artikel hatte im wcsentliclien den Zweck, gegen
das gesetzlich verpönte Blechsystem aufzutreten. Nachdem die Verhandlung
ergeben hat, daß schon das Erscheinen des Artikels genügte, um diesem
System in der Stiaßnyschen Werkstatt ein Ende zu bereiten; nach-
dem die Verhandlung ergeben hat, daß der Privatkläger die Blechwirtschaft
nicht eingeführt, sondern von seinem Vorgänger übernommen und in Un-
kenntnis der gesetzlichen Vorschriften weitergeführt hat, so sehen alle Be-
teiligten die Angelegenheit hiemit für erledigt an."
Zufolge dieser Erklärung trat Dr. S c h a r f m e s s e r von der -\nklage
zurück, worauf der Vorsitzende das für alle Geklagten freisprechende
Urteil verkündete.
30 Wegen Beleidigung eines Regierungsvertreters
Wegen Beleidigung eines Regierungsvertreters.
Während der Expertise ül)er die Erricliiung von Arbeiterlcammern im
i'tühjahr 1889 hielt der politische Verein ..Wahrheit"' eine Versammlung
flarüber ab, die vom Regierungsverlreter durch fortwährende dvmime
Unterbrechungen der Redner gestört wurde. Abgeordneter P e r n e r s t o r f e r
iiat darüber im Parlament am 13. März 1889 bei der Beratung des Budget-
liiels ..Auslagen für die Staatspolizei" zur allgemeinen Ergötzung erzählt.
Als Pernerstorfer als letzter Redner den Polizeikommissär in der
Versammlung deshalb dem Spott preisgab, löste der Dummkopf die Ver-
.«ammlung auf. In weiterer Folge wurde der Vorsitzende Grosse wegen
Übertretung des Vereinsgesetzes angeklagt, weil er trotz Aufforderung des
Regierungsvertreters den Redner nicht unterbrochen habe, und Adler
wie Pernerstorfer wurden wegen Wachebeleidigung ( § 312) angeklagt
Die Klage gegen Pernerstorfer verjährte, weil der Reichsrat vertagt wurde,
bevor die Auslieferung zur Debatte kam.
Bei der Veihandlung gegen Adler und Grosse am 6. Juli 1889
vor dem Bezirksgericht Mariahilf verwickelten sich die Belastungszeugen,
der Polizeikommissär Feld m a n n und zwei Detektivs durch die Fragen
Adlers in solche Widersprüche, daß Grosse freigesprochen werden maßte.
Adler gestand zu, dem Polizeikommissär nach der Auf-
lösung der Ver.sammlung „privatim" gesagt zu haben: „Lernen
Sie erst etwas, bevor Sie herkommen, Versammlungen zu über-
wachen", und bestand darauf, seine Bemerkung sei durch die
Umstände gerechtfertigt gewesen.
Verteidiger Dr. Bondy wies darauf hin, daß gerade das Voigehen
des Kommissärs bei dieser Versammlung Anlaß zu dem Ministerialerlaß des
Ministerpräsidenten T a a f f e war, der den Regierungsvertretern bei Ver-
sammlungen ein taktvolles und kluges Verhalten vorschreibt.
Dr. Adler wurde aber trotzdem wegen dieser Wache-
beleidigung zu 2 4 S t u n d e n A r r e s t verurteilt. („Arbeiter-
Zeitung". Xr. 1, 1889.)
Dem Staatsanwalt war die Strafe zu gering, er appellierte uiul das
Landesgericht hatte Verständnis für seine Schmerzen: die Strafe wurde
auf drei Tage Arrest erhöht.
Wegen anarchistischer Bestrebungen vor dem
Ausnahmegericht.
Im Juni 1889 führte die Regierung einen, wie sie hoffte, vernichtenden
Streich gegen die „Gleichheit" und gegen ihre Redakteure. Im April war in
Wien ein Streik der Tramwaybediensteten ausgebrochen, es war zu Zu-
sammenstößen mit Streikbrechern gekommen, Polizei und Militär hatte mit
tuutalster Gewalt eingegriffen, um die Dividenden der Aktionäre vor Ver-
minderung zu schützen, und die .,Gleichheif' hatte die Partei der Streikenden
Wegen ananhi<ti'^i-hef Bestivbungen M
ergriffen. Im Juni hatte in S t e y r eine Demonstration vor einer Fabrik statt-
gefunden, deren Besitzer sich durch besondere Ausbeutung seiner Arbeiter
auszeichnete. Die ^Gleichheit" hatte kurz vorher in einer Notiz die Ein-
haltung des gesetzlichen elfstündigen Arbeitstages verlangt. Beide Vorfälle
boten nun den Behörden willkommenen Anlaß, den Versuch zu untemehnaen.
lias gehaßte Blatt umzubringen und Adler wie Bretschneider
auf längere Zeit -unschädlich" zu machen. Ein zweites Motiv war, da der
Ausnahmezustand demnächst ablief. Gründe für seine Erneuerung
zu liefern. Die Geschwornen wären darauf nicht eingegangen, so mußte man ,
die „Gleichheit" zu einem anarchistischen Organ, Adler und Bret-
schneider zu Anarchisten stempeln. Die -Gleichheit" wurde am 21. Juni
von der Polizeidirektion eingestellt, Adler und Bretschneider, statt
vor das zuständige Schwurgericht, vor den A u s n a h m e g e r i c h t s h o f
gestellt — der Holzinger -Senat war verläßlich, die Verurteilung sicher.
Auf einen Rechtsbrucli niphr oder weniger kam es den k. k. Behörden
nicht an.
Die konfiszierten Stellen.
Die konfiszierten Steilen der von .V d 1 o r verfaßten Artikel in Nr. 17
der -Gleichheit" vom 26. April 1889, derentwegen Adler und Bret-
schneider angeklagt wurden, hatten folgenden Wortlaut ;
Die Volksbewegungen, die ^ich an den T r a ni w a y-
- t r f i k knüpften, haben die verschieden.ste AiLslegun^ er-
fahren. Natürlich zittert ..ganz Wien", das heißt die Handvoll
Menschen, die Besitz. Ehre und Ansehen hat. kurz die Bour-
geoisie, vor den „Krawallen". Selbst der kleinere Spießer, der
gerne dem Steinwerfen zusieht, wird sehr ungemütlich, wenn
zufällig auch seine Fenster eingeworfen werden. ..Licht-
scheues Gesindel". ..Pöbel", so werden die demonstrierenden
Massen in der Presse tituliert, und zwar in derselben Presse,
welche für die TramwaygesoUschaft und ihre Blutsaugerei kein
hartes Wort findet. Sie fragt: ..Wer hat die Krawalle ange-
zettelt?" Die Infamie der Presse wird fürwahr nur «lurch
ihre I) u m m h e i t übertroffen. Die liberalen Blätter denun-
zieren die Antisemiten als ..Krawallmacher" und nehmen
Rache für den ..rituellen Mord", den man den Juden in die
Schuhe schiebt. Für die Antisemiten ihrerseits ist es aus-
gemacht, daß die .,J u d e n". die ja liekanntlich an allem t'bel
in der Welt schuld sind, auch diese ..Krawalle" verur.^acht
haben. Und da die ..Juden", welche Sozialdemokraten sind,
ihnen doppelt verhaßt sind, so zeigen sie auf diese mit Fingern.
Nobel ist da.* auch eben nicht, dafür ist es eben so dumm, flenn
das weiß doch jeder halbwegs vernünftige Mensch mit offenen
32 Wegen anarchistischer Bestrebungen
Augen. Machen kann man solche Volksbewegungen nicht,
selbst wenn man wollte. Es sind einfach die Hungernden,
welche in ihrer Masse gar keiner Partei angehören, deren Mit-
leid endlich rege wird, deren Rachegefühl erwacht, und die,
indem sie für die Tramwaysklaven eintreten, gegen ihr eigenes
Elend protestieren, für ihre eigene Befreiung kämpfen. Der
Klasseninstinkt steigert sich in solchen Zeiten zum Klassen-
bewußtsein. Und Mut besitzen die am meisten, die am wenig-
sten zu verlieren haben. Man gehe doch in friedlichen Zeiten
hinaus nach Ottakring, hinaus nach Favoriten, man stelle sich
ans Tor einer Fabrik, einer Schule, man betrachte die hageren
Männer, die welken Weiber, die siech geborenen, elend ver-
kommenden Kinder, und dann wird man nicht fragen: Warum
ist heute Krawall'^ — sondern man wird erstaunt ausrufen:
Wie ist es möglich, daß dieses Volk diesen Zustand auch nur
einen Tag verträgt^ Wie kommt es, daß der Krawall überhaupt
jemals nicht ist? Gewiß werden unter den Demonstrie-
renden weder Sozialisten fehlen noch Antisemiten, und es ist
dumm und feig von den Antisemiten, das für ihr Teil zu
leugnen. Es wäre ja ganz toll, wenn, wo alles auf den Beinen
ist, Antisemiten und Sozialisten fehlen sollten. Aber, auch nur
zu fragen, ob sie als Partei die Sache „angezettelt" haben, ist
erheuchelt oder blödsinnig.
Die Tapferkeit der Dragoner und Husaren hat in den
letzten Tagen eine glänzende Probe abgelegt. Wenn sie auch
vor dem Steinhagel mehrmals weichen mußten, gelaug der
Sturm schließlich immer und sie setzten es durch, daß nicht
einmal Weiber und Kinder die Grenze des Trottoirs über-
schreiten konnten. Zahlreiche Verwundungen geben von ihrer
Energie Zeugnis. Schreiber dieses war Augenzeuge, wie ein
berittener Wachmann im Verein mit zwei Dragonern, also drei
Mann zu Pferde, mit geschwungenen Säbeln auf zwei alte,
gebückte Weiber eindrangen, welche von der Laxenl)urger-
straße durch eine Quergasse zum Keplerplatz wollten, offen-
bar um zur dort befindlichen Kirche zu gelangen. Die Dra-.
goner siegten. Die zwei alten Frauen wurden zwar nicht
gefangengenommen, aber endgültig zurückgetrieben. Die
Infanterie steht nicht zurück. In Hernais verfolgte ein Leut-
nant mit gezücktem Säbel an der Spitze seiner Soldaten eine
Frau lii? in den ersten Stock. Ein Mann fragte: „Ja, wissen
Wegen anarchistischer Bestrebungen 33
denn diese Husaren nicht, daß sie in zwei Jahren, wenn sie
ausgedient haJDen, selber Tramwaykutscher sein Averden oder
Ärgeres?" — Geduld! Auch diesen Blinden wird der Star
einst gestochen werden!
Zum Tramwaystreik. Als wir in voriger Woche nieder-
schrieben, daß die Tramwaybediensteten „nicht nur die
klassenbewußten Arbeiter, sondern den irgend-
wie menschlich fühlenden Teil der gesam-
ten Bevölkerung auf ihrer Seite haben", wußten wir
nicht, bis zu welchem Ausmaß wir recht hatten. Der Verlauf des
Streiks hat gezeigt, daß die Masse der Bevölkerung sich auf die
Seite der Ausgebeuteten gegen die Ausbeuter, auf die Seite
der Unterdrückten gegen die Unterdrücker geschlafen hat
und daß die breiten Volksschichten von lebendigem Zorn
erfaßt sind gegen die Sklavenhalter und ihre
Bundesgenossen. Wir erinnern uns nicht daran, daß
irgendein Ereignis seit langer Zeit das schlafende Bewußtsein
lind Gewissen des Volkes so geweckt, so in seinen Tiefen
aufgewühlt hätte, wie der Kampf der Tramwaybediensteten
gegen die Tramwaygesellschaft und ihre
Zuhälter.
Selbst die verlogensten Blätter müssen anerkennen, daß
die Haltung der Kutscher über alle Erwartung ruhig, diszi-
pliniert und würdig ist; während .sich diese auch nicht der
geringsten „Einschüchterung oder Gewalt" schuldig machten,
hielt das Publikum ein Volksgericht ab, wie es Wien noch
nicht gesehen hat. Zunächst begnügte man sich damit,
denjenigen Bediensteten, welche ihre Kollegen feige im Stich
ließen und Kutscherdienste verrichteten, seine Verachtung
auszudrücken. Schimpfworte wurden ihnen zugerufen, aus-
gespuckt wurde vor ihnen, nicht nur in den Vororten, sondern
auch auf der Ringstraße von „anständig gekleideten Per-
sonen". Bei den Remisen aber reizte das starke Polizeiaufgebot
und das landesübliche Herumkommandieren und Bedrohen die
Menge. Dazu kommt natürlich, (hiß in den Fabriksvierteln
Hernais und Favoriten die Masse der Arbeiter ein starkes
Bewußtsein der Solidarität mit den Leuten verbindet, welche
da um ihr elendes bißchen Existenz kämpfen. Die Kutscher
hatten darauf gerechnet, daß nur geprüfte Kutscher, wie sie
selbst, fahren dürfen und daß die Polizei im Interesse der
3
34 Wegen anarchistischer Bestrebungen
Verkehrssicherheit der Gesellschaft verbieten werde, unge-
lernte Kutscher zu verwenden. Natürlich trat das Gegenteil
ein; die Gesellschaft nahm jeden, der nur immer fahren wollte,
und die Polizei schritt ein — aber nur um der Gesellschaft
dieses „Recht" zu sichern.
Nun machte das Publikum eine energische Demonstration
zugunsten des Streiks, die ersten Steine flogen, die Wachmann-
schaft wurde vermehrt; die Leute wichen nicht. Hundertmal
trieben berittene Wachleute die Haufen auseinander, ebenso
oft sammelten sie sich wieder und jeder ausfahrende Wagen
wurde mit Geschrei und einem Steinhagel begrüßt.
Was konnten die Polizeidirektion, der Gemeinderat, der
Statthalter, das Ministerium tun(! Sie konnten, ja sie
m u ß t e n, wenn sie ihre Pflicht verstanden, sich den
Schützenkopp oder seinen Brotgeber R e i t z e s kommen
lassen und sagen: „Da die Tramway nicht verkehren kann,
ohne daß sie durch ungelernte Kutscher das Leben der
Passanten, durch die gerechte Entrüstung der Bevölkerung-
die gesunden Glieder der Kutschierenden in Gefahr bringt ■ —
so ist der Verkehr einfach einzustellen auf
so lange, bis die Gesellschaft mit ihren Bediensteten sich ver-
einbart hat. Das Recht der Gesellschaft, Menschen wie Last-
tiere zu behandeln, so heilig es ist, darf doch nicht um den
Preis von Menschenleben aufrechtgehalten werden. Wir
Behörden haben nicht nur den Coupon der Tramw^ayaktionäre
zu schützen, sondern auch die gesunden Knochen der Staats-
bürger, insbesondere jener, die kein anderes Eigentum haben
als diese Knochen. Die Gesellschaft hat ordnungsgemäß zu
fahren oder gar nicht. Und wenn dabei die Tramwaykutscher
ein wenig mehr Lohn erringen, so werden wir dieses Unglück
verschmerzen." Auf diese höchst einfache Weise wären binnen
einer Stunde sämtliche „Krawalle" zu beenden gewesen. Aber
die Behörden wählten einen anderen Weg. Sie ließen Mili-
tär kommen: Dragoner in Favoriten, Husaren in Hernais,
Im angesammelten Volk entstand dadurch offenbar die Vor-
stellung, Polizei und Militär seien nur dazu aufgeboten, um
die Tramwaygesellschaft zu schützen, Polizei und Militär seien
die Bundesgenossen des Herrn Reitzes. Diese Vorstellung war
es, welche die Massen in solche Entrüstung versetzte, daß sie
die angeborene Angst und Scheu vor Polizei und Militär
Wegen anarchi'stischer Bestrebungen 35
endlich ganz vergaßen und Dragoner und Husaren ebenso mit
Steinwürfen empfingen wie die berittenen Polizisten.
Nun erfolgten regelrechte Kavallerieattacken gegen das
wehrlose Publikum, besonders bei Nacht recht wirksam.
Hierauf Besetzung der Plätze mit Kavallerie. Endlich wurde
das Ziel erreicht! Unter polizeilichem und militärischem
Schutz verkehrten die Tramwaywaggons, gelenkt von Leuten,
die nie die Zügel in der Hand gehabt. Dragoner und Husaren
begleiteten die Wagen, den sogenannten ,,Kutscher"
schützen vier Wachleute. Und : Alles ist gerettet!
Die streikenden Kutscher behalten ihre Hundeexistenz, das
Publikum erhält seine Säbelhiebe und, was die Hauptsache
ist, die Tramwayaktionäre behalten ihren Coupon!
Aber damit ist nicht alles getan. Die streikenden
Kutscher, w^elche durch gar nichts aus ihrer gesetzlichen
Haltung herauszubringen sind, gehen als lebendige Aufreizung
in ihrer Montur herum. Wo sich eine weiße Kappe sehen läßt,
wird sie vom Volk begrüßt. Zudem braucht die Gesellschaft
die Monturen für die Neuangeworbenen. Also her mit der
Montur! Die Sicherheitswache vertreibt zunächst am Dienstag
die Kutscher aus allen Lokalen, wo sie ganz ruhig sich auf-
gehalten hatten. Hierauf arretiert sie jeden Kutscher, der in
Uniform sich zeigt und behält ihn solange im
Arrest, bis er sie auszieht oder zu fahren erklärt. Dabei
wird ihm stets erklärt, daß, wenn der Streik noch sechs Tage
dauert, alle nicht nach Wien Zuständigen als subsistenzlos
abgeschoben w^erden, worauf ihnen übrigens Polizeirat
B r e i t e n f e 1 d schon Samstag sein „Ehrenwort" gab ! !
Wachmänner packen Kutscher bei der Brust und fragen sie:
,, Wollt Ihr fahren oder nicht?" Die Kutscher, welche die
Umgangsformen der Polizei nicht kennen und auch glaubten,
auf die Polizei zu kommen sei eine große Schande, wissen
heute, daß das jedem passieren kann, der irgendeinem Reitzes
unbequem ist. Wenn das Koalitionsrecht dabei ver-
liert, der A u f k 1 ä r u n g wird mit diesem Vorgehen ernst-
lich gedient.
* *
*
Die Situation der Kutscher ist allerdings eine schwierige
geworden. Sie sahen sich ersetzt durch ungelernte Hände, und
wenn heute nur ein Drittel der Wagen verkehrte, so finden
3*
36 Wegen anarchistischer Bestrebungen
sich in einigen Tagen noch mehr Leute, welche sich dazu her-
geben, die Streikenden zu verdrängen, und die Verhältnisse
sind heutzutage so elend, daß selbst die Tramwaysklaverei
für ungezählte Tausende ein wünschenswertes Ziel ist. Und
wenn die armen Kutscher und die reiche Gesellschaft allein
auf der Welt wären, würden die Kutscher unterliegen. Aber
es gibt noch Faktoren, denen es unangenehm ist, allabendlich
große Militärmassen ausrücken zu sehen, die es peinlich he-
rührt, daß die bewaffnete Macht in den Schein kommt, das
Vaterland, das sie zu schützen hat, sei in den Geldschränken
der Kapitalisten zu suchen. Dabei muß jeder Mensch zugeben,
daß die Forderungen der Kutscher mäßige und gerechte sind
und sie haben die öffentliche Meinung, soweit sie nicht etwa
durch die „demokratische" und „liberale" Presse repräsentiert
ist, ganz für sich. Darum meinen wir auch, daß die Minister
T a a f f e und B a c q u e h e m wirklich einiges tun werden,
um einen Ausgleich herbeizuführen. Soviel scheint sicher,
daß die Kutscher eintreten werden, alle o d e r g a r k e i n e r.
Die wenigen Tage ernsten Kampfes, wo sie lernten, sich auf-
einander zu verlassen, haben diese Leute mehr gebildet, als es
Jahre der eifrigsten Agitation zu tun vermocht hätten. Wohl
geschieht es, daß einzelne, durch die Drohungen der Polizei
und der Stallmeister verleitet, erklärten, morgen fahren zu
wollen, meist aber nehmen sie sofort diese Erklärung wieder
zurück, wenn sie ihre Kameraden gesehen haben. Freilich, jene
armen Leute, die gar keine anderen Kleider als die Montur
haben, welche ihnen von Wachleuten mit Gewalt weggenommen
wird, müssen nachgeben, wollen sie nicht b u c h s t ä b 1 i c li
n a c k t dastehen. Aber der Kern steht unerschütterlich fest,
fühlt sich getragen von der Sympathie der ganzen Bevölkerung
und wird den Kampf zu Ende führen. Übrigens muß die Ent-
scheidung bald fallen. Bald muß es sich zeigen, ob nicht
schließlich auch in den ,,maßgebenden Kreisen" sich die Auf-
fassung geltend macht, daß bei aller Solidarität der Inter-
essen, der faktische Belagerungszustand, zahllose Ver-
wundungen, Hunderte von Verhaftungen, die steigende Er-
bitterung der ganzen Bevölkerung, die rasend schnell fort-
schreitende Unterwühlung der verschiedenen staatlicheii
Autoritäten und Heiligtümer denn doch ein etwas zu hoher
Preis ist, gezahlt einzig und allein. für den Geldsack einiger
Die Einstellung der „Gleichheit" und Adlers Selbstanzeige 37
Aktionäre. — Wir meinen also, daß die Regierung g e-
z w u n g e n ist, so viel Energie zu finden, ein Ende zu machen.
Wenn man im Interesse der Ruhe und ,,Ordnung" Menschen-
massen mit Säbeln bearbeiten kann, so muß es doch auch
möglich sein, im Interesse der Ordnung eine Aktiengesell-
schaft zu zwingen, ihre Bediensteten wenigstens halb so gut
zu behandeln wie ihre Pferde. Da genügt ein energisches
Wort. Und wenn nicht — wie wir Herrn Keitzes kennen,
genügt ein einziger von jenen Husaren, die in Hernals ganz
überflüssig sind, um ihn recht gefügig zu machen. Man schreit
über die Steinwürfe in Hernals und den iSchaden, den sie
anrichten. Und die Tramwaygesellschaft läßt viele Hunderte
langsam elend zugrunde gehen an Hunger und Überarbeit.
Man ist empört über die paar geplünderten Kaffeehäuser, und
die Tramwaygesellschaft plündert die Arbeitskraft ihrer Be-
diensteten seit Jahren straflos. Nun rufen wir einmal nach
Polizei, al)er nicht wie die anderen: Polizei gegen die armoi
Ausgebeuteten, sondern Polizei gegen die reichen
Ausbeuter! Kann Polizei und Militär den gerechten
Zorn des ganzen Volkes von Wien niederwerfen, so werden
sie doch den Geiz, die Habsucht und den Übermut von ein
paar Aktionären und Direktoren beugen können I Oder ist sie
nur zu ersterem Geschäft bestimmt^
* *
Wie der Tramwaystreik auch ausgehen möge, eine
segensreiche Folge wird er haben. Die 500 Kutscher treten
anders aus dem Streik, als sie in ihn eingetreten. Früher naiv
und gläubig vertrauend, werden sie dann Wissende geworden
sein. Sie werden sich klar geworden sein über das Verhältnis
der staatlichen Organe, Polizei, Militär und Behörden zu den
besitzenden Klassen und über ihre eigene Zusammengehörig-
keit mit der großen Masse der Unterdrückten und Leidenden.
Die Einstellung der „Gleichheit" und Adlers
Selbstanzeige.
Die Wiener Polizoiilirektion benutzte die Arbeiterunruhon in .Steyr, um
auf Grund der Ausnahmeverordnung das weitere Erscheinen der „Gleichheit"
einzustellen. Während die Herausgabe der „Arbeiter-Zeitung" vor-
bereitet wurde, teilte Adler in der „Sozialdemokratischen Monatsschrift''
mit der gebotenen Vorsicht im -S p r e c h s a a T mit:
38 Die Einstellung der „Gleichhert" und Adlers Selbstanzeige
Geehrte Redaktion! Werter Genosse!
Mitten im Kampfe wurde uns die Waffe aus der Hand
geschlagen. Wir müssen also die Gastfreundschaft des Waffen-
bruders in Anspruch nehmen und ersuchen um Aufnahme
folgender Zeilen:
An der Verfügung der Polizeidirektion, welche die Ein-
stellung der „Gleichheit" ausspricht, wollen wir keine Kritik
üben — aus naheliegenden Gründen. Wir konstatieren nur, daß
es für die Einstellung eines Blattes auf administrativem
Wege, ohne richterliches Urteil, nur eine e i n-
z i g e Analogie gibt : die administrative Verschickung nach
Sibirien, wie sie in Rußland geübt wird.
Die Polizeimaßregel führt, wie ihre wörtliche Wieder-
gabe weiter unten zeigt, keinen Grund an, sondern beruft
sich auf einen Gesetzes- respektive Verordnungsparagraphen.
Auch das ist uns nicht neu. Jedoch ergibt der Zusammenhang
der Geschehnisse und wurde uns mündlich vom Polizei-
präsidenten ausdrücklich mitgeteilt, daß die „Gleichheit" als Ur-
heber der Exzesse inSteyr angesehen wird, und daß dies
der entscheidende Grund der Einstellung des Blattes sei.
In der Tat hat eine Anzahl Wiener Tagesblätter, zuerst
das „N e u e Wiener T a g b 1 a 1 1" und die ,,Ö s t e r-
r e i c h i s c h e V o 1 k s z e i t u n g", die sozialdemokratische
Arbeiterpartei und insbesondere die „Gleichheit" in dieser
Richtung denunziert. Noch bestimmter, noch infamer haben
das „Deutsche Volksblatt" und das „V a t e r 1 a n d"
gelogen; das „Vaterland" spricht ausdrücklich von den „vom
Juden Dr. Adler mittels seiner »G 1 e i c h h e i t«
angezettelten Exzesse n". Das „D e u t s c h e
Volksblatt" stellt die Exzesse als lange vorbereitet, als
„anarchistischen Ursprung s", die „K e r 1 e" (das
sind nämlich die Arbeiter) als „abgerichtet" dar. Neben-
bei wird Dr. Adler als Verbreiter falscher Gerüchte und zur-
zeit in Steju- anwesend genannt.
Das sind die Denunziationen, welche den erwünschten
Vorwand gegeben haben, der „Gleichheit" das von den edlen
Seelen längst ersehnte Ende zu bereiten. Die Feigheit,
Verlogenheit und I n f a m i e dieser Denunziationen zu
beleuchten ist überflüssig. Das „Deutsche Volksblatt" (das
deutsche Volk muß es sich eben ruhig gefallen lassen, daß
Die Einstellung der „Gleichheit" und Adlers öelhstanzeige 89
dieses Blatt seinen Namen mißbraucht) hat zur Zeit der
Tramwayexzesse ähnliches versucht. Die schallenden Ohrfeigen,
die ihm unsere Antwort damals versetzte, haben es zum
Schweigen gebracht. Nun der zweite Versuch, und seit der
Gegner mundtot, die „Gleichheit" eingestellt ist, hört das feige
Gekläffe nicht mehr auf.
An dem Gesindel liegt uns gar nichts. Wohl aber sind wir
verpflichtet, die sozialdemokratische Partei und ihr bisheriges
Organ, die „Gleichheit", von dem Vorwurf zu reinigen, sie
hätten mitgewirkt bei Dingen, welche das Parteiintereese nur
ernstlich gefährden können. Ein gerichtliches Verfahren über
die Einstellung der „Gleichheit", welches Klarheit schaffen
würde, gibt es nicht, wir mußten also Ersatz schaffen. Zu dem
Ende hat unser Vertreter Herr Hof- und Gerichtsadvokat
Dr. Wolf-Eppinger in unsererm Namen folgende Ein-
gabe an die k. k. Staatsanwaltschaft in Wien
gerichtet :
In einigen Wiener Tagesblättern wurde die Behauptung aufgestellt,
daß die „Gleichheit", respektive deren Herausgeber mit den Unruhen in
Sleyr in Verbindung stehen, respektive daß dieselben von dieser Seite
aus „angezettelt" worden seien. Da uns mit einer einfachen Berichtigung
solcher denunziatorischer und vollständig unwahrer Behauptungen nicht
gedient sein kann, wir vielmehr ein berechtigtes Interesse daran haben,
unzweifelhaft klarzustellen, daß diese Behauptungen erlogen seien, er-
lauben wir uns hiemit die Aufmerksamkeit der k. k. Staatsanwaltschaft
auf diese Nachrichten zu lenken und daran die Bitte zu knüpfen, die etwa
gegen uns vorliegmidcn Vordachtsgründe zu erforschen und zum Anlaß
einer stiafgeiichtlichen Untersuchung gegen uns zu nehmen, deren
Resultat nur die Klarstellung der Wahrheit, das ist des Umstandes, daß
die „Gleichheit" und wir auf Entstehen und Verlauf dieser Unruhen nicht
den geringsten Einfluß genommen haben, sein kann.
Durch unseren bereits ausgewiesenen Vertreter stellen wir sohin
die ergebene Bitte:
Die hochlöbliche k. k. Staatsanwaltschaft wolle über diese Ein-
gabe das Geeignete verfügen.
Dr. Victor Adler.
L. A. B r e t s c h n e i d e r.
Wir hoffen, daß die Staatsanwaltschaft, welche viel
leichter wiegende Denunziationen oft zum Anlaß mehrmona-
tiger Untersuchung und Untersuchungshaft nimmt, es auch
hier an der erforderlichen Energie nicht wird fehlen lassen.
Entweder die Behörde glaubt die Beschuldigungen gegen
uns — warum verhaftet sie uns nicht? Die „Kollusionsgefahr"
40 Die Einstellung der „Gleichheit" und Adlers Selbstanzeige
ist dringend. Oder die Behörde weiß, daß alles erlogen ist — ■
warum wird dann die „Gleichheit" eingestellt??
Inzwischen bitten wir, über die Vorgänge in Steyr einige
Daten zur Kenntnis zu nehmen :
In Nummer 24 der „Gleichheit" war unter der Rubrik
„Gewerbeinspektor" eine Übertretung des Gewerbegesetzes
von Seiten des Fabrikanten T e u f e I m a 5^ e r in Steyr be-
richtet worden; ein Bericht, wie deren unser Blatt in seinen
130 erschienenen Nummern mindestens 1000 gebracht hat. Auf
diese Weise zur strengeren Durchführung der Arbeiterschutz-
gesetze beizutragen, war unsere Pflicht und hatte Erfolg. Die
Notiz forderte die Arbeiter nicht zu irgendwelcher Feindselig-
keit auf; das einzige, wozu sie aufforderte, war das E i n-
schreitendes k. k. Gewerbeinspektors. Das ist
das Um und Auf unseres Zusammenhanges mit den Exzessen.
Wir erfuhren davon erst aus den Zeitungen. Daß Dr. Adler
nicht in Steyr, sondern in Wien war, erwähnen wir aus-
drücklich. Das Blatt langte Samstag in Steyr ein; Mon-
tag begannen die Unruhen mit einer Katzenmusik. Der
Bürgermeister hatte sein Wort gegeben, niemand zu verhaften.
Dienstag wurden Arbeiter verhaftet; daher die Exzesse. Die
nicht mehr erschienene Nummer 25 der „Gleichheit" sollte
darüber folgende schon gesetzte Bemerkungen enthalten :
., — In unserer letzten Nummer veröffentlichten wir
unter der Bubrik »Gewerbeinspektor« eine Korrespondenz aus
Steyr, welche die ganz ungewöhnlichen Zustände in einer
»Eackerbude« daselbst schildert. In der Schraubenfabrik
Teufelmayer wird täglich von 4 Uhr früh bis 10 Uhr
abends gearbeitet und selbst an Sonntagen bis Mittag ge-
robotet. Daß unser Gewährsmann die Wahrheit sagte, und daß
diese Zustände öffentliches Ärgernis erregten, geht daraus her-
vor, daß seither die Arbeiter dem Herrn Teufel mayer eine
solenne Katzenmusik brachten. Leider kam es zu Verhaf-
tungen; freilich wurde nicht der Verächter des Gesetzes, der
Übertreter der Gewerbeordnung, Herr Teufelmayer, verhaftet,
sondern einige der demonstrierenden Arbeiter. Die Bourgeois-
blätter berichten von darauffolgenden Tumulten. Da wir diesen
Blättern aus guten Gründen kein Wort glauben und uns bis
jetzt ein direkter Bericht nicht zugekommen ist, so enthalten
wir uns vorläufig jeden Urteils.
Die Einstellung der „Gleichheit" und Adlers Selbstanzeige 41
Jedenfalls wären derlei Vorfälle mit großer Sicherheit zu
vermeiden, wenn die Behörden ihre Pflicht tun und dem Ge-
werbegesetz mit derselben Energie Achtung verschaffen wür-
den, welche sie zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe
und Ordnung zur Verfügung haben. Man sollte glauben, daß
die gesetzwidrige Ausbeutung von Arbeitern ein Vergehen ist,
welches der öffentlichen Ordnung mindestens ebensoviel
Schaden zufügt als das Einschlagen von Fensterscheiben und
eine Katzenmusik.
Nachtrag. Die Vorgänge in S t e y r geben den Blättern
der Steyrermühl-Gesellschaft, dem „Neuen Wiener Tagblatt"
und der „Österreichischen Volkszeitung", die gerne von der
,,A r b e i t e r f r e u n d 1 i c h k e i t" leben möchte. (Telegenheit
zu niederträchtigen Denunziationen. Es ist erlogen, daß zu
Pfingsten 20 bis 30 junge Leute aus Steyr in Wien waren und
„von dortigen sozialistischen Kreisen die Anregung zu etwas
temperamentvollerem Auftreten mitgebracht" haben. Es ist
ganz bestimmt ebenso erlogen, daß im Schöße des S t e y r e r
Arbeiter-Lese- und Gesangvereines die „Exzesse
beraten und beschlossen" wurden. Ohne dort anzufragen,
können wir das mit voller Sicherheit behaupten.
Wahr ist nur, daß dieser Verein den Steyrer Spießern schon
lange ein Dorn im Auge ist und daß sie ihm jetzt zu Leibe
wollen. Die Arbeiter werden doch ihren Verein nicht selbst
mutwillig gefährdet haben.
Wir hoffen, daß die Nachricht, die G e w e r b e-
b e h ö r d e habe dem Fabrikanten T e u f e 1 m a y e r gegen-
über endlich ihre Pflicht getan, nicht ebenso unwahr ist wie
die übrigen Angaben der Steyrermühl-Organe. Wäre dem
Gesetze von vornherein Respekt verschafft worden, eo würde
es gewiß zu Exzessen nicht gekommen sein."
Dem fügen wir bei, was wir seither erfahren haben.
Unsere Parteigenossen in Steyr haben sich an den Exzessen i n
keiner Weise und nicht ein einziger von ihnen
beteiligt. Obwohl man sie genau kennt, ist nicht ein einziger
von ihnen verhaftet worden, ebensowenig irgendein Aueschuß-
mitglied der beiden Arbeitervereine. Während der Exzesse am
Dienstag abends hielt der Ausschuß des Arbeiter-Lese- und
Gesangvereines ahnungslos und ruhig seine gewohnte Sitzung
42 Die Einstellung der „Gleichheit" und Adlers Selbstanzeige
ab. Wir erwähnen, daß Genosse Friemel zu derselben Zeit zu
Hause war und schlief; das ist konstatiert.
All das hinderte natürlich nicht, daß die Vereine sistiert
und etwa 20 bekanntere Genossen von der Waffenfabrik ent-
lassen und von Steyr entfernt, nicht ausgewiesen, wurden. Man
mußte eben irgend etwas tun; und bequemer lebt sich's ja
unstreitig ohne iSozialdemokraten.
Wir erhielten folgende Korespondenzkarte mit dem Post-
etempel St. Valentin, 21. Juni: „4. Station. Werte Genossen!
Wir sind »gegangen worden«. Warum? werdet ihr bereits
wissen. Daß wir mit diesem Unsinn nichts gemein haben, ist
selbstverständlich. Näheres folgt. Mit Gruß: Friemel, Pölz,
Kutil, NB. Viele folgen, noch. Wir die ersten."
Und „U n s i n n" in der Tat wäre es gewesen, würden die
Steyrer Genossen ihre Vereine, ihre Organisation, ihre Arbeits-
gelegenheit aufs Si^iel gesetzt haben ohne jede Aussicht auf
irgendeinen Gewinn für unsere Sache, ja mit der Gewißheit, ihr
zu schaden. Daß sie davongejagt wurden, beweist nicht, daß sie
schuldig sind. Den eigentlichen Täter, den dumpfen Groll der
unaufgeklärten Volksmasse über die Zustände, kann man
nicht, die Zustände will man nicht abschaffen, so schafft man
einstweilen die Sozialisten ab.
Das ist die Wahrheit über die Sache. Die Bourgeoispresse
hat gehandelt, wie zu erwarten war, gemein und perfid gegen
die Sache des Volkes, feig gegen einen gefallenen Vertreter
derselben. Die „N eue Freie Press e", die Gerechtigkeit
zwingt uns das zu sagen, hat eine Ausnahme gemacht. In einem
bei ihr ganz ungewohnten Anfall von Ehrgefühl brachte sie
einen für ihren politischen Standpunkt recht vernünftigen
Artikel über die Einstellung der „Gleichheit". Daher be-
schuldigen uns die „Vereinigten Christen" einer geheimen Be-
ziehung zu diesem Blatte.
Und nun mögen die Hunde weiter heulen! Sie werden
sich des gelungenen Streiches nicht lange zu freuen haben.
Wir aber, im Namen aller der Genossen, die mit uns ge-
arbeitet, die mit uns die „Gleichheit" zu einer guten Waffe für
die Sache des arbeitenden Volkes geschmiedet haben, wir er-
klären : Wir bleiben die alten. Und allen den Feinden
der Sozialdemokratie rufen wir zu:
Die Einstellung der „Gleichheit" und Adlers Selbstanzeige 43
„Ihr hemmt uns, doch ihr zwingt uns nicht!
Unser die Welt trotz alledeml''
Dr. V. Adler.
L. A. B r e t s c h n 0 i d e r.
An die Leser und Abonnenten
der polizeilich eingestellten sozialdemokratischen Wochenschrift
„Gleichheit".
Am 21. Juni 1. J. wurde uns folgendes Dekret zugestellt:
..Auf Grund des Punktes 5 der Verordnung des hohen Gesamt-
ministeriums vom 30. Jänner 1884, R.-G.-Bl. Xr. 15, wird in Gemäßheit
des § 7, lit. a des Gesetzes vom 5. Mai 1869, R.-G.-BI. Nr. 66, das Er-
scheinen des von Ihnen herausgegebenen sozialdemokratischen Wochen-
blattes „Gleichheit" aus Rücksichten für die öffentliche
Sicherheit und Ordnung von hierorts mit dem
heutigen Tag eingestellt.
Hievon werden Euer Wohlgeboren unter Hinweis auf die im § 9
des angewendeten Gesetzes im Falle der Nichtbeachtung normierten
Folgen in Kenntnis gesetzt.
Wien, 21. Juni 1889. Krauß."
Wir haben gegen diese polizeiliche Verfügung selljst-
verständlich den Rekurs an die k. k. n.-ö. Statthalterei ergriffen
und ersuchen unsere Leeer, den Erfolg abzuwarten.
Da der Rekurs gegen derartige Polizeimaßregeln jedoch
keine aufschiebende Wirkung hat, hört das sozialdemokratische
Wochenblatt „Gleichheit" vorläufig auf zu erscheinen. Die
unterzeichneten sind also gegenwärtig nicht in der Lage, ihren
Verpflichtungen gegenüber den Abonnenten nachzukommen.
Um ihnen jedoch inzwischen einen teilweisen Ersatz /-:u
bieten, haben wir mit der in Wien erscheinenden Sozial-
demokratischen Monatsschrift ein geechäftliches Über-
einkommen getroffen, wonach denjenigen der Abonnenten der
„Gleichheit", deren Abonnement noch läuft, für so lange die
„Sozialdemokratische Monatsschrift" zugesendet werden wird,
als der für die „Gleichheit" erlegte Betrag reicht.
Abonnenten, welche diesen Ersatz nicht wünschen, können
die entsprechenden Beträge bei uns erheben, sobald die dies-
bezüglichen Feststellungen gemacht sind. Dies wird spätestens
am 1. Juli 1889 der Fall sein.
Zugleich aber ersuchen wir dringend diejenigen Leser der
„Gleichheit", welche mit dem Abonnement im Rück-
44 Adler vor dem Holzinger-Senat
stand sind, die restierenden Beträge baldmöglichst an uns
gelangen zu lassen. Wir sind überzeugt, daß unsere Leser es als
ihre E h r e n p f 1 i c li t ansehen werden, den Schlag, der unser
unternehmen gefällt hat, nicht noch schwerer zu machen.
Im übrigen werden die Unterzeichneten auch fernerhin
trachten, sich der sozialdemokratischen Partei, der Sache des
Volkes nach Kräften nützlich zu machen.
Mit sozialdemokratis<^hem Gruß
Dr. V. Adler. L. A. Bretschneider.
Adler vor dem Holzinger-Senat.
Am 27. Juni 1889 standen Adler und Bretschneider vor dem
Ausnahmegerichtshof. Vorsitzender: Landesgerichtsrat Dr. R. v. H o 1 z i n g e r.
Der stenographische Bericht über die Verhandlung lautete*):
Die Anklageschlift.
D.'e k. k. Staatsanwaltschaft in Wien erhebt I. gegen Dr. Victor
Adler, in Wien geboren, nach Prag zuständig, 37 Jahre alt, protestantisch,
verheiratet, Herausgeber der periodischen Druckschrift „Gleichheit", wegen
§ 23 P.-G. mit 30 11. Geldstrafe bestraft; II. Ludwig August Bret-
schneider, in Wien geboren, dahin zuständig, 28 Jahre alt, katholisch,
ledig, verantwortlicher Redakteur der ..Gleichheit", unbeanstandet.
Die Anklage:
Dr. Victor Adler und Ludwig August B r e t s c h n e i d' (> r
haben im April 1889, hier in Wien
Ersteier dadurch, daß er folgende, in der Nr. 17 der in Wien
periodisch erscheinenden Druckschrift: „Gleichheit", Sozialdemo-
kratisches Wochenblatt, vom 26. April 1889 enthaltenen Artikel,
und zwar: a) den auf der 1. und 2. Seile unter der Rubrik „Glossen" ent-
haltenen Auffatz, beginnend mit den Worten: ,,Die Volksbewegungen, die"
bis „erheuchelt oder blödsinnig"; b) den auf der 2. und 3. Seite enthaltenen
Artikel mit der Aufschrift: „Zum Tr am w ay s t r e ik"; c) den auf der
2. Seite unter der Rubrik: ,, Glossen" enthaltenen Autsatz, beginnend mit
den Worten: ,,Die Tapferkeit der Dragoner" bis ,, einst gestochen werden"
verfaßte und zum, Druck beförderte;
Letzterer dadurch, daß er die genannten Artikel vor der Drucklegung
in seiner Eigenschaft als verantwortlicher Redakteur las und zum Drucke
beförderte, in verbreiteten Druckschriften durch den ad a bezeichneten
) Sogleich nach dem Prozeß als Broschüre ersichienen: Die „Gleich-
heit" vor dem Ausnahmegericht. Stenographischer Bericht über die Schluß-
verhandlung gegen Dr. V. Adler und L. A. Bretschneider am 27. Juni 1889.
Wien 1889. (Die Broschüre ist vergriffen.)
Adler vor dem Holzinger-Senat -iS
Artikel durch die Gesetze verbotene Handlungen, nämlich die gewalttätigen
Ausschreitungen im Wiener X. Gemeindebezirk und in Hernais zu recht-
fertigen versucht; durch den ad b bezeichneten Artikel, und zwar in den
Stellen von „Als wir in voriger Woche" bis „behalten ihren Coupon" und
von: „Die rasend schnell" bis „Unterdrückten und Leidenden", teils durch
die Gesetze verttotene Handlungen, nämlich die oben, gedachten Aus-
schreitungen zu rechtfertigen versucht, teils durch Schmähungen und Ver-
spottungen Anordnungen der Behörden herabzu\\nirdigen gesucht, teils
andere zu Fein-dseligkeiten gegen einzelne Klassen oder Stände dier bürger-
lichen Gesellschaft aufgefordert, angeeifert oder zu verleiten gesucht, durch
den ad c bezeichneten Aufsatz die kaiserliche Armee, respektive selbständige
Abteilungen derselben ohne Anführung bestimmter Tatsachen verächtlicher
Eigenschaften geziehen und dem öffentlichen Spotte ausgesetzt; dieselben
haben hiedurch 'die Vergehen gegen die öffentliche Ruhe und Ordnung nach
§§ 300, 302, 305 St.-G. und das Vergehen gegen die Sicherheit der Ehre nach
§§ 491 bis 493 St.-G. und Art. V, StrafgesetznovelLe vom 17. Dezember 1862,
Nr. 8 R.-G.-Bl. ex 1863, strafbar nach §§ 267 und 305 St.-G. höherer Straf-
satz begangen.
Beantragt wird: J. Anordnung der Hauptverhandlung vor dem in
Gemäßheit der Verordnoing des Gesamtministeriums vom 1. August 1888,
Nr. 130 R.-G.-Bl., betreffend die Einstellung der Wirksamkeit der Ge-
schwornengerichte in Strafsachen, welchen anarchistische Bestrebungen zu-
grunde liegen, zu bestellenden Ausnahmegerichtshof des k. k-
Landesgerichtes Wien; 2. Vorladung der beiden Beschuldigten;
3. Verlesung der inkriminierten Stellen aus sub a.ad 1 erliegenden Xr. 17
der „Gleichheit'", der J.-Nr. 1, der J.-Xr. 2, der J.-Nr. 9, der bezeichneten
Stellen aus Xr. 18 der „Gleichheit'', der Leumundsnotcn und Auskunfts-
•tabellen.
Giünde:
Aus dem Wortlaut der zur Verlesung beantragten inkriminierten
•Stellen der Xr. 17 des sozialdemokratischen Wochenblattes „Gleichheit"' vom
26. April 1889 ist zu entnehmen, daß dieselben objektiv geeignet erscheinen,
den Tatbestand d'er im Tenor der Anklage bezeichneten Vergehen zu be-
gründen.
Das k. k. Landesgericht Wien als Preßgericht hat dies auch in dem
Beschlagnahme-Erkenntnis vom 27. April 1889, Z. 18.231, bereits anerkannt,
und möge hier nur hervorgehoben werden, daß damals der auf der zweiten
Seite enthaltene Artikel, beginnend mit den Worten: „Die Tapferkeit der
Dragoner und Husaren", nach § 300 St.-G. qualifiziert wurde, indem ange-
nommen wurde, daß dieser Auffsatz durch Schmähungen und Verspottungen
Anordnungen der Behörden, nämlich die von derselben veranlaßte Inter-
vention der Militärmacht zur Unterdrückung der Tramwaystreikexzesse
herabzuwürdigen suche.
Xachdem jedoch in dem bezeichneten Artikel zweifellos auch die k. k.
Armee, respektive selbständige Abteilungen derselben, welche behufs Bei-
legung der Unruhen zu intervenieren hatten, dem öffentlichen Spotte aus-
-gesetzt werden, so hat die Anklagebehörde sich anläßlich der subjektiven
Strafverfolgung an das hohe k. k. Reichskriegsministerium um die nach
46 Adler vor dem Holzinger-Senat
Art. V, Strafgesetznovelle vom 17. Dezember 1862, Nr. 8 R.-G.-Bl. ex 1863,
notwendige Verfolgunigszustimmung gewendet, welche sub J.-Nr. 9 erliegt
und Z'ur Vorlesung beantragt ist. Dies deshalb, weil die Anklage der Meinung
ist, daß auch diese höhnenden Angriffe gegen die k. k. Armee, welche nach
§§ 491 bis 494 St.-G. und Art. V der Strafgesetznovelle als ein von Amts
wegen zu verfolgendes Vergehen gegen die Sicherheit der Ehre anzusehen sind,
durch die Strafverifoljgung ihre Sühne finden sollen.
Nach §§ 10 und 239 St.-G. beginnt die Strafbarkeit der Handlung bei
Delikten, die durch Druckschriften begangen werden, für den Verfasser und
Redakteur mit der Ubergiabe des zu vervielfältigenden Werkes zur Druck-
legung und erscheinen die zum Gegenstand der Anklage gemachten Delikte
vollbracht, da nach dem sub J.-Nr. 1 erliegenden, zur Verlesung beantragten
Berichte ider Prießpolizeibehörde auch die Verbreitung der Drudkschrift statt-
gefunden hat, da es nur gelang, einen geringen Teil der zurzeit der Beschlag-
nahme gedruckten 1600 Exemplare zustande zu bringen.
Während nun der Erstangeklagte Dr. Victor Adler eingesteht, die
sämtlichen inkriminierten Artikel verfaßt und zum Druck befördert zu haben
und die volle Verantwortung für den Inhalt desselben zu übernehmen, leugnet
der zweite Angeklagte, welcher der verantwortliche Redakteur des Blattes ist,
die Artikel vor der Drucklegung gelesen und zum Druck befördert zu haben.
Er wird in dieser seiner Verantwortung durch die Angaben des Erst-
angetlagten unterstützt.
Nichtsdestoweniger muß die Anklage sich gegenwärtig auf den Stand-
punkt stellen, daß der zweite Angeklagte die strafrechtliche Verantwortung
für die Artikel in dem Maße zu tragen habe, welches die Anklage derzeit
für ihn bemißt, da er als Redakteur des Blattes bestellt ist, als solcher pflicht-
gemäß alle Artikel vor der Drucklegung zu lesen hat, da derselbe seit Grün-
dung des Blattes die verantwortliche Redaktion desselben besorgt, also mit
den gesetzlichen Verpflichtungen der Funktionäre eines Zeitungsunter-
nehmens vollkommen vertraut ist, da er sein eigentliches Metier, das Bild-
hauergewerbe, aufgegeben und sich lediglich der redaiktionellen Tätigkeit bei
dem wöchentlich zweimal erscheinenden Blatte gewidmet hat, also keines-
wegs bloß als Strohmann oder Scheinredaktcur fungiert, da also anzunehmen
ist, daß er auch diese Artikel vor der Drucklegung geradeso gelesen und auf
ihre Drucklegung Einfluß genommen habe, wie alle anderen.
Die k. k. Staatsanwaltschaft muß daher in dem übereinstimmenden
Bestreben der beiden Angeklagten, die Verantwortung nur auf die Schultern
des Erstangeklagten zu laden, der als Verfasser ohnehin verantwortlich ist,
nur den Versuch erblicken, den Zweitangeklagten, der einem strengeren
Gesetz verfallenden strafrechtlichen Verantwortung zu entziehen, und muß
es der Hauptverhandlung überlassen, inwieweit die Handlungsweise Bret-
schneiders nur als Übertretung im Sinne des Art. HI des Gesetzes vom
15. Oktober 1F68, Nr. 142 R.-G.-BL, anzusehen sei.
Den Antrag auf Anordnung der Hauptverhandlung vor dem Ausnahme-
gerichlshof begründet aber die Anklagebehörde damit, daß aus der
notorischen Haltung des Blattes, insbesondere aber aus dem
Wortlaut der inkriminierten Stellen selbst und den aus der Nr. 18 zur
Verlesung beantragten nicht beanständeten Stellen hervorgehe, daß den
Adler vor dem Holzinger-Senat 47
Artikeln anaichistische, auf den gewaltsamen Umsturz der be-
stehenden Staats- und Gesellschaftsordnung gerichtete
Bestrebungen zugrunde liegen.
Diese Bestrebungen erhellen insbesondere aus dem vSchlußsatz des
zweiten Artikels auf Seite 2, beginnend mit den Worten: „Die Tapferkeit der
Dragoner", in welchem ein nicht mißzuverstehender Appell an die Soldaten
enthalten und die — Hoffnung ausgesprochen ist, daß auch diese in
einstiger Erkenntnis ihrer Lage dem Staate die Hilfe versagen und so den
gewünschten gewaltsamen Umsturz der bestehenden staatlichen und gesell-
schaftlichen Ordnung ermöglichen werden.
Sie erhellen aus den notorischen, oftmals znm Gegenstand objektiver
Behandlung gemachten Angriffen des Blattes gegen Polizei
und Behörden, den Aufreizungen d'esselben gegen die bürgerlichen
Elemente des Staates, aus der agitatorischen Haltung, welche das
genannte Blatt in der sozialdemokratischen Bewegung seit Jahren einzu-
nehmen bestrebt ist.
Die Anklage ist demnach begründet.
Wien, am 7. Mai 1889.
Der k. k. Oberlandesgerichtsrat und I. Staatsanwalt
Sogs.
Die Schlußverhandlung am 27. Juni 1889.
A'orsitzender: Präsident Dr. R. v. H o 1 z i n g e r. Votanten:
Landesgerichtsrat Lorenz, Landes'gerichtsrat S c h m i e d 1, Adjunkt Frei-
herr V. D i e 1 1 e r. Staatsanwalt: Oberlandesgerichtsrat S o o s. Ver-
teidiger: Dr. Wolf-Eppinger.
Präsident: Die Sitzung ist eröffnet. Gegenstand der Verhandlung
ist die .\nklage gegen die Herren Dr. Victor Adler und Ludwig Brei-
schneider wegen Vergehen nach den §§ 300, 302, 305, 491 bis 493 und
Art. V der Strafgesetznovelle vom 17. Dezember 1862. (Nach Abnahme des
Nationales zu Dr. Victor Adler:) Sie sind wegen der Übertretung des
§ 23 des Preßgesetzes mit 30 fl. bestraft?
Dr. Adler: Ja, außerdem mit 50 fl. Polizeistrafe wegen
Übertretung der Verordnung vom Jahre 1854.
Präsident (nach Abnahme der Generalien Bretschneiders) : Ich
erinnere die beiden Angeklagten, auf den Gang der Verhandlung achten zu
wollen. Zeugen sind' nicht vorgeladen. Ich bitte die Verles'ung der Anklage-
schrift. (Nach Verlesung derselben seitens des Schriftführers:) Ich werde
im Zusammenhang mit der Anklageschrift, nachdem sie ein Bestandteil
derselben sind, sofort die inkriminierten Stellen zur Verlesung bringen.
(Nach Verlesung derselben:) Bekennen Sie sich schuldig, Herr Dr. Adler?
Staatsanwalt Soos: Ich bitte vielleicht noch vorher die Zustimmung
des Reichskriegsministeriums zur strafgerichtlichen Verfolgung bekanntzu-
geben, da dies eine gesetzliche Prämisse ist.
Verteidiger: Ich begnüge mich mit der bloßen Konstatierung.
48 Adler vor dem Holzinger-Senat
Präsident: Sie haben das Recht, der Anklage eine zusammen-
hängende Darstellung gegenüberzusetzen.
Angeklagter Dr. Victor Adler:
Ich werde hievon Gebrauch machen. Wir stehen hier vor
dem Ausnahmegericht für anarchistische, auf gewaltsamen Um-
sturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung ge-
richtete Bestrebungen. Der Herr Staatsanwalt hat den Antrag,
uns vor dieses Ausnahmegericht zu bringen, mehrfacli be-
gründet. Diese Begründung ist selbstverständlich der Leitfaden
meiner Darstellung. Der Herr Staatsanwalt hat das begründet
mit der „notorischen Haltung des Blatte s", aus
welcher angeblich dieser anarchistische, auf den gewaltsamen
Umsturz gerichtete Zusammenhang hervorgeht, er hat es weiter
begründet mit dem Inhalt der inkriminierten
Stellen, respektive mit einer dieser inkriminierten Stellen, er
hat es dann begründet mit den Angriffen des Blattes gegen die
Polizei und Behörden, die in demselben seit jeher gemacht
wurden, und schließlich hat er die „anarchistischen Bestre-
bungen" begründet mit der „a g i t a t o r i s c h e n H a 1 1 u n g",
welche die „Gleichheit" in der sozialdemo-
kratischen Bewegung einnimmt. Ich bin also ge-
zwungen, auf die notorische Haltung des Blattes einzugehen,
ich bin auch gezwungen, auf die Haltung des Blattes innerhalb
der sozialdemokratischen Bewegung einzugehen, und will mich
bemühen, möglichst kurz zu sein. Aber bei den allgemainen
Dingen, die uns imputiert werden, müßte ich eigentlich bean-
tragen, um die notorische Haltung der „Gleichheit" darzu-
stellen, daß alle erschienenen Nummern der „Gleichheit" vor-
gelesen werden. Davon will ich absehen. Ich will aber in
wenigen Zügen die Haltung der „Gleichheit", wie sie wirklich
ist und wie sie der Staatsanwalt, einer unserer eifrigsten
Leser, genau kennt, hier skizzieren.
Die „Gleichheit" wurde gegründet Ende 1886 und wandte
sich mit einem Aufruf an die Arbeiter Österreichs, in dem vor
allem erklärt wird: \Yir wollen ein Blatt herausgeben, das auf
dem Standpunkt der sozialdemokratischen Arbeiterpartei steht.
Es wird darin weiter erklärt: Unsere Ziele sind die Erkenntnis
der Solidarität der Arbeiterklasse aller Nationen, die Ver-
breitung und Vertiefung des Klassenbewußtseins; die offene
Organisation als politische Partei, der Kampf für politische
Adler vor dem Holzinger-Senat 49
Freiheit, für das Recht auf unbeschränkte Meinungsäußerung,
offene zielbewußte Propaganda in Wort und Schrift. Begründet
wurden diese näheren Ziele mit dem Satze: „Der Arbeiter-
klasse ist die weltgeschichtliche Aufgabe zugefallen, die
Trägerin der zukünftigen Gesellschaftsordnung zu sein; dazu
muß sie sich physisch und geistig geeignet machen, und sie wird
das tun, wenn sie ihrerseits von dem Bewußtsein ihrer Aufgabe
durchdrungen ist und die ökonomischen und politischen Be-
dingungen ihres Sieges klar erkennt." Die Zeit, in welche die
Gründung der „Gleichheit" fällt, muß ich mit wenigen Worten
berühren. Seit der unseligen Spaltung, die sich in der öster-
reichischen Arbeiterpartei ergeben hat aus inneren Verhält-
nissen der Partei, die aber hauptsächlich auch zurückzuführen
ist auf äußere Verhältnisse, besonders auf die Einmischung der
übrigen politischen Parteien und nicht zuletzt der
Polizei, seit dieser Spaltung, die schließlich führte zu der
gewaltsamen Niederschlagung der Partei Anfang 1884 mit
' dem Ausnahmezustand, zur gewaltsamen Auflösung der ge-
samten Organisation, zum gewaltsamen Niederschlagen der ge-
samten Parteipresee — w^ar die Arbeiterpartei in Österreich,
insbesondere in Wien, faktisch absolut mundtot. Es ist so weit
gekommen, daß man absolut nicht mehr wagte, in öffentlicher
Weise Agitation zu machen. Dabei hatten natürlich Ausnahme-
gerichte viel zu tun, und die Polizei entwickelte eine lebhafte
Tätigkeit. Nun war aber meine und meiner Freunde Ansicht,
daß in Österreich Stimmungen nicht nur im Volke, sondern
auch oben ziemlich vergänglicher Natur seien, daß es bereits im
Jahre 1886 möglich sei, in Wien ein Blatt, das offen auftritt,
das offen sozialdemokratisch ist, herauszugeben.
Wir sind' mit diesem Programm aufgetreten und haben
uns an beide Parteien, an beide Fraktionen gewendet, wir haben
gesagt: Wir bieten euch ein Blatt, das weder auf dem Stand-
punkt der einen noch der andern Partei, steht, sondern offen
und ehrlich sozialdemokratisch ist. Es ist das notwendig zu
sagen, weil der Zustand, der damals in Österreich in der Partei
geherrscht hat, vielfach von den Behörden verkannt wird ; eine
Verkennung, ein Unverständnis und Mißverständnis, das sich
in unzähligen Aussagen der Motivenberichte zu verschiedenen
Ausnahmegesetzen und in unzähligen Beantwortungen v'on
Interpellationen seitens der Minister äußert. Es wird in allen
4
50 Adler vor dem Holzinger-Senat
diesen Aktenstücken — und ick wäre in der Lage, einige Belege
dafür zu bringen ; idh glaube aber, daß der kohe Gerickt-kof
die Sacken oknedies kennt — o k n e w e i t e r s die radi-
kale Arbeiterpartei der anarckistiscken
Partei gleickgesetzt. Dieses Mißverständnis, dieses
von gewissen Polizeiorganen absicktlick kingestellte und zu-
wege gekrackte Mißverständnis muß ick als solokcÄ kier kenn-
zeicknen, denn es kat gerade für unsere Verkandlung die aller-
größte Wicktigkeit.
Die radikale Arbeiterpartei und die gemäßigte Arbeiter-
partei, in welcke sick damals die Arbeiterbewegung gespalten
kat, solange es überkaupt eine gegeben kat, solange sie nickt
niedergetreten war, katten sekr viele Differenzpunkte, aber
Anarchisten waren die Radikalen nicht, und es ist, ick will es
an dieser Stelle aussprecken, politiscli und recktlicli
geradezu einer der größten Fekler gewesen,
daß man eine große Partei für Handlungen einzelner vor-
antwortlick gemackt kat. Wir sind aufgetreten zu einer Zeit,
wo nock jeder Radikale belastet war, nickt von seinen Genossen,
denn diese wußten genau, wie die Sacke stekt, aber von den
Bekörden, mit dem Makel, er sei „Anarekist", er sei mitsckuldig
an den Morden, die gesckeken sind oder vielleickt auck nicht
gesckeken sind, er sei mitsckuldig an der Gekeimpresse, an der
Falsckmünzerei usw. Ick war damals jung in der Partei, und
als ick in dieselbe eintrat und mir diese gefäkrlicken und
furchtbaren Menscken mit ansak, da sak ick, daß das v o n der
B e k ö r d e d u r c k E n t z i e k u n g der B i 1 d u n g s-
mittel absicktlick inUn wissen lieit gekalte ne
Leute waren. Daß das Menscken waren, die erbittert
waren, ist begreiflich. Sie erwarten von mir nicht eine Dar-
stellung der sozialen Not, denn gerade Sie sind als Richter
in der Lage, sie zu kenneu. Jene Leute waren erbittert auck
gegen die gemäßigte Partei, aber daß sie sick dem anarckisti-
scken Programm anscklossen, und zwar was dessen Ziel und
Taktik anlangt, das muß ick entsckieden verneinen. Die
„Gleickkeit" katte nur die Aufgabe, beide Fraktionen zu ver-
einigen, zu versöknen und iknen klarzumacken, daß ihre
Differenzpunkte, wie es wirklick der Fall war, nickt allzu
große waren und nickt über die Meinungsversckiedenkeiten
hinausgehen, welcke innerkalb jeder andern Partei besteken.
Adler vor dem Holzinger-Senat 51
Es kommt mir allerdings eiu bißchen sonderbar vor, in
dem Moment, wo ich als Anarehist vor dem Ausnahmegericht
stehe, nun den nächsten Schritt in meiner Darstellung zu
machen.
Das nächste, was die ., Gleichheit'" getan, war nämlich,
daß sie in Nr. 5 einen Aufruf erlassen hat zur Unterstützung
der Wahlen in Deutschland. Der Staatsanwalt wird freilich
sagen, daß das nicht die Wahlen in Österreich waren, aber dazu
waren wir leider nicht in der Lage, sonst hätten wir das ganz
bestimmt getan. In diesem Aufruf, in dem es sich um <lie
Eeichstagswahlen in Deutschland handelt, haben wir, und ich
bitte das zu konstatieren, die sozialdemokratischen öster-
reichischen Arbeiter, und zwar die gemäßigten wie die radikalen,
aufgefordert, diese Wahlen zu unterstützen, ihre Solidarität mit
den Sozialdemokraten in Deutschland zu beweisen, und haben
ihnen die Worte zugerufen : ,,1 h r Kampf ist u n s e r
.Kampf, Ihr Sieg ist unser Sieg!" Es berührt mich
sonderbar, das als „Anarchist" hervorheben zu müssen, weil
Sie ja wissen, daß lange Jahre, wenn der Gerichtshof oder der
Untersuchungsrichter oder Staatsanwalt nicht recht gewußt hat.
ob er wirklich einen Anarchisten vor sich hat, er ein einfaches
Mittel gehabt hat, um dies zu prüfen, ein wahres Schiboleth.
Er hat ganz einfach gefragt, wie jener über das Wahlrecht
denke. Wenn er für das Wahlrecht war, war er Sozialdemokrat,
wenn er gegen das Wahlrecht war, wurde er als Anarchist ver-
urteilt, wie seine Anschauungen auch sonst gewesen sein
mögen. In dieser Beziehung haben wir den weitestgehenden An-
sprüchen der Behörden immer genügt. Wir haben das Pro-
gramm, daß die Aufklärung der Massen, der Arbeiter, über den
ökonomischen Prozeß jenes Werk ist, das die sozialdemo-
kratische Arbeiterpartei zu verrichten hat^ um die Arbeiter-
massen bereitzustellen für jenen Moment, wo der Umsturz des
heutigen Systems erfolgt — und ich bitte gleich hier zu be-
achten, daß das Wort Umsturz transitiv, aber ebenso intransitiv
gebraucht werden kann. Wenn ein Umsturz erfolgt, muß nicht
immer umgestürzt werden, es kann von selbst zusammen-
stürzen. Das Wort Umsturz hat in diesem Sinne eine viel
harmlosere Bedeutung, als die Staatsanwälte mit Vorliebe an-
nehmen.
4*
Adler vor dem Holziuffer-Senat
Wir haben also die Arbeiter auf diesen Moment vorzu-
bereiten; wir 'haben sie darauf vorzubereiten, daß sie den weh-
geschichtlichen Prozeß, der sich vor unseren Augen vollzieht
>ind an dem wir alle hier teilnehmen, ob wir nun Angeklagte
oder Richter sind, und den wir alle fühlen bis in die letzte
Fingerspitze — • gehörig würdigen.
Ich möchte hinzufügen, der Erfolg unsere? Vorgehens
war ein sehr merkwürdiger.
Es sind von allen Seiten Arbeiter herbeigekommen, um
für die Wahlen zu sammeln und Beiträge zu liefern, und ich
kann versichern, daß ich oft erstaunt war, als ich sah, wie Leute,
die man von oben für die wütendsten und verbissensten
Anarchisten gehalten hat. ruhig gesammelt und ihren Beitrag
gebracht haben, weil sie ja nur insofern Anarchisten waren,
daß sie ein lebhaftes Gefühl dafür gehabt -haben, man müsse
gegen die sozialen, gegen die ökonomischen und gegen die
Rechtszustände protestieren, und daß >*ie hier diesen Beitrag
geliefert haben, war dieser Protest.
Die Solidarität, die uns mit der Sozialdemokratie
im Reiche immer verknüpft, zieht sich durch alle Jahrgänge
des Blattes, soweit wir die Möglichkeit hatten, es erscheinen
zu lassen.
Wir dürfen sagen und haben es wiederholt ausgesprochen :
Wir bewegen uns genau au f demselben Boden wie
die deutsche Sozialdemokratie, nur mit jenen
höchst unbedeutenden Änderungen, welche die politischen und
ethnographischen Verhältnisse des Landes nötig machen. Daß
die deutsche Sozialdemokratie nicht anarchistisch ist, brauche
ich wohl nicht des weiteren auszuführen.
Bei der Beurteilung der „notorischen Haltung" des
Blattes muß weiter noch betrachtet werden, wie sich die
Anarchisten gegen uns und wie wir uns gegen die Anarchisten
verhalten haben.
Erwarten Sie von mir nicht, hoher Gerichtshof, daß ich
nun eine Pauke der sittlichen Entrüstung gegen den Anarchis-
mus loslasse. — Wir Sozialdemokraten sind eine verfolgte
Partei, und wir würden uns einfach entwürdigen und müßten
uns schämen, gegen irgendeine andere verfolgte Partei, heiße
sie nun Anarchisten, heiße sie eventuell Antisemiten — ich er-
Adler vor dem Holzinger-Senat 53
wähne diese, weil sie vor einiger Zeit verfolgt war — irgend-
eine Beschimpfung vorzubringen.
Die Anarchisten sind eine Partei wie eine jede andere.
Es ist nicht unsere Partei; ich stehe den Anarchisten ebenso
fremd gegenüber wie den Liberalen oder Feudalen. Ich bin nicht
Anarchist genau aus denselben Gründen, ans welchen ich nicht
liberal oder feudal bin : weil mir weder die Prinzipien
noch die Wege dieser Partei angenehm sind, weil ich sie
nicht billigen kann und weil ich meine, daß der Anarchismus
nicht zielführend ist. Und nun will ich Ihnen sagen, was uns
von den Anarchisten unterscheidet. Uns unterscheidet von den
Anarchisten ein Punkt, das ist das Z i e 1 s e 1 b s t. Wir haben
ganz andere Ziele, wir haben ganz andere Vorstellungen vom
Ziele als die Anarchisten. Die Anarchisten haben zum Ziele die
hüchstausgebildete Autonomie des Individuums, den auf die
Spitze getriebenen I n d i v i d u a 1 i s m u s, und zu den an-
archistischen Schriften bildet Stirners ..Der Einzelne und sein
Eigentum" noch häufig den Ausgangspunkt und Schlüssel.
Die 4-iiarchisten sind in großer Verlegenheit, ihre Ziele aus-
einanderzusetzen, und weil sie selbst unklar sind, üben sie eine
kolossale Anziehungskraft auf alle Unklaren, und die An-
archisten haben in der Theorie — ich spreche immer nur von
der Theorie, obwohl den Ausnahmegerichtshof diese theoretische
Auseinandersetzung nicht interessiert, ihn interessieren viel
mehr die Mittel, welche die Anarchisten anwenden — sie haben
nicht jene geschichtliche Auffassung, die wir
haben, wir, die wir einfach sagen : wir befinden uns in einem
iikonomischen Weltprozeß, der einerseits den beschleunigten
— wenn Sie wollen, um das Wort Umsturz nicht zu gebrauchen
— Zusammenbruch des heutigen Sj'stems und anderseits das
Anwachsen und die sittliche und geistige Paratstellung des
Proletariats bedeutet. Diesen Prozeß bewußt und beschleunigt
durchzumachen, das ist unsere Aufgabe. Die Anarchisten sind
auf einem andern Standpunkt, sie meinen, das hieße lange
warten. Sie unterschätzen die Schnelligkeit, mit der dieser
Prozeß vor sich geht, und sind ungeduldig, eine Ungeduld, die
eh. so wenig ich sie billige, begreife. Denn man muß unter
Arbeitern, Proletariern leben, und man muß wissen, wie die
Zustände sind, unter welchen sie leben, um begreifen zu
können, daß die Leute mitunter, wenn sie unklar und nicht —
54 Adler vor dem Holzinger-Senat
gerade durch die Sozialdemokraten — aufgeklän
sind, eben in Verzweiflung sind. Diese Verzweiflung, dieses
lieber persönlich Zugrundegehen, als den Zustand persönlich
noch länger zu ertragen, ist das Motiv, das der Anarchismus
inmier liebt; das ist jenes Motiv, das der Anarchismus benützt,
um, wie er meint, durch einzelne Akte, durch einzelne Erup-
tionen die Aufmerksamkeit des Proletariats auf sich zu lenken
und mit einem Schlage dieses System zu beseitigen. Diese
Gewaltsamkeiten sind ja dasjenige, was man gewöhnlich unter
Anarchismus versteht, es ist die Propaganda der Tat. Wir sind
nicht der Ansicht, daß diese Dinge zu den Zielen ob nun des
Anarchismus oder der Sozialdemokratie überhaupt auch nur
dae geringste beitragen, dem heutigen System irgendwelchen
Schaden zufügen. Das heutige System verträgt die an-
archistische Taktik ausgezeichnet, und wir haben Beweise dafür,
daß das heutige System Anarchisten züchtet, wo sie
nicht vorhanden sind, — ich brauche nicht von Österreich zu
sprechen, ich kann mich begnügen, auf Deutschland und
Belgien hinzuweisen. Ja das heutige System braucht geradezu
notwendig die anarchistische Taktik, um der Bourgeoisie jene
gehörige Angst einzuflößen, die sie benötigt, um Ausnahme-
gesetze zu bewilligen, deren Opfer wir zum Beispiel sind.
Weil wir mit dem Anarchismus nicht einverstanden sind, be-
kämpfen wir ihn und haben ihn bekämpft, und ich kann sagen,
nielit um denjenigen, die heute im Lande
herrschen, irgendeine Gefälligkeit zu er-
weisen, nicht um uns irdgendwie auf die Loyalen hinaus-
zuspielen, sondern im Interesse u 'U s e r e r Partei
haben wiv die -Anarchisten bekämpft, indem wir sie wider-
legten, etw^as, was alle Ausnahmegerichte und
Staatsanwälte ihr Lebtag nicht zusammen-
bringen werde n.
Wir haben die Anarchisten widerlegt, und im Interesse
der sozialdemokratischen Partei, nicht der heutigen
Verhältnisse, haben wir dazu beigetragen, den An-
archismus in Österreich zu vermindern, und so sehr ist uns das
gelungen, daß der Staatsanwalt, da die Gültigkeit der Aus-
nahmeverordnung in einigen Wochen zu Ende geht, i n u n-
end lieber Verlegenheit nach neuen An-
archisten sich befindet. Es sind in c a n z
Adler vor dem Holzinger-Senat 55
Österreich keine vorhanden, es bleibt daher
nichts anderes übrig, als selbst weiche künst-
lich zu erzeugen — wider I) e s s e r e s W i s s e n . . .
{Beifall im Publikum.)
Präsident (unterbrechend" : Vor allem muß ich bemerken, daß
die mindeste Störung im Zuschauerravun mich zur sofortigen Räumung des"
Saales veranlassen würde. Ich bitte, sich das zu merken, und Sie erinnere
ich, daß es nicht angeht, persönliche Ausfälle gegen irgend jemand anzu-
bringen.
Dr. Adler: Ich werde mich daran halten.
Wenn uns nun die Staatsanwälte begreiflicherweise nicht
lieben, so lieben uns die Anarchisten auch nicht, und ich kann
Ihnen mitteilen — es ist dies wahrscheinlich der hiesigen
Staatsanwaltschaft bekannt — daß die eigentlichen an-
archistischen Organe sich gegen die „Gleichheit" seit jeher
ziemlich ablehnend verhalten haben. Das Höchste in dieser
Beziehung hat wohl die ..Autonomie'" geleistet, deren Redakteur
allerdings zurzeit noch Josef Peukert war. von dem nicht fest-
gestellt ist, in den Diensten welcher Polizei er gerade Anarchist
ist. Die Londoner „Autonomie" beschuldigt uns gelegentlich
der Unterdrückung der „Arbeit" in Wien: ..Die echt rote Ge-
sinnung ist in Österreich wie überall den größten Verfolgungen
ausgesetzt. Allerdings ein solches Blatt wie die ..Gleichheit"
duldet man natürlich nicht nur, sondern protegiert es noch von
gewisser höherer Seite." — Das ist in den Augen der „Auto-
nomie" kein Lob. — „Wir vermuten, daß der ^Matador der
„Gleichheit", Dr. Adler, mit der Polizei unter einer Decke
stecke. Für diesen und manch andere Doktoren existiert
Redefreiheit, aber die Arbeiter dürfen es nicht wagen, ihre
Ideen zu verbreiten, obwohl dies leicht erklärlich ist, denn die
Arbeiter heute sind alle vor dem Gesetze gleich. Welche Ironie
liegt in dem Satze." Sehen Sie, sie lieben uns nicht.
In späterer Zeit hat die „Freiheit" vom Hainfelder Kon-
greß, der in unseren Polizeinoten eine besondere Rolle spielt,
gesagt: ..Die wesentlichsten Beschlüsse desselben kehrten sich
gegen die Anarchisten überhaupt und besonders gegen die Tak-
tik derselben. Im übrigen soll sogenannte praktische Politik ge-
trieben, das heißt der Pelz gewaschen und nicht naß gemacht
werden. Die österreichische Regierung wird mit diesen Be-
schlüssen wohl zufrieden sein." Die „Autonomie" hat über den
56 Adler vor dem Holziuger-Senat
Hainfelder Kongreß einen längeren Artikel gebracht, der die
,, Gleichheit" im höchsten Grade beschimpft. Ich glaube nicht,
daß es gut angehen wird, den Artikel hier zu verlesen, aber es
wäre für mich wesentlich, zu konstatieren, daß darin gesagt
wird: „Wenn der Kongreß nichts weiter hat sagen wollen, als
er gesagt hat, so hätte sich die Regierung die Mühe ersparen
können, die Geschwornengerichte für Verbrechen, denen
anarchistische Tendenzen zugrunde liegen, einzustellen",
weiter, „wir erleben es, daß die Arbeiter über den Kopf der
Führer hinweggehen und der Anarchismus lebt in Österreich".
Auf dieses „Lebenszeiche n", von welchem die „Auto-
nomie" spricht, warten die Behörden vergebens, es wird nicht
eintreten, außer es müßte noch weitergegangen
werden in dem Werke, das bereits begonnen
ist. Weiter liegt mir hier eine Flugschrift vor, von der ich
nicht recht weiß, wer sie gemacht hat. Ich weiß nicht mit
einem Worte, ob sie nicht offiziös ist, aber ich vermute es
beinahe. Diese Flugschrift schildert Dr. Adler, B r e t-
schneider, Pokorny, Popp — einige Namen von
Männern, die in der Partei tätig sind — als niederträchtige
Menschen, als Polizeispitzel, als Leute, die andere korrumpiert
haben. Man wirft uns vor, und das ist sehr bezeichnend, daß
die Exzesse in Belgien, über die unlängst eine so drastische
Aufklärung gegeben wurde, von der „Gleichheit" nicht sehr
ernst genommen wurden, daß wir gesagt haben, es sei ganz
merkwürdig, daß alle Dynamitattentate in Belgien nur ein
paar gebrochene Fensterscheiben zur Folge hatten, und daß es
den Anschein hat, daß wir es mit offiziösen Anarchisten zu
tun haben. Ich könnte eine Reihe von Stellen aus der „Auto-
nomie" und der „Freiheit" zitieren, aber mitunter sind sie so,
daß die Öffentlichkeit der Sitzung aufgehoben werden müßte
und das paßt mir nicht. Ich will darauf verzichten.
Ich habe erörtert, wie die Anarchisten zu uns und wir
zu den Anarchisten stehen. Darüber, wie wir zu den Anarchi-
sten stehen, möchte ich noch aus der „Gleichheit" wenige
Belege anführen. In Nummer 3 der „Gleichheit", I. Jahr-
gang, hatten wir Gelegenheit zu berichten über einen Prozeß
vor demselben Ausnahmegericht, vor dem wir hier stehen. Es
sind damals Steidl, Ondrizek und Schwarz wegen
Münzverfälschiing und Diebstahl verurteilt worden. Die
Adler vor dem Holzinger- Senat 57
.,Grleichheit" hat darüber berichtet und sagt: „Der Versuch
des Staatsanwalts, die Angeklagten als Werkzeuge irgend-
einer dahinterstehenden „anarchistischen Partei" darzustellen,
mißlang gänzlich. Selbst der Gerichtshof konnte nicht umhin,
die Tat oder vielmehr den Versuch, eine solche zu begehen,
als das Werk einzelner anzusehen und hat daher „die besondere
Gefährlichkeit" nicht anerkannt.
„Solange nicht die äußere und innere Möglichkeit
gegeben ist, sozialistische Ziele in offener Weise mittels
offener Organisation zu verfolgen, werden einzelne Menschen
immer der Selbsttäuschung anheimfallen, durch einzelne Ge-
waltstreiche etwas Ersprießliches für die Befreiung des Prole-
tariats bieten zu können. Der „A n a r c h i s m u s" kann
nur durch die Sozialdemokratie überwunden
werden! Sie allein kann die klare Einsicht in den Ökonom •-
sehen Prozeß und den aus ihm folgenden, geschichtlich not-
wendigen Verlauf der Dinge vermitteln und dem Proletariat
die richtigen Gesichtspunkte und die allein richtige Kampf-
methode vorzeichnen!"
Die Stellung, die wir gegenüber ilen Anarchisten ein-
genommen haben, ist auch bis in die allerletzte Zeit bei-
l)ehalten worden. Der Herr Ministerpräsident hat auf Grund
einer falschen Information der Polizei in einer Interpellations-
beantwortung — es hat sich nämlich am 13. März 1887 um eine
kleine Demonstration gehandelt — gesagt: „Die radikale oder
anarchistische Arbeiterpartei." Wir haben dies zurückgewiesen,
indem wir schrieben:
„Wir unserseits halten es für unsere Pflicht, der Be-
hauptung, daß die radikale Fraktion der österreichischen
Sozialdemokratie anarchistisch sei, mit aller Entschiedenheit
entgegenzutreten — um einen Ausdruck Seiner Exzellenz zu
gebrauchen. Die Spaltung der österreichischen Arbeiterpartei
gehört zum großen Teil bereits der Geschichte an, und diese
Geschichte zu schreiben halten wir eine hohe Polizei, bei
allem sonstigen Respekt vor ihrem Wissen und Können, nicht
für berufen. Wie wenig sie es ist, hat sie durch die Informa-
tion neuerdings bewiesen, die sie dem Minister gab. In den
Augen der Polizei sind also die „Radikalen" Anarchisten!
Diese Identifizierung ist falsch und gefährlich. Sie ist falsch :
das weiß jeder Kenner der Parteiverhältnisse. Sie ist aber
58 Adler vor dem Holzinger- Senat
auch gefährlich, und zwar nicht nur für diejenigen, welche
mit dem Namen Anarchisten bezeichnet werden. Sie schafft
eine Gefahr, die noch gar nicht vorhanden ist; sie schafft
Anarchisten, wo sie nicht sind. Wer den Anarchismus für den
Teufel hält, sollte ihn doch nicht an die Wand malen. Die
radikale Fraktion der österreichischen Arbeiterpartei, soweit
man überhaupt noch von einer gesonderten Fraktion sprechen
kann, zählt Tausende von Mitgliedern, und alle diese Partei-
männer nennt man kurzweg „Anarchisten"! Und man nennt sie
nicht nur so, sondern man will sie auch als solche behandeln.
Nun weiß man wenigstens, was das Wort „Anarchistengesetz"
bedeutete. Wie wir über derartige Gesetze, auch auf wirkliche
Anarchisten angewendet, denken, wissen unsere Leser. Daß
man aber gar Sozialdemokraten erst als „Anarchisten" hinstellt
und sie dann als solche behandelt, scheint uns doch gegen den
Geist — selbst dieser Gesetze zu verstoßen."
„Wie gesagt, wir müssen uns große Zurückhaltung auf-
erlegen, wollen wir überhaupt, daß diese Zeilen in die Hände
unserer Leser kommen. Wir erlauben uns aber doch noch zu
sagen, daß die den angeführten Worten zugrunde liegende
Auffassung ebensowenig den Tatsachen entspricht, als sie un-
politisch klug erscheint, w e n n m a n den A n a r c h i s m u s
wirklich nicht will."
Ich hätte eigentlich schreiben müssen, wenn man e i n-
zelne Anarchisten ernstlich nicht will, denn den An-
archismus will man nicht, das ist sicher, aber A n a r c h i s t e n
sind mitunter angenehm.
„Diese Auffassung erschwert die Tätigkeit derjenigen,
welche der Überzeugung sind und dafür eintreten, daß eine
große, geschichtlich notwendige Umwälzung, daß eine große,
gewaltige Idee durch einzelne Gewaltakte einzelner ebenso-
wenig durchzusetzen als zu hemmen ist."
Ich würde den Gerichtshof über Gebühr ermüden, wenn
ich alle Stellen anführen würde, um die es sich handelt. Ich
möchte nur als bezeichnend für unser Verhalten zu den
Anarchisten und zugleich als bezeichnend für die Solidarität,
welche unsere österreichische Arbeiterpartei mit der deutschen
Sozialdemokratie verbindet, konstatieren, daß ich als Heraus-
geber der „Gleichheit" auf dem Parteitag von St. Gal-
len Ende 1887 anwesend war, und daß auf diesem Parteitag
I
Adler vor dem Holzinger-Senat 59
auch über die Stelhiug zu den Anarchisten eine Resolution ge-
faßt wurde, deren Verlesung ich wünschen würde, nachdem
sich auch die „Gleichheit" derselben vollinhaltlich ange-
schlossen hat. Ende des Jahres 1887 hatten sich die Partei-
verhältnisse wesentlich auch durch die Mitwirkung der
„Gleichheit" — ich glaube, ich bin nicht unbescheiden, wenn
ich das sage — in Österreich wesentlich geklärt, und es erschien
damals in der „Gleichheit" eine Überschau unter dem Titel
„Neujahr 1888". Es wurde da auseinandergesetzt, inwieweit wir
eine revolutionäre Partei sind, welchen Zusammenhang wir
mit der Revolution haben. Die ökonomische Seite dieses Be-
griffes v/urde schon vielfach erörtert. ,,Diese Seite der Revo-
lution", heißt es in diesem Artikel, „vollzieht sich unbewußt,
mechanisch, mit eherner Sicherheit." „Zugleich aber geht eine
Revolution in dem Bewußtsein der Menschheit vor sich; das
Proletariat beginnt seine weltgeschichtliche Bestimmung nicht
nur zu erkennen, sondern auch als sein Ziel zu wollen. Und die
Revolutionierung der Gehirne ist die eigentliche Aufgabe, ist
das nächste Ziel der proletarischen Parteien, der Sozialdemo-
kratie." „Dieser bewußten Seite der Revolution hat nun frei-
lich die Bourgeoisie energischer und aufrichtiger gemeinte
Mittel entgegenzusetzen als der fortschreitenden Prole-
tarisierung und Massenverelendung."
Vom Jahre 1888 an war die Tätigkeit der „Gleichheit'"
hauptsächlich darauf gerichtet, die eingetretene Vereinigung
der Partei auch äußerlich zum Ausdruck zu bringen, diese Tat-
sache, die im Bewußtsein einzelner Genossen war, auch der
Gesamtheit zum Bewußtsein zu bringen; und die damalige
Situation wird in einem Aufsatz der Nummer 15 der „Gleich-
heit" vom Jahre 1888 geschildert. Es heißt dort:
„Wir können uns sogar gestatten, der hohen Regierung
— kostenfrei — ein Parteigeheimnis zu verraten: Die „Ge-
mäßigten" sind im Aussterben begriffen; was aber besteht,
blüht und wächst, ist eine einzige, große sozialdemokratische
Arbeiterpartei, die sich durch alle Ausnahmegesetze der Welt
nicht einschüchtern läßt und ihre Pflicht tut und tun wird!"
Es wird auch in dieser Stelle eine Polemik mit der
„Autonomie" geführt, und hier muß icli noch den Grund kon-
statieren, warum wir sofort Gelegenheit hatten, uns gegen die
Anarchisten polemisch zu wenden. „Wenn nämlicli". >o heißt
60 Adler vor dem Holzinger-Senat
es dort, „wir das anarchistische Programm und die anarchisti-
schen Mittel billigen würden, so würde uns noch eines an-
halten, die Wege der Anarchisten zu betreten, das ist die stete
Gesellschaft, in der sie auftreten: die Polizei; und die Ver-
bindung der Polizei mit dem Anarchismus — ich erinnere an
den Fall 8 c h r e g e r — - haben uns wiederholt Gelegenheit
gegeben, klar auszuführen, daß wir mit dem Anarchismus ab-
solut nichts zu tun haben." Wir haben damals in Nummer 15
geschrieben: „Es darf ruhig gesagt werden, daß terroristische
Taten, welche im vermeintlichen Parteiinteresse der Anarchi-
sten ausgeführt werden, in absehbarer Zeit nicht vorkommen
werden, außer es legt sich wieder irgendein — Schreger ins
Mittel."
Nun kommen die Vorbereitungen zu dem Parteitag, die
ich mir aber aufsparen will für den letzten Teil meiner Er-
örterungen, wo die agitatorische Tätigkeit der ..Gleichheit"
innerhalb der sozialdemokratischen Partei zu behandeln
sein wird.
Ich schließe mich dem Gedankengmng des Staatsanwalls
genau an und komme jetzt auf den Inhalt der Artikel. Da ich
nicht weiß, welche inkriminierten Stellen ihm besonders
„anarchistisch und auf den gewaltsamen Umsturz der bestehen-
den Staats- und Gesellschaftsordnung gerichtet" vorkommen,
so muß ich mich damit begnügen, eine, welche er ausdrück-
lich als solche besprochen hat, darzulegen. Das ist jene Stelle,
die von der „Tapferkeit der Dragoner und Husaren" handelt,
und die vorher verlesen wurde. In der Anklage heißt es: „Tu
dem Absatz, beginnend mit den Worten: „die Tapferkeit der
Dragoner" wird ein nicht mißzuverstehender Appell an die
Soldaten gerichtet und ist die Hoffnung ausgesprochen, daß
auch diese in eiiistiger Erkenntnis ihrer Lage dem Staate die
Hilfe versagen und so den gewünschten gewaltsamen Umsturz
der bestehenden staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung
ermöglichen würden." Das klingt allerdings formell höchst
anarchistisch. Ich möchte nur- bemerken, daß der Versuch,
jemand anderen aufzufordern, er möge seine Augen öffnen,
um hernach, wenn er sie geöffnet hat, den Versuch zu
machen, irgendeine Aktion zu beginnen, eines der ungewöhn-
lichsten anarchistischen Verbrechen ist, die bis jetzt wohl vor-
gekommen sind. Aber ich will auf diese Seite der Sache gar
Adler vor dem Holzinger-Senat 61
nicht eingehen. Was ist hier enthaltend — Der hohe Gerichts-
hof sieht, daß ich meritorisch auf die Sache absolut nicht ein-
gehe, absolut darauf nicht eingehe, ob wir der Dinge, die man
uns vorwirft, schuldig sind oder nicht. Darum handelt es sich
gar nicht. Hier handelt es sich darum, den Beweis zu führen,
daß wir nicht vor dem Gerichtshof stehen, vor dem wir stehen
sollen. Wenn wir Gelegenheit haben werden, vor dem uns
nach dem Gesetz gebührenden Gerichtshof zu stehen, so
werden wir schon die meritorische Verteidigung führen. —
Es wird hier in diesem Aufsatze gerügt, daß einzelne Dragoner
und Husaren über das hinausgegangen sind, was ihre Pflicht
ist. Für die Roheit und das exzessive Benehmen führe ich,
nachdem ich davon absehe, selbstverständlich den Wahrheits-
beweis nicht. Ich würde, wenn ich dazu die Gelegenheit hätte,
die Wahrheit erweisen und dabei auch die leider nicht ge-
nannte Sicherheitswache einflechten. Es wird also gesagt und
gerügt: Diese Leute haben eigentlich keinen Grund, neben
dem, daß sie ihre Pflicht tun, wenn sie sie ausführen, auch
noch speziell wütend und roh zu sein, und es wird gesagt :
Wenn die Leute die Erkenntnis hätten, daß sie Proletarier sind,
so würden sie das wohl nicht tun. Endlich, hoher Gerichtshof,
hat die „Gleichheit" und die Partei, welche sie vertritt, von
jeher sich dadurch ausgezeichnet, daß sie nie Personen angriff,
daß sie klar weiß, daß unsere Verhältnisse die Menschen
zwingen, so zu handeln, wie sie handeln, daß sie in jeder ein-
'?;elnen Person nur den Funktionär sieht, der die Funktion be-
kleidet, die ihm das wirtschaftliche System unvermeidlich auf-
gedrängt hat, und wir sehen den Funktionär ebenso in dem
reichen Fabrikanten, der die Arbeiter ausbeutet, als in dem
Beamten und Soldaten. Jeder ist in irgendeiner Weise ent-
weder Lohnsklave oder aber wenigstens ein Sklave der Ver-
hältnisse, in denen er lebt. Darum greifen wir nie den ein-
zelnen an, solange dieser einzelne innerhalb der Grenzen
seiner ihm aufgedrungenen Funktion sich bewegt. Wir greifen
nicht einmal den armseligsten Spitzel an, solange er seine
Pflicht als Spitzel ruhig erfüllt, denn er muß dies, weil er
sonst verhungert. Wenn aber von irgendeiner
Seit e, ob es nun ein Fabrikant. Beamter oder Sol-
dat ist, über das hinausgegangen wird, was die Situation er-
fordert, was seine persönliche Situation fordert, wenn der
62 Adler vor dem Holzinger-Senat
Fabrikant etwas mehr ausbeutet, der Beamte oder Soldat oder
ein anderer derartiger Funktionär, u m Ka r r i e r e zu
machen, einen außertour liehen Eifer ent-
wickelt, wenn es sich ihm vi m eine S t r e 1) e r e i
handelt, über das Maß dessen, was ihm die
Situation aufdrängt, dann allerdings sind wir immer
dagegen aufgetreten, und um die Analogie dieses Vorganges
liat es sich hier gehandelt.
Wir wundern uns nur billig, daß man uns bei dieser Auf-
fassung der Stelle nicht einfach vor das Militärgericht geladen
hat, denn ich glaube, nach der Auffassung des Staatsanwalts
liegt eme Verleitung zum Treubruch nach § 222 St.-G. vor,
und ich glaube, der Staatsanwalt würde seine Stellung vor dem
Militärgerichte noch um einen Grad weniger bedenklich halten
als vor dem Ausnahmegerichtshof. Wenn diese Auffassung
auch vom hohen Gerichtshof gebilligt wird, so gehöre ich vor
das Militärgericht, vor den Ausnahmegerichtshof unter gar
keinen Umständen.
In der inkriminierten Stelle kommt der Passus vor: „Auch
diesen Blinden wird der Star gestochen werden." In der
., Gleichheit" wiederholt sich oft die Redensart: „Augen auf-
gehen, Blinden den Star stechen." Ich speziell habe eine
persönliche Vorliebe dafür, daß die Leute sehen lernen. Aller-
dings scheint das etwas zu sein, was besonders gefährlich ist.
Ich hatte einmal ganz denselben Ausdruck gebraucht, und
zwar nicht vor Soldaten, sondern vor Arbeitern bei einem
Feste. Nach der Meinung des Polizeikommissärs Fraukl hat
das damals bedeutet „eine demonstrative Mißachtung der Re-
gierung". Ich mußte das mit 50 fl. bezahlen. Auf jeden Fall
ist es unangenehm, wenn den Leuten die Augen aufgehen. Nur
weiß man nicht, unter welchen Paragraphen man das jedesmal
zu bringen hat. Wie man aber darin etwas Anarchistisches
finden kann, ist mir unbegreiflich. Ich glaube, es ist nichts
Anarchistisches, wenn man meint, daß Soldaten, wenn sie sich
als Proletarier fühlen, hernaöh nicht mehr roh seien.
Auf die übrigen Stellen will ich nicht eingehen, und
dafür nur sagen, wie wir uns zu der ganzen Tramwaygeschichte
überhaupt gestellt haben. Ich erwarte, daß der Staatsanwalt
a posteriori aus Ereignissen, die sich erst, nachdem die Anklage
geschrieben war, zugetragen haben, Schlüsse ziehen wird.
Adler vor dem Holzinger-Senat öJ
Trannvaystreiks und Exzesse wie in Steyr. das sind Dinge, die
überall mit und ohne „Gleichheit" vorkommen, und ich möchte
konstatieren, daß nach Kladno, wo es am ärgsten zugegangen
ist, merkwürdigerweise zu meinem Bedauern nicht ein einziges
Exemplar der „Gleichheit" hinkommt, weil die Bevölkerung
tschechisöh ist, und nur drei Exemplare von tschechischen
sozialistischen Blättern, was noch mehr zu bedauern ist, hin-
kommen, und Sie sehen, es hat doch dort Unruhen gegeben:
ein Fingerzeig dafür, daß wir recht haben, die wir nicht eine
<o unglaubliche Überschätzung unserer Person und "Wirksam-
keit haben wie der Herr Staatsanwalt, der glaubt : Wir seien in
der Lage, den gewaltsamen Umsturz der Gesellschaft herbei-
zuführen. Ich weiß nicht, wie wir uns verhalten würden, wenn
die Möglichkeit dazu wäre. Ich bin nicht verpflichtet, darüber
Auskunft zu geben, vor allem darum nicht, weil ich es selbst
nicht weiß. Tatsache ist aber, daß ich heute das klare Be-
wußtsein habe, daß ein solches Bestreben eines gewaltsamen
Umsturzes ein Unsinn ist. und aus diesem Grunde habe ich
CS nicht.
Das ist dasjenige, was wiederholt ausgesprochen wurde.
Etwas anderes aber ist es, wenn man uns, die wir den Zu-
sammenhang der Dinge klar einsehen, daraus einen Vorwurf
machte, wenn die Arbeitermassen gereizt sind durch die jahre-
lange Schinderei, gereizt sind dadurch, daß sie in der ganzen
Welt nirgends Hilfe finden, wenn sie gereizt sind dadurch, daß
alle jene Faktoren, die berufen wären, im Interesse der Gesamt-
heit aufzutreten, diese Pflicht verabsäumen oder viel später er-
füllen, wenn es für ihre Bedürfnisse zu spät ist. Wir tun nur
unsere Pflicht, wenn wir den Zusammenhang klar aufdecken,
daß an diesen Unruhen nicht schuld ist die Gesetzwidrigkeit
der Massen, sondern die Ausbeutung, welche wir bekämpfen,
daß diese sie in jene Situation bringt; und vor allem ihre Un-
wissenheit, eine Unwissenheit, welche die Massen nicht
verschuldet haben, und welche wir nicht verschuldet haben,
-ondern welche Sie verschuldet haben. Wir tun
also in dieser Beziehung stets unsere Pflicht, wir haben in
allen Fällen angedeutet, worin die Ursachen der Dinge liegen,
und wir haben ebenso den Kutschern als den Bergarbeitern
unsere Hilfe zur Verfügung gestellt, soweit es nur irgend mög-
lich ist. Ich spreche nochmals mein Bedauern darüber aus, daß
64 Adler vor dem Holzinger-Senat
wir nicht haben mehr leisten können, als wir geleistet haben,
und wenn den hohen Behörden — diese Bemerkung' erlaulie icli
mir denn doch zu machen — es, wie ich begreife, sehr unange-
nehm war, daß die Sozialdemokraten die einzigen waren, die
sich im Tramwaystreik die Sympathien erworben haben, so
hätten sie ein einfaches Mittel gehabt, nämlich von vornherein
die ganze Bewegung in ihre Hände zu nehmen. Die Bedien-
steten der Tramway haben mit abgöttischem Vertrauen zu der
Polizei hinaufgesehen, die sie retten sollte. Wir haben dieses
Vertrauen nicht gestört, denn wir haben gewußt, das werden
schon andere Leute besorgen. Wenn damals die Polizei und die
Kreise, um die es sich handelt, das getan hätten, wofür wir
jetzt konfisziert sind, und jenen Rat befolgt hätten, wofür
wir hier angeklagt sind, wenn die Behörden das getan hätten,
was wir verlangen und was hier ,,anarchistiscli" heißt, wenn
sie gesagt hätten, wir werden im Interesse der öffentlichen
Enhe und Ordnung nicht Polizei und Militär ausrücken und
die Leute einsperren, sondern vor allem den Tramwayverkehr
so lange nicht aufnehmen lassen, bis geprüfte Kutscher da
sind und die Gresellschaft mit den Kutschern in Ordnung ist,
dann wäre es zu den Skandalen nicht gekommen, dann hätten
Sie Ihr Militär nicht gebraucht, und die Statthalterei und da?
Ministerium bätten nicht vollständig umsonst hernach ihre
ganze Arbeiterfreundlichkeit in die leere Luft verhauchc-n
lassen müssen. Aber das ist nicht geschehen. Statt dessen hat
Polizeikommissär Breitenfeld den Kutschern, die sich an
die Behörde gewendet haben, gesagt: „Ich gebe euch mein
Ehrenwort, wer sich rührt, wird nach einer Woche abge-
schoben. Nicht einer bleibt in Wien." Das war v o r dem "Streik.
Sie begreifen, die Rede wurde vor Reitzes oder einem Verwal-
tungsrat nicht gehalten, und da ging erst -den Kutschern, die
harmlose Leute waren, etwas wie eine Ahnung der tatsäch-
lichen Verhältnisse, eine Ahnung darüber auf, welche Stellung
die Behörden in dieser Affäre, wie in allen anderen ähnlichen,
eingenommen haben.
Ich verlasse dieses Kapitel, das ohnehin schon so oft l^e-
sprochen und ausgeführt worden ist.
Die Anklageschrift eagt weiter, die auf den gewalt-
samen Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschafts-
ordnung gerichteten Bestrebungen erhellen auch aus den
Adler vor dem Holzjuger-Senat 65
„notorischen, oftmals zum Gegenstand objektiver Behandlung
gemachten Angriffen des Blattes gegen Polizei und Behörden".
Nun, ich weiß es allerdings nicht genau, aber ich glaube, von
130 Nummern der ..Gleichheit" sind 35 oder 40 konfisziert
worden. Es wurde also fast jede dritte oder vierte Nummer
konfisziert, aber das ist kein Grund, uns zu beschuldigen, denn
wir sind nicht sehuld daran, sondern der Staatsanwalt. Ich
sage es ausdrücklich — es ist dies kein Witz — der Staats-
anwalt ist schuld daran und die Praxis, die hier geübt wird.
Allerdings waren die Angriffe gegen die Polizei und die Bf-
hörden schuld daran, daß die „Gleichheit" meistens konfisziert
wurde. Warum? Weil wir jede Ungesetzlichkeit der Polizei
und anderer Behörden stets auf das energischeste gerügt und
speziell die Wiener Polizei stets angenagelt haben. Wenn wir
hernach konfisziert wurden, so sind nicht wir daran schuld.
Ich könnte Ihnen aus diesen beiden Bänden beweisen, daß wir
nie die Absicht gehabt haben, unter die Staat und Gesellschaft
erhaltenden Parteien gerechnet zu werden. Das ist nicht unsere
Funktion! Aber ich könnte auch beweisen, daß die Polizei und
die Behörden sämtliche Gesetze, bürgerlichen Rechte und ver-
fassungsmäßigen Freiheiten, insofern sie der Arbeiterschaft
zugute kommen, in der unverantwortlichsten Weise miß-
brauchen. Das weiß der Herr Staatsanwalt, und daß wir das
fortwährend angenagelt haben, war die llauptursache der Kon-
fiskationen. Nun frage ich: Ist das anarchistisch? Die Herren
Richter müssen sich denn doch klarmachen: Wie soll denn diese
Gesellschaftsordnung, wenn sie einem gewaltsamen Umsturz,
überhaupt einem Umsturz nicht zugeführt werden soll, wie es
gewiß gewünscht wird, gehalten werden? Das ist doch nur
dadurch möglich, daß diese Gesellschaftsordnung es dem arbei-
tenden Volk möglich macht, zu existieren, und dazu gehören
nicht nur soziale Reformen, die nichts heißen, sondern auch die
Anerkennung gleicher Rechte für alle nicht nur mit dem
Munde, sondern in Taten, Fall für Fall, und heute hat die
österreichische Arbeiterschaft das Bewußtsein, daß Fall für
Fall das Gegenteil eintritt.
Schließlich erhellen nach der Anklage die anarchi-
stischen, auf den gewaltsamen Umsturz der Staats- und Gesoll-
sdiaftsordnung gerichteten Bestrebungen der „Gleichheit" aus
der „agitatorischen Haltung, welche das genannte
66 Adler vor dem Holzinger-Senat
Blatt in der sozialdemokratischen Bewegung seit Jähren ein-
zunehmen bestrebt ist". Die geehrte Anklage hat offenbar am
Schlüsse vergessen, was sie anfangs sagte, und kommt auf ein-
mal mit der sozialdemokratischen Bewegung. Oder ist das etwa
so zu erklären, daß wir inneriialb der sozialdemokratischen
Bewegung eine Eichtung vertreten, die nicht sozialdemokra-
tisch ist; ist das so zu verstehen, daß wir unsere eigene Partei
verraten, nicht im Rahmen unserer eigenen Partei stehen'^
Dann müßten wir, wenn unsere Parteigenossen dem Glauben
schenken würden, was die heutige Anklage sagt, aus unserer
Partei ausgeschlossen werden, denn in der sozialdemokratischen
Partei haben anarchistische Bestrebungen nicht Platz. Die
agitatorische Haltung in der sozialdemokratischen Bewegung!
Es ist w^ahr, wir 'haben in der Sozialdemokratie „agitatorisch"
gewirkt, denn wir wollen nic'ht nur unsere Überzeugungen
haben, sondern als Sozialdemokraten auch für sie einstehen.
Wir haben auf diese Weise den Hainfelder Kongreß zu-
stande gebracht und dort eine ganz erhebliche „agitatorische
Tätigkeit" entwickelt, aber, hoher Gerichtshof, es ist denn
doch nicht möglich, wenn Sozialdemokratie und Anarchismus
sich nicht decken, daß in dem Moment auch der Sozialdemokrat
anfängt ein Anarchist zu sein, wenn er „agitatorisch" ist; mit
anderen Worten, es würde das nichts anderes heißen als: Gegen
die Sozialdemokraten haben wir nichts. Sobald sie sich aber
rühren, erklären wir sie als Anarchisten und stellen sie vor
einen Ausnahmegerichtshof. Das ist der Sinn dieses Satzes.
Auf dem Parteitag zu Hainfeld wurde — und ich bedaure bei
dieser Gelegenheit, daß der Bezirkshauptmann von Lilienfeld,
der unseren Verhandlungen mit bemerkenswerter Aufmerk-
samkeit und Ausdauer gefolgt, nicht vorgeladen wurde, wie
es die Verteidigung gewünscht hat — ausdrücklich mit den
letzten Resten des Anarchismus — nicht anarchistisch in Ihrem
Sinne, aber anarchistisch in theoretischem Sinne, ein Sinn, der
— der hohe Gerichtshof wird mir verzeihen — denselben
absolut nicht interessiert — sich auseinandergesetzt. Auf
diesem Parteitag wurde mit übergroßer Majorität jener Satz
beschlossen, der heute die Grundlage unserer Partei bildet:
Die Sozialdemokratie ist eine politisclie
Partei, und der hohe Staatsanwalt weiß sehr genau, daß die
Tätigkeit der „Gleichheit" hauptsächlich darauf gerichtet ist.
Adler vor dem Holzinger-Senat 6<
diesen Begriff der Sozialdemokratie reinlich herauszuschälen^
und daß das gleichzeitig ein Prinzip ist, das dem des Anarchis-
mus am meisten theoretisch entgegengesetzt ist. Das ist unsere
agitatorische Tätig-keit in der Partei. Daß wir Vereine nach
Hunderten gegründet und sie als Personen — nicht die
„Gleichheit" — gefördert und unterstützt haben, ist selbstver-
ständlich. Anarchistisch ist das vielleicht nicht. Daß wir Ver-
sammlungen abgehalten haben und überall dabei waren, wo
wir geglaubt haben, für die Aufklärung des Volkes etwas tun
zu können, war unsere Pflicht. Wenn aber die Staatsanwalt-
schaft die Sache so darstellen würde, als ob der Anarchismus
ein höherer Grad, eine höhere Konzentrierung der Sozialdemo-
kratie wäre, daß eine komprimierte Sozialdemokratie zuletzt
xVnarchismus wird, daß etwa die Quantität in die Qualität um-
schlägt, so müßte ich gegen eine derartige Auffassung wohl
meine wissenschaftliche Verwahrung einlegen. Und die An-
klage, die genau weiß, was die „Gleichheit" ist, was Anarchis-
mus, was Sozialdemokratie ist, bringt solche Motive. Nun, ich
erwarte, daß von der geehrten Anklage oder von irgendeiner
anderen Seite — da ich möglicherweise nicht mehr ausführlich
zum Worte komme, möchte ich auch darüber sprechen — daß
über den Ton, der in der „Gleichheit" herrscht, gesprochen
werden und der Vorwurf gemacht werden wird, daß, wxnn
schon ihr Inhalt nicht anarchistisch ist, doch ihr Ton sehr
anarchistisch ist. Ich will abwarten, was für Stilproben man
uns diesbezüglich vorlegen wird. Ich bin mir bewußt, daß icli.
soweit ich die Feder geführt habe, gesucht habe, den Groll, die
Unzufriedenheit, die Erbitterung, die herrscht und herrseben
muß, möglichst getreu zum Ausdruck zu bringen, denn ich war
ein Organ dieses Grolles, das war meine Pflicht. Ich war ver-
pflichtet, nicht nur weil ich ein Organ dieses Grolles war, son-
dern weil ich, indem ich dem Groll auf diese Weise Ausdruck
geliehen habe, ein Werk gestört habe, das der Staatsanwalt mit
seinem Rotstift so eifrig gefördert hat, nämlich, daß dieser
Groll, wenn er nicht einen vernünftigen Ausdruck findet, einen
unvernünftigen Ausdruck sucht. Wir waren also doppelt ge-
zwungen, so scharf, so präzis die ]\Iassen zu Worte kommen zu
lassen, als es nur irgendeine Staatsanwaltschaft jemals ge-
statten würde. Daß wir uns über den Staatsanwalt mitunter
geirrt haben, ist wahr. Wir sind über die Grenzen hinaus-
6S Adler vor liera Holzinger-Senat
ge,trang"en, der Staatsanwalt hat ums stets wieder herein-
gebracht. Wir haben auch gar nicht das Gefühl dabei gehabt,
etwas Unrechtes zu tun. wir haben das Bewußtsein, daß wir die
Wahrheit vertreten, und schon Goethe sagt — diesen Aus-
>;pruch 'hätte ich der „Gleichheit" als Motto vorangeschrieben,
wenn er mir seinerzeit eingefallen wäre: ,,Wer «das Falsche
verteidigen will, hat alle ü^gache, leise aufzutreten und sicli
zu feiner Lebensart zu bekennen. Wer das Recht auf seiner
Seite hat, muß derb auftreten. Ein höfliches Recht will ^ar
nichts heißen." Und darum war die „Gleichheit'' allerdinüs
stets unhöflich und legte W^ert darauf, es zu sein.
Ich bin fertig. Was icih gesagt habe, ist einfach darauf
gerichtet, daß wir nicht vor dem Gerichtshof stehen, vor den
wir zu stellen sind, und daß wir daher meritorisch auf die
Sache absolut nidlit eingehen; und der geehrten Anklage
möchte ich sagen, sie m ö g e doch den M u t haben, uns
vor jenen Gerichtshof zu stellen, vor den wir gehören. Wir
haben nic'ht die Absicht, uns pseudonym als Anarchisten ver-
urteilen zu lassen, das wollen wir nicht. Wenn die öffentliche
Anklage meint, daß das, was sie beantragt, berechtigt i«t, so
bin ich überzeugt, daß die Geschwornen uns genau so ver-
urteilen. Nicht um unser Los zu erleichtern, wünschen wir vor
die Geschwornen gestellt zu werden; wir sind überzeugt, daß
derjenige Effekt, der hier vor dem Ausnahmegerichtshof dur^li
eine langjährige Tradition dieses Gerichts-
hofes bewirkt wird, vor Geschwornen bei einer einigermaßen
geschickten Behandlung von selten des Staatsanwaltes durch
die Hervorrufung des Bewußtseins ihres Klasseninteresöi^s
vollständig ebenso bewerkstelligt werden kann. Also nicht um
das Strafausmaß handelt es sich, aber wir haben die Verpflich-
tung, zu protestieren gegen den Rechtsbruch,
der darin liegt, daß wir nicht vor jenes Gericht gestellt werden,
vor das wir gehören, und die Anklage und der Gerichtsliof
weiß, daß wir dahin gehören.
Präsident: Sie haben die Hauptfrage zu beantwuiten untoi-
la^sen, ob Sie die inkriminierten Artikel selbst verfaßt haben.
Angeklagter Dr. Adler: Ich habe bereits in der Vor-
untersuchung angegeben, daß ich sie verfaßt und zum Druck
befördert habe.
Adler vor ilem Holzinger-Senat ßy
Präsident (nach Abnahme der GeneialienV Herr B r e t-
Schneider, bekennen Sie sich schuldig?
Angeklagter Bretsch neide r: Xein !
Präsident: Was haben Sie auf die Anklage zu erwidern?
Angeklagter Bretschneider; Ich werde nur einiges erwähnen.
Viel werde ich nicht sprechen, denn Parteigenosse Dr. Adler hat bereits
ausführlich die Sache erörtert. Ich bedaure, daß ich die inkriminierten
Stellen vor der Drucklegung nicht gelesen habe. Es war mir, wie ich be-
reits in der Untersuchung sagte, nicht möglich, die inkriminierten Stellen
vor der Drucklegung zu lesen, weil sie, der Situation entsprechend, zur
Nachtzeit geschrieben wurden. Jedoch unterschreibe ich von
A bis Z die inkriminierten Stellen deshalb, weil ich darin eine Über-
tretung des Gesetzes bisher nicht finden konnte uml heute noch diese
Überzeugung habe.
Präsident: Sie bleiben bei Ihrer Aussage in der Voruntersuchung,
daß die Artikel zum Drucke befördert wurden, ohne daß Sie sie gelesen
haben ?
Angeklagter Bretschneider: Bichlig I
Staatsanwalt Soos: Ist das an diesem Tage nur zufällig unter-
blieben, denn sonst pflegt das bei verantwortlichen Redakteuren nicht
immer vorzukommen?
Angeklagter Bretschneider: Ich habe bereits erwähnt, daß d;e
Artikel anläßlich des Tramwaystreiks von Dr. Adler geschrieben und in
die Druckerei befördert wurden. Ich hätte zum Durchlesen nicht die
physische Zeit gehabt. Außerdem hätte ich noch zu bemerken: Wir stehen
auf dem sozialdemokratischen Standpimkt und werden immer auf dem
Standpunkt stehen, daß es gewisse Tatsachen gibt, die u n t e r a 1 1 e n Um-
ständen ausgesprochen und geschrieben werden
müssen. Wenn wir dabei mit der löblichen Staatsanwaltschaft in Kolli -
:sion geraten, so ist das nicht unsere Schuld. Wenn wir auch konfisziert
worden, haben wir trotzdem die Wahrheit gesprochen und recht gehabt.
Aber wenn ich die heutige Anklage zur Hand nehme, befremdet sie mich
auf das höchlichste. Wenn irgendein ganz bescheidener Bezirksrichter in
dem Winkel eines versteckten Städtchen Österreichs, der niemals Gelegen-
heit hat und sie auch nicht sucht und findet, sich mit zwei epoche-
machenden Fragen, wie Sozialismus und Anarchismus, beschäftigen zu
können, in die Lage kommt, auf einmal über diese zwei Fragen ein Urteil
abzugeben, so will ich gerne zugeben, daß dieser gute Bezirksrichter die
Anklage sich zurechtlegen wird, wie es ihm bequem ist, und dabei nicht
beweist, daß er ein Verständnis für beide Fragen hat. Etwas anderes ist
es hier. Wir haben, ich gestehe es offen, in dem Staatsanwalt einen geist-
vollen Mann vor uns, und es ist undenkbar, daß er in diesen beiden Fragen
eine Unklarheit haben sollte, wie er sie in der Anklage zum Ausdruck
bringt. Er bewegt sich mitten im geistigen Zentrum, mitten in der Großstadt,
wo der Staatsanwalt sozusagen in die Lage versetzt wird, daß er mit allen
politischen Parteien verkehrt und ihre Tätigkeit Revue passieren lassen
kann, und der Gerichtshof wie der Staatsanwalt haben längere Zeit meine
70 Adlei- vor dem Holzinger-Senat
und Dr. Adlers Tätigkeit verfolgen können, und sie können daraus auf
nie Unmöglichkeit dessen schließen, was die Anklage behauptet. Dieser
Widerspruch ist in mir aufgestiegen und ich kann ihn heute nicht unter-
drücken. Erwarten Sie nicht von mir, hoher Gerichtshof und Herr Staats-
anwalt, daß ich meritorisch auf die Anklage eingehe. Ich habe das Gefühl
und die vollste Überzeugung, daß ich nicht vor dem rechten Richter stehe.
Ich habe das volle Recht zu verlangen, daß ich infolge der inkriminierten
Stellen, infolge des Preßvergehens vor die Geschwornen komme, und weil
ich vor die Geschwornen gehöre, werde ich mich nur vor den Geschwornen
verantworten und verteidigen, aber vor diesem Gerichtshof nicht.
Ich erwarte daher von der Verteidigung, daß sie bezüglich der Kompetenz-
tiage einen Antrag stellen werde.
Präsident: Es ist vorzulesen, und ich werde mich diesfalls mit der
Konstatierung begnügen, der Bericht der Polizeidirektion über die Beschlag-
nahme, aus dem hervorgeht, daß zirka IGOO Exemplare von dieser Nummei-
gedruckt wurden, von denen nur ein geringer Teil saisiert worden ist, so daß
ein Teil der Auflage verbreitet worden ist. Das objektive Erkenntnis vom
27. April 1889, aus dem hervorgeht, daß das Landesgericht in Wien erkannt
hat, es begründe der Inhalt der Nummer 17 der „Gleichheit" des Aufsatzes
auf der 1. und 2. Seite das Vergehen nach § 305, auf der 2. Seite nach § 300
und der letzte Aufsatz das Vergehen nach §§ 302 und 305 St.-G.; dann
ist beantragt die Veilesung der Nummer 18 der „Gleichheit".
Staatsanwalt: Ich habe im Laufe des gestrigen und vorgestrigen
Tages einige wenige Nummern der „Gleichheit" herausgesucht und ich stelle
an den hohen Gerichtshof die Bitte — ich glaube, es wird seitens des Ver-
teidigers dagegen keine Einwendung erhoben werden — daß die von mir
rot bezeichneten Stellen zur Kenntnis des Gerichtshofes gebracht werden.
Es sind das Stellen, die nach meiner Meinung für meinen Schlußappell an
den hohen Gerichtshof Anhaltspunkte bieten könnten, daß das, was
Dr. Adler bezüglich der Haltung der „Gleichheit" gesagt, nicht immer ganz
richtig ist, sondern daß Stellen vorkommen, die über den Rahmen des Pro-
gramms, auch des Hainfelder Programms hinausgehen, daß Stellen vor-
kommen, die gewiß die Deutung zulassen, daß selbst die „Gleichheit" die
gewaltsame Lösung der sozialen Frage in den Bereich ihrer Erwägung ge-
zogen hat, ja daß sogar Stellen vorkommen, welche einer Drohung mit Ge-
walt so gleichsehen, wie ein Ei dem andern. Es sind das die Stellen aus
Nr. 2 vom 12. Jänner 1889, Seite 5, dann aus der Nummer vom 7. Juni 1889
Nr. 28, dann eine Stelle aus Nr. 46 vom 17. November 1888, Seite 1. Ich
hätte noch mehr solche drohende Stellen herausfinden können, ich habe
mich aber mit diesen wenigen begnügt, und endlich muß ich zur Kenntnis
des hohen Gerichtshofes bringen, weil ich genötigt bin, in meinem Schluß-
appell daran Folgerungen zu knüpfen, Nr. 24 der „Gleichheit" vom 24. Juni
1889, Seite 6, und zwar die Stelle über „Steyr", wo von der Teufelmayer-
schen Fabrik die Rede ist.
Verteidiger: Ich erlaube mir die Erklärung abzugeben, daß ich
gegen die Anträge des geehrten Herrn Staatsanwaltes absolut nichts ein-
zuwenden habe, daß ich mir aber vorbehalte, gegen deren Begründung später
Adler vor dem Holzinger-Senat 71
Stellung zu nehmen. Ich erlaube mii nur die Frage: Sind das durchweg
konfiszierte Nummern? Es wäre mir interessant, das in jedem einzelnen
Falle feststellen zu lassen.
Staatsanwalt: Ich glaube, nur die Nummer 23 vom 7. Juni
ist konfisziert.
Dr. Adler: Xr. 46 vom Jahre 1888 ist auch mit
Besehlag belegt.
(Präsident verliest hierauf die zitierten Stellen.)
Verteidiger: Ich würde Gewicht darauf legen, nach dem Gesetz
bin ich auch berechtigt, dies zu begehren, daß auch noch einige andere
Stellen verlesen werden, um zu zeigen, woraus die hohe Staatsanwaltschaft
auf den Anarchismus schließt, und zwar bitte ich die Notiz, betitelt „Eine
juristische Frage", und aus Nr. 18 auf Seite 3 das Ende des Artikels über
den Tramwaystreik, beginnend mit den Worten: ..wir wollen, daß die nun-
mehr erwachte Energie der Regierung usw." zu verlesen.
Präsident (verliest hierauf diese Stellen sowie die Leumundsnoten
und Auskunftstabellen über die beiden Angeklagten).
Verteidiger: Den Intentionen meiner Klienten Rechnung tragend,
im Interesse der Vereinfachung der Verhandlung und im Interesse meines
eigenen Rechtsstandpunktes möchte ich den geehrten Vorsitzenden, even-
tuell den hohen Gerichtshof bitten, nachdem bisher ausschließlich die Kom-
petenzfrage erörtert worden ist und das Meritum nur insoweit, als es zur
Beurteilung und Begründung der Kompetenzfrage notwendig war, zu ver-
fügen, daß vorerst über die Kompetenzfrage verhandelt und die Parteien-
vorträge angehört werden, bevor in eine Erörterung der Schuldfrage ein-
gegangen wird.
Was die Vorführung des Beweismaterials anbetrifft, so steht dies
in der Macht des Vorsitzenden, eventuell des hohen Gerichtshofes, und was
die Parteienvorträge betrifft, sind sie durch die Strafprozeßordnung keine.s-
wegs veiboten, jin Gegenteil sie sind auf Grund analoger Bestimmungv;'!
als zulässig anzusehen. Auf die Kompetenzfrage bezieht sich auch eine
Reihe von anderen Anträgen betreffend die Vorlesungen und Einver-
nelmiung ^'on Zeugen, die ich mir zu stellen erlauben werde. Was die Vor-
lesimgen betrifft, setze ich voraus, daß die Verteidigung, nachdem ja .ius der
notorischen Kailuna der „Gleichheit" Schlüsse gezogen werden, auch nach
Ansicht des hohen Gerichtshofes sich wird freier l.iewegen dürfen.
Es ist nicht gerade nötig, alle Nummern der ^-Gleichheit" zu verlesen,
aber ich beantrage jedenfalls die A^'erlesung der den Akten bo'.Iicgemlen
Haip.feider Bcs;'h!üs&e. nachdem die Tätigkeit der Angeklagten in der ejid-
lichen Herbeiführung dieser Beschlüsse gipfelt. Mein Antrag ist um so be-
gründeter, als auch in den Leumundsnoten über die beiden Angeklagten v^.er
Tätigkeit derselben auf dem Hainfelder Parteitag gedacht wird. Das bringt
mich v.eiters dazu, die Vernehmung von Zeugen neuerlich zu beantragen,
deren Vorladung ich bereits in der Voruntersuchung beantragt habe,
weichem Wunsqhe jedoch von der Ratskammer nicht stattgegeben wurde.
Ich beantrage vor allem die Vorladung des Polizeipräsidenten
Baron K r a u ß und des Bezirkshauptmannes Grafen Auersperg. Nach-
72 Adler vor tlem Holziuger-8eaat
dem die Anklage behauptet, daß die Angeklagten eine Tätigkeit im anarchi-
stischen Sinne entfaltet haben, wobei man sich auf die Leumundsnoten
beruft, so glaube ich berechtigt zu sein zu verlangen, daß derjenige, der als
Vorstand der Wiener Polizeibehörde diese Noten zeichnet, als Zeuge, nicht
über seine Meinung, sondern über die Tatsache zitiert werde, daß die An-
geklagten stets nur eine Tätigkeit in allem und jedem im sozialdemo-
kratischen, nie aber im anarchistischen Sinne entfaltet haben, und daß
dies dem betreffenden Zeugen aus seiner amtlichen Tätigkeit bekannt ge-
worden ist. Nachdem es sich hier nicht um einen inneren amtlichen Vor-
gang handelt, sondern um etwas, was durch die Leumundsnoten und die
Berufung der Anklage auf die Haltung der ,. Gleichheit" in die Außenwelt ge-
bracht wurde, so kann hier selbstverständlich von einem Amtsgeheimnis
keine Rede sein, abgesehen davon, daß es einem jeden höheren Beamten vor
illem. selbst überlassen sein muß, ob er es angezeigt findet, im anderen
Falle sich von der Verpflichtung zur Wahrung des Amtsgeheimnisses ent-
binden zu lassen. Dieselben Argumente sprechen für die Vorladung des
Grafen Auersperg, der bei den Hainfelder Verhandlungen als Gast zwei
Tage hindurch anwesend war, so daß er am besten in der Lage ist, fest-
zustellen, daß die Tätigkeit speziell der beiden Angeklagten auf diesem
Parteitag eine eminent sozialdemokratische und nicht anarchistische ge-
wesen ist. Ich knüpfe daran den Antrag, um nicht allein Beamte, sondern
auch solche Zeugen kennenzulernen und vorzuführen, welche selbst in
der Arbeiterbewegung tätig sind, es mögen als Zeugen vorgeladen werden:
Karl Kautsky, Heinrich Gehrke und Julius Popp.
Herr Kauisky — ich will an seine Tätigkeit keine weiteren Elogen
knüpfen — ist ein bekannter ökonomischer Schriftsteller, der eine vor
allen berufene Person ist, um ein Urteil darüber abzugeben, ob die Tätig-
keit der Angeklagten, die er genau kennt, unter den Begriff der sozialdemo-
kratischen oder anarchistischen Agitation zu fassen ist. Die Herren Gehrke
und Popp sind seit vielen Jahren, seitdem es überhaupt eine Arbeiter-
bewegung m Österreich gibt, in der Arbeiterbewegung praktisch tätig, sie
kennen gleichfalls die Tätigkeit der Angeklagten und sind in der Lage,
darüber Au.skunft zu geben, ob die Tätigkeit der Angeklagten wirklich eine
solche ist, wie sie die Anklage schildert; ich habe noch einen weiteren
Antrag zu stellen, der mir einigermaßen unangenehm ist, insofern als,
v.-enn man demselben stattgeben würde, ich der Anwesenheit meines sehr
geschätzten Gegners in dieser Verhandlung entbehren müßte, was mich um
so mehr schmerzen müßte, als die Anwesenheit des Chefs der Staatsanwalt-
schaft dazu dient, um die Verhandlung auf ein höheres Niveau zu heben.
Ich muß die Vorladung des k. k. Oberlandesgerichts rates
•and Staatsanwaltes Soos als Zeuge zur Verhandlung beantragen,
und zv.^ar aus folgendem Motiv:
Herr Dr. Adler hat behauptet und ist diesbezüglich von dem Herrn
Vorsitzenden zurechtgewiesen worden, daß der Staatsanw'alt Soos die
heutige Anklage wider besseres Wissen vorgebracht habe. Eine
solche Behauptung ohne eine gründliche Erörterung, ohne eine mögliche
Widerlegung könnte den Anlaß zu einem Mißton, zu einem Mißverständnis
Adlei- vor dem Holzinger-Senat T8
geben. Das ist ein Anlaß i n der Verhandlung. Außer der Verhandlung
besteht noch ein weiterer Anlaß. Tn der parlamentarischen Debatte, die im
Dezember 18S8 im Abgeordnelennause über die Verlängerung des Aus-
nahmegesetzes respektive die Regierungsvorlage über die Verordnung des
Gesamtministeriums, die heute als gesetzliche Basis dient, slaltgelunden
hat, hat sich der Regierungsvertreter Ministerialrat Dr. Krall ausdrücklich
auf die Berichte der Wiener Staatsanwaltschaft bezogen und gesagt: daß
es diese Behörde war, welche einen offenen Blick für solche Verhält-
nisse hat und konstatieren konnte, daß die rückläufige Bewegung unter
den Anarchisten in erster Linie auf den Abscheu und das Entsetzen der
Arbeiterschaft vor solchen Taten zurückzuführen ist. Durch diese parla-
mentarische Bemerkung sind jedenfalls auch diese Berichte, die sonst im
Interesse des Amtsgeheimnisses verschlossen zu sein pflegen, in die Öffent-
lichkeit gebracht worden. Dazu kommt, daß ich von so glaubwürdiger
Seite, daß mir ein Zweifel darüber nicht übrigbleibt, in Kenntnis des Um-
standes bin, daß die geehrte Wiener Staatsanwaltschaft in
ihren Berichten selbst wiederholt erklärt liat, daß die Haltimg
der „Gleichheit" keine anarchistische sei und daß daher dieses Blatt kein
anarchistisches sei. Es mag mir vielleicht eingewendet werden, daß auch
in dieser Hinsicht die Wahrung des Amtsgeheimnisses obliegt. Aber icli
»laube, daß in dem Augenblick, wo überhaupt ein Zweifel darüber angeregt
V. ird, ob die offene Hallung einer Behörde mit der Haltung ihrer Berichte
an vorgesetzte Behörden in Übereinstimmung zu bringen ist, ein eminent
öffentliches Interesse es verlangt, daß dieser Umstand vor dem Gerichtshof
und der Öffentlichkeit klargestellt werde. Ich bin überzeugt, daß in diesem
Falle der hohe Chef des Staatsanwaltes, Seine Exzellenz Dr. Graf S c h ö n-
b o r n, viel zu loyal sein wird, um den geehrten Staatsanwalt nicht von
der Verpflichtung zur Wahrung des Amtsgeheimnisses zu entbinden. Sollte
iler Gerichtshof diesbezüglich Skrupel haben, so bleibt mir nichts anderes
iibri&, als zu verlangen, daß der Chef der Behörde, Seine E.xzellenz Dr. Graf
Schönborn, als Zeuge darüber vernommen werde, daß die Wiener
Staatsanwaltschaft über die Haltung der „Gleichheit" wiederholt in dem
Sinne berichtet hat, daß die „Gleichheit" kein anarchistisches Blatt ist,
und daß ihre Bestrebungen nicht anarchistisch sind.
Präsident: Was den ersten Antrag anbelangt, Trennung der Vor-
träge bezüglich Kompetenz- und Schuldfrage, so glaube ich, daß darüber
ein Gerichtsbeschluß nicht einzuholen ist, sondern, daß ich darüber selbst
zu entscheiden habe, und ich erkläre, daß ich eine solche Trennung nicht
vornehmen werde, weil nach der Strafprozeßordnung nur eine Trennung
der Vorträge über Schuld und Strafe, nicht aber über andere Fragen zu-
lässig ist. Was das Hainfelder Programm anbelangt, werde ich es zur Ver-
lesung bringen. Was die Zeugenvorladungen "anbelangt, werde ich einen
(ierichtsbeschluß einholen und ich bitte daher den Staatsanwalt, sich dar-
über zu äußern.
Staatsanwalt S o o s : Ich bin durch die geehrte Verteidigung
in eine gewisse Zwangslage versetzt worden, jetzt eine Äußerung abzu-
geben, weil meine Person unter den Zeugen figuriert. Ich glaube aber doch,
Adler vor dem Hoizing;er-Senat
daß ich diesen Antrag zu beantworten berechtigt bin, weil ich hier nicht als
Privatperson, als Zeuge, sondern als Vertreter der Anklage stehe, und ich
kann diesbezüglich die Bemerkung machen: Meine eigene Vernehmung ist
aus dem Gmnde unzulässig, weil das, worüber ich vernommen werden soll,
Gegenstand des internen Amtsverkehrs ist, dem Ausdruck zu geben ich
niemals in der Lage bin, weil es mir nach dem Gesetz nicht gestattet ist.
Ich werde über das, was in einem Amtsbericht gesagt wird, in einer
öffentlichen Verhandlung nicht sprechen, ich kann dem keinen Ausdruck
geben, hoher Gerichtshof, wie meine Äußerungen über die „Gleichheit" in
meinem Amtsbericht ausgefallen sind, und daher ist die Sache gegenstands-
los. Ich glaube aber auch, daß Seine Exzellenz der Herr Justizminister sich
kaum veranlaßt sehen würde, über Auskünfte, welche die Staatsanwalt-
schaft gegeben hat, hier als Zeuge zu sprechen, aus demselben Grunde, aus
dem ich schweigen muß, und ich halte daher auch die Vorladung dieses
Zeugen für überflüssig. Ich könnte diese Bemerkung gleich ausdehnen auf
die anderen Zeugen, deren Vorladung beantragt wurde, nämlich den
Polizeipräsidenten Baron Krauß und den Bezirkshauptmann von Lilien-
ield, Grafen A u e r s p e r g, nachdem auch diese Zeugen unter dem Banne
ihrer Amtstätigkeit gestanden sind, wobei ich die Berufung der Verteidigung
auf die Polizeinoten für keine besonders glückliche Wendung halte, nach-
dem der Polizeipräsident derjenige gewesen ist, der die „Gleichheit" in
letzter Zeit eingestellt hat, weil ihm die Haltung des Blattes in letzter
Zeit so gefahrdrohend erschienen ist, daß er von dem Ausnahmegesetz ge-
rade gegen dieses Blatt Gebrauch gemacht hat. Was die übrigen Zeugen
anbelangt, die der Verteidiger wünscht, so sind das keine Zeugen, sondern
es wären dies Sachverständige; und ob jemand Sozialdemokrat oder
Anarchist sei, oder, wenn ich richtiger sagen soll, ob anarchistische Be-
strebungen irgendeiner Richtung zugrunde liegen, kann nie Gegenstand
eines Zeugenbeweises sein.
Einen solchen Sachverständigenbeweis kennt unsere Strafprozeß-
ordnung nicht, Sachverständige können über einen Leichenfund gehört
werden, über Stimmungen und subjektive Gefühlsmomente gibt es aber
keinen Sachversländigenbeweis. Ich stelle daher, nachdem die anderen .Vn-
gelegenheitcn seitens des Herrn Vorsitzenden bereits erledigt wurden, dio
Bitte auf Abweisung der gestellten Anträge.
Angeklagter Dr. Adler:
Ich möchte gleich bezüglich des Polizeipräsidenten eine
Bemerkung machen. Der Herr Staatsanwalt findet, daß wir mit
dem Polizeipräsidenten keine glückliche Wahl eines Ent-
lastungszeugen getroffen haben. Möge uns das der geehrte Herr
Ankläger ruhig überlassen. Wir wissen genau, was wir den
Polizeipräsidenten fragen werden. Er hat die „Gleichheit"
nicht unterdrückt — er hat es auch mit keinem Worte gesagt
— weil anarchistische, auf den gewaltsamen Umsturz gerichtete
Bestrebungen in der „Gleichheit" zutage getreten sind, sondern
Adler vor dem Holziuger-Senat 75
er hat sie unterdrückt im „Interesse der öffentlichen Sicher-
heit und Ordnung", das heißt, weil sie ihm unbequem ist. Man
hat eben nicht gewußt, soll man uns erst einsperren und dann
das Blatt umbringen, oder soll man erst das Blatt umbringen,
lim uns dann besser einsperren zu können. Die Vorgänge der
letzten Zeit haben es gemacht, daß ein Wechsel in dem Plane'
erfolgt ist, und die Denunziationen der Blätter gegen uns
haben dazu beigetragen. Was den Sachverständigenbeweis an-
langt, von dem der Herr Staatsanwalt spricht, so konstatiere
ich hier nur, daß er ausdrücklich gesagt hat, es handelt sich
um Stimmungen, subjektive Erwägungen und derlei. Diese
Stimmungen und subjektiven Erwägungen — ich bitte, das im
Auge zu behalten — sind es, die den einen vor den ordentlicnen
Richter, den anderen vor den Ausnahmerichter bringen. Das
i.st die eherne Praxis, auf welcher sich die Motivierung der An-
klage erhebt. Ich bin überzeugt, daß der Polizeipräsident, wenn
er hier die Wahrheit sagte, ruhig sagen würde: Die „Gleich-
heit" ist kein anarchistisches Blatt. Und daß sie auf Grund der
Ausnahmeverfügung, nicht des Ausnahmegesetzes — der
Staatsanwalt weiß, daß ein Unterschied ist — eingestellt wurde,
beweist nichts. Auf Grund der Ausnahmeverfügung könnte
morgen irgendein sonstiges unbequemes Blatt eingestellt
werden, und wenn es sich die „Neue Freie Presse" einfallen
ließe, unbequem zu werden, so könnte sie aus Rücksichten für
die „öffentliche Sicherheit und Ordnung" eingestellt werden,
lind niemand wird behaupten, daß dieses Blatt anarchistisch ist.
1 )as stimmt absolut nicht. W^enn wir anarchistische Be-
-trebungen hätten, so würden wir von unserer eigenen Partei
ausgeschlossen werden. Darum wollen wir Männer von unserer
eigenen Partei als Zeugen darüber, daß wir nichts getan haben.
was dem Parteiprogramm widerspricht. Wenn das der Staats-
anwalt für seine Sache nicht geeignet findet, so begreife ich das.
Der Gerichtshof zieht sich hierauf zur Beschlußfassung zurück.;
Präsident (nach "Wiederaufnahme der Sitziung): Der Gerichtshof
hat beschlossen, den Aiilras der Verteidigung auif Vorladung der genannten
Zeugen zurückzuweisen, weil es sich dabei nicht uan die Bestätigung
von Tatsachen, sondern um die Abgabe von Meinungen und Gutachten handeln
würde, worüber Zeugen nicht zu vernehmen sind, ferner weil auch ühev
die frühere Haltung der ..Gleichheit" eine Beweisaufnahme nicht notwendig
ist un'ct der Gerichtshof sich darüber seine Meinung selbst bilden wird, ol'
den inkriminierten Artikeln anarchistische, auf den Umsturz gerichtete
76 Adler vor dem Holzinger-Seiiat
Bestrebungen zugrunde liegen. (Der Präsident verliest hierauf die Beichlü-se
des Hainfelder Parteitag«?.)
Dr. Adler:
Ich möchte mir erlauben, einige Bemerknng-en über die
von dem Staatsanwalt beantra.i^ten Verlesungen zu machen, da
ja diese offenbar als Beweismittel herangezogen wurden. Ich
habe gleich anfangs bemerkt, daß ich es im Interesse der An-
geklagten halten würde, wenn nicht nur einzelne Xummevn,
sondern die ganze .,Gleichheit" zur Kenntnis des hohen
Gerichtshofes gebracht würde, und ich l)in selbstverständlich
dafür dankbar, wenn auch nur etwas verlesen wird. Die Stellen,
um die es sich handelt und die uns zum Vorwurfe gemacht
werden, welche, wie der Staatsanwalt ausgeführt hat, beweisen
sollen, daß wdr uns nicht innerhalb des Programms gehalten
haben, daß wir nicht auf sozialdemokratischem, sondern auf
anarchistischem Standpunkt in einzelnen Fällen gestanden
sind, haben alle etwas Gemeinsames. Alle diese Stelleu, sagt
der Staatsanwalt, sprechen eine D r o h u n g aus. Das ist alicr
keine Drohung, sondern eine Prophezeiung. Das ist ein großer
Unterschied. Wenn die „Gleichheit" vom „B 1 i t z e" spricJit,
so hält sich die sozialdemokratische Partei nicht für den I>litz
selbst. Aber sie weiß, daß der Blitz kommen wird, und sie sagt
von diesem Blitze, durch den die heutige Gesellschaftsordnung
zusammenbrechen wird, um einer neuen Gesell^^chaftsordnuiig
Platz zu machen, daß sie ihn nicht nur voraussieht, sondcM-n
auch wünscht, und daß sie ihn wünscht, i>^t begreiflich, denn
sie spricht im Namen jenei-, die unter den heutigen Gesell-
schaftszuständen leiden. Es wird al)er hiei- nicht gesagt, daß die
„Gleichheit" bestrebt ist, mittels Gewalt diesen Zustand ni:t-
hcrbeizuführen, und darauf kommt es an. Gerade der Umstand,
daß immer im Zusammenhang die Rede war von einem Blitze,
der mit den meteorologischen Verhältnissen, wir wiir(h,'u sagen
geschichtlichen Verhältnir>sen, zusamnumhängt, zeigt, daß wir
es für unmöglich halten, daß eine so kleine Partei wie die
sozialdemokratische heute in der Lage wäre, einen gewaltsamen
Umsturz herbeizuführen. Das ist vollständig im Rahmen
unseres Programms, und ich möchte den hohen Staatsanwalt
ersuchen, die Obsorge darüber, ob wir im Rahmen unseres
Programms bleiben, ruhig uns zu überlassen. An einer weiteren
Stelle, und auch dai-auf wni'dc hingewiesen, sagen wir i]rn
Adier vor dem Holzingor-Senal
Finanzwächteiii : „Sie haben so viele Petitionen an das Ah-
oeordnetenhaus, an den Budgetausschiiß gerichtet, alle sind in
den Papierkorb gewandert." Das ist wahr. Wir sagen: .,Si»'
sind sehr höflich nnd demütig." Das ist wahr. Wir
sagen ihnen: „Das ist nicht der richtige Weg, iin\
dem man zum Ziele kommt, zum Ziele kommt man, ■
wenn man sich auf den proletarischen Klassenstandpunkt
stellt, und von diesem Standpunkt kann man auch
heute noch etwas erreichen", den Beweis liefert die Geschichte
der letzten Zeit. Niemals hätten die Kutscher und Angestellten
der Tramway in Wien die kleine Verbesserung erreicht, die sie
heute erreicht haben, wenn sie sich mit einer Petition ans Ab-
geordnetenhaus gewendet hätten. Wir sagen ako: Aufklärung
ist für die Leute notwendig, sie müssen sich als Proletarier
fühlen. Ebenso verhält es sich mit der konfiszierten Stelle in
der Korrespondenz aus Norddeutschland, die sich auf den
Streik in Österreich-Ungarn und die Rheinprovinzen bezieht,
und wo es am Schluß heißt : „Die Rechnung wird auf einmal
beglichen werden." Gewiß! und das wird sie auch, aber nicht
von uns! Wir sind nicht diejenigen, die unten das Saldo ab-
schließen werden. Das wird jemand anderer sein, das ist die
Weltgeschichte. Das ist unser Standpunkt. Eigentüm-
lich muß es mich berühren, daß gerade uns, Genossen B r e t-
schneider und mir, das vorgeworfen wird; in einem
anarchistischen Blatt wird von uns als von der „Wassersuppen-
])artei" gesprochen, eigentümlich, weil ich mich daran erinnere,
daß es historisch ist, daß genau derselbe Ausdruck „Wasser-
suppensozialisten" im österreichischen Gerichtssaal gefallen ist
von dem damaligen Staatsanwalt, vom Grafen L a m e z a n; die-
selbe Partei steht heute vor Ihnen als „anarchistiöche".
Ich komme auf die letzte und wahrscheinlich jene Ver-
lesung, auf die, so harmlos sie aussieht, der Herr Staatsanwalt
den meisten Wert legt, das ist die kleine Notiz über den Fabri-
kanten Teufelmayer und die Zustände in seiner Fabrik in
S t e y r. Die „Gleichheit" ist immer auf dem Standpunkt ge-
standen: Wir verlangen nicht von euch, das heißt von der heuti-
gen Gesellschaft, daß ihr eure Gesetze nach unseren Prin-
zipien einrichtet. Wir sind weder so unbescheiden noch so un-
klug, wir verlangen von euch nur, daß ihr eure eigenen
Gesetze ausführt, und das scheint uns ein ziemlich
78 Adler vor dem Holzinger-Senat
hilliges Verlangen zu sein. Die „Gleichheit" hat darum von
jeher, ebenso wie sie die strikte Einhaltung der politischen
Gesetze gefordert, im Interesse der Arbeiterklasse auch der
Arbeiterschutzgesetzgebung die größte Aufmerksamkeit ge-
widmet. Über die Hälfte des Blattes ist dieser Arbeit gewidmet
worden. Das ist dasjenige, was wir in unserem Programm unter
physischer Erhaltung, unter Kampfbereitschaft des Proletariats
verstehen. In dieser Eigenschaft, in Erfüllung dieser Aufgabe
haben wir ungezählte Hunderte von Übertretungen der
Arbeiterschutzgesetze zur Kenntnis der Behörde gebracht; wir
haben das getan, und es kann allerdings sehr leicht vorkommen,
und das wird man uns nicht übelnehmen, daß wir, da wir nicht
selbst Gewerbeinspektoren sind, das eine oder das andere Mal
unrichtig berichtet wurden und demgemäß eine unrichtige
Notiz gebracht haben. Die Notiz über Steyr aber war ebenso
richtig wie die ausführlichen Darlegungen, die wir seinerzeit
über die Lage der Ziegelarbeiter und welche wir über die Lage
der Bediensteten der Wiener Pferdebahn-Gesellschaft gebracht
haben. Richtig waren alle diese Berichte, und wenn sich an
derlei Dinge Erregungen geknüpft haben, während das in
bezug auf alle anderen Notizen nicht erfolgt ist, so ist das nicht
unsere Schuld. Die Wahrheit der Notiz über Steyr ist vom
Bürgermeister in Steyr selbst bestätigt worden. Er hat näm-
lich an dem Tage nach der Katzenmusik plakatieren lassen,
daß die Ordnung, nämlich die Ordnung in der Fabrik Teufcl-
mayer, und die Arbeitszeit nach der Gewerbeordnung von nun
dort eingeführt wird. Das ist zugestanden worden. Wenn dann
Unruhen entstanden sind, so sind sie nicht infolge der Notiz ge-
kommen, sondern darum — und diesbezüglich werde ich mir
erlauben, eine Verlesung zu beantragen — weil der Bürger-
meister von Steyr etwas voreilig das Ehrenwort gegeben hat,
es werde niemand arretiert werden, und am nächsten Tage es
entweder nicht in seiner Macht oder Absicht gelegen war, Wort
zn halten und infolgedessen diejenigen, die es ernst genommen
hatten, Demonstrationen gemacht haben, um die Leute zu be-
freien, und dann ist das Übliche gefolgt, der Aufwand von
Militär, was die Leute noch mehr .gereizt hat. Es ist das so
bekannt, daß icli darüber nicht mehr zu reden brauche. Wir
stehen zu diesen Dingen in keiner weiteren Beziehung, als daß
wir die Zustände in der Fabrik wahrheitsgemäß geschildert
Adler vor dem Holzinger-Senat
haben, wie wir es in hunderten und Hunderten anderen Fällen
getan haben und immer tun mußten. Selbstverständlich ist, daß
diese Beziehung eines nicht nur der hohen Staatsanwaltschaft,
sondern allen Bourgeoisparteien unbequemen Blattes, der
.,Gleichheit", daß dieser Faden, der da hinübergeführt hat, so-
fort von der gesamten Bourgeoispresse aufgenommen wurde
und die liberalen, antisemitischen und feudalen Blätter gewett-
eifert haben, um die „Gleichheit" zu denunzieren, sie habe die
Exzesse angezettelt. Ich hoffe, ich würde dem Staatsanwalt zu
sehr Unrecht tun, wenn ich glauben würde, daß er die Ver-
lesungen beantragt hat, um dieser Aus-drucksweise und Denun-
ziation irgendeine Stütze abzugeben. Weil ich aber nach dem.
was ich bis jetzt von selten der Staatsanwaltschaft in bezug auf
die Motivierung der Anklage erlebt habe, auf alles von dieser
Seite gefaßt sein muß, möchte ich doch die Verlesung jener
Antwort beantragen, die wir gegeben haben, nachdem uns unser
Blatt dafür nicht mehr zur Verfügung stand. In der Nummer .">
der „Sozialdemokratischen Monatsschrift" haben wir ge-
antwortet, und wir haben auch selbst beantragt, es möge eine
strafrechtliche Verfolgung gegen uns eingeleitet werden, um zv
untersuchen, inwiefern wir mit diesen oder jenenExzessen in Be-
ziehung stehen. Ich bitte um Verlesung der betreffenden Stelle.
Der Präsident verliest hierauf den Artikel, beginnend mit den
Worten: „Mitten im Kampfe", Seite 11, r,Sozialdemokratische Monatsschrift'"
vom 31. Mai 1899. (Siehe Seite 38 ff. dieses Bandes.)
Präsident: Ich erkläre nunmehr d<as Beweisverfahren
für geschlossen. Der Herr Staatsanwalt hat das Schlußwort.
Staatsanwalt S o o s :
Hoher Gerichtshof! Nachdem ich annehmen muß, daß der geehrte
Herr Verteidiger in seinen Auseinandersetzungen an die Verantwortung seines
Klienten Dr. Adler sich halten wird, so muß ich annehmen, daß in erster
Linie die Ausführungen des Verteidigers sich auf die Kompetenzfrage des
Ausnahmegerichtshofes beziehen werden, und ich muß annehmen, daß
eigentlich gar kein anderes Thema wichtigerer Art Gegenstand dieser Aus-
einandersetzung sein wird, denn der Herr Angeklagte Dr. Victor Adler
hat sich auf das Meritorische der heutigen Anklage nicht eingelassen, und
es dürfte daher auch für seinen Vertreter wenig Anlaß sein, in dieser Be-
ziehung auf die Anklage zu reagieren. In erster Linie erlaube ich mir, hoher
Gerichtshof, die Bemerkung zu machen, daß eigentlich diese Auseinander-
setzung des Herrn Dr. Victor Adler sowie auch die künftigen Auseinander-
setz'ungen des Herrn Verteidigers eigentlich nur akademischer Natur &ein
können, denn § 219 St.-P.-O. sagt bekanntlich, daß "d'ann, wenn der Be-
schuldigte rechtskräftig in den Anklagezustand versetzt ist, die Zuständig-
SU Adler vor dem Holzinger-Senat
keit jenes Gerichtes, welche? nach der Anklageschrift oder dem durch dvn
Einspruch gegen dieselbe veranlaßten Erkenntnis zur Hauplverhandlunp:
berufen ist, nicht mehr angefochten werden kann.
Wenn sich also die Auseinandersetzungen der geehrten Verteidigun;:
auf die Anfechtung der Kompetenz beziehen würden, so wäre diese An-
fechtung als gesetzlich verboten ausgeschlossen. Allein ich weiß es, ich habe
es mit einem gewiegten Juristen zu tun, der diese Klippe umschiffen wird,
■denn der Verteidiger, dem die Vorschrift des § 219 el>enso bekannt ist als
mir, wird nicht sagen, daß er die Kompetenz anfechte, sondern er wird sagen :
Es müssen dem Gerichtshof Talsachen und Anhaltspunkte während der
Hauptverhandlung gegeben werden, um den Gerichtshof selbst zu veranlassen,
über die Kompetenzfrage nachzudenken und darüber schlüssig zu werden,
denn das Gesetz vom 25. Juni 1886, welches auch nach der Verordnung des
Ge?amtministeriiims vom 1. August 1888 seine Gültigkeit behalten hat, sagt
im letzten .\bsatz: ,.Erachtet der Gerichtshof (nämlich der Ausnahmegerichts-
hof) bei der nach Schluß der Verhandlung stattgefundenen Beratung, es sei
nicht erwiesen, daß der strafbaren Handlung anarchistische, auf den gewalt-
samen Umsturz der bestehenden Staate- und Gesellschaftsordnung gerichtete
Bestrebungen zugrunde liegen, so spricht er seine Nichtzuständigkeit aus." Es
ist also speziell nn vorliegenden Falle mit Rücksicht auf die Bestimmung des
§ 219 St.-P.-O., streng genommen, überflüssig gewesen, an das zu erinnern,
was nach dem Gesetz vom 25. Juni 1886 ohnehin 'der Gerichtshof von Amt.«
wegen zu tun hat, und bei dieser Gelegenheit muß ich gleich, bevor ich mich
auf eine Besprechung der Sachlage einlasse, einen kleinen, bei einem Laioa
— denn Dr. Victor Adler ist nicht Jurist — leicht begreiflichen Irrluni
zu rektifizieren, indem derselbe sagt: Ich wundere mich, wanim ich nicht
nach § 222 St.-G. vor das Militärgericht gestellt wurde. Allerdings steht im
Strafgesetz, daß über die Delikte des § 222 und des § 67 das Militärgericht zu
entscheiden hat, allein es ist dem Dr. Adler unbekannt, daß es einen
§ 7 des Gesetzes vom 20. Mai 1869, Nr. 68 R.-G.-Bl., gibt, in welchem aus-
drücklich die Kompetenz der Militärgerichte in Ansehung der der Zivilgerichts-
barkeit unterliegenden Personen aufgehoben wird, die Strafe des Ver-
brechens mit schwerem Kerker von 1 bis 5 Jahren festgesetzt wird und nur
im Falle einer erfolgten Kriegserklärung oder eines ausgebrochenen Krieges
durch eine besondere Verordnung die Kompetenz der Militärgerichte bei-
behalten wird. Es kann also Herr Dr. Adler niemals in die Lage kommen,
weil M'ir jetzt keinen Krieg haben, vor das Militärgericht zu kommen. So-
weit über diesen Irrtum des Herrn Dr. Adler.
Der Herr Angeklagte hat statt seines Verhörs, denn ein Verhör waren
seine Auseinandersetzungen nicht, konnten es auch nicht sein, weil der
Angeklagte die Stellung einnimmt, überhaupt nicht vor dem zuständigen
Richter zu stehen, sondern vor das Geschwornengericht zu gehören, heute
in erster Linie eine Auseinandersetzung des Unterschiedes zwischen
Anarchismus und Sozialdemokratie zum besten gegeben.
Die beiden Angeklagten haben, glaube ich, wiederholt während des
Beweisverfahren anerkannt, daß ich von dieser Angelegenheit ein bißchen
etwas verstehe, und gerade auf dieses mein Verständnis werde ich mich
jetzt berufen, weil ich an der Hand des Gesetzes in dem heute mir zu Ge-
Adler vor dem Hol/inffer-Sfnat 81
böte stehenden Prozeßmaterial genügende Anhaltspunkte zu finden glaube,
•ilaß talsächlich nach dem Gesetz der Ausnahmegerichtshof zu judizieren
■geradezu berufen und der Schwurgerichtshof geradezu ausgeschlossen ist.
TJ^m diesem diesbezüglichen Irrtum der beiden Angeklagten von vornherein
TU begegnen, als habe ich dieselben in ihrer Person für Anarchisten ge-
halten, so gebe ich gleich jetzt die Erklärung ab, daß mir das heute eben-
sowenig einfällt, als es mir in früherer Zeit eingefallen ist. Der Privat-
mann Dr. Adler und der verantwortliche Redakteur der „Gleichheit".
Herr ßretschneider, sind nicht das, was man gemeinplätzlich
Anarchisten zu nennen pflegt. Ich habe, um die Kompetenz des hohen Aus-
nahmegerichtshofes zu begründen, auch nicht den Nachweis zu erbringen,
<iaß beide Angeklagte Anarchisten im gemeinplätzlichen Sinne des Wortes
^ind. Ich habe nur den Nachweis zu liefern, wie es in der Ausnahme-
verordnung und im Gesetz vom 25. Juni 1886 steht, daß heute, im gegen-
wärtigen Fall, es sich handelt um eine strafbare Handlung, welcher anarchi-
stische — und jetzt kommt gleich die Definition, die der Gesetzgeber gibt ■ —
-auf den gewaltsamen Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschafts-
ordnung gerichtete Bestrebungen'" zugrunde liegen. Solche Bestrebungen
kann in einem einzelnen Fall auch irgend jemand an den Tag legen, der
»lis zu dem Tag der Handlung, die er gesetzt hat, frei von dem Vorwurf ge-
Avesen ist, anarchistische Bestrebungen gehabt zu haben.
Er begeht sie eben durch die Tat, und es wäre ein Irrtum von selten
der Angeklagten, wenn sie von mir fordern würden, daß ich den Nachweis
liefere: Yv'ir haben es bei der «Gleichheit" mit einem Katechismus eines
iinarchistischen Organes, and in der Person der Angeklagten mit Anarchisten
xu tmi. Gerade ich zähle zu jenen Persönlichkeiten, nicht bloß ich, sondern
•es hat die Regierung diesen Standpunkt eingenommen: es ist der Unter-
schied zwischen Sozialdemokratie imd Anarchismus aufs ängstlichste zu
beobachten. Es fällt mir auch heute noch nicht ein, und ich betone das aus-
<!rücklich, damit über die Auffassung, welche ich der Sache entgegenbringe,
kein Zweifel oder Irrtum entstehe, es kann mir nie und nimmer einfallen,
die Bestrebungen der sozialdemokratischen Arbeiterpartei, ja selbst diu
Bestrebungen der radikalen Arbeiterpartei mit dem Schlagwort Aaarchismu.^
zu bezeichnen. Ich selbst gebe zu, was der Angeklagte Dr. Victor Adler
behauptet hat, daß zwischen den Bestrebungen der Personen, die wir
Anarchisten schlechtweg zu nennen pflegen, und den Bestrebungen der sozial-
liemokratischen Partei ein bedeutender, ich sage sogar ein himmelweiter
Unterschied ist. Um das handelt es sich im vorliegenden Falle nicht, es
handelt sich um die Beurteilung jener inkriminierten Artikel, welche Gegen-
.■;tand der Anklage geworden sind, und um die Beurteilung der Frage, ob jetzt,
im gegenwärtigen Moment, bei den gegenwärtigen Zeitläuften, abgesehen
von der früheren Haltung des Blattes ^Gleichheit", unter demselben
Programm Umstände zu suchen sind und gefunden werden können, von
<lenen man sagen kann, daß sie auf anarchistischen, das heißt auf den
gewaltsamen Umsturz der Staats- und Gesellschaftsordnung gerichteten
Bestrebungen beruhen.
Ich bemerke gleich, daß ich den Nachweis zu erbringen hoffe, daf.*>
•das keine juristische Haarspalterei oder ein Spintisieren sei, sondern an
6
82 Adler vor dem Holzinger-Senat
der Hand der Artikel selbst, an der Hand der Tatsachen, die mir zur Ver-
fügung stehen, werde ich es nachweisen. Es handelt sich nämlich im vor-
liegenden Falle um einen anderen Standpunkt, den die Angeklagten ein-
nehmen. Während Herr Dr. A d 1 e r und der Zweitangeklagte B r e t-
schneider, der übrigens in dieser Verhandlung nur die zweite Violine
zu spielen hat, den Standpunkt einnehmen, wir weisen dir, hoher Gerichts-
hof, an der Hand der ,. Gleichheit'" von Nummer 1 bis zur letzten Nummer - —
und es sind diesbezüglich Proben vom Herrn Dr. A d 1 e r zum besten
gegeben worden — nach, daß wir nie und nimmer anarchistische Be-
strebungen gehabt und uns lediglich im Rahmen der sozialdemokratischen
Bestrebungen bewegt haben, während der Angeklagte Dr. Adler sogar
ausdrücklich betont, ein Antagonist der Anarchisten bezüglich ihrer Theorien
und Ziele im gewissen Sinne zu sein und diese Behauptung abermals, sowohl
durch Stellen seines Blattes, als durch die Haltung, welche erwiesenermaßen
anarchistische Schriften gegen ihn einnehmen, nachzuweisen bemülii
gewesen ist, sage ich : Es kommt nur auf den Standpunkt an,
von dem man die Sache ansieht, und jetzt bin ich an dem Punkt
angelangt, der, wie ich glaube, den Ivern meiner Auseinandersetzungen
bildet. Ich sage nämlich: Jeder denkende Mensch — und der Angeklagte-
Herr Dr. Adler hat mir zu wiederholten Malen bewiesen, daß er ein geist-
voller Mann ist — weiß, was für Zwecke irgend etwas hat, er weiß, was
für Mittel man anwendet, um irgendeinen Zweck zu erreichen, er weiT.
auch, was für Erfolge gewisse Mittel im Leben haben können, ja sogar halx'i
müssen. Wenn ich nun in erster Linie den Zweck der inkriminierten Artikel
und vielleicht noch einiger anderer weniger, die vorgelesen wurden, und »li^-
ich als Drohung bezeichnet habe, ins Auge fasse, so frage ich mich: „Kann
der Angeklagte Dr. Adler auch nur einen Moment im Zweifel darüber sein.
daß die ordnungsgemäße, durch Jahrzehnte ruhig verlaufende Bewegung ilci
sozialdemokratischen Partei innerhalb der wirtschaftlichen und staatlichen
Ordnung in solcher Weise sich entwickeln kann, daß der Weg des gewalt-
samen Umsturzes überhaupt nicht betreten wird?"
Wenn sich der Angeklagte Dr. Adler in diesem Glauben bewegt
hätte, obwohl er die Frage viel zu genau studiert und viel zu genau kennt,
so würde er gerade im letzten Moment jetzt eines Besseren belehrt worden
sein, denn er hat gesehen und die Erfahrung machen können, was daraus
entsteht, wenn in einem Blatt, wie es die „Gleichheit" ist, immer und immer
wieder den Lesern vorgeführt wird ihr soziales Elend, ihr Unglück, ihre
Armut, ihre Unterdrückung durch die Bourgeoisie, und ich sage: Derjenige,
der an einem feuergefälilichen Ort herumgeht, kann sich nicht nachträglich,
wenn das Feuer auskommt, damit ausreden, wenn er sagt: Ich habe kein
Feuer anzünden wollen, das ist mir nicht im mindesten eingefallen, ich lege
Veto gegen die Ansicht ein, daß ich jemals habe anzünden wollen, ich kann
nichts dafür, wenn die Fackel, die ich in der Hand führe, mit
dem Zündstoff, der da ist, in eine solche Berührung gekommen ist,
ich bin ganz unschuldig daran.
Sehen Sie, meine Herren, in diesem Eontakt zwischen den aufreizen-
den Artikeln der „Gleichheit", welche manchmal inkriminiert, manchmal
nicht inkriminiert worden sind, und den in letzterer Zeit zutage getretenen
Adler vor dem Holzinger-Senat 83
p-
Tatsaclioii liegt die Xotwondigkoit zu dem Schlüsse: Konnte der Angeklagte
jemals »lauhon, daß die infolge seiner Artikel entstandene Aufreizung der
armen Klassen zu einer friedlichen Lösung führen könne, oder moiBte er
als ein loglsth denkender Mensch nicht vielmehr mit dem Faktor rechnen,
daß, wenn in einem Blatte immer und immer wieder in der angedeuteten
Richtung gcschriehen und agitiert wird, die Sache einen anderen Vorlauf
nehmen kann undi muß, als denjenigen, den er sich vielleicht bei Beginn
seines Blattes zum Programm gesetzt hat? Und dann muß ich sagen, es
ist mir zweifellos, und ich glaube, auch Herr Dr. Adler muß das wissen,
ilaß derlei agitatorische Artikel, wenn durch dieselben dem armen Volike,
d.a> ja gewiß jeder bedauert, auch ich, denn ich besitze kein Vermögen —
ich weiß, wie das ist — ein Zündstoff gegeben wird, dahin führen, daß der
gesetzliche Rahmen verlassen 'und nicht mehr. als politische Partei agitiert,
als p.jlilische Partei gelebt und' gehandeil wird, sondern daß es zu gewali-
-amen Eruptionen kommt, die alles vor sich niedertretend, verheereTid, ein-
lach den Brand erzeugen, vor dem wir beben. Herr Dr. Adler hat mir
während seines Verhörs oder während seiner Auseinandersetzungen soga:-
'■inen Anhaltspunkt in der Richtung gegeben, daß er mit diesem Faktor zu
lechneu scheint, denn er hat durchleuchten lassen: „Was wir dann täten"
^ — so ungefähr hat es gelautet — ..wenn wir die Gewalt hätten, das weiß ich
jetzt nicht." Was dann geschehen würde, wenn der Angeklagte die Gewall
hätte, das kann ich mir ungefähr denken, es gehört dazu keine lebhafte
riianla-ie. Vielleicht würde, wenn er die Gewalt hätte, ein unblutiger
1 1 m s t u 1- V. d e r g e g e n w artig e n G e s c 1 1 s c h a f t s o r d n u n g statt-
ünden, und das wäre vielleicht für alle Teile sehr gut, allein es wird an
den Faktor vergessen, daß derzeit nicht nur die sozialdemokratische Partei,
sondern a u c h a n d e ]• e Fakte i- <■ n i m Staate exislieren, d' i e kaum
i'.e neigt sein dürften, alle iluv lleclite, die sie haben, unblutig-
und ohne Zwang herzugeben, und nachdem der Angeklagte Doktor
Adler als vernünftiger Mann das ganz gut weiß, so kann er mit keinem
anderen Faklijr rechnen, er muß wissen, daß Gewaltakte inszeniert werden
und' eintreten müssen, um das Ziel, das er hat, zu verwirklichen. Gerade'
deshalb, weil ein Mann von den Kenntnissen des Dr. Adler und' von seiner
sozialen Bildung €s wissen muß, daß die Sache nicht wie er es sich in
seinen Idealen vorstellt, sondern wahrscheinlich anders verlaufen wird,
gerade weil Dr. Ad' 1er die Kenntnis davon hat, daß an den verschiedensten
Orten Europas gewaltsadm» Eruptionen stattgefunden haben und immer statt-
linden — man braucht nur nach Sleyr, Kladno und Belgien hinzusehen —
gerade darum muß Dr. .V d 1 e r wissen, daß die Haltung der Artikel, die
irikriminierl wurlen sind, niclit als das angesehen werden kann, als was
er sie hinzuslelleti bemüiit ist, sondern faktisch als- eine solche bezeichnet
werden kann, der anarchistische Bestrebungen zugrunde liegen. Ich habe
diesbezüglich absichllich einige wenige Blätter dem hohen Gerichtshof unter-
l)reitet, auf die Hcii- Dr. Adler reagiert hat. Er bezeichnet die darin ent-
haltenen Worte, wo die Rede davon ist „nur fort so, bald wird ein Ende
kommen, bald wird die Erlösung kommen, der Blitz usw." — ich brauche das
nicht abermals zu wiederholen — lediglich als Prophezeiungen. Ich kann
von meinem Standpunkt sagen: ich erljlicke darin eine Drohung.
81 Adler vor dem Holzintrer-Senat
Es hat das eine geradeso viel für sich als das andere, und gerade weil
Herr Dr. Adler ein Zitat aus Goethe vorgebracht hat, fällt mir jetzt ein
— ich habe während des Beweisverfahrens keinen Gebrauch davon gemacht,
weil mir die betreffenden Nummern der „Gleichheit" nicht eingefallen sind,
aber ich kann dies doch wohl jetzt berühren — daß es gerade der Heraus-
geber der „Gleichheit" liebt, in solchen Fällen, wenn konfisziert wird, in
Jie konfiszierten, leer zu lassenden Stellen Zitate aus Klassikern einzu-
T^chieben. Solche Zitate sind für ihn ungemein dankbar, denn der Staats-
■anwalt kommt leicht in die Gefahr, wenn er Schiller konfisziert, und so ist
es geschehen, daß der Herausgeber der „Gleichheit" in eine leer gewordene
Stelle einmal ein Zitat aus ., Wilhelm Teil'" von Schiller eingeschlossen hal ;
-,Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht" usw. Da ist von den unveräußer-
lichen Rechten die Rede, die man herunterholt vom Himmel, wo „sie fest-
stehen wie die Sterne". Aber dieses Zitat klingt in die Worte aus: „Und
^\■enn kein anderes Mittel mehr verfängt, das eine bleibt ihm, das iSchwert",
und wenn dieses Zitat in der „Gleichheit" steht, so hat das einen anderen
Sinn, als der ist, welchen der Dichter in „Wilhelm Teil" hineinlegt. Wenn
in der „Gleichheit" vom Schwert die Rede ist, zu dem wir bald greifen
müssen, um die unveräußerlichen Rechte herabzuholen, so ist das eine nicht
Tidßzii verstehende Anspielung gerade auf diejenige Gewalt, welche der An-
geklagte heute als in seinem Blatte inicht existierend bezeichnet. Im Gegen-
teil, gerade in der letzten Zeit und gerade auch in den inkriminierten
Artikeln, «um auf dieselben speziell zu kommen, kamen Momente vor, welche
geradezu darauf hinweisen, daß die „Gleichheit" ein Feld betreten hat, von
dem sie behauptet, d'aß es von ihr stets aufs sorgfältigste gemieden worden
sei. Wenn in dem ersten inkriminierten Artikel davon die Rede ist, „man
gehe in ■friedlichen Zeiten hinaus nach Ottakring und Favoriten und stelle
sich vor die Tore einer Fabrik, einer Schule und betrachte die hagere;i
Männer, die welken Weiber, die siech gewordenen, elenden, verkomimen!''n
Kinder", lauter Darstellungen, die faktisch geeignet sind, Bitterkeit in drii
Herzen der Leser zu erregen, und wenn der Schluß gezogen wird, „wie
kommt es, daß ein Krawall jemals überhaupt nicht ist", so beweist mir
"gerade diese hier aufgeworfene Frage, daß in dem Artikel jene Tendenz
liegt, welche der Angeklagte als nicht vorhanden bezeichnet. Dergleichen
Artikel, die so geschrieben sind, können kein anderes Ziel haben und sind
kein anderes Mittel als Agitationsmittel zum gewaltsamen Umsturz; denn
liier ist ja von Krawallen die Rede, und was unter einem Krawall zu ver-
stehen ist und wie derselbe uns angeschlagen hat. das wissen alle, auch
der Angeklagte Dr. Adler. Es handelt sich im vorliegenden Falle um ein
Delikt gegen die öffentliche Ruhe und Ordnung, und in dem Moment, wo
tlas gesprochene oder geschriebene Wort, das in den Zeitungen steht, in die
Aktion übertritt, sieht die Sache ganz anders aus als an dem friedlichen
j-Münen Tisch. In dem ^Moment, wo die ersten Steine geworfen wiirden, wn
in den Vororten die ersten TraiTLwaywaggons umgestürzt und die Fenster
-eingeschlagen wurden, in dem Moment, wo Dinge geschehen, wie sie sich in
?^teyr und Kladno ereignet haben, hört sich, wie der Wiener zu sagen pflegt,
ti i e Gemütlichkeit der Sache auf. Da ist eine akademische Be-
sprechung der sozialen Frage ausgeschlossen, da ist die Handhmg eingetreten.
Adler vor dem Hülzinger-Senai 85
vrA ich behaupte ganz ruhig, daß in dem Moment der Staatsanwalt die
Verpflichtung hat, allen Elementen entgegenzutreten, welche ein Mittel sind,
daß derlei Dinge geschehen. Jetzt, hoher Gerichtshof, bin ich bei dem Teil
angelangt, wo der Angeklagte oder der Vertei'diger mir den Vorwurf machen
kann, ich hajje ja den Zusammenhang zwischen den Steyrer und Kladnoer
Exzessen mit der «Gleichheit" zu beweisen. Diesen Zusammenhang habe
ich nicht zu beweisen, das ist ganz und gar nicht notwendig; denn wenn
seitens der Partei 'der „Gleichheit" irgendeine strafbare Handlung gesetzt
worden wäre und nach § 5 Str.-G. ihre Mitschuld an den Elxzcssen in Steyr
oder Kladno sich als erweisbar darstellen würde, so wäre esi Sache der
dortigen Staatsanwaltschaft und des dortigen Gerichts, von Amts wegen
gegen die Mitschuldigen einzuschreiten. Es gibt aber auch eine andere
Ciatti;ng von Mitschuld in der Welt, die nicht strafre<-htlich imputiert wird
und unter den § 5 zu subsumieren ist, und deren Vorhandensein doch niclit
abgeifiignet werden kann.
Es gibt auch eine indirekte Mitschuld an Handlungen, und wenn in Steyr
Exzesse geschehen sind, bei welchen die Leute zusammengeschossen wurden,
und infolge der unerquicklichen Zustände in der Teufelmayerschen Fabrik
Krawalle entstanden sind, die der Angeklagte als Katzenmusik bezeichnet
liat, die aber in Wirklichkeit weit ernster gewesen sind als eine Katzen-
musik, so kann ich die Behauptung aufstellen, daß die :,Gleichheit", die von
der „Schinderbude" der Teufelmayerschen Fabrik gesprochen hat, den
immittelbaren Anstoß zu den Krawallen gegeben hat, die dort entstanden
jiind. Es ist nicht notwendig, daß irgendein Genosse hinaufgeroist ist, es
genügt, wenn ein Blatt erscheint, das die Leute auf ein Objekt aufmerksam
macht, um deren Zorn zu erregen, und wenn infolgedessen das geschah, wa?
geschehen ist. Ich bin also der Meinung, daß ich allerdings an der Hand
der vorgelesenen Stelleu und dessen, was ich zu bemerken die Ehre hatte,
die Behauptung aufstellen kann, daß 'die Anklage berechtigt ist, den Richter -
Spruch vor dem Ausnahmegerichlshof zu verlangen, weil ich behaupte, daU
die Angeklagten abgezielt und gewußt haben, daß dasjenige, was in dei*
iakriminierten Artikeln steht — hierin ist namentlich der Passus bezüglicU
des Militärs inbegriffen — unter das Ausnahmegesetz paßt, daß die An-
geklagten wissen mußten und auch gewußt haben, daß es sich hier mn
Handlungen handelt, die bereits auf den gewaltsamen Umsturz der bestehen-
ilen staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung abzielen. Herr Dr. A'd'ler
hat uns bezüglich des Artikels, der das Militär betrifft, eine harmlose Erklärung
gegeben; er weiß aber genau so wie ich, daß, wenn einmal ein Flugblatt
an die Soldaten gerichtet wurde, und der Zusammenhang zwischen dem
Flugblatt und dieser Stelle ein nicht mißzuverstehender ist, es klar isi.
was der letzte Satz bedeutet: „Auch diesen Blinden wird der Star einmal
gestochen werden." Das ist eine so unendlich leicht begreifliche Darstellung,
«■in so klarer Satz, daß es gar keiner Erklärung im gegenteiligen Sinne aus
dem Munde des Angeklagten bedarf, und' nachdem dem Gerichtshaf die
Artikel selbst vorliegen und ich über den Tatbestandi nichts zu sprechen
brauche, weil dem Gerichtshof die Subsumtion der zur Verlesung gebrachten
Stellen unter die Gesetze.sstollen, die ich eingangs zitierte, von vornherein
klar ist, so bin icii eigentlich mit meinen .Auseinandersetzungen fertig. Auch
8(3 Adler vor dem Holzinger-Senat
ich als Vertreter id'cr Anklage habe es heute nicht notwendig, mich in das
Mcritorisehe einzulassen, denn das Meritorische liegt dem hohen (jcrichtshof
in den Artikeln vor, und es ist seine Sache, zu prüfen, ob die verlesenen
Artikel nach der Anklagebehauptung den objektiven Talbestand begründi^n
oder nicht. Es bleibt mir nunmehr nichts übrig, als an den hohen Gerichtshof
den Schlußantrag zu stellen. Ich muß zunächst an 'den hohen (lerichtshof
die Bitte richten, Dr. Adler als geständigen Verfasser der inkriminierten
Artikel im Sinne der Anklageschrift nach den §§ 300, 302, 305, lOO bis m\
und Artikel V der Strafgesetznovelle vom 17. Dezember 1862, R.-G.-Bl. Nr. 8;-'.
zu verurteilen. Bei dieser Verurteilung wird im Sinne der §§ 267 und 30"»
.Str.-G. vorzugehen sein, und für den Fall der Verurteilung Iritl auch ein
Kautionsverlust für die „Gleichheit" in der Höhe von 60 ]iis 300 f!. ein, weil
OS sich im vorliegenden Falle um ein Preßvergehen liandclt. Beim Strafa\js-
maß wird bezüglich des Erstangeklagten als mildernd in Betracht koimnen,
daß derselbe für eine Familie zu sorgen hat und des Tatsächlichen geständiii
ist; als erschwerend der vorangegangene Konflikt nach § 23 P.-G., rcspektiv''
nach der Kaiserlichen Verordnung vom Jahre 1851.
Was dien Z w e i t a n g e k 1 a g t e n betrifft, verantwortet sich derselbe
dahin, daß er die inkriminierten Artikel nicht gelesen habe. Ich habe in der
.\nklago für die Verfassung den strikteji Nachweis nicht erbringen können
und ausdrüc'klich bemerkt, daß ich es ider Hauptvnrhandlung überlasse, o1i
ein Preßvergehen oder nur eine Übertretung der pflichtgemäßen Obsorge vor-
liegt, und ich glaube, daß der Gerichtshoif kaium die für eine Verurteilung
notwendige Überzeugung gewonnen hat, daß der Angeklagte vor der Druck-
legung die Artikel gelesen, geprüft und znam Druck befördert hat. Wenn der
hohe Gerichtshof dies annimmt, dann kann er den Angeklagten B r e I -
-Schneider nicht wegen der Vergehen, die die Artikel begrünilen, sonderii
nur wegen Übertretung der pflichtgemäßen Obsorgo im Siime des Gesetzes
vom 15. Oktober 1868 verurteilen, und ich stelle sohin l>ezüglich beider An-
geklagten den Antrag auf Zuweisung einer angemessenen Strafe.
Verteidiger Dr. W o 1 f f - E p p i ng e r: Der geehrte Herr Vertreter der
•Staatsanwaltschaft hat ganz richtig vorhergesehen, daß die Verteidigung sicli
in eine Erörterung der Schoildfrage in merito nicht einlassen wird. Die Ver-
teidigung steht auf dem Standpunkt, daß in der vorliegenden Anlvlagc e i n
unerhörter und durch nichts gerechtfertigter Versuch
liegt, zwei angeklagte österreichische Staatsbürger ihrem gesetzlichen Richter,
der ihnen durch das Staatsgrundgesetz gewährleistet ist, zu entzieiien, ein
Versuch, der in seinem etwaigen Erfolg, den ich nie voraussetzen kann,
dahin 'führen würde, eines der wichtigsten Rechte eines Staatsbürgers zu ge-
fährden und zu konfiszieren, ja geradezu in die Grundlagen der heutigen
Staats- und Gesellschaftsordnung in hohem Maße einzugreifen. Die' Ver-
teidigung hat nicht unter allen- Umständen die Pflicht, auf das Gebiet sicli
zu begeben, das ihr durch die Anklage vorgezeichnet ist. Es kann vorkommen,
und der vorliegende Fall ist ein solcher, daß eine Anklage abgewehrt werden
muß, vielleicht, um einen Dichter zu zitieren, „von einer höheren Warte
als von der Zinne der Partei", denn nicht um Sozialdemokraten handelt es
sich in erster Linie, sondern darum, ob unsere Frciheits- un'd 'verfassungs-
n'äßi^'i'n Rechte von der k. k. Staatsanwaltschaft Wien oder von einer
Adler vor dem Holzinger-Senat 87
anderen Staatsanwallschaft konfisziert werden können. Es ist sehr bedauer-
lich, und es wurde dies im Laufe der Verhandlung von selten meines
Klienten Dr. Adler hervorgehoben, daß in diesem Falle nicht alle Parteien
das Einsehen haben, daß sie selbst ebenso angefochten, angegriffen und ge-
troffen werden wie die Sozialdemokratie, und kaum hat sich eine vereinzelte
Stimme, allerdings die eines sehr bedeutenden Blattes, gefunden, um die
Anklage als das zu bezeichnen, was sie tatsächlich ist. Der verehrte Staats-
anwalt will mir die Berechtigung zur Erörterung der Kompetenzfrage auf
(irund des § 219 Str.-P -0. wegnehmen. Ich muß sagen, daß ich seinen dies-
Itezüglichen Erörterungen, obwohl mit Aufmerksamkeit folgend, doch das
lichtige Verständnis und die richtige Würdigung nicht abgewinnen konnte,
denn einerseits bestreitet der Herr Staatsanwalt dieses Recht, und anderseits
gibt er es wieder zu auf Grund der Bestimmung des Ausnahmegesetzes, die
■er zur Verlesung gebracht hat. Diese Bestimmung ist übrigens nicht ziufällig.
Es ist in der parlamentarischen Verhandlung wiederholt hervorgehoben
v%- Orden, insbesondere seitens der Regierung, daß nach der Bestimmung des
S 261 Str.-P.-O. der Gerichtshof selbst immer in der Lage ist, seine Kompetenz
festzustellen. Der Gerichtshof kann also über jede Anklage, also auch über
■die vorliegende, sich für inkompetent erklären, und das Erkenntnis, das der
'Cierichtshof überhaupt fällen könnte, ist in jedem Falle der Erörterung in
den Parteianträgen unterzogen. Daraus folgt, daß die Kompetenz in jedem
Falle, also auch die des Ausnahmegerichtshofes, einer Erörterung zu unter-
ziehen ist. Es 'hat sich übrigens gezeigt, daß die Redner der Linken des Ab-
geordnetenhauses, Avelche eine besondere Feststellung dieses Rechtes in das
Ausnahmegesetz hineinnehmen wollten, doch mit einiger Vorsicht zu Werk»^
'^:egangen sind, indem, wenn dies nicht geschehen wäre, die Staatsanwalt-
-chaft sich auf den Standpunkt stellen könnte, daß die Kompetenzfrage
überhaupt nicht zu erörtern ist. Es ist mir einigermaßen schwierig, den Aus-
fühiungen des Herrn Staatsanwalts sachlich zu begegnen, denn diese Aus-
iührungen und Begründungen sind so wechselnd, so in sich widersprechend,
daß ich den Staatsanwalt am besten mit seinen eigenen Ausführungen
■schlage. Die Anklage sagt, die anarchistischen Bestrebungen der «Gleich-
heit" erhellen aus den oftmals zum Gegenstand objektiver Behandlung ge-
machten Angriftfen des Blattes gegen die Polizei und die Behörden, aus der
-Vufreizung gegen die bürgerlichen Elemente des Staates, aus der agitatori-
schen Haltung, welche seit Jahren das genannte Blatt in der sozialdemokrati-
-ehen Bewegung einzunehmen bestrebt ist. Daraus erhellen nach der Anklagi
die anarchistischen, auf den gewaltsamen Umsturz der bestehenden Staats-
und Gesellschaftsordnung gerichteten Bestrebungen der „Gleichheit", re-
spektive, da ein Blatt nur durch seinen Redakteur verantwortlich gemachl
werden kann, der Redakteure Dr. Adler und B r e t s c h n e i d e r. In der
heutigen Verhandlung hat die Staatsanwaltschaft diesen Standpunkt ent-
schieden aufgegeben, ja demselben entschieden widersprochen, indem sie
!?esagt hat: Es fällt mir nicht ein, zu behaupten, daß die Angeklagten An-
archisten sind und die „Gleichheit" ein anarchistisches Blatt ist. Nun, ent
we^der hat der Staatsanwalt in der Anklage oder heute die Wahrheit nicht
gesagt, natürlich objektiv, denn, daß er subjektiv das Bestreben hat, aucli
88 Adler vor dem Holzinger-Senat
l>ei der widersprechendsten Darstellung die Wahrheit zu sagen, daran kann,
ich natürlich nicht im geringsten zweifeln.
Die „Gleichheit" ist nach seinen heutigen Ausführungen im Gegensatz,
zu den Ausführungen der Anklage kein anarchistisches Blatt, und die Tätig-
keit der „Gleichheit" unid der Angeklagten ist keine anarchistische. Wo be-
ginnt aber die anarchistische Tätigkeit? Sie beginnt nach den Ausführungea
der Staatsanwaltschaft dann, wenn direkt an dem Umsturz gearbeitet wird,,
und: hier verfällt die Staatsanwaltschaft in einen Widerspruch mit dem,.
was sie vor zwei Minuten selbst vorgebracht hat, indöm sie gesagt hat: Es
fällt mir nicht ein, zu behaupten, idiaß die sozialdemokratische Bewegung, ja
selbst die radikale Partei anarchistisch sei, und gleich darauf sagt der Staats-
anwalt: Die Endziele, die ihr erreichen wollt, sind nur auf gewalt-
samem Wege zu erreichen, und es wird daher zur Gewalt kommen. Die
Staatsanwaltschaft also, die sagt, die Angeklag-ten sin^d keine Anarchisten..
sie sind nur Sozialdemokraten, folgert weiter: Weil ihr auf Gewalt losgeht,
seid ihr Anarchisten. Das ist doch ein Spiel mit Worten und Begriffen, das
dahin führt, daß die Anklage ebensogut alles mögliche verteidigen kann,
was aber vor dem Gerichtshof der Logik und der Öffentlichkeit gewiß auch
seine richtige Würdigung finden wird. Nun möchte ich der geehrten Staats-
anwaltschaft noch einiges sagen: Wenn wir Politiker sind, die für die Gegen-
wart leben, haben wir sehr viel zu tun, um eine zweckmäßige Stellung zu den
Fragen zu nehmen, die in der Gegenwart auftauchen; über die Zukunft sich
den Kopf zu zerbrechen ist ein Gebiet, auf 'das sich kein vernünftiger
Politiker begeben wird und daher auch nicht die Herren Dr. Adle r und
B r e t s c h n e i d e r, überhaupt nicht die gesamte Sozialdemokratie. Was
künftig nach Jahrhunderten sein wird, bleibt Sorge der Zukunft, wir leben
der Gegenwart und haben es mit den gegenwärtigen Bestrebungen der An-
geklagten zu tun, und diese sind — abgesehen von allem anderen, was be-
reits erörtert wurde und noch zu erörtern sein wird, ich berufe mich auf das
Zeugnis des Herrn Staatsanwalts — keine solchen, welche auf einen ge-
waltsamen Umsturz der Staats- und Gesellschaftsordnung, insbesondere zum
.Vnarchismus hinführen. Glaubt ider hohe Gerichtshoif und der verehrte Herr
Staatsanwalt, daß alle Leute, die auf dem Hainfelder Kongreß oder auf dem
Kongreß zu St. Gallen waren, sich wirklich soviel Zeit nehmen würden, um
lagelang zu diskutieren und ein Programm aufzustellen über die Erfüllung
von Wünschen, die sie bei der heutigen Staats- und Gesellschaftsordnung
in ihrem Sinne berücksichtigt haben wollen, wenn sie auf dem Standpunkt
.-stünden, daß mit dieser Staats- und Gesellschaftsordnung gar nicht zu rech-
nen sei, und daß sie einfach umgeworfen werden kann? Für so zeitver-
-chwenderisch und beschränkt dürfte man denn weder die deutsche noch
die österreichische Sozialdemokratie und gewiß auch nicht die heuligen
.Angeklagten halten.
Es ist seitens der Staatsanwaltschalt die Theorie zwischen direkter
und indirekter Mitschuld aufgestellt worden. Über die juristische Seite dieser
Theorie habe ich wohl nicht nötig, viel Worte zu verlieren. Bisher war es
allgemeine Ansicht, daß etwas verboten oder erlaubt ist, daß aber g 1 e i c h-
zeitig etwas erlaubt und verboten sein könne, daß etwas an-
standslos in. einem Blatt erscheinen könne und nicht einmal den Anlaßt
Adler vor dem Holzinger-Senat 89
zu der so"?lst so üblichen und leicht hantierlkhen Konliskation gibt, und daß.
dasselbe dann zugleich den Anlaß geben könne zu den allerfürchterlichstea
Bestrebungen, zu dem gewaltsamen Umsturz der Staats- und Gesellschafts-
ordnung, das ist mir neu. Wenn ich ein Staatsanwalt wäre und nicht eine
so geschätzte Person wie der Vertreter der Staatsanwaltschaft mein Gegner
wäre, sondern ein junger, simpler Verteidiger, demgegenüber ich weniger
Rücksicht zu beobachten hätte von meinem Standpunkt als gegenüber denn.
.Staatsanwalt, so würde ich nach bewährtem Muster sagen, daß die Exzesse
nicht in einem ursächlichen, sondern in einem zeitlichen Zusammenhang;
mit dem waren, was in der „Gleichheit" stand. Ich würde sagen, daß-
niemals behauptet werden kann, daß auch nur der geringste Zusammen-
~ hang zwischen Exzessen stattgefunden hat, ich würde eine ähnliche Be-
hauptung als „Tratsch und Erdichtung und als eine frivole Behauptung" be-
zeichnen. Da ich aber nicht in der Stelle eines Staatsanwalts, sondern des-
Verteidigers bin, so möchte ich mir die Bemerkung gestatten, daß auch nicht
ein Funke eines Anhaltspunktes, geschweige denn eines Beweises dafür vor-
gebracht wurde, daß zwischen diesen Artikeln der „Gleichheit" und den.
Exzessen ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Wieviel Nummern der
..Gleichheit" sind' nach Kladno oder nach Steyr gekommen? Das wissen wir
nicht. Wir wissen nur, daß die Arbeiter in Kladno durchweg Nichtdeutsche
sind und daher die „Gleichheit" nicht lesen. Dann kommt ein Fehlschluß-,
vor, die Verwechslung zwischen einem Zustand und demjenigen, der diesen
Zustand erkennt und schildert. Nach der Theorie des Staatsanwalts ist nicht
der Dieb strafbar, sondern der Staatsanwalt, weil er den Umstand ans-
Tageslicht bringt und klarlegt, daß der Mann gestohlen hat. Die Krankheit
ist nicht in der Person des Kranken zu suchen, sondern die Ursache ist iev
Arzt, der die Krankheit konstatiert. Mit diesem logischen Sprung ist es vi e 1-
leicht möglich, ein gerichtliches Erkenntnis zu er-
zielen, aber es ist nicht möglich, sein Auftreten zu recht-
fertigen vor einem R i ch t e r s t u h 1, der heute in der Welt
die größte Rolle spielt, das ist die öffentliche und g v-
k-1 arte Meinung allerZeiten.
Es ist möglich, daß, wenn eine Angelegenheit nur drei Leuten bekannt
ist, ein Gerichtshof aus den besten Motiven zu irgendeiner tatsächlichen
Feststellung kommen kann, die nach dem Gesetz unanfechtbar ist. Das bleibt
der Öffentlichkeit ziemlich verborgen, denn nur drei Leute wissen davon
und Hunderte und Tausende Tcönnen sich darüber kein Urteil bilden. AJjer
in diesem Falle ist es anders. Was die Sozialdemokratie, was Anarchismus,,
was die Tätigkeit der „Gleichheit" und der Angeklagten ist, ist kein Geheimnis.
Es liegt der Erkenntnis von Hunderttausenden offen, und wenn der Staats-
anwalt vom Gerichtshof begehrt, daß er feststelle, daß eine Handlung aus-
anarchistischen Motiven begangen wurde, so kann diese tatsächliche Fest-
stellung, abgesehen davon, daß sie im vorliegenden Falle nie und nimmer
erfolgen kann, nie dahin führen, daß die Behauptung in Wahrheit erw^ächst.
sondern nur dahin, daß die A u t o r i t ä t, d i e der Wahrheit ins G c-
sicht schlägt, leidet für künftige und vergangene Urteilssprüche. Ich
habe mich nach den Ausführungen des Herrn Dr. Adler nicht viel mit
der Theorie des Anarchismus und Sozialismus zu besc-häftigen. Daß zwischcj^
90 Adler vor dem Holzinger-Senat
^Sozialismus und Anarchism<us ein großer Unterschied ist, nat Herr
Dr. Adler entwickelt und die Staatsanwaltschaft durch ihren geschätzten
Vertreter zugegeben. Ich möchte mir erlauben, ein paar Bemerkungen eines
hervorragenden sozialistischen Schriftstellers, Gabriel Deville, in seiner
Schrift über den Anarchismus, selbstverständlich gegen den Anarchismus,
zu zitieren: r,Der Anarchisimus lenkt ifortwährcnd durch neue Dummen-
jungenstreiche die allgemeine Aufmei'ksamkeit auf sich; es mag deshalb an
•cler Zeit sein, den rückschrittlichen Charakter dieser Strömung d'arzulegen."
-Der Anarchismus wurzelt in ökonomischen Voraussetzungen, die längst der
Vergangenheit angehören." „Die wenigen Anarchisten, von denen wir eben
■sprechen, denken unrichtig; die meisten der Anarchisten überhaupt denken
•gar nicht. Der Anarchismus ist, weil sein Grundgedanke in jener Willkür
lind Freiheit besteht, ganz natürlicherweise -idie Lehre, für die sich alle un-
Idaren Köpfe, alle diejenigen, deren Grundsatz es ist, keinen Gmndsatz zu
haben, alle diejenigen begeistern, die nach Worten jagen, weil ihnen die
(iedanken fehlen." „Die Anarchisten wollen d;as individuelle, unvermittelte
Vorgehen, das stets mit der radikalen Unterdrückung dieser einzelnen Re-
gung endet und somit eine fortwährende Schwächung der Kräfte des Sozia-
lismus bedeutet" usw.
Auf dem St. Gallener Kongreß hat der deutsche Reichstagsabgeordnete
und Sozialdemokrat Liebknecht zu Punkt 6 der Tagesordnung einen
Bericht erstattet über das Verhältnis der Sozialdemokratie zu den
Anarchisten. Zunächst setzt er den theoretischen Unterschied auseinander,
lind wie mir scheint, in viel zu weitgehender Weise, weil es mit der
AVahrheit nicht vollständig im Einklang ist. Er sagte: „Die Elemente, welche
\ins noch als Anarchisten entgegentreten, sind in drei Kategorien zu teilen-
1. Die Spitzel und Agents provocateurs, welche den A^erhältnissen ent
sprechend sehr zahlreich sind. 2. Die Verbrecher; Menschen, die Raubmord
und Brandstiftung begehen, sind gemeine Verbrecher, auch wenn sie ihrem
A'erbrechen ein anarchistisches Mäntelchen umhängen." Er erklärt sicii
tntschieden gegen die Propaganda der Tat und sagt weiter: „Die Gewali
macht keine Revolution und ist überhaupt nicht revolutionär. Im Gegenteil,
die Feinde der Revolution haben sich stets auf die Gewalt gestützt. „Gewalt
■geht vor Recht" ist kein revolutionärer Satz, und „Blut und Eisen" ist kein
revolutionäres System. Verzweiflungstaten einzelner sind keine revolutio-
näre Taktik. Wer ohne Macht an die Gewalt appelliert, nützt nur den
Gewalthabern." Sein Programm geht nur dahin, die moralische Eroberung
<ler Massen herbeizuführen und die Volksseele zu wecken. Wenn wir das
llainfelder Programm betrachten, das zur Verlesung gelangt ist, so folgt aus
demselben, daß das Hauptziel der Sozialdemokratie darin besteht, das
J^roletariat politisch zu organisieren, es mit dem Bewußtsein seiner Lage
■und Aufgabe zu erfüllen. Es wurde eine Reihe von Forderungen erhoben
und eingehend diskutiert, lauter Forderungen, die sich selbstverständlich
<iuf die heutigen Staats- und Gesellschaftszustände beziehen.
Nun kann auch gar kein Zweifel darüber bestehen, daß auch nach
der Beratung der Gesetze im Parlament eine Vermengung der Sozial-
demokratie mit dem Anarchismus nicht zugegeben werden kann. Es ist
bekannt, daß die ursi)rüngliche Regierungsvorlage, aus welcher das Gesetz
Adler vor dem Holzinger-Senat 91
von 1886 entstanden i<t, den Passus hatte: „sozialistische, auf den Umsturz
der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung hinzielende Bestrebungen".
Das Wort •,sozialistisch" in dieser Textierung hat nicht die Majorität be-
kommen, sondern das Gesetz ist im Kompromißweg dadurch zustande ge-
kommen, daß das Wort „sozialistisch" eliminiert und an dessen Stelle
-anarchistisch" gesetzt wurde. Der Antrag wurde, wenn ich nicht irre, von
«lern A!)geordneten N e u w i r t h gestellt und von der gesamten Linken
unterstützt und vom Abgeordneten Herbst ^in merito begründet. Maß-
sebend ist, was der Abgeordnete Dr. Herbst diesbezüglich in der 77. Sitzung
der 10. Session ausführte. Er sagte: „Man mag streiten, ob die Worte
."Sozialismus und Anarchismus, wenn man bloß die Grammatik dabei berück-
sichtigt, so wesentlich verschieden sind, aber das kann man nicht leugnen,
daß zwischen Sozialismus und /Anarchismus ein wesentlicher, im allgemeinen
Sprachgebrauch feststehender begrifflicher Unterschied besteht, und daß von
drn Sozialdemokraten, welche wirklich Sozialisten sind, der Anarchismus
ebenso perhorrcsziert wird wie von der Bourgeoisie und der gesamten Be-
völkerung." Dieses Gesetz ist in seiner Gültigkeitsdauer abgelaufen, und e.«
kam eine neue Gesetzosvorlage vor das Parlament. Diese kam mit Rücksicht
auf die A'ertagung des Parlaments nicht zustande. Infolgedessen wurde die
Verordnung des Gesamtministeriums erlassen, welche heute zum Gesetz
geworden ist, und ist — der geehrte Staatsanwalt wird da mit mir überein-
stimmen — nichts anderes als die Verlängerung des früher bestandenen
Anarc.histengesetze.s im Verordnungswego. Bei der Verhandlung über die
Kenntnisnahme dieser Verordnung wurden folgende Erklärungen abgegeben.
Der Berichterstatter Lienbacher sagte: „Ich glaube nicht, die soziak'
oder sozialistische Seite berühren, sondern lediglich die anarchistische
Bewegung betrachten zu sollen, weil auch nur diese Umtriebe beziehungs-
weise Tendenzen es sind, welche die Suspendierung der Geschwornengerichte
zur Folge haben." Und an einer anderen Stelle sagt er: „Die sozialen Be-
strebungen werden in keiner Weise einzuschränken sein."' Er beruft sich auf
die Verhandlungen vom Jahre 188G und sagt: „Sie werden daraus ersehen,
•laß man sich zwar sehr zugunsten der sozialistischen Bestrebungen ein-
setzte, aber in bezug auf die Aufhebung der Geschwornengerichte bei
Delikten der Anarchisten außerordentlich nachgiebig war." Weiter sagt er:
..Der Ausschuß hat alle diese Amendements, welche von der Linken gestellt
worden sind, angenommen: anarchistisch statt sozialistisch." Er beruft sich
auf die Rede des Dr. Herbst und sagt, es könne kein Zweifel sein, wi<'
'lie Sache aufgefaßt wurde. Am wertvollsten und wichtigsten sind die Aus-
führungen des Regieiungsvertreters Dr. Krall. Er sagte: „Die Staatsanwalt-
schaft von Wien, die einen freien, offenen Blick für diese Verhältnisse hat.
konnte es bald nach Verlauf der Ereignisse vom .lahre 1883 bis 1884 be-
lichten, daß die Wiener Arbeiterbevölkerung durch die Bluttaten des
Kammerer, des Stellmacher in ihren Rechtsgefühlen so verletzt war, daß
die rückläufige Bewegung der anarchistischen Umtriebe zurückzuführen sei
auf den Wideisprurh, wt !•;}.": n solche Taten in der Arbeiterschaft gefunden
haben." „Das Jahr 1887 ist, was die anarchistische Bewegung betrifft,
wirklich charakteristisch dadurch, daß die anarchistische Partei eingesehen
liat. wie viel Boden sie in der Wiener Arbeiterbevölkerung verloren hatte.
02 Adler vor dem Holzinger-Senat
und daß sie bestrebt war, dieses eingebüßte Terrain, diesen verlorenen
Einfluß in Österreich wieder zurückzugewinnen. Es sind Anarchisten auf-
getreten, welche ihre Hand bei allen Vorgängen im Spiele hatten und sicli
immer verwirrend und agitierend für ihre Parteizwecke bemerkbar machten.
Es ist natürlich, daß die sozialistische Partei — ich bitte, es ist ein großer
Unterschied zwischen dieser und der anarchistischen — ein offenes Aug.:;
haben mußte für alle Ereignisse im politischen Leben. Sie bemächtigte sich
daher der Frage der Errichtung von Arbeiterkammern, der Regierungsvorlag.^
bezüglich der Unfallversichetung, der Krankenversicherung usw."
Der Regierungsvertreter spricht hierauf von der „Freiheit", der „Auto-
nomie" und dem „Rebell" und sagt: „Diese Druckschriften begnügen sich
nicht vielleicht damit, das überschwenglichste sozialistische Programm in
volkswirtschaftlicher Beziehung aufzustellen oder zu verfolgen; ja es i^t
eine bedeutsame Tatsache, in allen diesen Zeitungen findet man beinahe
gar nichts von volkswirtschaftlichen Fragen; das scheinen Fragen zu sein.
welche die Herren Anarchisten schon nicht mehr interessieren."
Und zum Schluß sagt der Regieiungsvertreter: „Das darf man wolil
sagen, die Verordnung des Gesamtministeriums ist gewiß nicht gegen die
Arbeiterschaft im ganzen gerichtet, sondern gegen diejenigen Personer.,
welche sich dieser anarchistischen Bestrebungen schuldig machen. Die—
bezüglich erlaube ich mir darauf hinzuweisen, die Anarchistenpartei i^t
wirklich eine für sich bestehende Partei, die sich von der anderen Arbeiter-
schaft losgelöst und ihre eigene bestimmte Organisation hat, und insofern
kann man mit gutem Gewissen sagen, wenn diese Regierungsvorlage von den.
anarchistischen Bestrebungen spricht und sich gegen die Anarchisten richteU
daß hier eine Trennung der Grenzen zwischen Anarchismus und Arbeiter-
schaft wohl eingehalten wurde."
Aus dieser parlamentarischen Lage, insbesondere aus den Erklämngcii
des Regierungsvertreters geht evident hervor, daß von vornherein die Gesetz-
gebung sicji des Unterschiedes zwischen Anarchismus und Sozialismu-.
respektive Sozialdemokratie auch in der praktischen Betätigung vollständj'/
klar bewußt war, und die Verwechslung beider Begriffe daher absolut logisch
ausgeschlossen ist. Zu diesem Schluß gelange ich auch durch die mir al-
Staatsbürger notwendig auferlegte Achtung von der Regierung und ihnii
Worten, denn würde ich glauben, daß die Regierung das gesagt hat, um dann
auch die sozialistischen Bestrebungen auf Grund des Gesetzes zu inkrimi-
nieren und zu verfolgen, so müßte ich logischerweise dahin kommen, wohin
ich nicht kommen darf, das ist, die Regierung der Irreführung des Parlamenl-
und der Doppelzüngigkeit zu beschuldigen.
Wenn die „Gleichheit" bis zum Dezember 1S88 irgendeine
anarchistische Tendenz entfaltet hätte, so glaube ich, hoher Gerichtshof, daU
irgend jemand bei der Verhandlung, wenn auch nicht die Regierung, darauf
hingev.'iesen hätte. Mit keinem Wort war davon die Rede, weder im Aus-
schuß noch im Plenum. Man hat an ganz etwas anderes gedacht, an den
wirklichen Anarchismus, nicht an die „Gleichheit" und an die anderen
.sozialistischen Blätter, sondern es wurde nur vom „Rebell", von der „Auto-
nomie" und von der „Freiheit" gesprochen. Die Anklage der geehrten Staats
anwaltschaft, wie sie vorliegt, enthält, wenn ich auf den heutigen Kommentar
Adler vor dem Holzinger-Senat 93
und die heutigen Erklärungen keine Rücksicht nehme, weniger eine Anklage
gegen die Angeklagten als gegen die Staatsanwaltschaft Wien, die Polizei-
direktion und noch gegen eine Reihe von Behörden.
Wie, meine Herren, die „Gleichheit" wäre ihrer ganzen Tendenz nach
i-in anarchistisches Blatt gewesen, und die geehrte Staatsanwaltschaft Wien
wäre in diesem Falle — verzeihen Sie, es ist ja nicht eingetreten, die Vor-
aussetzung stimmt nicht — so pflichtvergessen, die „Gleichheit" nich:
subjektiv verfolgt zu haben, und die Polizei, bei der die geringste Regung
genügt, um gemaßregelt zu werden, hätte nie gegen die „Gleichheit" etwas
einzuwenden gehabt? Warum ist das nicht geschehen? Weil kein Anlaß
dazu war. Ob es Sache eines Juristen ist, eine solche Beweisführung vor-
zunehmen, wie es der Herr Staatsanwalt heute und in der Anklage getan hat,
überlasse ich getrost der Beurteilung der ganzen juristischen Welt. Um zu
beweisen, daß die Xummer 17 der „Gleichheit" anarchistischen Bestrebimgen
huldigt, wird nicht nach einem Beweismaterial gesucht. Um den Beweis zu
liefern, wird eine Reihe von Nummern zitiert, die zum Teil, insbesondere
Xummer 15, überhaupt gar nicht inkriminiert, gar nicht konfisziert wurden.
Warum hat die geehrte Staatsanwaltschaft in diesem Falle nicht ihre Pflicht
?etan, wenn sie der Ansicht war, daß jene Artikel anarchistisch waren?
Aus dem einfachen Grunde, weil die Staatsanwaltschaft damals dieser
Ansicht nicht war und diese Ansicht herzuleiten eine andere Auffassung der
Sache ist, die, ich weiß nicht aus welcher höheren Inspiration erfolgt ist.
Es ist merkwürdig, daß die Staatsanwaltschaft heute von ihren Beweis-
mitteln zum Teil nicht Gebrauch machen will und in der Zwischenzeit
mühsam andere Xumniern der „Gleichheit" zusamrnengesucht hat, um die
anarchistische Tendenz herzuleiten. Ist es Sache eines Juristen, nachträglich
mühsam einige Xmnmcrn zu suchen, um einen Tatbestand festzustellen, der
zur Zeit, als die Anklage erhoben wurde, bereits feststehend sein sollte?
Wir haben gesehen, daß Morde, Münzverfälschungen, Diebstähle iti
;jnarchistischer Tendenz begangen wurden, um eben mit dem Erfolg des
\'erbrecliens andere Tendenzen zu verfolgen. Es ist aber logisch aus-
geschlossen, daß ein Artikel anarchistisch oder mindestens hochverräterisch
ist — gewaltsame, auf den Umsturz der Staats- und Gesellschaftsordnunü
zielende Bestrebungen sind doch hochverräterisch — wenn die betreffend.'
Notiz, das betreffende Schriftstück überhaupt nicht einmal den Tatbestand
eines Vergehens, geschweige denn den Tatbestand eines Verbrechens enthält.
Tatsächlich ist die -Gleiciheit", soweit mir bekannt ist, und der Herr Staats-
anwalt wird kaum in der Lage sein, mir zu widersprechen — stets wegen
der A'ergchen nach den §§ 300. 302 und 305, in einem einzigen Falle wegen
des Verbrechens der Störung der öffentlichen Ruhe, niemals aber wegen
Hochverrats inhibiert worden, und daraus, daß in einer Reihe von Fällen n i e
ein Hochverrat begangen wurde, schließt die Staatsanwaltschaft, daß von
vornhereiji die Absicht auf hochverräterische Unternehmungen gerichtet
war. Das ist ein Schluß, um den den Herrn Staatsanwalt — allen Respekt
^ or seiner Person und Bedeutung — kein Jurist beneiden wird. Die „Gleich-
heit" ist, wie wir gehört haben, nicht von vornherein anarchistisch gewesen,
sondern sie ist es erst in letzter Zeit geworden. Wenn die „Gleichheit"
anarchistisch ist, dann ist es ja nicht wahr, daß die anarchistische Be-
94 Adler vor dem Holzinger-Senat
wegung eine rückläufige Bewegung genommen hat. Die „Gleichheil" entliiilt
nichts anderes als das Parteiprogramm, und was in der „Gleichheit'" stellt,
ist heute, man kann dies mit Recht sagen, nur das Programm der sozia-
listischen, auf dem Hainfelder Kongreß geeinigten Partei Österreichs. Ist die
-, Gleichheit" anarchistisch, dann haben wir es mit einigen Tausenden von
Anarchisten in Wien zu tun. Das ist vielleicht etwas, was gewünscht wird;
Wozu ein A n a r c Ji i s t e n g e s e t z, wenn wir keine
Anarchisten haben? Das Gesetz läuft ab, infolge-
dessen müssen wir Anarchisten ans Tageslicht bringen.
Der Schlußpassus, betreffend die „Tapferkeit der Dragoner und
Husaren" — ich lasse mich aus Gründen, die ich später erörtern werde,
darauf nicht ein — soll ebenfalls die anarchistische Tendenz kennzeichnen.
Ich wiederhole, wenn etwas Anarchistisches darin gelegen wäre, so müßl.^
auch etwas Hochverräterisches darin gelegen sein, es müßte den Tatbestand
des Hochverrats enthalten, denn insofern die Bestreitungen im Innersten
des Herzens verschlossen sind, hat niemand darüber Rechenschaft zu geljcn.
Der § 11 des Strafgesetzes ist auch durch das Ausnahmegesetz über die
Anarchisten nicht aufgehoben worden. In diesem Artikel wird einfach gesagt:
Es hat eine Reihe von Dragonern — über die Berechtigung oder Xichl-
J)erechtigung will ich kein Urteil abgeben — Handlungen verübt, die über
ihre Pflicht hinausgehen. „Geduld, auch diesen Blinden wird der Star
gestochen werden." Es ist eine Unterlegung, daß die Pflicht und der Dienst
der Dragoner Gegenstand einer Erörterung gewesen sind. So gescheit sind
schon die Sozialdemokraten und es bedurfte nicht der heutigen weiteren
Begründung dessen, daß sie in jedem Menschen, auch in dem Dragoner,
«•in soziales Produkt sehen, das für das, was es tut, nicht verantwortlich ist.
Es wird nur behauptet, wenn diese Leute einst klarer sehen werden, su
vrerden sie den Zusammenhang mit dem Volke besser würdigen und nicht
Handlungen begehen, die über ihre Pflicht und über ihren Dienst hinaus-
gehen. Das ist in dem Artikel gesagt und nichts anderes. Und wie man eine
andere Auffassung haben kann, ist mir bei einer ruhigen und objektiven
Erwägung nicht recht klar. Oder glauben denn die Herren, daß Dr. Adle r
die Meinung hatte, daß er und die Sozialdemokratie im Verein mit den
durch die Artikel gewonnenen Dragonern den gewaltsamen Umsturz dcv
.Staats- und Gesellschaftsordnung herbeiführen werden! Ich glaube, niemand,
der die Sache ernst nimmt, kann solcher Meinung sein. Das gilt für alle
Artikel und auch für die Notiz über die Tätigkeit Teufelmayrs in Sleyr.
Worüber wird fortwährend in derber oder in höflicher Form geschrieben
und gesprochen? Darüber, daß gewaltsam andere Gesetze eingeführt werden
sollen? Nein, darüber, daß die heute bestehenden Gesetze gehandhabt
werden, respektive daß solchen Wünschen wie Lohnerhöhung, Normieriinjr
der Arbeitszeit, Einhaltung der Gewerbeordnung, die innerhalb der heutigen
Staats- und Gesellschaftsordnung ganz gut erfüllt werden können, nach-
gegeben wird. In dieser Hinsicht wird agitiert, in keiner anderen. Es wäre
die größte Torheit, den Angeklagten zuzumuten, daß sie Handlungen unter-
nehmen, die für sie, für die ganze Partei, für die Richtung und die Ziele,
tue sie anstreben, in höchstem Grade schädlich und verderblich wären
Wenn ich schon einmal im Sinne der Staatsanwaltschaft zu der merk-
Adler vor dem Holzinger-Senat 95
würdigen Annahme gelangen würde, daß T e u f e 1 m a y r in S t e y r und
Reitzes in Wien identisch sind mit der herrschenden
Staats- und Gesellschaftsordnung, so frage ich: Wird etwa,
verlangt, daß diese umgebracht oder ihre Güter konfisziert werden sollen?
Nein! Es wird nur verlangt, daß Teufelmayr die Gesetze beobachte und
daß die Leute dort nicht so geschunden werden, wie sie tatsächlich zuletzt
-reschunden wurden, und da habe ich in dem Herrn Staatsanwalt einen
klassischen Zeugen. Ein Artikel der „Gleichheit", in welchem davon ge-
sprochen wird, daß gegen jene, welche gesetzwidrig in Haft behalten, mit
Recht losgeschlagen wurde, war Gegenstand der Einspruchsverhandlung, und
da hatte ich die Befriedigung, aus dem Munde der Staatsanwaltschaft zu
hören, daß infolge der Artikel der „Gleichheit" ungesetzliche Ziistände in
Wiener Fabriken oft abgestellt wurden. Was hat stets die „Gleichheit" ge-
wollt? Daß Recht und Gesetz beobachtet ward, nicht daß dasselbe in scham-
loser Weise unter den Augen der Behörde gekränkt wird. Daß man davoi^
spricht, daß die „Gleichheit" einen gewaltsamen Umsturz, eine Revolution
der Gesellschaftsordnung herbeiführen wolle, ist weder juristisch noch tat-
sächlich zu rechtfertigen. Ich berufe mich auf die Leumundsnoten der
Polizei. Wir haben heute gesehen, daß man nie Voreiliges über etwas sagen
soll. In der Polizeinote ist nämlich am Schlüsse eine vielleicht ungeschickte
Stilisierung enthalten, die im Genchtssal auch heiter gewirkt hat, nämlich
die Folgerung der Polizei: Weil Dr. Adler die „Gleichheit" herausgibt, ist
er sozialdemokratisch gesinnt. Darüber ist von heute an nicht mehr zu
lochen, denn die Staatsanwallschaft hat selbst den Schluß gezogen, si>
finde sich durch den Umstand, daß Dr. Adler die „Gleichheit" herausgibt
und Sozialist sei, zu dem Schlüsse berechtigt, daß er anarchistischen Be-
strebungen huldige, also dem Gegenteil dessen, was die Sozialdemokratie will.
Ich brauche auf den theoretischen Unterschied zwischen Anarchismus
und Sozialismus nicht näher einzugehen, aber folgendes kann keinem
Zweifel unterliegen. Was will der Anarchismus? Die uneingeschränkte
Herrschaft des Individuums, die Freiheit von jeder Beschränkung, die vollste
Individualität. Der Anarchismus ist nichts anderes als ein potenzierter In-
dividualismus, der im Liberalism.us, im Freihandelsprinzip in anderer Hin-
sicht seinen politischen oder ökonomischen Ausdruck gefunden hat. Wa*
will der Sozialismus? Das gerade Gegenteil! Er will eine Organisation der
Gesellschaftsordnung, in der der einzelne zurücksteht gegenüber der Ge-
samtheit und ihren jierechtiglen Interessen, und wenn man bis heute den
Sozialismus, respektive seine theoretische Gesellschaftsvorstellung ange-
griffen hat, so hat man das rnit Vorliebe von dem Standpunkt getan, daß
man gesagt hat: In dem sozialen Staate wird eine furchtbare Knechtun;!
des Individuums, eine bürokratische Wirtschaft herrschen, von der wir
keine Ahnung haben, und eniste Schriftsteller, wie Schäffle, haben den
Beweis unternommen, darzulegen, daß das nicht notwendig mit dem Be-
griff des Sozialismus verbunden sei, daß Individuum und Freiheit so ge-
knechtet werden. Also in den Zielen ist zwischen Anarchismus und Sozia-
lismus der offenbarste Gegensatz, der überhaupt existieren kann, und der-
selbe Gegensalz ist in den Mitteln. Der Anarchismus bedient sich in-
dividueller Mittel, die jeder einzelne setzen kann, und vor allem terro-
IK) Adler vor dem Holzinger-Sonat
ijstischer jMittel. Den Terrorismus hat aber nicht der Anarchismus erfunden,
•ev ist eigen einer Reihe anderer Parteien, die ganz anderes bezielen. Ich
•erinnere teilweise an die irischen Dynamitattentate usw. Der Staatsanwalt
^'äre leicht geneigt, nach seiner Anschauung der Sachlage, auch hier von
Anarchisten zu sprechen, obwohl es sich hier um ganz andere Personen
liandelt als um Anarchisten. Sie wollen in Irland das gerade Gegenteil,
sie wollen die Befestigung des Privateigentums an Produktionsmittehi.
•dessen theoretische Vernichtung das Ziel des wissenschaftlichen Sozia-
lismus ist. Und welches sind die Mittel, welche die Sozialdemokratie an-
v.-endet? Nichts anderes als eine Revolutionierung der Geister gegenüber
der läppischen Propaganda der Tat. Sie werden gefunden haben, daß nichts
•die Sozialdemokratie so empfindlich berührt wie die Schulfrage und daß nie
■ein solcher Protest wachgerufen wurde wie in dem Augenblick, wo es eine
gegnerische Partei versucht hat, die Schule in bezug auf das Bildungsniveau
herabzudrücken. Damit ist ein Berührungsmittel zwischen der Sozialdemo-
kratie und den meisten anderen Parteien gegeben. Daraus folgt, daß jeder ver-
nünftige Sozialdemokrat sich klar ist, um mit Lassalle zu sprechen, der
gesellschaftlichen Zusammenhänge und an alles eher denkt als an einen
■gewaltsamen Umsturz der bestehenden Verhältnisse, und nachdem in
jüngster Zeit zugunsten der Machthaber gegen jene Bestrebungen auf-
:getreten wird, welche die Sozialdemokratie propagiert, so erlaube ich mir in
dieser Beziehung auf eine Rede hinzuweisen, welche in der jüngsten Zeil
B e b e 1 im deutschen Reichstag gehalten hat. Durch das Zitat wird klar-
J legender, als es in der Regel zugestanden wird, erwiesen, daß die öster-
reichische Sozialdemokratie und ihre Vertretung auf demselben Stand-
liunkt stehen wie die deutsche Sozialdemokratie. B e b e 1 sagt gegenüber
<iem deutschen Reichskanzler:
„Endlich, meine Herren, sind wir auch »Revolutionäre«, wir wollen
'f.en Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung, wir sind wie
■tUe Franzosen, die .nur auf die Gelegenheit warten, um über das Deutsche
Reich herzufallen oind es zugrunde zu richten. Ich weiß nicht, wo der Herr
Reichskanzler diese Ansicht her hat. — Es kann sein, daß einige seiner
Lockspitzel, die bekanntermaßen aus der preußischen Staatskasse bezahlt
Averden, ihm das beigebracht haben. Im Programm der Sozialdemokratie ist
■das nicht enthalten; auf unseren Konferenzen und Kongressen ist der-
aleichen auch nicht beschlossen wor^den."
„Wir -sind als Partei nur einig über das, was wir wollen; aber über
•das "Wie sind wir nicht einig, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil die
Verwirklichung unseres Programms sich nicht im Handumdrehen machen
läßt, weil dies eine längere Entwicklung erheischt und es Wahnwitz wäre,
■aegen diese Entwicklung ankämpfen zu wollen und zu glauben, iman könnte
•^egen die Überzeugung und gegen die wirklichen oder vermeintlichen Inter-
■cssen der großen Mehrheit eines Volkes x-beliebige Zustände herbeiführen.
Nein, dadurch unterscheidet sich die moderne Sozialdemokratie von der
politischen Bewegung früherer Epochen, daß sie vollständig auf dem Boden
■der Entwicklung steht, denselben vollkommen anerkennt. Man kann nicht
in einem beliebigen Moment einen beliebigen Staats- und Gesellschafts-
izustand herbeiführen, sondern es ist notwendig, daß die Gesellschaft selbst
Adler vor dem Holzinger-Senat 97
als solche das Bedürfnis dazu anerkennt, und dieses Bedürfnis suchen wir
allerdings in der Gesellschaft hervorzurufen. Das ist richtig, dafür arbeiten
wir; das ist aber kein Verbrechen, das ist ein Recht, welches jeder Staats-
bürger haben niuß oder wenigstens haben soll; halten wir uns dabei innerhalb
der Schranken der für alle gültigen Gesetze, dann hat niemand ein Recht,
uns dafür zur Verantwortung zu ziehen oder gar uns Vorwürfe zu machen.
Aber das Revolutionmachen oder das Verlocken zur Revolution überlassen
wir den königlich preußischen Lo<^kspitzeln. Es fällt uns also nicht ein,
Revolutionen, das heißt einen gewaltsamen Umsturz hervorzurufen. Ich gehe
weiter, zu sagen: Es wäre die größte Torheit, wenn wir das tun wollen. Ja
ich gehe noch weiter und erkläre: Ich habe die Überzeugung, daß — ich
habe das schon früher ausgesprochen — wir den Zeitpunkt erleben werden,
wo in Europa angesichts der großartig gesteigerten Kultur auf der einen
Seite und der ungeheuren Vernichtungsmittel auf der anderen Seite Kriege
unmöglich werden, auch die Revolution im alten Stil unmöglich wird. Meine
Herren, es ist heute nicht mehr möglich, daß man Revolutionen durch Barri-
kaden und Straßenkämpfe noch durchführen könnte.'"
So spricht einer der vorgeschrittensten Vertreter der Sozialdemokratie,
der sehr wohl weiß, wie jeder vernünftige Sozialdemokrat, daß heute ein jeder
Aufstand oder Putsch nicht niedergeschossen, sondern von den Dragonern und
Husaren niedergeritten wird, und da will man vernünftigen Männern impu-
tieren, daß sie auf eine gewaltsame Änderung der Gesellschaftsordnung aus-
gehen und in diesem Sinne schreiben!
Sehr interessant ist eine Stelle aus Nr. 18 der „Gleichheit", welche
bis heute der Hauptbeweis für den Anarchismus der „Gleichheit" ist und der
Hauptbeweis 'für die Toleranz der Staatsanwaltschaft Wien, welche so gütig
war, anarchistische Druckschriften nicht einmal objektiv zu behandeln.
In Nr. 13 der „Gleichheit" wird darauf hingewiesen, daß ein Wucherer
infolge eines Exzesses, den er durch sein Vorgehen veranlaßte, wegen des
Verbrechens der öffentlichen Gewalttätigkeit verurteilt wurde; ein Jurist
— ich war selbst derjenige, der so anarchistisch gehandelt hat — hat den
Herrn Dr. Ad'ler darauf aufmerksam gemacht, daß eine frappante Analogie
zwischen diesem Fall und den Tramwaystreiks bestehe, und daß man nach
derselben Auffassung ebenso die Herren Aktionäre der Tramway und den
Verwaltungsrat zur Verantwortung ziehen könne w^ie den Herrn Trebitsch.
Das wurde gebracht. Die verehrte Staatsanwaltschaft, in Verlegenheit, etwas
Anarchistisches zu suchen, hat es als ein anarchistisches Bestreben erklärt,
daß in der „Gleichheit" ein Artikel erschienen sei, in welchem die gleiche
Handhabung des Gesetzes verlangt wird. In der Anklage ist das enthalten,
denn der Artikel ist als solcher rot angestrichen und wurde in der Anklage-
schrift dessen Verlesung beantragt. Ich führe das nur an, um zu zeigen,
wohin man kommt, wenn man mit so unimöglichen Argumenten eine so un-
mögliche und — es sei mir der Ausdruck gestattet — horrende An-
klage, was die Kompetenz betrifft, erhebt, wie die vorliegende es ist. Die
Exzesse in Steyr und Kladno wurden bereits behandelt, und ich habe mir
zu bemerken erlaubt, daß nicht der geringste Anlaß dafür zu finden sei, daß
zwischen den Artikeln der „Gleichheit" und den Exzessen ein Zusammen-
hang sei. Es wurde von einer Brandfackel gesprochen. Aber wo liegt der
98 Adler vor dem Holzinger-Senat
Beweis für den Zusammenhang, den die Anklage der „Gleichheit" imputiert?
In Steyr waren Übelstände, die in ganz Steyr und unter der Arbeiterschaft,
bekannt waren. Das hat nicht genügt. In der ^Gleichheit" ist eine Notiz er-
schienen, auf die wahrscheinlich die durch die Übelstände aufgeregten Steyrer
gewartet haben, und erst als in der „Gleichheit" das Vorgehen Teufelmayrs
■gerügt wurde, erhoben sie sich, um die herrschende Staats- und Gesellschafts-
ordnung umzustürzen. Ich muß erklären, daß ich mich zu einer solchen
Schlußfolgerung mit meiner Logik nicht aufzuschwingen vermag. Es ist
seitens des Dr. Adler bereits hervorgehoben worden, 'daß die anarchistische
Partei auf ein Minimum reduziert wurde, und daß kaum anzunehmen ist,
daß es in Österreich Anarchisten in dem Sinne, wie wir sie kennengelernt
haben, heute gibt.
Die Maßregel der Unterdrückung der „Gleichheil", an die ich hier
keine Kritik knüpfen will, ist im Lauife ider Verhandlung besprochen worden,
und es gehört keine große Sehergabe dazu — wenn d'er hohe Gerichtshof sich
die Mühe nehmen würde, den abgewiesenen Einspruch zu lesen, so würde er
es finden — um zu wissen, warum gerade jetzt die ,.Gleiichheit" sistiert
wurde. Es ist richtig, was Dr. Adler sagte: Ursprünglich sollte zuerst die
Verurteilung (der Angeklagten Platz greifen, um d'ann auf Grund des Aus-
nahmegesetzes gegen die „Gleichheit" vorzugehen; dann aber hat man sich
gedacht, es ist doch besser, wenn man zuerst die „Gleichheit" unterdrückt.
Ich weiß, daß diese Maßregel auf Sie nicht den geringsten Eindruck machen
darf, aber da so viel vom Anarchismus und' Terrorismus die Rede war, frage
ich, welches ist von allen terroristischen Mitteln, die im Laufe der Verhand-
lung vorgekommen sind, jenes Mittel, das am meisten geeignet
ist, den Terrorismus zu erregen? Ich würde der Meinung zuneigen,
daß die U n t e r d r ü c k u n g d' e r „Gleichheit" unmittelbar vor
der gerichtlichen Verhandlung gegen die Herren Dr. Adler
und B r e t 3 c h n e i d c r den größten Anspioich darauf machen kann, solchen
Mitteln beigezählt zu werden.
Der Herr Staatsanwalt hat von gewaltsamen Eruptionen gesprochen.
In Belgien waren solche Eruptionen, und es 'hat sich gezeigt, d'aß die Eruptio-
nen hervorgerufen wurden durch die Verhältnisse und die belgischen Lock-
spitzel. In Deutschland waren solche Eruptionen bei den Streikbewegungen,
wobei sich gezeigt hat, daß die Sozialdemokratie mit diesen Eruptionen
überhaupt nicht das mindeste zu tun hat, weil sonst die Führer der Bewegung
nicht an höchster Stelle empfangen worden wären. Der geehrte Herr Staats-
anwalt hat die Bemerkung gemacht, die ich mir für die Zukunft merken
werde, daß die Staatsanwaltschaft sich gewiss-ermaßen lächerlich miachen
würde, wenn sie Schiller oder andere Dichter konfiszieren würde. Nun, ich
glaube, daß fast d'er ganze deutsche Parnaß der Konfiskation in einzelnen
Fällen verfallen ist. Die Auffassung, daß die Leser der „Gleichheit", wenn
Teil zitiert würde, sofort zum Schwert greifen werden, um gegen die Unter-
drücker loszugehen, ist gegenüber den Lesern der „Gleichheit" eine so sangui-
nische, daß ich mich ihr auch nicht beigesellen kann.
In packenJcr und wirkungsvoller Weise hat der Herr Staatsanwalt
den Passus, bezüglich der „hungernden Weiber und Kinder" vorgelesen, und
ich muß sagen, daß ich bei seinem Vortrag einen größeren Eindruck emp-
Adler vor dem Holzinger-Senat 99
fand als bei der Lektüre der „Gleichheil", aber ich komme nicht zu der
-Schlußfolgerung, daß das Lesen und Hören den größten Eindruck macht.
So oft ich im Leben eine solche traurige Gestalt gesehen habe, hat es mich
mehr ergri'ffen, als wenn der bedeutendste Deklamator, und sei es auch dej
Herr Staatsanwalt, vorträgt. Darin liegt wieder eine Verwechslung mit einer
Aufreizung zu Handlungen. Darin liegt aber keine Billigung der Handlung,
sondern nur eine Verurteilung der jetzigen Zustände, in welchen diese
elenden, hungernden Weiber und Kinder nur ein notwendiges Glied in der
Gliederung der Gesellschaft sind. i
Die Bemerkungen des Herrn Staatsanwalts bezüglich des Trainway-
streiks kann ich nicht recht in Zusammenhang bringen mit dem, was ein
Vertreter dieser Behörde früher einmal gesagt hat. Damals hieß es, T,Niemand
ist mitschuldig, es ist eine frivole Lüge und Verdächtigung, das zu be-
haupten", und auf einmal ist nun die „Gleichheit" an diesen Exzessen
schuld; auch der fernerliegenden in Steyr und Kladno. Ich bitte d'cn Herrn
Staatsanwalt, zu tun, was seines Amtes ist, und mit den gesetzlichen Mitteln
vorzugehen. Findet er keinen Tatbestand, dann ist er ebensowenig berechtigt
wie ein anderer Mensch, jemand einen Vorwurf zu machen und eineri
Zusammenhang sich zu konstruieren, der nicht existiert. Eine solche bloße
Behauptung beweist im vorliegenden Fall gar nichts. Der geehrte Staats-
anwalt hat sich bemüßigt gesehen, zu behaupten, daß etwas sozialdemo-
kratisch und zugleich anarchistisch sein könne. Das ist ein logischer Wider-
spruch, den ich auch nicht verstehen kann, aber wenn es dahin käme, daß
für die österreichischen und' Wiener Verhältnisse ein solcher feststehen'äer
Begriff vom Anarchismus konstruiert wird, daß die Handlungen, wekhe die
Angeklagten begangen haben sollen, unter diesen Begriff gebracht werden,
dann muß der Schluß gestattet sein, daß von nun an in ö s' t -c r i* e j^«;]^!
oder Wien unter Recht und Gesetz etwas anderes ver-
standen werden muß, als man bisher unter Recht u^,d
Gesetz in der ganzen vernünftigen, gebildeten W feit
V e r s t a n d e n h a t. : : ! 't
Nachdem die Kompetenz meinerseits bestritten wird, habe kh keinieii
Anlaß, auf das> Gebiet der merilorischen Erörterung mich zu begeben. EJs
gibt Fälle, wo man nicht allein durch die Interessen seines Klienten geleitet,
sondern durch die Verhältnisse auf einen höheren Standpunkt gehoben wir(^,
und ich glaube, daß ich meiner Pflicht im hohen Grade vergeberi würde,
wenn ich mich auf den Weg begeben würde, auf den die Anklage die Ver-
teidigung drängen will. Ich halte es für meine Pflicht, vor einem Gerkhtphof,
dessen Kompetenz zweifellos nicht gegeben ist, die Verantwortung in merito
nicht zu führen, ich will in dieser Richtung nicht als erster ein Präjudiz
schaffen und Konsequenzen hervori-ufen, die in hohem Grade ge^fährlich sind
für die persönliche Freiheit eines jeden unabhängigen Mannes. Das wxir<ie
ich nicht tun, selbst wenn meine Klienten die höchste Strafe bekommen
sollten. Es gibt etwas, was mir höher steht als selbst das Interesse meiner
Klienten, ja auch der sozialdemokratischen Partei. Ich bringe dem hohen
Gerichtshof gerne und' jederzeit die schuldige Achtung r-ntgegen, daß icTi
un'bedingt annehme, daß der hohe Gerichtshof 'das tun wird, was seines
Amtes ist. Er wird nur dadurch das durch eine solche Anklagte
'100 Adler vor dem Holzinger-Senat
lief geschädigte Ansehen der Justiz wiederherstellen, das
Vertrauen in die Rechtssicherheit unserer Zustände wieder hervorrufen,
wenn er das einzig richtige Erkenntnis fällt: Das k. k. Landesgericht Wien
erklärt sich zur Erledigung der vorliegenden Strafsache als nicht kompetent.
Angeklagter Dr. Adler:
Ich würde nach den ausgezeichneten und umfassenden
Erörterungen meines Vertreters und Freundes nicht mehr das
Wort ergriffen haben, wenn ich nicht verpflichtet wäre, die
Gelegenheit zu benützen, um ein paar Bemerkungen der ge-
ehrten Staatsanwaltschaft für künftige Zeiten fest-
zunageln. Ich habe von vornherein es für sehr schwer ge-
halteti, die allgemeinen, verschwommenen Wendungen der
Anklageschrift in mein geliebtes Deutsch zu übertragen, wie
es für die mündliche Behandlung notwendig ist, aber darauf
war ich nicht gefaßt, daß das Plädoyer des Staatsanwalts so
direkt nur für den Angeklagten und indirekt gegen den Staats-
anwalt selbst gehalten sein wird, wie es geschehen ist. Ich will
nicht darauf eingehen, daß der Herr Staatsanwalt meine
mangelhaften juristischen Kenntnisse konstatiert und sich ent-
schuldigt hat, daß er nicht ein höheres Strafausmaß verlangt —
er sei entschuldigt. Aber der Staatsanwalt hat. vor allem einen
Punkt nicht konstatiert. Hier handelt es sich darum, daß wir
vor einem Gerichtshof stehen, für „anarchistische, auf den
Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnungen"
hinzielenden Delikte. Das ist nicht, wie der Staatsanwalt sagt,
eine Definition, das ist eine Apposition. Nicht jeder
gewaltsame Umsturz gehört vor das Ausnahmegericht, sondern
nur speziell ein anarchistischer.
Noch eines. Er hat mich persönlich angeredet und geagt:
„Dr. Adler will gewiß nicht einen gewaltsamen Umsturz, aber
er überlegt nicht, was geschieht, wenn in der Weise geschrieben
und gesprochen wird, wie er es tut. Er müsse voraussetzen, daß,
wenn an einem feuergefährlichen Ort die Brandfackel er-
hoben wird, ein Feuer entsteht." Darauf habe ich zu sagen :
Das Beispiel mit der Fackel stimmt. Allerdings wird die Fackel
erhoben, um die Zustände zu beleuchten, und wenn es wahr sein
sollte, daß von dieser brennenden, zur Erleuchtung geschaffe-
nen Fackel einmal ein Funke auf ein Pulverfaß fällt, dann
möchte ich den Gerichtshof fragen : „W er ist denn dann
Adler vor dem Holzinger Senat 101
schuld, ist die Fackel schuld oder sind es die
Pulverfässer?" Wenn Sie die Explosionen, die der Herr
vStaatsanwalt so beweglich geschildert hat, nicht haben wollen,
dann schaffen Sie gefälligst die Pulver-
fässer w e g. Nicht wir sind diejenigen, die diese hinstellen,
wir zeigen nur mit der Fackel, daß sie da sind, wir wollen Ge-
legenheit geben, sie wegzuschaffen. Der Herr Staatsanwalt
hat in einer überschwenglichen Freundlichkeit mir gegenüber
gesagt: er sei überzeugt, wenn mir — er meint die Sozialdemo-
kraten — die Macht gegeben wäre, die sozialen Verhältnisse
zu ordnen, so würde ich es in friedlicher Weise tun. Gewiß,
er hat recht, und darum suchen wir uns d reMacht
zu verschaffen. Der Herr Staatsanwalt sagt: „Es. sind
a n d e r e F a k t 0 r e n da, die es nicht gestatten werden, daß
ihnen alle ihre Vorrechte in friedlicher Weise weggenommen
werden." Das sind diejenigen, die heute besitzen und regieren.
Gewiß werden sie es nicht gestatten, und weil sie es in
friedlicher Entwicklung nicht gestatten,
darum klagen wir sie der Gewaltsamkeit an, und anstatt daß
der Herr Staatsanwalt den natürlichen Schluß zieht und d i e
heute Herrschenden und Besitzenden des An-
archismus und der gewaltsamen Aufrechthaltung der bestehen-
den Zustände anklagt, bringt er u n s hieher. In schärferer,
präziserer Weise ist noch nie von einem Staatsanwalt unsere
prinzipielle Haltung festgestellt worden, wie es ja auch von
ihm nicht anders zu erwarten war. Denn man würde ihn
schlecht beurteilen, wenn man ihn nur nach dieser Anklage
l)eurteilen wollte, und natürlich müßten seine heutigen Reden
— ich bin ihm dafür nur dankbar — seiner Anklage? den
letzten Stoß geben. Ich habe schon gesagt: Wir kämpfen nicht
meritorisch gegen die Anklage, uns handelt es sich nur darum,
daß wir vor den Richtern, vor der öffentlichen Meinung und
vor unseren Parteigenossen als das dastehen, was wir sind;
als Sozialdemokraten. Wenn Sie uns als Sozialdemo-
kraten einsperren wollen — immerhin, wir können es nicht
hindern, aber wir verwahren uns dagegen, daß man uns unter
einem falschen Namen einsperrt, und wir verwahren uns da-
gegen, daß man uns, um die Sache vielleicht weniger agitato-
risch und unter vier Augen abzumachen, vor einen anderen
Gerichtshof bringt als vor jenen, der uns gebührt. Das ist
102 Adler vor dem Holzinger-Senat
ein Rechtsbruch, gegen den wir protestieren.
(Bravorufe im Auditorium.)
Präsident: Der Saal ist mit Ausnahme des Barreaus unki' der
Journalistenbank zu räumen und niemand anderer zur Urteilsverkündung
hereinzulassen. Der Gerichtshof wird das Urteil fällen. (Der Gerichtshof
zieht sich zur Beratung zurück.) Nach Wiederaufnahme der Sitzung: Ver-
nehmen Sie das Urteil! Im Namen Seiner Majestät des Kaisers:
Das k. k. Landesgericht hat über die Anklage der Staatsanwaltschaft
gegen Dr. Victor Adler und Ludwig Bretschneider nach der heute
durchgeführten Hauptverhandlung zu Recht erkannt:
Dr. Victor Adler wird von der wegen des Vergehens
nach § 302 St.-G. erhobenen Anklage gemäß § 259, Z. 3
St.-P.-O., freigesprochen, ist dagegen schuldig der Ver-
gehen nach §§ 300, 305, 491 und Artikel I des Gesetzes vom
17. Dezember 18G2 und wird deshalb nach § 305 St.-G. unter
Anwendung des § 260 lit. b) zu einer strengen Arreststrafe
in der Dauer von vier Monaten, verschärft mit einem
Fasttag vemiteilt, und hat die Kosten des Strafver-
fahrens zu tragen und wird ein Kautions Verlust von 100
Gulden gegen die „Gleichheit" ausgesprochen.
Ludwig Bretschneider wird von den Vergehen nach
§§ 300, 302, 305 u n d 491 g e m ä ß § 259, Z. 3 St.-P.-O. freigesprochen,
ist dagegen schuldig der Übertretung der Vernach-
lässigung der pflichtmäßigen Obsorge im Sinne des
Artikels III des Gesetzes vom 15. Oktober 1868 und wird
deshalb unter Anwendung des § 260 lit. b) zu einer Geld-
strafe von 30 Gulden, eventuell zu sechs Tagen und zum
Ersatz der Strafkosten verurteilt.
Die Gründe des Erkenntnisses sind in Kürze zusammengefaßt fol-
gende: Der Gerichtshof mußte vor allem die Frage in Erwägung ziehen, ob
er zur Beurteilung dieser durch den Druck veröffentlichten Aufsätze kom-
petent sei, das heißt ob der Veröffentlichung der inkriminierten Aufsätze
anarchistische, auf den gewaltsamen Umsturz der staatlichen und gesell-
schaftlichen Ordnung hinzielende Tendenzen zugrunde liegen. Der Ge-
richtshof ist dabei von der Erwägung ausgegangen, daß es ganz gleichgültig
ist, als zu welcher Partei gehörig die Angeklagten sich selbst bezeichnen,
daß es gleichgültig ist, ob das Journal ».Gleichheit'" in früherer Zeit und bei
einem anderen Anlaß solche Tendenzen gezeigt hat oder nicht, sondern daß
OS hauptsächlich darauf ankommt, ob gerade die inkriminierten Artikel und
lierade zu der Zeit der Veröffentlichung derselben solche auf den Umsturz
hinzielende Bestrebungen gezeigt haben. Maßgebend zur Beurteilung dieser
Frage ist in erster Linie jener Artikel, der unter der Aufschrift „Glossen"
in der inkriminierten Nummer enthalten ist, und wenn man berücksichtigt,
daß dieser Artikel zu einer Zeit erschien, als eine große Masse der Be-
völkerung im 10. Bezirk und in Hernais in großer Erregung war und ein
großer Teil der Aibciterschaft an den dort entstandenen Krawallen sich
beteiligt hat, und daß der Angeklagte voraussehen mußte, daß dieser Artikel
Adler vor dem Holzinger-Senat 103
die Leidenschaften dieser Leute noch mehr zu reizen geeignet ist, und
daß er trotzdem den Artikel veröflentlicht hat, so muß man ihm zumuten,
daß es ihm um die Herbeiführung solcher gewaltsamen auf sozialistischem
Hintergrund beruhenden Störungen zu tun gewesen ist. In diesem Artikel
wird in den grellsten färben das angebliche Elend der Arbeiterschaft ge-
schildert und gefragt: Wie kommt es, daß dort solche Krawalle nicht sind?
Dieser Artikel rechtfertigt mit Rücksicht auf die Unruhen, Ruhestörungen
und Gewalttätigkeiten, die damals aufgetreten sind, entschieden die Stel-
lung der Angeklagten vor den Ausnahmegerichtshof. In dem weiteren Ar-
tikel in Nr. iC) vom November 1888, der überschrieben ist; „Die Furcht vor
dem Blitz" wird dem Leserkreis der „Gleichheil"' ein herankommender, ge-
w-altsamer Umsturz als geradezu höchst wahrscheinlich und in der nächsten
Zeit zu erwarten, hingestellt, pl)enso im dritten Artikel, in welchem die
Arbeiterschaft wieder in greller Weise aufgeregt und gegen die besitzenden
Klassen aufgereizt wird. Das ist nämlich im Schlußsatz des inkriminierten
Artikels in Nr. 18, wo es heißt: „Wir sehen überall, wohin sich der Blick
richtet" usw. Nachdem der Gerichtshof gefunden hatte, daß diese Ver-
öffentlichungen in jenem Sinne geschehen sind, der die Stellung der „Gleich-
heit' vor den Ausnahmsgerichtshof rechtfertigt, so mußte dann erwogen
werden, welche strafbare Handlung durch die inkriminierten Artikel be-
gründet wird. Bezüglich des ersten Artikels ist es ganz gewiß, daß, wenn
die Verwunderung darüber ausgesprochen wird, daß zuzeiten gewaltsame
Ruhestörungen überhaupt nicht stattfinden, dies eine Gutheißung einer
ungesetzlichen Handlung ist und daher den Talbestand des § 305 St.-G.
begründet. In dem zweiten Artikel über den Tramwaystreik hat die Staats-
anwaltschaft das Vergehen nach § 302 St.-G. erblickt. Von dieser Anklage
mußte der Angeklagte freigesprochen werden, weil die Aufreizung aller-
dings gegen die Besitzenden, aber nur gewisse Kreise der Besitzenden,
nämlich eine Aktiengesellschaft, gerichtet wird. Eine einzelne Aktiengesell-
schaft ist aber mit einem ganzen Stand nicht zu identifizieren und steht
nicht unter dem Schutze dieser Gesetzesstelle, und nachdem der Angriff
nur gegen die Tramway und deren Verwaltungsrat gerichtet war, mußte
der Angeklagte von diesem Teil der Anklage freigesprochen werden. Ander-
seits liegt in dem Artikel der Tatbestand des § 305, und zwar namentlich
im Anfang, wo davon gesprochen wird, daß die Kutscher, welche gefahren
sind, mit Verachtung und Beschimpfung belegt worden sind usw., eine
Gutheißung einer ungesetzlichen Handlungsweise und außerdem der Tat-
bestand des § 300, indem von der Polizeidirektion, dem Gemeinderat und
Ministerium gesagt wird, daß, wenn sie ihre Pflicht verständen, sie gewisse
Aktionen in Szene setzen müßten, die sie nicht in Szene gesetzt haben.
Es ist darin der Vorwurf gelegen, daß die Behörde ihrer Pflicht nicht nach-
kommt. Der dritte Artikel mit der Aufschrift: „Die Tapferkeit der Dragoner
und Husaren" begründet den Tatbestand nach § 491 St.-G., weil darin in
verspottender Weise die Tätigkeit einzelner Soldaten dargestellt und gesagt
wird, daß sie mit einem besonderen Aufwand an Gewalt gegen alte Weiber
gegangen sind, daher sie dem öffentlichen Spott ausgesetzt wurden. Darin
liegt der Tatbestand des § 491 und des Artikels V der zitierten Strafgesetz-
novelle. Als erschwerend mußte bei dem Angeklagten angenommen werden
104 Anklagen infolge der Kandidatur in Nordböhmen
die Konkurrenz, als mildernd das Geständnis des Faktischen. Auch wurde
auf seine Familie Rücksicht genommen und daher § 260 b) in Anwendung
gebracht.
Bezüglich des Zweitangeklagten ist ein Beweis darüber, daß er in
Kenntnis des Inhalts die inkriminierten Artikel zum Druck beförderte, nicht
erbracht worden. Er gesteht nur zu, daß er dieselben trotz seiner Pflicht als
verantwortlicher Redakteur nicht gelesen hat. Er mußte daher der Ver-
nachlässigung der pflichtmäßigen Obsorge schuldig erkannt werden. Als
erschwerend wurde angenommen, daß durch diese Vernachlässigung eine
Reihe strafbarer Handlungen begangen wurden und die Artikel Publizität
erlangt haben, als mildernd seine Unbescholtenheit, sein Geständnis, die
Rücksicht auf die Familie, da er nach der Polizeinote für seine Eltern zu
sorgen hat. Es wurde daher auf eine Geldstrafe erkannt. Die Rechtsmittel
sind ihnen bekannt.
Verteidiger: Bezüglich des Dr. Adler melde ich sofort die
Nichtigkeitsbeschwerde und auch die Berufung an und bitte um Zu-
stellung des Urteils. Bezüglich des Herrn Bretschneider behalte ich
mir Bedenkzeit vor.
Präsident: Die Verhandlung ist geschlossen. (Schluß der Ver-
handlung 3 Uhr nachmittags.)
Die Nichtigkeitsbeschwerde abgelehnt.
In nichtöffentlicher Sitzung wurde im November vom k. k. Obersten
Gerichts- und Kassationshof ein Teil der Nichtigkeitsbeschwerde (wegen
Nichtkompetenz des Ausnahmegerichtshofes) sofort verworfen, der andere
Teil (wegen falscher Anwendung des Gesetzes) in öffentlicher Sitzung am
7. Dezember 1889 und ebenso die Berufung gegen das Strafausmaß
zurückgewiesen*). („Arbeiter-Zeitung" Nr. 16 vom 13. Dezember 1889.)
Damit war das Unrecht „in Rechtskraft" erwachsen.
Anklagen infolge der Kandidatur in Nord-
böhmen.
Die Aufstellung Adlers als Kandidat für die Nachwahl im privile-
gierten Städtewahlkreis Reichenberg im Jahre 1891 hatte den Zweck, durch
die Ausnützung der verhältnismäßigen Versammlungsfreiheit während der
Wahlbewegung die Idee des Sozialismus zu verbreiten. Irgendeine Aus-
sicht, gewählt zu werden, bestand bei dem damaligen "Wahlrecht nicht.
Adler hielt zahlreiche Versammlungen ab, wobei die Regierungsvertreter
soviel als möglich störten. Auf Geheiß der Gablonzer Bezirkshauptmann-
schaft wurde den Nichtwahlberechtigten auch der Zutritt zu den Wähler-
versammlungen verwehrt, und die Gendarmen holten aus den
*) Siehe Heft 1 „Victor Adler und Friedrich Engels",
S. 3, Adlers Brief vom 21. Jänner 1890 und Fußnote dazu.
Anklagen infolge der Kandidatur in Nordböhmen 105
Wohnungen die von den Sozialdemokraten verteilten Exemplare des
Wahlaufrufes. Diese Willkürakte geißelte Adler in den folgenden Versamm-
lungen und verteilte selbst Wahlaufrufe an die Versammelten. Die Folge
war eine strafgerichtliche Untersuchung, die zuerst wegen Verbrechens der
„Störung der öffentlichen Ruhe und Ordnung" geführt wurde, also vor
das Schwurgericht gekommen wäre. Offenbar weil es nicht verläßlich
eine Verurteilung besorgt und die Verhandlung zu viel Aufsehen erregt
hätte, wurde die Anklage auf Beleidigung der k. k. Bezirkshaupt-
mannschaft Gablonz und der k. k. Gendarmerie beschränkt, begangen durch
die Reden in den am 21. und 22. Februar 1891 in Johannesberg und
Aforchenstern abgehaltenen Wählerversammlungen und durch die unbefugte
Verteilung von Druckschriften in den Wählerversammlungen in Kratzau
und Neastadtl: Aus den Verbrechen waren Übertretungen geworden, für die
der einfache verläßliche k. k. Bezirksrichter von Reichenberg genügte.
Am 19. September 1891 fand die Verhandlung statt. Die Verteidigung
fühlte in glänzender Weise Dr. J e n n e 1, welcher nachwies, daß das Delikt
der Beleidigung der Gendarmen und der Bezirkshauptmannschaft, wenn
es vorhanden wäre, längst verjährt sei. Die Staatsanwaltschaft habe die An-
klage zunächst auf ein schwereres Delikt: Störung der öffentlichen Ruhe-
geführt und als sie sich entschloß, auf eine Verhandlung vor den Ge-
schwornen doch lieber zu verzichten, war es zu spät. Tatsächlich wurde
die notwendige Zustimmung des Landesverteidigungsministeriums zur Er-
hebung der Anklage erst im nachhinein eingeholt. In der Sache
selbst erklärte („Arbeiter-Zeitung'' Xr. 39 vom 25. September 1891)
Dr. Adler:
Meine Äußerungen: „Die Ausschließung der Nichtwähler
von den Wählerversammlungen ist gegen Gesetz und Recht"^
und „Man muß der brutalen Gewalt weichen, kann aber keine
Achtung vor einer solchen Behörde haben", ist einfach eine
berechtigte Kritik der Verletzungen des Versammlungs-
gesetzes und des Eigentumsrechtes gewesen. Die Tatsache,,
daß einzelne Exemplare des sozialdemokratischen Wahl-
aufrufes aus den Häusern geholt wurden, nachdem sie bereits
Privateigentum geworden waren, ist durch Zeugen bewiesen
und wird nicht einmal von den Behörden bestritten. Die Ver-
teilung der Wahlaufrufe durch mich ist zum Ersatz der von den
Behörden weggenommenen erfolgt.
Dr. Jennel charakterisierte in scharfen Zügen die Beschränkungen
der Wahlfreiheit, welchen die Sozialdemokraten ganz allein von allen Par-
teien ausgesetzt waren, welche ihn, obwohl er keineswegs der Partei des
Angeklagten angehöre, veranlassen, seine Sache zu vertreten. Was heute
der Sozialdemokratie und etwa den Jungtschechen zustoße, könne morgen
einer anderen mißliebigen Partei zustoßen.
106 Singt's nur weiter
Dr. Adler wurde von der Anklage wegen Beleidigung
der Gendarmerie freigesprochen, und zwar wegen ein-
getretener Verjährung, dagegen wegen der anderen Delikte zu
acht Tagen Arrest sowie zu einer Gr eidstrafe von
5 0 fl. -verurteilt.
Singt's nur weiter!
Am 3. Dezember 1S92 nahm Adler in Bartsch' Saallokalitäten in
yioridsdorf an einer Arbeiterversammlung teil, die den Zweck hatte,
Delegierte zum Parteitag nach Linz zu wählen. Der Regierungsvertreter,
k. k. Polizeikonzipist Dr. Wilhelm Kaiser, lösle deshalb die Versamm-
lung auf, und als die Anwesenden wie gewöhnlich vor dem Weggehen das
„Lied der Arbeit" anstimmten, verbot er das Singen. Adler aber sagte
zu den ihn umgebenden Arbeitern: „Singt's nur weiter!" Deshalb
wurde Adler beim Bezirksgericht Korneuburg (dahin gehörte damals noch
Floridsdorf) wegen Ein meng ung in eine Amtshandlung (§ 314
St.-G.) angeklagt.
Bei der Verhandlung am 11. Mai 1892 verantwortete yich (laut Akt
i72/l892)
Adler:
Er hai)e nicht „Singt's nur weiter!", eondern „Singen
wir weiter!" gesagt und habe selbst mitgesungen, er habe
daher in eigener Angelegenheit gehandelt und
daher keine Einmengung im Sinne des § 314 begehen können;
er müsse ferner das vom Regierungsvertreter erlassene Verbot
•der Absingung des Liedes der Arbeit als eine den bestehenden
Geeetzen widersprechende Amtshandlung ansehen, der daher
nicht Folge zu leisten war; er sei schließlich in jener Versamm-
lung bloß ein Besucher ohne jede Funktion oder Autorität ge-
wesen und konnte daher weder erwarten, noch die Absicht
haben, auf die Arbeiter einen bestimmenden Einfluß auszu-
üben.
Der k. k. Bezirksrichter Dr. W i e s e r veroiteilte Adler im Sinne
der Anklage zu 4 8 Stunden Arrest. In der Begründung heißt es unter
anderem :
„Die letzte Behauptung des Angeklagten (daß er auf die Arbeiter
keinen bestimmenden Einfluß auszuüben erwarten oder beabsichtigen
konnte) widerspricht sowohl den allgemein bekannten Talsachen, daß der
Angeklagte in Arbeiterkreisen stets großen Einfluß besitzt, als auch der hier
speziell durch die Zeugenaussage des Dr. Kaiser festgestellten Wahr-
nehmung, daß nach den inkriminierten Worten des Angeklagten das
verbotene Singen an Kraft und umfang bedeutend
z u n a h m."
Die Auflösung einer Versammlung in Warnsdorf 107
Die Berufungsverhandlung.
Gegen das Urteil appellierte Adler. Bei der Berufungsverhandluns
-am 27. Juni 1892 (Vorsitzender Dr. Marfen) wurdo das Urteil bestätiot.
In der Begründung hieß es: Die Volksversanunlung war (nach der
Anzeige) von zirka 300 Personen besucht. Grund der Auflösung: Versuchte
Abstimmung über die Nominierung eines Delegierten zum
Parteitag der Sozialdemokratie in Linz. Victor Adler soll gesagt
haben: „Singt's nur zu, und wenn man uns hier nicht singen läßt, werden
wir draußen singen!" Adler verantwortet sich dahin: Es ist in ganz
Österreich üblich, daß die Arbeiter nach Schluß der Versammlung unter
Absingung des Liedes der Arbeit auseinandergehen. Dies ist behördlich
nirgends, außer in Floridsdorf, verboten. Vorsitzender war Franz Poppen-
wimmer.
Ein sechstägiger Strafaufschub wurde gewährt, jedoch das Ansuchen,
«die Strafe in Wien, Mariahilf, absitzen zu dürfen, w-urde abgewiesen.
Die Auflösung einer Versammlung in
Warnsdorf.
Zur Agitation für die Maifeier hatte Adler nn April 1893 in Nord-
böhmen eine Reihe Versammlungen abgehalten. In Warnsdorf war es am
■9. April zu einer Debatte über die üblichen Verleumdungen des klerikalen
Lokalblattes des Pater Opitz über Adler gekommen. Ein Redakteur dieses
ßlättchens war nämlich anwesend und der Vorsitzende forderte ihn auf,
da Adler jetzt hier sei, ihm vor den mehreren lausend versammelten
Arbeitern und Arbeiterinnen zu beweisen, was das Blatt geschrieben hatte,
•daß „sich Adler von Arbeiterkreuzern mäste, obwohl er Millionär sei und
vierspännig über die Ringstraße fahre'". Der Redakteur erklärte de- und
wehmütig, er könne nichts dafür, die Leute in der Redaktion hätten nicht
gewußt, daß das nicht wahr sei; sobald sie erführen, daß es nicht wahr sei.
würden sie das nicht schreiben.
Adler
erwiderte ^anz kurz, daß e.s üblich .sei, sich zu erkundif^cn.
bevor man solche Ge.schichten veröffentliche; daß es überliaupt
unwürdig sei, das Privatleben der Gegner in die Öffentlichkeit
zu zerren; daß aber alle Versuche der Gegner, das Vertrauen
■der Parteigenossen zueinander zu erschüttern, abprallen.
Schon während dieser Bemerkung wurde der Regierungsvertretor
Schmidt unruhig. Als der klerikale Redakteur nochmals das Wort verlangte,
■erklärte er plötzlich, er könne eine Debatte nicht zulassen, die
nach dem dritten Punkt der Tagesordnung zulässig sei. Vergeblich suchte
ihm der Vorsitzende Sieber begreiflich zu machen, daß ja schon drei Redner
gesprochen und daß eine Debatte über einen Punkt der Tagesordnung nicht
108 Die Auflösung einer Versammlung in Warnsdorf
besonders angezeigt werden brauche. Alles war umsonst, der Kommissär
drohte die Versammlung aufzulösen. Da nach dieser Probe und bei der
bekannten Dummheit dieses Regierungsvertreters die Auflösung beim zweiten
Punkt „Die Maifeier" sicher zu erwarten war und so der klerikale
Redakteur verhindert sein würde, nochmals zu reden, beantragte zur
Geschäftsordnung
Adler:
Die Versammlung möge beschließen, die Eeihenfolge :1er
einzelnen Punkte der Tagesordnung zu ändern und Punkt !>
(Debatte) v o r Punkt 2 (Maifeier) zu erledigen, um so dem
Herrn Gegner Gelegenheit zu geben, sich zu äußern.
Dieser Antrag wurde einstimmig angenommen. Und nun geschah das
Unglaubliche : Der k. k. Bezirkskommissär Schmidt erhob sich und
sprach : „Da dieser Beschluß gesetzwidrig ist, löse ich d i i
Versammlung auf und fordere die Anwesenden auf, sich zu ent-
fernen." Erst war alles sprachlos vor Verblüffung über dieses Vorgehen.
dann sagte
Adler:
Ich verlange die sofortige Aufnahme eines P r o t o-
k 0 1 1 s über die Auflösung im Sinne der Ihnen bekannten
Ministerialverordnung.
Als Schmidt auch dies verweigerte, rief ihm Adle i-
zu: „Sie müssen sich an das Gesetz und Ihre Vorschriften
halten und werden sich zu verantworten haben!"
(„Arbeiter-Zeitung" Nr. 15 vom 14. April 1893.)
Angeklagt wurde aber nicht der Regierungskommissär, sondern Doktor
Adler. Am 9. November 1893 fand in Warnsdorf die Verhandlung vor
dem Bezirksgericht statt. Die Anklage behauptete, er habe in der Versammlung
nach erfolgter Auflösung in aufgeregtem Ton zum Bezirkskommissär Schmidt
gesagt, er müsse über die Gründe der Auflösung ein Protokoll aufnehmen ;
er habe ihm zugerufen: „Sie bleiben hier, Herr Kommissär", und dabei dii^
Hand nach ihm ausgestreckt, um ihn auf dem Podium zurückzuhalten und
ihm schließlich nachgerufen zu haben : „Die Folgen werden Sie sich zuzu-
schreiben haben; die Verantwortung fällt auf Sie!" Die Anklage ging auf
§ 312 des Strafgesetzes, wörtliche und tätliche Beleidigung einer Amts-
person und auf § 14 des Versammlungsgesetzes.
Adler
verantwortete sich: Erstens war die Auflösung der Versamm-
lung eine vollständig ungesetzliche; zweitens hat sich der
Bezirkskommissär als Eegierungsvertreter nicht an die
Ministerialverordnung gehalten, welche ihm die Aufnahmc^
eines Protokolls vorschreibt; daher habe er nur sein gutes
Eine Portion Hirn für Taaffe 109
Recht geltend gemacht. Die Beschuldigung, er habe die Hand
irgendwie beleidigend ausgestreckt, sei einfach unwahr. Über-
dies sei er in bezug auf dieselbe Sache von der Bezirkshaupt-
mannschaft Bumburg, respektive vom B e z i r k s k o m m i s-
•s ä r S c h m idt selbst bereits zu einer Geldstrafe von 30
Gulden nach § 12 der kaiserlichen Verordnung
vom ,T a h r c 1854 verurteilt worden, wobei nur das auf-
fallend sei, daß die tätliche Beleidigung weder in der Belation
des Herrn Bezirkskommissärs an die Bezirkshauptmannschaft,
noch auch im Urteil dieser Bezirkshauptmannschaft erwähnt
sei, sondern zum erstenmal in dieser neuen An-
klage auftauche.
Nach Einvernahme einer Anzahl Belastungs- und Ent-
lastungszeugen und einer mehrstündigen Verhandlung wurde
der Angeklagte von der Übertretung der wörtlichen und tät-
lichen Beleidigung freigesprochen, hingegen wegen
Übertretung des Versammlungsgesetzes zu
10 Gulden Geldstrafe verurteilt.
Der Ricliter, Adjunkt Dr. Pauli, erwähnte in seiner Begründung,
daß sich das Gericht auf die Frage, ob die Auflösung der Ver-
sammlung ungesetzlich gewesen sei, nicht einlassen, ebensowenig
fine Entscheidung über die Verpflichtung des Regierungsverlreters zur Ab-
fassung eines Protokolls treffen könne, daß aber der Verlauf der Verhandlung
ergeben habe, daß eine Beleidigung weder wörtlich noch tätlich vorliege.
Was natürlich nicht hinderte, daß die von der Bezirkshauptmannschaft selbst
in eigener Regie verhängte Strafe längst rechtskräftig und bezahlt war.
(„Arbeiter-Zeitung" Nr. 49 vom 17. November 1893.)
Bei der Eemfnngsverhandlimg verurteilt.
Gegen den teilweisen Freispruch rekurrierte aber der Slaalsanwalt und
<las Kreisgericht Böhmisch-Leipa verurteilte am 28. Dezember *1893 tat-
sächlich Adler wegen Beleidigung des Polizeikommissärs zu vierzehn
Tagen Arrest. Als erschwerend wurde angenommen : die wiederholten
Vorstrafen und daß „eine Gefahr für die Sicherheit vorhanden gewesen".
Eine Portion Hirn für Taaffe.
Die Regierungen, besonders nach dem Sturz Taaffes die Koalitions-
\figierung Windischgrätz-Plener, suchten durch gerichtliche Verfolgungen die
Bewegung für das Wahlrecht zu unterdrücken. Wenige der Redner der sozial-
demokratischen Partei, die nicht vor Gericht gekommen wären! In erster
Linie stand auch hier Adler.
110 Eine Portion Hirn für Taaflfe
In einer Versammlung des Vereines „Gleichheit" am 12. Juni 1893 hatte
Pernerstorfer einen Vortrag über das allgemeine Wahlrecht gehalten,
und nach ihm hatte Adler das Wort ergriffen und unter anderem eine
Parallele zwischen den Umständen, unter welchen Bismarck gezwungen
war, das allgemeine Wahlrecht zu oktroyieren, und der Lage in Österreich
gezogen. Er hatte die Politik Bismarcks als eine gewalttätige und brutale
nach Gebühr gewürdigt und dann hinzugefügt: .-Un'd obwohl Bismarck
unmer unser Gegner war, politische Klugheit wird ihm niemand abstreiten,
und ich wünsche dem Grafen Taaffe nur eine Portion von
dem Hirn Bismarcks, dann würde auch Graf Taaffe veranlaßt sein,
das allgemeine Wahlrecht einzuführen. Über alle nationalen Konflikte und
Staatsrechtsstreitigkeiten kann man nur hiedurch hinwegkommen, aber
freilich, dazu darf man kein Wurstler und kein Fretter, sondern
ein Staatsmann sein."
Diese Ausführungen wurden als Übertretung des § 491 und Art. V
als Amtsehrenbeleidigung angesehen. In derselben Versammlung hatte
R e u m a n n die politischen Zustände gesdiildert, hatte gesagt, hinter dem
Vereins-, Versammlungs- und Preßrecht stehe immer der Polizeibüttel, und
hatte hierauf eine Reihe von Gesetzesübertretungen von Beamten aufgeführt
und im Anschluß daran konstatiert, daß diese Beamten den Arbeitern^ gegen-
über ohne Rücksicht auf das Gesetz vorgehen.
Der Regierungsvertreter Polizeikonzipist Dr. v. Eichberg hatte in
diesen letzten Worten die Wiener Polizei getroffen gefühlt, und so wurde auch
R e u m a n n wegen derselben Paragraphen angeklagt. Die Aufschreibungen
des Konzipislen, der angeblich stenographieren kann, wurden von einem
beeideten Sachverständigen übertragen, wobei sich zeigte, daß sie gänzlich
i:nzusammenhängend, konfus und fehlerhaft waren.
Am 12. Dezember 1893 fand die Verhandlung vor dem Bezirksgericht
Mariahilf statt. („Arbeiter-Zeitung" Nr. 57 vom 15. Dezember 1893.)
Der als Zeuge vorgeladene Abgeordlnete Pernerstorfer wurde
darüber vernommen, ob Reumann alle Beamten überhaupt oder nur die
gemeint habe, von welchen ungesetzliche Handlungen erzählt worden seien.
Der Zeuge 'erklärte, daß die erste Auslegung absolut unmöglich sei, da R e u-
mann ^in ruhiger, überlegter Redner sei und eine solcüie Behauptung nicht
aufstellen werde, -,d'a es ja doch bisweilen vorkommt, daß d!as Gesetz auch
eingehalten werde".
Adler
verteidigte sich daJiin, daß es keine Beleidigung- sei, jeniiuul
eine Portion Hirn zu wünschen; den Grafen Taaffe als duniin
hinzustellen, wie die Anklage behaupte, sei ihm nicht ein-
gefallen, da er ihn zwar für einen keineswegs bedeutendou
Staatsmann, aber für einen durchaus geriebenen Politiker stets
betrachtet habe.
Die verkleinerten Delikte 111
Richter: Steht es Ihnen zu, die Fähigkeiten des Grafeji Taaffe
zu beurteilen?
Adler: Allerdings, wie jedem anderen Staatsbürger.
Richter: Und glauben Sie, diese staatsmännische Weisheit zu
besitzen?
Adler: Meine politische Intelligenz steht nicht auf der
Tagesordnung.
Der Verteidiger Dr. Ulbing führt in längerer, sehr interessanter Aus-
führung die historische Parallele, die Adler angedeutet, durch und kon-
statiert in bezug auf die Äußerungen R e u m a n n s, daß sie 'durcha-us nur
den Tatsachen entsprechen. Jede Nummer der „Arbeiter-Zeitung" veröffentlicht
eine so große Anzahl von ungesetzlichen Handlungen von Beamten, daß
an dem Vorkommen solcher niemand zweifeln kann. In seinem Schluß-
plaidoyer führt Reumann selbst eine Anzahl solcher Dinge an und stellt
ebenso wie Adler ifest, 'daß der Konzipist Dr. v. Eichberg die Aus-
führungen der beiden Redner nicht einmal verstanden, geschweige sie richtig
wiedergegeben habe.
Der Richter Adjunkt Dr. F a s c h i n g b au e r spricht beide
Angeklagte fiei, da Adler höchstens eine persönliche Ehrenbeleidigung
begangen habe, die zu verfolgen aber die Zustimmung der Beleidigten not-
wendig wäre. In bezug auf R e u m a n n erklärt er, das Wort „Polizeibüttel"
sei ein allerdings veraltetes, aber durchaus) nicht beleidigendes deutsches.
Wort, die übrigen inkriminierten Äußerungen aber seien nicht genügend
erwiesen.
Die verkleinerten Delikte.
Am 30. Dezember 1893 stand Adler vor dem Bezirksgericht Rudolf:s-
heim wegen einer Rede beim Schwender am 30. Oktober. Die Verhandlung
wurde vertagt und am 18. Jänner 1894 fortgesetzt. Die Anklage lautete auf
Amtsehrenbeleidigung (§491 und Artikel V des Gesetzes vom
.lahre 1862). Zwei Stellen seiner Rede über das allgemeine Wahlrecht und
das Parlament waren beanstandet. '„Arbeiter-Zeitung" Nr. 7 vom
23. Jänner 1894.)
In der ersten Stelle soll, behauptet die Anklage, Dr. Adler
gesagt haben: „Graf Taaffe soll al)gedankt haben. Wir weinen
ihm keine Träne nach; wir haben keinen Grund dazu. Während
der vierzehnjährigen Dauer der Ära Taaffe gab es keincjn
Tag und keine Stunde, in welcher sich die Regierung nicht
mit Hohn über Gesetz und Recht hinweggesetzt hat." Darin
sollte die Übertretung der Ehrenbelcidigung gegen eine öffent-
liche Behörde liegen. In der zweiten Stelle erkannte die An-
klage eine Ehrenbeleidigung gegen das Abgeordnetenhau.>.
Der Angeklagte soll gesagt haben: „Wenn man die Leute da
drinnen debattieren hört, wie groß das Stück Recht sein dürfe,
112 Die verkleinerten Delikte
das man dem Volke geben soll, erfaßt jeden Erbitterung. "Wer
sind denn diese Leute, daß sie über das Volk, über seine Reife
und über sein Hecht abzuurteilen haben? (Ein Zuhörer ruft:
Gauner!) Nein, sie sind keine Gauner, sie sind Vertreter ihrer
Klasseninteressen. Die einzige Gaunerei besteht darin, daß sie,
die Vertreter der engherzigsten Cliqueninteressen, sich für
Volksvertreter ausgeben."
Weiters soll der Angeklagte in einer am 5. November
bei der „Weintraube" in Margareten abgehaltenen Versamm-
lung bei der Besprechung der Eonacher-Affäre, wo sich die
Polizei den Liberalen zuliebe brutal gegen die Arbeiter be-
nommen hatte, gesagt haben: „Die Liberalen haben die Polizei
gekauft." Hierin erblickt die Anklage eine Ehrenbeleidigung
gegen die Polizeibehörde.
Adler
verantwortet sich dahin, daß die erste Stelle wohl nicht wört-
lich so gelautet habe, wie der Regierungsvertreter R o h a c e k
"berichtete, daß er aber zugebe, eine sehr abfällige Kritik über
das Ministerium T a a f f e ausgesprochen zu haben. Die zweite
Stelle sei wörtlich so gesprochen worden, betreffe aber nicht
das Parlament als solches, sondern einzelne Mitglieder des-
selben. Auf die Frage des Richters Schöbe r, wer gemeint
gewesen sei, antwortete der Angeklagte: „Vor allem Herr von
P 1 e n e r, Führer der Vereinigten Linken, Graf J a w o r s k i,
als Obmann des Polenklubs, und Graf H o h e n w a r t, als
Führer der Klerikalen, und so weiter, lauter Leute, die sich
an der Wahlrechtsdebatte beteiligt haben, die in Frage stellt."
Bezüglich des dritten Punktes hatte der Angeklagte schon bei
der ersten Verhandlung erklärt, er habe diese Äußerung nicht
gemacht, sie wäre auch unsinnig gewesen, denn die Lil)eralon
hätten es gewiß nicht notwendig, die Polizei zu kaufen, sie
stehe ihnen ganz! umsonst zur Verfügung. Bei diesen
Worten hatte sich der staatsanwaltschaftliche Funktionär er-
hoben und erklärte, er dehne die Anklage auf diese
Äußerung aus, denn „die Polizei stehe nur der Regierung
zur Verfügung".
Es wurde nun bei der zweiten Verhandlung eine Anzahl von
Zeugen vernommen, die Vorsitzende bei jenen Versammlungen gewesen
waren. Die Zeueen H u e b e r, K 1 c e d o r 1 c r, L c i ß n c r, Popp und
Die verkleinerten L>elikte ll.'J
-N e w 0 1 e bestätigten die Aussagen des Angeklagten. Der Poiizeikonzipist
Kitter von D a h m o n hielt aber an seiner Angabe fest und brachte als
Belastungszeugen zwei Detektivs mit, die unter „Amtseid" erklärten.
dat'> der Ausdruck über den Kauf der Polizei gefallen sei.
Dr. A d 1 c r fragte sie. ob sie sonst noch etwas aus der
über eine Stunde dauernden Rede angeben kcinnten. Dazu er-
klärten .sie sich außerstande, mit der Begründung, daß sie zu
weit vom Redner entfernt gewesen seien. Der Angeklaüite
konstatierte, daß die beiden Ehrenmänner absolut nichts ge-
hört hatten als diesen einen Satz, den sie bezeugen sollten.
-Nach .Schluß des Beweisverfahrens hielt de-r staatsanwaltschaftlichc
Kunktionär in seinem Plädoyer die Anklage aufrecht. Er nannte die an dei
Regierung Taaff e geübte Kritik eine „frivole". Es sei weilers wirklich das
Parlament als solches gemeint gewesen, da ja die Tagesordnung gelautet
habe: „Wahlrocht und Parlament". Auch die dritte Äußerung halte er
für erwiesen.
Adler
bespricht zunächst die Äußerung über die Polizei. Er habe in
aller Schärfe darüber gesprochen, daß sich Sicherheitswacii-
leute und Polizisten dem Verein der Fortschrittsfreunde als
Ordner zur Verfügung gestellt hätten. Er gestehe zu, das Pje-
nehmen der Wachorgane in den stärksten Ausdrücken ge-
geißelt zu haben, aber jene Äußerung habe er nicht gemaclit.
Das Argument des Staatsanwalts bezüglich der Parlaments-
beleidigung sei so schwach, daß man sich damit gar nicht be-
schäftigen könne. In einem anderthalbstündigen Referat hal)e
er über die Stellung des Parlaments als solches, der Tagesord-
nung entsprechend, manches gesagt. Bei dem inkriminierten
'ieil aber liabe er ausdrücklich von der Wahlreformdebatte
und den an ihr beteiligten Rednern gesprochen. Bezüglich der
dritten Stelle wiederholt der Angeklagte die Erklärung, daß er
sie in dem inkriminierten Wortlaut nicht gebracht habe. Er
verwahre sich übrigens entschiedenst dagegen, daß sich der
Herr staatsanwaltschaftliche Funktionär herausnehme, sieine
Kritik der Regierung eine frivole zu nennen. Das lasse er sich
nie und nirgends und von niemand gefallen. Der Herr Staats-
anwalt möge überlegen, was frivoler sei, Gesetzesverletzungen
zu begehen oder an den Verletzungen Kritik zu iil)en. Diese
Äußerung beantwortete der Richter mit dem Ordnungsruf, den
der Angeklagte hinnahm, aber bedauerte, daß der Angeklagte
114 Die verkleinerten Delikte
nicht denselben Schutz genieße wie der Staatsanwalt. Die
Sache selbst habe noch eine ganz andere und prinzipielle Be-
deutung. Wenn er nämlich die inkriminierten Äußerungen
getan h ä 1 1 e, müßte sich das Bezirksgericht als inkompe-
tent erklären, denn es würde sich dann nicht um die Über-
tretung der Ehrenbeleidigung, sondern klar und deutlich um
das Vergehen nach § 300 des Strafgesetzes handeln. Wenn der
Eedner die Eegierung des Grafen T a a f f e beschuldigt hätte,
daß sie sich tagtäglich mit Hohn über die Gr€setze hinweg-
gesetzt hätte, so wäre sie damit nicht dem öffentlichen Spott
ausgesetzt, sondern er hätte ganz bestimmt im Sinne des § 300
zum „Haß" gegen eine Staatsbehörde in bezug auf ihre Amts-
führung „aufgereizt". Wenn bei einer solchen Äußerung der
§ 300 nicht begründet sein soll, dann wäre absolut nicht ab-
zusehen, wie man eigentlich „aufreizen" kann, falls man wirk-
lich Tatsachen entstellt hat, um diese Wirkung herbei-
zufübren. Zum § 491 werde gefordert, daß die Schmähung
ohne Anführung bestimmter Tatsachen ge-
schehe. In jener Rede aber sei eine ganze Reihe von sehr be-
stimmten und konkreten Tatsachen angeführt worden. Der
Angeklagte verlang-e also, daß er seinem staatsbürgerlichen
Rechte gemäß vor seinen ordentlichen Richter gestellt werde»
und das sei freilich in diesem Falle das Geschwornen-
g e r i c h t, welches für Vergehen nach § 300 allein nach dem
Gesetz kompetent ist. Das sei aber auch der Grund, warum
es immer mehr Übung werde, daß man „V ergehen" zu
,,Ü b e r t r e t u n g e n" herabdrücke, um auf diese Weise eine
Verurteilung beim Bezirksgericht zu erzielen. ' Er er-
warte, daß sich das löbliche Bezirksgericht nicht dazu hergeben
werde, jener merkwürdigen Handhabung des Gesetzes Vor-
schub zu leisten.
Der Richter veiniteilte Adler zu einem Monat Arrest, und
zwar wegen aller drei ihm ursprünglich zur Last gelegten Äußerungen. Nur
in bezug auf die Äußerung, auf welche die Anklage ausgedehnt worden war,
>prach er ihn frei. In der Begründung erklärte er unter anderem, es sei
nicht möglich, die Sache wieder ans Landesgericht zurückzuleiten, weil
sich der Staatsanwalt darüber schon geäußert und den
Akt vom Landesgericht ans Bezirksgericht abgesendet habe.
Adler meldete die Berufung an.
Die verkleinerten Delikte 115
Die Berufungsverhandlung.
Die Appellverhancllung über die eingebraciite Berufung fand am
'2't. Februar 1894 vor dem Appellgerich l unter dem Vorsitz des Landesgerichts-
rates Grohmann statt. Als Verteidiger fungierte Herr Dr. Richard U 1 b i ng.
.er zunächst den Antrag stellte, bezüglich des einen Punktes der Anklage,
11 ach welcher Adler sich in einer Versammlung geäußert hätte, „gelegentlich
'Ter Ronacher-Affäre haben die Liberalen die Polizei gekauift'", die Zeugen
noch einmal vorzuladen und den Wert der Aussage des Kommissurs und
der zwei Polizeiagenten, welch letztere von dem anderlhalbstündigen Vor-
trag absolut nichts anderes gemerkt hatten als den einen inkriminierten
Satz, noch einmal zu prüfen. Diesem Antrag wurde vom Gerichtshof nicht
stattgegeben. Der Verteidiger führte dann aus, daß jener Ausspruch vom An-
geklagten überhaupt nicht gebraucht wxirde. Anders sei es mit den folgenden
.Stellen. Diese Stellen seien, wenn auch nicht wörtlich, so doch dem Sinne
nach allerdings gesprochen wurden. Sie enthalten aber nichts als eine be-
rechtigte Kritik der Regierung, respektive einzelner Parteien des Abgeordneten-
hauses. Daß das Parlament als solches nicht gemeint sei, sei aus dem Zu-
sammenhang der Rede klar. Wenn der Gerichtshof aber doch annehmen
sollte, daß es sich hier um ein Delikt handle, so könne keineswegs der im
'erstrichterlichen Urteil angewendete Paragraph, sondern nur der § 300,
respektive Artikel III angewendet werden. Dann aber müsse sich das Gericht
inkompetent erklären, weil dieses Dehkt vor das Schwurgericht
gehöre. Er erwarte aber den Freispruch. ,
Der Staatsanwalt erklärte, die Zeugen bezüglich des Punktes der Be-
leidigung der Polizei seien trotz alledem glaubwürdig. Bezüglich der Be-
leidigung der Regierung und des Parlaments erklärte er, daß die oben zitierten
-iußerungen nicht so weit gehen, daß man sie als eine Aufreizung zu Haß
und Verachtung bezeichnen könTie. Hingegen sei die beleidigende Absicht
insbesondere dem Parlament gegenüber klar, da aus der politischen Stellung
des Angeklagten mit Sicherheit zu entnehmen sei, daß er mit keiner der
Parteien des Abgeordnetenhauses sympathisiere. Er verlange die Bestätigung
des Urteils.
Adler
meldet sich zur Replik, obwohl sic]i der Vorsitzende bereits
/zurückziehen will, und meint: .,Sie haben ja schon gesprochen",
worauf der An;n-eklagte sagt: .,Ich habe das Eocht zur Replik
und bedaure, die Ungeduld des hohen Gerichtshofes hervor-
zurufen, aber es handelt sich immerhin um einen ^[onat
.\rrest."
Adler führt dann aus, daß er unschuldig verurteilt
würde, wenn er bezüglich des Punktes der Ronacher-Affäre
verurteilt werde. Jene ihm in den Mund gelegte Äußerung sei
eine unsinnige, die er niemals machen konnte. Bezüglich der
anderen Punkte aber beharre er auf seinem staatsgrundgesetz-
llfi Die verkleinerten Delikte
lieb gewährleisteteu Kechte, vor seinen ordentlichen Richter
gestellt zu werden, und der sei in diesem Falle das S c li w u r
g" e r i c h t. Es gehe nicht an, „Vergehen" zu „Übertretungen"
zu degradieren und sie den Bezirksgerichten zur Ab-
urteilung zu überweisen, nur uin einem Freispruch vor den
Geschwornen auszuweichen.
An dieser Stelle unterbricht der Vorsitzende den Heiner und bezeichnet
diese Äußerung als unzulässig.
Dr. Adler: F)aß aber die hier in Frage kommenden
Äußerungen, wenn überhaupt ein Delikt, n u r das des § 300
begründen können, dafür habe ich einen klassische» Zeugen in
dem Staatsanwalt und dem 1' r e ß g e r i c h t v o n
Wien, welche diese Stellen, als sie in der „Arbeiter-Zeitung"
abgedruckt waren, nach Paragraph 300 konfiszierten
und in der „Begründung" ausdrücklich erklärten, daß damit
zu Haß und V e r a c h t u n g aufgereizt werde. Wenn der
Herr Staatsanwalt vorhin bemerkte, es seien diese Äußerungen
nicht weitgehend genug, um Haß und Verachtung hervor-
rufen zu können, so muß ich erklären, daß ich dann absolut
nicht weiß, wie man eigentlich zu Haß und Verachtung gegen
die Regierung aufreizen kann, als wenn man darlegt, daß sie
sirli mit Hohn über Recht und Gesetz hinwegsetzt. Ich habe in
diesem Paragraphen eine ziemliche Praxis, die „Arbeiter-
Zeitung" wird zweimal wöchentlich konfisziert, gewöhnlich
wegen des § 300 nnd wegen Stellen, die weit weniger scharf
siud als die inkriminierten. Bezüglich des Punktes, das Parla-
ment betreffend, erkläre ich noch einmal, daß ich nicht das
Parlament als Korporation, sondern die Redner in der Wahl-
i'eformdel)atte als Vertreter von Oliqueninteressen bezeichnete,
insbesondere die Abgeordneten P 1 e n e r, -T a w o r s k i,
W u r m b r ;) n d. Hohen w a r t. Wenn der Staatsanwalt
meinte, daß ich mit keiner Partei im Parlament sympathisiere,
so ist das allerdings richtig; hingegen kenu(> ich im ParlaiiuMit
einige anständige Leute, allerdings leider nicht viele . . .
(Unterbrechung durch den Vorsitzenden.) Ich bin freizu-
si)rechen : wenn alx'r nicht, dann xor das Schwurgericht zu
stellen.
Der Gerichtshof gibt d e r B c )■ u 1 u n g im Punkte das Parlament
betreffend statt und Dr. A d I e i- wird in diesem Punkte frei-
gesprochen. In liezug au'f die beiden anderen Punkte wird das Urteil
Der große Sdnvurgerichtsprozeß in Reiche iibers;- 117
bestätigt: für die nunmehr bestätigten " zwei Delikte wird d e r s e 11) e
S t r a f ri a t z wie vorher für drei Delikte, nämlich ein Monat Arrest,
als entsprechende „Sühne" angenommen. ^Arbeiter-Zeitung" Xr. 18 vom
■2. März 1894;)
Dunkel sind die Wege der Staatsanwaltschaft.
Am lU. Oktober ISüH halle die Wiener SlaaL-^anwallschall gegen
Adler und Bretschn eider wegen zweier Artikel der „Arbeiter-
Zeitung'" Nr. 36 vom 8. September 1893) die Anklage wegen Vergehens der
.,Aufreizung'" gegen Behörden und einzelne Stände und Klassen der bürger-
lichen Gesellschaft erhoben. In der Anklageschrift hielj es wörtlich:
«Das Hauptorgan der hiesigen sozialdemokratischen Partei, die
., Arbeiter-Zeitung'", welches wöchentlich einmal in einer Auflage von
zirka 20.000 Exemplaren erscheint und wegen seiner ungemein
fi e f t i g e n, a u f r e i z e n d e n S p r a c h e fast jedesmal d e r K o n-
n s k a t i o n verfällt, brachte in der Nummer 36 vom 8. September 1. J.
zwei Artikel, welche den Gegenstand der vorliegenden Anklage bilden.
Die k. k. Staatsanwaltschaft konnte sich im vorliegenden Falle mit
der bloßen Objektivierung, abgesehen davon, daß die L e i t u a 'J'
\l e s B 1 a l t e s das sogenannte ,.o b j e k t i v e ^' e r f a h r e n' voll-
kommen wirkungslos zu machen versteht, im Hinblick auf den ganz un-
/.weide'utigen. die F u ii d a in e n t e der Sicherheit des Staates
gefährdenden strafbaren Tatbestand nicht begnügen, sondern
muß die Schuldtragenden zur persönlichen Verantwortung ziehen."
Vier Monate warteten die Angeklagten auf den Tag, wo sie vor den
Geschwornen stehen sollten; aber die Staatsanwaltschaft überlegte sich's
und zog die Anklage zurück — trotzdem sich an der Tatsache nichts
geändert hatte, daß die „Ajbeiter-Zeitung" jede Konfiskation durch Ver-
breitung der ganzen Auflage wirkungslos machte und so ununterbiovlieu
-die Fundamente der Sicherheit des Staatswesens" gefährdete.
Der große Schwurgerichtsprozeß in
Reichenberg.
Der stenographische Bericht über diese Schwurgerichtsverhandluug
vom 17. bis 20. November 1893, den wir hier wiedergeben, ist in erster Auf-
lage in einer Broschüre*) gleich nach dem Prozeß erschienen, im Jahre 1919
in zweiter Auflag e als Heft 10 der Sozialistischen Bücherei im
Verlag der Wiener \olksbuchhandlung unter dem Titel „Die Arbeiter-
bewegung im Kampfe gegen den allen Klassenstaat". Die Vorgeschichte des
Prozesses ist au^* der Einleitung zur zweiten .\uflage der Broschüre zu
entnehmen:
*) Schwurgerichlsverhandlung gegen Dr. Victor Arller ülier die Anklage
der Verbrechen der Störung der öffentlichen Ruhe, der Religionsstöi-ung.
der Vergehen der Aufwiegelung usw. usw.. begangen durch Reden im
(!ablonzer Bezirk, durchgeführt vor dem Reichenberger Schwurgericht vöni
17. bis 20. November 1893. Verlag der -Ari)eiler-Zeitung". Veiffriffen.
118 Der große Schwurgerichtsprozeß in Reichenberg
Ein Bläitlein Liebe auf das Grab Victor Adlers.
In dem Wirbel der Ereignisse seit dem Zusammenbruch des alten
Österreich haben wir, deine alten Weggefährten, Freunde und Jünger,
noch keine Zeit gefunden, dich zu beweinen, der Welt zu sagen, was du
uns warst, den Jungen in der Partei begreiflich zu nuachen, wie du es
verstanden hast, die Liebe der Arbeiter zu erobern, wie es nicht einmal
Bebel und Jaur^s vermochten. Auch heute, wo ich den Auftrag habo,
nin Vorwort zur zweiten Auflage dieses Büchleins zu schreiben, dessen
erste Auflage ich vor 25 Jahren nach meiner stenographischen Aufnahmt'
des Schwurgerichtsprozesses von Reichenberg fertiggestellt habe, kann
ich nicht mehr tun, als mit einigen wenigen Strichen die Zeit von
damals zu zeichnen, jene ersten Jahre nach dem Hainfelder Einigungs-
kongreß, mit dem du deinen ^'amen in der Geschichte der Arbeiter-
bewegung selbst dann unsterblich gemacht hättest, wenn du nicht noch
dieses Vierteljahrhundert an dem unaufhaltsamen Aufstieg der Sozial-
demokratie gearbeitet, den Sieg der Demokratie tätig miterlebt und
mit brechendem Auge noch das verheißene Land des Sozialismus er-
blickt hättest. Du selbst sollst in diesem Buche reden, und ich will nur
erinnern, daß damals gerade die verruchte Koalition der Deutsch-
liberalen, Konservativen und Polen im Kurienparlament den Wahl-
rechtsentwurf des Grafen T a a f f e verworfen hatte, daß damals Graf
S tadnick i das freche Wort gebraucht hatte, die Arbeiter wollten
vBrol ohne Arbeit'', daß unter dem Motto „Offenheit und Wahrheit im
öffentlichen Leben'" das Wahlrecht den Arbeitern weiter vorenthalten
bleiben sollte. Der Helmbuschritter P 1 e n e r war damals Finanz-
minister im Wahlrechtsverhinderungs-Koalitionsministerium W i n d i s c h-
g r ä t z, und sein erster Besuch hatte dem — Baron Rothschild
gegolten, wie es sich für den Kominis gegenüber dem Chef schickt.
Das war die Zeit, wo die Arbeiter kein Wahlrecht für das Parlament,
für die Landtage, für die Gemeinden hatten, wo ihre notdürftig durch Preß-
fonds und Sammlungen über Wasser gehaltene Presse Nummer für
Nummer konfisziert wurde, wo fast jede politische Versammlung ver-
boten oder aufgelöst wurde . . . und weshalb aufgelöst? In dem Schwur-
gerich Isprozeß gegen Victor Adler wurde es festgestellt: Weil er „gegen
die liberale Partei loszog", wurde ihm vom Regierungsver-
Ireter das Wort entzogen und die Versammlung aufgelöst . . . Als er
über Rothschild sagte, er könne, wenn er hundert Jahre lebe, auf
die Tasche klopfen und fragen, was kostet die Welt? wurde er vom
Regierungsvertreter unterbrochen. In einer der Versammlungen, wo
die Wähler über die witzigen Worte Adlers lachten, wurde vom Regie-
rungsvertreter das Lachen verboten — und um der Auf-
lösung zu entgehen, wurde nicht mehr gelacht ... In einer Versamm-
lung in Schumburg, von welcher der Regierungsvertreter bei Gericht
aussagte, daß er dort am wenigsten Ursache hatte, einzugreifen,
war Adler — siebzehnmal unterbrochen worden . . . Das war die
Zeit, wo .\jdler in Nordböhmen für ein durch den Tod eines bürger-
lichen Abgeordneten erledigtes Mandat kandidierte, ohne jede Aussicht
Der große Schwurgerichtsprozeß in Reichenberg 119
auf Erfolg, wie sich zwei Jahre früher (1891; bereits gezeigt hatte, nur
lun Anhänger für die Partei zu werben. Hundert Wahlmänncr ("die Wahlen
waren ja noch indirekt!) stimmten damals für Adler.
Das Mandat erhielt er also nicht, aber dafür eine Anklage wegen
der Reden in dreißig Versammlungen, eine Anklage wegen Ver-
brechens der Störung der öffentlichen Ruhe, wegen Verbrechens der
Religionsstörung, wegen Vergehens gegen die öffentliche Ruhe und
Ordnung durch Beleidigung des Abgeordneten- und Herrenhauses, durch
Aufreizung gegen einzelne Klassen und Stände der bürgerlichen Gesell-
schaft und gegen die Rechtsbegriffe über das Eigentum, schließlich
wegen Beleidigung der k. u. k. Armee . . . Die Gablonzer Bezirkshaupt-
mannschaft hatte die Anzeige erstattet, und die k. k. böhmische Statt-
halterei in Prag hatte ihr Gutachten abgegeben, daß die Anklage
vor dem Schwurgericht zu erheben sei — und den Staatsanwalt er-
mächtigt, den Geschwornen bei der Verhandlung mit der Aufhebung der
Schwurgerichte zu drohen, falls sie „versagen" sollten . . .
So fuhr denn Victor Adler an einem kalten Novembertag von
Wien nach Reichenberg, dem Sitz der deutschböhmischen Liberalen, um
sich vor den bürgerlichen Geschwornen für seine Kandidatenreden zu
verantworten. Das Interesse war sehr groß, der Saal stets gedrängt
voll — von bürgerlichen Zuhörern, da ja die Arbeiter keine Zeit hatten.
Der Vorsitzende benahm sich sehr anständig, nur einige Male w\irde er
ungeduldig, worauf Adler witzig erwiderte und weiterrcKien konnte. Der
Staatsanwalt gab sich große Mühe und suchte Adler sogar durch große
— Komplimente für seinen Geist und sein Wissen in den Kerker
zu bringen, aber er war diesem Geist und Wissen bei weitem nicht
gewachsen. Der Verteidiger Herr Dr. J e n n e 1 war ein Deutschnationaler,
aber er übernahm die Verteidigung Adlers und führte sie vortrefflich.
Drei Tage lang dauerte der Prozeß, und drei Tage lang führte
Adler seine Klinge, daß es nur so blitzte und funkelte. Sein Witz wie
sein sittlicher Ernst waren gleich unwiderstehlich. Gleich zu Beginn seiner
Verantwortung sagte er gegenüber der bedrohlichen Häufung von Para-
graphen, die ihn den Geschwornen besonders gefährlich erscheinen
lassen sollten, ganz ruhig: „Es sind mir so viel Verbrechen, Vergehen
und Übertretungen zur Last gelegt, als man überhaupt anständiger-
weise begehen kann . . .'' Man lächelt und der Staatsanwalt ärgert
sich . . Der Präsident unterbricht den Angeklagten bei seinen Aus-
führungen über das Parlament, die ihm zu lang dauern; darauf Adler
seelenruhig: „Ich bedaure sehr, wenn es länger dauert, aber es würde
vielleicht für mich persönlich viel länger dauern, wenn ich
verurteilt würde . . ." Ein Zeuge sagte, es hätte nach der Rede Adlers
in Wiesenthal zu etwas kommen können. Adler: „Ist es zu etwas
gekommen?" Zeuge: „Nein . . ." .\dler: „Doch, es ist zu etwas
gekommen! In Wiesenthal wurden sechs sozialdemokratische Wahl-
männer gewählt!" Die Geschwornen lachen, das Auditorium laciit, der
Belastungszeuge ärgert sich . . . Der Staatsanwalt hatte gesagt, daß Adler
ab.sichtlich im Gablonzer Bezirk kandidiert habe, weil dort die Gegensätze
sehr entwickelt und die Leute der Sozialdemokratie zugänglich
120 Der i^roB»^ Schwurgt'richtsprozeß in Roichenlx-rg
sind. „Das ist wahr," sagte Adler, „das stimmt vollständig - — i m
böhmischen Großgrundbesitz würde ich keine .Aussichten gehabt
liaben . . ." Der Staatsanwall macht ihm Komplimente, lobt seine
Phantasie, seinen Reichtum von Gedanken, seinen kaustischen Humtr,
seine Macht über die Gemüter der Yolksmassen, seine Begeisterung, die
Macht seines Wortes. Darauf dankt Adler für die Reihe von ausgesuchten
Komplimenten. „Er hat auch gesagt, daß ich politisch sehr gebildet sei.
Feh bedaure aufrichtig, daß ich nicht in d e r L a g e b i n, d e m
H e !■ r n .Staatsanwalt dieses Kompliment z u r ü (> k-
zu geben." Alles lächelt, nur der StaatsanM'alt nicht.
Seinem funkelnden Witz steht sein tiefes Wissen zur Seite. Er
bringt den armen Provinzstaatsanwalt mit seinen Zitaten aus den
Werken der deutschen Nationalökonomen in Verlegenheil, und ich it-
mnere mich noch der Bewegung und der Heiterkeil, die durch die
Geschwornenbank und den Saal ging, als er auf die Anklage, den f'igen-
lumsbegriff herabgewürdigt zu haben, die eigentumsfeindlichen Aussprüche
der katholischen Kirchenväter zitierte, den heiligen Basilius, den heiligen
.Johannes Chrysoslomus, die eben zwei Christen, aber keine Christlich-
sozialen waren. Sein Witz und sein Wissen aber wurden erst in die
wahre Höhe gehoben durcli die Wärme seiner innersten Überzeugung
und durch den sittlichen Ernst, mit dem er sein Amt, Vorkämpfer
und Berater des arbeitenden Volkes zu sein, auffaßte. Wer könnte ohne
tiefste Rührung den Schluß seiner Verteidigungsrede lesen, wo er an die
Eidesformel der Zeugen erinnert, die ihrer dreißig gelobt hatten, die
reine und volle Wahrheit zu sagen und nichts als die Wahrheit.
„Nun, meine Herren Geschwornen, wenn wir Sozialdemokralen auf
die Tribüne steigen, so liaben wir das Gefühl, unter dem Eide zu
stehen, daß wir verpflichtet sind, die rein<^ Wahriieil zu sagen und nichts
als die Wahrheit, aber aucli, und das wiid luii' zum Verbrechen gemacht,
die volle Wahrheit . . ." Der Demagogie, die nur Augenblicks-
i'rlolge erzielen will, indem sie den Arbeitern nach dem Vluude re'iet,
:d)hold bist du, Victor .Adler, in diesen 26 Jahren gelilieben, und wer dich
reden hörte, in der Volksversammlung wie in der Parteikonferenz, wußte, daß
ilu wirklich wie unter Eid aussagtest.
Der l'rozel.) m Reichenberg war m der damaligen Zeit keine
Kleinigkeit, die deutschnationalen Fabrikanten, di(^ die flungerpeitsche
über ihre Sklaven schwangen, verstanden keinen Sinil.! und die Zeit der
Ausnahmezustände lag noch nahe — war doch Adler wegen eines
.Vrtikels in der ,,(ileichheit" über den Tiamwaystreik vom Ausnahme-
senat des Landesgerichtsrates II o 1 z i n g e r vei'urteilt worilen. .Vber
so groß war die Macht der Persönlichkeil, di(> (Überzeugung, die aus
ihm sprach, so lest, dal.', iiiii- l)ei der für bürgerliche Gefühle kitzlichsten
Krage („Verleitung zu Keindseligkeileii gegen einzelne Klassen'") sieben
Ja gegen fünf Nein standen, was aber trotzdem den Freispruch au-ch in
diesen Punkten bedeutete. Victor .\dler verließ unter dem lebhaften
Ueifall des Publikujns den Gerichtssaal, um seine Tätigkeit als Agitator
und als Organisator, als Redner und als .SchriftslelUn- [orlzusetz-en.
mit ätzendem Witz, mit dem Rüstzeug der Wissenschaft, mit leichtem
Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg 121
Humor und sittiichein Pathas, wie es eben das tiebot der Stunde, dii-
t,'enia]e Eingebung des Augenblicks war. So haben wir ihn gekannt, so
liaben wir ihn geliebt, so wie er vor 26 Jahren als Angeklagter im
Heichenberger Gerichtssaai stand. Als Angeklagter? >.'ein, als Anklä&^r
der kapitalistischen Gesellschaft, die er gehaßt hat mit der Glul des
Jüngiinos und 'die er bekämpft hat mit der Weisheit d'es Greises.
Graz, im Juni 1919.
Dl . M 1 c li a e 1 Schach e r 1.
Die Schwurgerichtsverhandlung.
Erster Verhandlanostag. ^
(Freitag, 17. November 1893.)
Auf der Geschwornenbank die Herren: Kahl Josef, l.euliner
Wenzel, Kirchhof Adolf, Dr. jur. Her gel Hugo, Hohn Adolf.
K i e d 1 e r Anton, Schär Anton , Keil J. G., Model Anton. Sitte
i''ranz, S a 1 o m o n Josef, Kon de Karl. Ersatzgeschworne; (ieling
Gustav und Haus m a n n.
Der Gerichtshof besteht aus den Herren: L.-Ci.-R. Dr. Salaschek
als Vorsitzender, R.-Sekr. Fischer, L.-G.-Adjunkt M a y e r, Schriftführer
Dr. Capek, Staatsanwalt Dr. Schöb(>l, Verteidiger A(h()kat Doktor
J e n n e I.
Nach Eröffnung der Vt-rhandlung gegen Dr. Victor Adler ergreift der
Staatsanw-alt das Wort.
Staatsanwalt: Ich stelle den Antrag auf Ausschluß il e r
Offen 1 1 i c h k e i t dieser Verhandlung, und zwar aus Gründen dei' öffent-
lichen Ordnung, da des näheren erörtert werden wird, was den Gegenstand
iler inkriminierten Reden bildete.
Verteidiger: Ich muß mich entschieden gegen diesen Antrag
ausspreehen und zugleich nifuier Verwunderung Ausdruck geben, daß dir'
löbliclie Staatsanwallscluift zu diesem Antrag gelangt ist. Das Gesetz be-
stimmt, und zwar als G;tranlie für die unparteiische und richtige Ausübung
der Rechtspflege, daß die Hauptverhandlung stets, und zwar unter sonstiger
Nichtigkeit, öffentlich abzuhalten ist, und läßt nach § 229 St.-Pr.-O. den
Vusschluß der Öffentlichkeit durch Beschluß des Gerichtshofes nur zu aus
Gründen der öffentlichen .Sittlichkeit und öffentlichen Ordnung. Gründe der
öffentliclien Sittlichkeit liegen nicht vor; was können aber solche Gründe
der „öffentlichen Ordnung" sein? Doch nur die Befürchtung, daß
ilurcli die öffentliche Abhaltung der Hauptverhandlung, durch daselbst vor-
kommende Vorfälle die Ruhe und Ordnung gestört werden konnte. Die
löbliche Staatsanwaltschaft hat es aber ganz unterlassen, für diese un-
bedingte Voraussetzung ii(!s Ausschlu.sses der üffentliclikeit irgemleiiieii
Grund anzugeben, (ierade bei dieser Verhandlung ist eine .Störung der
öffentliclien Ruhe am allerwenigsten zu fürchten, (iegensland der Verhand-
lung bilden Reden, welche Di-. .\dler vor .Monaten, und zwar zu einer Zeil
hielt, wo die Wahlagitation im Zuge, die Bevölkerung im erregtesten Zu-
stand sich befand, und wo ein Publikum von Tausenden im Bezirk von
122 Die Schwiii'fjerielit^verhaudlung in Reichenberg
ITeichenberg und Gablonz zuhörte. Die Versammlungen liefen m Ruhe und
Ordnung ab, und wenn auch einzelne dieser Reden, merkwürdigerweise
sämtliche im Gablonzer Hezirk, Gegenstand einer Straf anklage wurden, so
wurden auch diese Reden vor einem zahlreichen Publikum gehalten, nie-
mals aber hat eine Ruhestörung, niemals eine Stönmg der öffentlichen
Ordnung stattgefunden. Wenn der unmittelbare Eindruck der Rede vor
einem zahlreichen Publikum eine Störung nicht herbeigeführt hat, so ist es
doch ganz ausgesclilossen, daß die Wiederholung einzelner Stellen dieser
Rede, die juristische Beleuchtung derselben bei einem Publikum, welches
sie] weniger zahlreich ist, zu einer Störung der Ruhe führt. Das Publikum
hier ist ja aus allen Kategorien der Bevölkenmg zusammengesetzt, nicht
aus lauter Parteigenossen des Angeklagten. Wenn es aber selbst lauter
Parteigenossen wären, so wäre von ihnen am allerwenigsten eine Störung
der öffentlichen Ruhe und Ordnung zu erwarten. Denn das muß man den
."■Sozialdemokraten lassen, man mag mit ihnen übereinstimmen oder nicht,
daß sie bei ihren Versammlungen immer die musterhafteste Ordnung auf-
lechtzuerhalten wissen, und sie wissen, wie sie sich in Situationen, wie
die heutige ist, zu benehmen haben. Derartige Verhandlungen werden in
Wien, wo das Publikum viel zahlreicher, im Sinne des Staatsanwalts viel
gefährlicher ist, wie es eine Großstadt mit sich bringt, als bei uns, öffent-
lich abgehalten, und niemals ist es einem Staatsanwalt eingefallen, einen
Antrag auf Ausschluß der Öffentlichkeit zu stellen. Ich vertraue daraul,
daß der hohe Gerichtshof diesen Antrag der Staatsanwaltschaft als voll-
kommen unbegründet und unberechtigt, als das Recht der Verteidigimg
empfindlich schädigend zurückweist.
Staatsanwalt: Der Begriff der öffentlichen Ordnung erstreckt
.sich nicht bloß dahin, daß die Ruhe in diesem Saale oder in der Umgebung
desselben gestört werde, sondern durch Zulassung der Öffentlichkeit erlangen
die Verhandlungen eine solche Publizität, daß sie in allen Blättern
verbreitet werden können. Es ist das ganz analog der Verhand-
lung über eine Majestätsbeleidigung.
Verteidiger: Der Vergleich mit der Majestätsbeleidigung ist un-
>;ulässig. Die Majestätsbeleidigung wird gewöhnlich durch derartig un-
flätige Äußerungen gegen den höchsten Repräsentanten der Staatsgewalt be-
gangen, daß allerdings die Reproduktion solcher Äußerungen das patriotische
Gefühl verletzt, ja oft einen gewissen Ekel erregt. Die Reproduktion solchei
Äußerungen verbietet nach meiner Ansicht mehr der Anstand als Rück-
sichten auf die öffentliche Ordnung. Aber nach meiner Überzeugung kann
«las Gesetz unter Gründen der öffentlichen Ordnung nichts anderes ver-
slanden haben, als was ich sagte. Aber angenommen, es würde sich darum
handeln, die Verbreitung derartiger Sachen in weiteren Kreisen zu hindern,
da ist ja die Staatsanwaltschaft mit ihrer Konfiskation sofort bei der Hand,
wenn sich etwas Staatsgefährliches und Aufreizendes in einem Zeitungs-
hlatt finden sollte. Ich sehe nicht ein, daß die Staatsanwaltschaft, welche
so mächtig in der Unterdrückung des Gedankens, soweit er gedruckt zum
Ausdruck kommt, auf einmal die jVnwendung ihrer Macht gegenüber der
\'erbreitung in den Zeitungen scheut.
Die Schwurgerichteverhaudlung in Reichenberg 123
Der G e r i c ii t s li 0 f zieht sich zurück und beschHeßt, daß die
Öffentlichkeit der Verhandlung nicht auszuschließen
sei, da keine Gründe vorliegen; würden sich solche Gründe ergeben, so
stehe ihm noch immer das Recht des Ausschlusses der Öffentlichkeit zu.
Es folgt die
Verlesung der Anklageschrift.
Die k. k. Staatsanwaltschaft Reichenberfi erhei)t gegen Med. Dr. Victor
Adler aus Wien, wegen Vergehen nach §§ 300, 305 und 491 St.-G. usw
bestraft, die Anklage.
l.a) Er habe durch die am 2. Jänner in Dessendorf in der
Wanderversammluns de^ politischen Vereines -Vorwärts'" gehaltenen Rede,
insbesondere durch die Äußerungen:
-. . . Spitzbuben fehlen bei uns zwar auch nicht, nur daß sie bei un~
nicht eingesperrt werden ..."
-,Derselbe Staat, der den Bürgern das .Mark aus den Knochen nimm!
für die Armee, für Militär . . .'"
„Alle bürgerlichen Freiheiten sind für die Besitzenden vorhanden, für
die Arbeiterklassen existieren sie nicht . . ."
„Das Vaterland, behaupten wir, ist nicht das Land, wo ich aus-
^rebeutet und unterdrückt werde, das Vaterland ist nicht das Land, wo icli
rechtlos herumirre, das Vaterland ist nicht das Land, wo bei scfiwerster
Arbeitslosigkeit der Arbeitslose verrecken wird auf jedem Misthaufen, das
Vaterland ist das Land, wo ich mit Brüdern die Frucht meiner Arbeit
genieße, wo ich Frucht in jahrzehntelanger Arbeit, wo sie mir zugänglich
sind, mir wie jedem anderen, das ist das Vaterland, das liebe ich, füi
(tieses Vaterland zu kämpfen, wenn es angegriffen werden sollte, wird jeder-
mann bereit sein, denn er hat den Ruf dazu; aber das heutige Militär ist
ganz anders. Sehen Sie recht, Sie alle bis hoch hinauf in den mittleren
Stand, selbstverständlich Arbeiterklassen. Was tun Sie fortwährend? Womit
beschäftigen Sie sich jeder einzelne von Ihnen? Wenn er begraben wird.
Iiinterläßt er eine ganze Menge von Arbeit, die er geleistet. Es ist mehr
Produkt vorhanden, wenn er stirbt, als wie er geboren. Er hat eine Menge
Schätze produziert, aufgehäuft. Wo sind diese Schätze? Haben sie sie? Nein,
sie starben arm, vielleicht noch ärmer, als sie angefangen haben zu arbeiten ;
was haben sie getan mit diesen Schätzen? Sie haben Produkte zusammen-
gescharrt in wenigen Kassen, in wenigen Geldkisten, in wenigen Schatz-
kammern, dort haben sie mit Bienenfleiß alles mögliche aufgehäuft unfl
deponiert in den Besitz von ein paar Leuten. Nun sehen diese die Gefahi-.
Die Besitzenden haben sich das überlegt, wie es dann wäre, wenn die
Leute, welche eifrig herbringen, eifrig sammeln wie Hamster, wenn die
einmal auf die Idee kämen, das wieder herauszunehmen, was sie selbst
hineingelegt. Das wäre eine gefährliche Sache, darum müssen diese Schatz-
kammern beschützt werden. Darum müssen Leute, dieselben Leute, die
diese Schatzkammern gefüllt haben, müssen dazu verwendet werden, Gewehre
zu verfertigen, Bajonette und Säbel, Kanonen zu gießen und die Gewehr«'
selbst auf die Schulter zu nehmen, vor den Schatzkammern, vor dei.
Kassen Schildwache zu stehen, die sie selbst gefüllt haben; denn die Be-
124 r)ie 8i-h\vurgerichtsverhaudluug in Keiclienberg
«itzenden können weder Schätze sammeln, noch ^inll sie lähig, sie aucii
nur zu verteidigen. Das Proletariat, das arbeitende Volk muß Schätze
herstellen, muß sie auch schützen. Dazu braucht man Militär, und wird
Militär so hinge bestehen, als der Kapitalismus besteht."*^
ti) Ferner durch die am 17. .länner 1893 in Reichenau in der
Versammlung des politischen Vereines ..Vorwärts'" gehaltene Rede, ins-
besondere durch die Äußerungen: „Uns wird vorgeworfen, daß wir keine
Vaterlandsliebe besitzen; kann man von uns aber erwarten, daß wir zu
einem Vaterland, wo wir imterdrückt, verkürzt und gequält werden und
von wo jährlich Tausende in die Fremde ausziehen, eine Liebe haben? Was
ist Vaterland? Es ist ein Ort, wo manclier im Elend geboren wird, wo ihm
iMU ungenügender Schulunterricht erteilt wurde, von wo er dann tori-
gezogen und wohin er sclilieLUicli pei' Schub zunickkidirl, uni seiiu' ("iel>eine
dort ins Grab zu legen."
c) Ferner durch die am 19. .Jännei- 1893 m (Irüuwald in der
Versammlung des politischen Vereines „Vorwärts" gehaltene Rede, ins-
besondere durch die Äußerungen: .,Der Bauei' müs.se, nicht nur daß ihm
das Geld für die Schießprügel berausge])i-eljt werde, diese Schießprügel n0';i!
selbst in die Schlacht l'ürs \'aterland als Kanonenfutter tragen, und wenn
er da zum Krüppel geschossen. Arm und Bein verliert, dann dankt ihm das
Vaterland, wenn es noch gut geht, mit der Drehoigellizeiiz . . . Nicht ilie
Feindschaft der Völker macht diese Anspannung nötig, der .Militarismus in
seiner gegenwärtigen Gestalt sei das Produkt der jetzigen kapitalistischen
Wirtschaft und zum Schutze der gefüllten Kassen des Kapitalisten nötig,
lienn die fürchten sich, daß einmal die ausgebeutete .Masse fragen könnte,
wozu diese Reichtümer aufgespeichert wurden . . . Die .\bleistuug der Welu-
pllicht sei eine ungerechte; dem Reichen wird es rechl leicht gemacht, er
brauche nur ein .fahr zu dienen, es seien zwar liiczu ^fwisse Bedingungen
zu erfüllen, aber da gibt es gewisse Anstallen, in widcbeii die jungen T>eutf
präpariert werden, selbst wenn sie auch unfähig -^umI. Der Bauer und der
Arbeite!' müssen drei Jahre schwer dienen: fin- die Bemitlellen sind be-
sondere Vorteile eingerichtet, das ist die durch das Staalsgrundgeselz ge-
wähi'leistete Gleichheit vor dem Gesetz, die Staalsgiuudgeselze hätten um-
so viel- Bedeutung wie ein Wisch Papiei, "sie gelten uui- für bestimmte
Klassen riffentlich und vor mehreren Ironien zur Verachtung und
zum Haß wider die Staatsverwaltung umt durch die i)ei der
Versammlung in G r ü n w a 1 d gemachte Außeiung anci) zur V e i- acht u n g
u n d z u m II a ß w i d e r il i e V e r f a s s u n g il e s It e i c h e s a u f-
/ureizeu gesuchl, biedurrh das Verbrechen der Störung der öffentlichen
Rohe nach § 65 a St.-G., stiathar nacdi i? (iö St.-G., begangeu.
2. Er habe durch die am 2. Jänner 1893 in Dessen dort m der
Wanderversammlung des ])olitischen Vereines ..Vorwärts" gehaltene Rede,
uisbesondere durch die .\ulJerungen : ..Etwas anderes fi-eilich mit der
*) Für den unzusaramenhängenden l'nsinn. der in den inkriminieilen
Stellen vorkommt, bitten wir, nicht den Redner verantwortlich zu machen.
siuidi-rn den „Stenographen". Herrn sUid. jur. .\dolf X i t s c h e. des.cen
Arbeit (jeni Staa1<anwalt das Material liefei-te.
Die Schwurgeric'ht^verhautllung in Keichenberg 125
Kirche; mit der Kirche, insofern sie Religion predigt und verwaltet, haben
Wir nichts zu tun. Was einer glaubt, wiederhole ich, ist uns gleichgültig.
Em Satz unseres Programms lautet: «Religion ist Privatsache.o< Aber was
wir wollen, ist das; Wenn einer glaubt, dann soll er glauben, w^eil er
glaubt, weil er durcli t^hrliches Nachdenken es für wahr hält. Was wir
aber nicht wollen, ist, daß die Kinder von Jugend auf hineingezwängt
werden in eine Richtung, wo sie nicht mehr umkehren können; das ist auch
nicht mehr Glaube, das ist Gewohnheit, das ist Knechtung, und die Geistes-
knechtschafl, gegen die sind wir, wir wollen freie Menschen haben" —
öffentlich der Religion Verachtung l)t' zeigt und hiedurch das
im § 122 b St.-6. bezeichnete Verbrechen der Religionsstörnng begangen.
3. a) Er habe durch ihe am 18. Jänner 1893 in W lesen t ha 1 in
der Versammlung des politischen Vereines „Vorwärts" gehaltene Rede, ins-
besondere durch die Äußerung: „daß von den österreichischen Gerichten
wahre Bluturteile gefällt werden" — öffentlich und voi- mehreren Leuten
durch Schmähungen d i (> Entscheidungen der R e li i\ r d e n
herabzuwürdigen gesucht.
b; Ferner durch die am 17. Jänner 1893 in R e i c h e n a u m der
Versammlung des politischen Vereines „Vorwärts" gehaltene Rede, ins-
besondere durch die Äußerung: „daß der Reichsrat in seiner Zusammen-
setzung nur die Vorteile des Großgrundbesitzers und Großkapitals im Auge
hat, daß nur solche Gesetze geschaffen werden, welche dieser Richtung
entsprechen, und daß dabei die Bauern und noch mehr die Arbeiter schlecht
wegkommen."
c) Ferner durch die am 20. Jänner 1893 m S c h u m b u r g in der
Versammlung des politischen Vereines -.Vorwärts" gehaltene Rede, ins-
besondere durch die Äußerung: „Wird im Abgeordnetenhause etwas Volk.->
Ireundliches gemacht, so haben wir ein Herrenhaus, um es zu vernichten"
— öffentlich und vor mehreren Leuten durch Schmähungen a n d e r <"
zum Hasse und zur Verachtung gegen eines der beiden
Häuser des Reichsrates aufzureizen gesucht und hiedurch das
1111 § 300 St.-G. und beziehungsweise auch im Art. IIL d. Ges. v. 17. Dez.
1862, Z. 8, R.-(!.-Bl., bezeichnete Vergehen gegen die öffentliche Ruhe nnd
Ordnung begangen.
i. a) Er habe durch die am 2. Jänner 1893 m 1) c s s c n d o r f m der
Wanderversammlung des politischen Vereines „Vorwärts" gehaltene Rede,
insbesondere durch die Äußerungen:
„Der Jude Rothschild verträgt sich mil allen Erzbischöfen ganz aus
$:.ezeichnet, und die Großjuden und Großklerikalen sind einig unter einem
Haufen, wenn es losgeht gegen die Arbeiter, gegen die Ausgebeuteten . . .
Warum läßt sich der Mensch das gefallen? Es entsteht die Frag'',
nachdem Hunderte und Tausende von Menschen sind, die von einzelnen
-ich im Schach halten lassen, nachdem die Majorität gedrückt ist und eine
iranz dünne Schicht, die drüber lebt, warum lassen sich die Vielen ge-
lallen, von Wenigen ausgebeutet und geknechtet zu werden: Warum? Sie
hätten ja die Macht, es zu tun*";
b) ferner durch die am 17. Jänner 1893 in Reichenau gehalteiif
Rede, insbesondere durch die Äußerung: „Der Kapitalismus saugt das Volk
126 Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichen berg
gänzhch aus, der Militarismus hängt mit dem Kapitalismus zusammen,
und das ausgesogene Volk muß zuerst neue Gewehre kaufen, sodann die
eigenen Söhne zum Militär schicken, damit sie das ihm gestohlene Kapital
in Schutz nehmen, damit es den Reichen niemand stehle" — andere zu
Feindseligkeiten wider einzelne Klassen und Stände
der bürgerlichen Gesellschaft zu verleiten gesucht und hieduroh
das im § 302 St.*G. bezeichnete Veigehen gegen die öffentliche Ruhe und
Ordnung begangen.
5. Er habe durch die am 2. Jänner 1893 in Dessendorf m der
Wanderversammlung des politischen Vereines „Vorwärts" gehaltene Rede,
insbesondere durch die Äußerung: „Ja, aber wir sind auch Feinde des
Eigentums. Was ist denn das heutige Eigentum? Haben Sie es sich über-
legt? Woher ist denn die einzige Sanktion, die einzige Heiligung des
Eigentums? Welches Eigentum ist heilig? Ist das Eigentum heilig, das
davon herrührt, daß nach dem Dreißigjährigen Kriege die Sieger halb
Böhmen an ein paar Ritter verteilt haben? Ist dieses Eigentum heilig? Ist
das Eigentum heilig, das aufgebaut ist auf der Ausbeutung von Tausenden
von Menschen in Fabriken, das einem m den Schoß fällt, der nicht weiß,
was er damit machen soll? Heilig ist das Eigentum, welches auf eigener
Arbeit beruht, wir wollen das Eigentum erst wieder heilig machen, wir
wollen dem Volke das Eigentum zurückgeben" — öffentlich und vor
mehreren Leuten die Rechtsbegriffe über das Eigentum zu
erschüttern versucht und hiedurch das im § 305 St.-G. bezeichnete
Veigehen gegen die öffentliche Rnhe und Ordnung begangen.
6. a) Er habe durch die obige in Dessendorf gehaltene Rede,
msbesondere durch die erwähnten Äußerungen von: „Aber das heutige
Militär" bis „als der Kapitalismus besteht";
b) durch die obige in Reichenau gehaltene Rede, insbesondere
durch die Äußerungen: „Das Militär ist hier nicht zum Schutze der Völker,
sondern zum Schutze der kapitalistischen Wirtschaft; die Kapitalisten
fürchten, damit nicht einmal die ausgebeutete Masse sie frage, wozu eigent-
lich die Reichtümer aufgespeichert wurden; insbesondere der Bauer, dem
das Geld für die Schießprügel herausgepreßt wird, muß diese Schießprügel
selbst in die Schlacht fürs Vaterland als Kanonenfutter tragen, und wird
er zum Krüppel geschossen, so daß ihm Arm und Bein weggeschossen wird,
dankt ihm das Vaterland, wenn es gut geht, mit der Drehorgellizenz . . ."
und die oben erwähnten Äußerungen von; „der Kapitalismus saugt" bis
„den Reichen niemand sichle";
c) durch die obige in W i e s e n t h a 1 gehaltene Rede, insbesondere
durch die Äußerungen: „Daß das Militär nicht wegen der äußeren Gefahr
vorhanden ist, sondern lediglich zum Schutze der vollgefüllten Kassen der
Großkapitalisten; nicht die russischen Bauern sind es, die mit unseren
Bauern Krieg führen wollen, sondern das durch die Arbeit des Volkes an-
gesammelte Kapital ist es, welches den Schutz der Gewehre braucht . . .
Die Vortrefflichkeit unserer Waffen mußte an den Arbeitern erprobt werden,
wie die Affäre in den Kohlenrevieren im Jahre 1891 nachweist . . . Daß
iler arme Mann den Schießprügel tragen muß. daß er mit demselben gegen
Die Schwurgerichts Verhandlung in Reichenber.s: 127
seinen ^litmensehen kämpfen muß, daß er der Gefahr ausgesetzt ist, Krüpptf
zu werden, und daß er als Belohinung dann einen Leierkasten erhält";
d) durch die obige in G r ü n w a 1 d gehaltene Rede, insbesondere durcli
•lie erwähnten Äußerungen von: ,.Der Bauer müsse" bis -nur für bestimmte
Klassen";
e) durch die obige in Schumburg gehaltene Rede, insbesondere
durch die Äußerungen: „Wir verlangen auch die Beseitigung des Militarismus,
verlangen allgemeine Volksbewaffnung, wir wollen das Volk erst recht be-
waffnen, wollen ihm die Waffen in die Hände geben, die es sich selbst
machen muß. Nun sagen einige, der Militarismus muß sein. Sie haben unter
den Liberalen eine Menge, die der Friedensliga angehören. Sie kommen
vom Friedenskongreß hernach zurück, und als Abgeordnete bewilligen sif
126 Millionen für Bajonette und Kanonen. Sie können das leicht tun, sie
tun es nicht aus ihrem Sacke. Der Bauer muß sich plagen und muß
schwere .Schulden machen, damit sein Sohn ein ordentliches Gewehr be-
kommt, damit sein Sohn eine Mordwaffe bekommt; wenn er dann zum
Opfer fällt, in der Schlacht ein Krüppel wird, was dann? Wo finden Sie
die Post, wo für die Krüppel gesorgt wird? Wir finden sie auf der Straße.
Sie wissen, wie es den Invaliden geht. Man sagt, das Militär ist notwendig,
weil wir Feinde von außen zu fürchten haben. Jeder Staat geht darauf aus.
sich und andere bankrott zu machen. In jedem Lande wird wahnsinnig ge-
rüstet, der Schluß muß der allgemeine Bankrott sein. Gegen unsere
Feinde? Nein! Glauben Sie ja nicht, daß das der einzige und wichtigste
Grund ist. Der Militarismus ist nur notwendig für die Kapitalisten, für
die Gesellschaft, diese braucht ihn. um die große Masse im Zaune zu
halten. Sehen Sie sich den Zustand der Gesellschaft an; die große Masse
arbeitet ihr Leben lang, mit dem Resultat, daß sie, wenn sie begraben wird,
genau so arm ist wie bei der Geburt. Wohin ist die Frucht ihrer Arbeit?
Es ist doch mehr gearbeitet worden, als verbraucht wurde. Es ist angehäuft
worden. Da liegt nun die Gefahr nahe, daß einmal die Leute nachsehen,
ob nicht schon genug da ist für alle. Das darf nicht sein, da muß vor-
siesorgt werden; dieselben Leute, die die Schätze angehäuft haben, müssen
die Waffen schmieden, und müssen Posten stehen vor diesen Kassen . . .
.iber je größer die Armeen werden, desto mehr Sozialdemokraten kommen
hinein. Davor fürchten sie sich am meisten. Die Sozialdemokratie ist die
Partei, welche will, daß dem Proletariat, den Ai heitern die Möglichkeit zu
ihrer Befreiung gegeben wird'' — öffentlich und vor mehreren Leuten die
kaiserliche Armee ohne Anführung bestimmter Tat-
sachen verächtlicher Eigenschaften geziehen un.l
dem iiffentlichen Spotte ausgesetzt, und er habe hiedurch die
im § 491 St.-G. und Art. V des Ges. vom 17. Dezember 1872, Z. 8 R.-G.-Bl.,
bezeichnete Übertietnng gegen die Sicherheit der Ehre begangen.
Zu der diesfalls vor dem k. k. Kreis- als Schwurgericht in Reichen-
berg gegen Dr. Victor Adler verzunehmenden Hauptverhandlung sind als
Zeugen Anton N i t s c h e, Gemeindevorsteher in Dessendorf , Adolf
.\ i t s c h e, stud. jur. in Dessendorf, Josef Ullrich, k. k. Bezirkssekretär
ui Gablonz, Wenzel Schneider, Lehrer in Wiesenthal, Wilhelm Flach,
Polizeikommissär in Wiesenthal, Vinzenz P e u k e r t, Gemeindevorsteher
138 Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg
in Rt'ichenau, Karl H o i r i c li l e r m Reichenau, Josef Preußler in
Reichenau, welche beide ihre Aufzeichnungen mitzubringen haben, Anton
Jäckel, Gemeindevorsteher in Grünwald, Adolf Kratz er l, Glaswareiv
erzeuger in Grünwald, Wenzel Schöffe 1, Schlossermeister m (irünwald.
Franz Jäck'el. Ökonom m Grünwald, Josef K ratze rt, Privatier in
Grünwald, Adolf Bergmann, Hotelier in Gablonz, Josef Jacek,
k. k. Bezhkskommissär in Gablonz, Josef Pochmann, Gemeindevorsteher
m Schumlmrg, Franz Simm, Oberlehrer in Dessendorf, vorzuladen, ferner
seien hiebei die Protokolle doi- Zeugen .losef B i 1 1 n e r, Wilhelm Barth
Heinrich Simm, Anton Lang, Siegmund Robitschek, Josef Fried-
r 1 c h, Wilhelm Schier, Vinzenz E n d 1 e r, Josef A d a m, ferner N. J. 1 ,
Zuschrift der k. k. Bezirkshauptmannschaft Gablonz mit /. Übertragung des
Stenogramms, N. J. 5, Zuschrift derselben, N. J. ß, Zuschrift der k. k. Polizei-
direktion Wien, •/. ad Nr. J. 09, Übertrag des Stenogramms ■/., ad N. J. H,
Zuschrift der k. k. B e z i r k s h a u p t m a n n s c h a f t Gablonz
mit 7. Aktum u n d 'l-j R e 1 a t i o n, 7. N. J. 24, Vermögenszeugnis des
Dr. Victor Adlei-, N. J. 2, 14, t9, 26, Zuschriften des k. k. Reichskriegs-
ministeriums, vorzidesen und die Orighialstenogramme vorzulegen.
Gründe.
Ende Februar 1893 fand die Wahl eines Reichsratsabgeordneten für
Kien Landgemeindewahlbezirk Reichenberg-Gablonz statt. Als Kandidat von
Seiten der sozialdemokratischen Partei wurde Dr. Victor Adler aus Wien
aufgestellt. Zur Unterstützung dieser Kandidatur veranstaltete der politiS'Che
Verein „Vorwärts" in Reichenberg zahlreiche Versammhmgen in dem Wahl-
bezirk, bei welchen Dr. Adler als Kandidat auftrat.
Gemäß der Mitteilung der k. k. Bezirkshauptmannschaft Gablonz hielt
Dr. Adler unter anderen in folgenden Versammlungen Reden, und zwar am
2. Jänner in Dessendorf, am 17. Jänner in Reichenau, am 18. Jänner in
Wiesenthal, am 19. Jännei' in Grünwald und am 20. Jänner in Schum-
burg. Der Inhalt dei' Reden, welcher mit mehr oder weniger Abweichung der
gleiche war, hatte eine sehr verhetzende Tendenz, so daß die Bezirkshaupt-
mannschaft die Aufzeichnungen über die Reden der Staatsanwaltschaft zur
Strafatntshandlung ü])ermit teile
I! e d e in Dessendorf.
Bei der Versammlung in Dessendorf unter dem Vorsitz des Ver-
einsobmannes Eduard Zeller aus Reichenberg fungierte der Gemeinde-
vorsteher Anton Nitsche als landesfürstlicher Kommissär, während dessen
Solm stud. jur. Adolf Nitsche die Rede des Dr. Adler stenographisch auf-
iKihm. Die Übertragung des Stenogramms 7. ad N. J. 1 enthält nur wenige
Lücken, welche den Sinn der Rede nicht wesentlich verändern. Adolf und
Anton Nitsche, Franz .Simm und Jf)sef Bittner bestätigen die Richtigkeil
dieser Aufzeichnungen. Anton und Adolf Nitsche erklären, daß die Rede
einen aufreizenden Eindruck machte, während sie nach Ansicht des Wilhelm
BartI nichts Strafbares enthielt. Alle die Zeugen sowie Heinrich Simm
stimmeii darin überein, daß diese Äußerungen des Dr. Adler mit Beifall
aufgenommen wurden und den Erfolg erzielten, daß dann sozialdemokra-
tische Wahhnänner gewählt wurden.
Die Sehwurgerichtsverhandlung in Reichenberg 129
Rede in R e i c h e n a u.
Bei der Versammlung in R e i c h e n a u, unter demselben Vorsitz,
fungierte der k. k. Bezirkssekretär Josef Ullrich als landesfürstlicher
Kommissär. Nach Angabe desselben waren bei dieser sowie bei der Ver-
sammlung in Grünwald ungefähr 300 bis 400 Teilnehmer, teils Wähler, teils
NichtWähler anwesend, von denen die Mehrzahl dem Bauern- und Klein-
gewerbestande angehörte. Die Hauptsache der Versammlung war jedesmal
das Referat des Dr. Adler. Derselbe entwickelte sein Programm, besprach
die politische und wirtschaftliche Lage und die Forderungen der Sozial-
demokratie sowie die Stellungnahme zur Reichsratswahl. Wenn auch kein
Stenogramm über diese Rede vorliegt, so gibt doch .losef Ullrich an, daß
dieselbe mit wenigen Ausnahmen denselben Inhalt hatte wie die in Grün-
wald; die oben verzeichneten Äußerungen des Dr. Adler, speziell in
Reichenau, wurden den Angaben der Zeugen Josef Ullrich, Vinzenz Peukert,
Karl Hofrichter und Josef Preißler entnommen.
Alle diese Zeugen gewannen aus der Rede den Eindiiick, daß der
Redner gegen die bestehenden Gesetze und die soziale Ordnung aufzureizen
suchte. Die Rede äußerte auch auf die Anwesenden die beabsichtigte
Wirkung, indem dieselben einzelnen Stellen applaudierten und den Redner
durch Zurufe zum weiteren Sprechen ermunterten; der Kommissär sah sich
wiederholt veranlaßt, den Sprecher zu unterbrechen; aus letzterem Gründe
glaubt auch der Zeuge Anton Lang, daß der Redner gegen das Gesetz ver-
stoßen haben müsse.
Rede in Wiesenthal.
Bei der Versammlung in Wiesenthal fungierte der k. k. Bezirks-
kommissär Josef Jacek als landesfürstlicher Kommissär. Wenn auch da keino
stenographischen Aufzeichnungen vorliegen, so bestätigen doch Josef
Jacek, Wenzel Schneider, Adolf Bergmann und Josef Adam den Inhalt und
Sinn der oben bezüglich dieser Rede angeführten Äußerungen des
Dr. Adler. Nach Angabe der Zeugen Josef Jacek, Adolf Bergmann. Wilhelm
Flach war die ganze Rede des Dr. Adler sehr aufreizend, so daß der
Kommissär ihn wiederholt unterbrechen ließ. Auch der Eindruck der Regie
auf die Anwesenden war, nach dem Beifall zu schließen, ein großer; ebenso
hatte sie dann den Erfolg, daß in Wiesenthal meist sozialdemokratische
Wahlmänner gewählt wurden.
Rede in Grün w a 1 d.
Bei dieser Versammlung unter dem Vorsitz des Vereinsobmannes
Ed. Zeller fungierte der k. k. Bezirkssekretär Josef Ullrich als landesfürst-
licher Kommissär. Derselbe erstattete am anderen Tage die Relation
^-/i, N. J. 1 aus N. J. 13) über den Verlauf der Versammlung und die
Rede Dr. Adlers. Ebenso wurden die Zeugen Anton Jäckel, Adolf Kratzert,
Wenzel Schöffel, Franz Jäckel und Josef Kratzert sofort am 20. Jänner in
den Aktum (•/. ad N. J. 1) über die wesentlichen Äußerungen Dr. Adlers
zu Protokoll genommen. Alle Zeugen bestätigen gerichtlich die Richtigkeit
dieser Aufzeichnungen. Nach Angabe der Zeugen wurden die aufreizenden
Stellen der Rede von demonstrativem Beifall der Anwesenden be-
130 Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg
gleitet. Letztere gerieten immer mehr in Erregung, so daß der Kommissär
dem Redner nach wiederholter Androhung das Wort entziehen ließ. Da
hierüber eine lärmende Demonstration der Versammlung erfolgte, so erklärte
der Kommissär dieselbe für aufgelöst.
Rede in S c h u m b u r g.
Bei dieser Versammlung fungierte derselbe landesfürstliche Kom-
missär und wurde über die Rede Dr. Adlers ein Stenogramm auf-
genommen, dessen Übertragung unter •/. ad N. J. 12 vorliegt. Die Zeugen
Josef Pochmann, Josef Friedrich, Wilhelm Schier und Vinzenz Endler be-
stätigen, daß das Stenogramm den Sinn der W'orte Adlers mit ziemlicher
Treue wiedergibt. Nach Ansicht des Josef Fachmann hatte der Redner die
Absicht, das Volk gegen die bestehenden Gesetze und gegen das Militär auf-
zureizen, während Josef Friedrich diese Absicht bezweifelt. Alle diese
Zeugen bestätigen, daß die Äußerungen mit Beifall aufgenommen und daß
dann Wahlmänner der sozialistischen Partei gewählt wurden.
Der Beschuldigte erklärt, daß die Stenogramme, beziehungsweise
deren Übertragung und die Zeugenaussagen lückenhaft und ungenau sind
und in den entscheidenden Punkten den Inhalt seiner Rede unrichtig wieder-
geben, im übrigen verweigert er jede Auskunft und behält sich seine Ver-
teidigung bei der Hauptverhandlung vor. Dessenungeachtet ist der Sinn und
die Tendenz seiner Äußerungen durch die schriftlichen Aufzeichnungen im
Zusammenhang mit den Zeugenaussagen als sichergestellt anzunehmen.
Was nun die Subsumierung der einzelnen Reden und Äußerungen
unter das Strafgesetz betrifft, so werden in den in Dessendorf, Reichenau
und Grünwald gehaltenen Reden, insbesondere in den unter i, a, b, c hervor-
gehobenen Redewendungen die Zustände im österreichischen Vaterland in
so entstellter und gehässiger Weise dargestellt, daß dies geeignet ist, andere,
namentlich die Minderi)emittelten, zum Haß und zur Verachtung gegen
die Regierung, welche solche angebliche Zustände veranlaßt oder wenig-
stens zuläßt und daher für sie verantwortlich ist, aufzureizen; durch die
Worte, daß die Staatsgrundgesetze nur soviel Bedeutung hätten wie ein
Wisch Papier, wird überdies zu den gleichen Gefühlen wider die Verfassung
lies Reiches aufzureizen gesucht.
In der Dessendorfer Rede wird ferner die Erziehung der Jugend
m den Lehren und Formen einer positiven Religion als unrichtig, als bloße,
erzwungene Gewohnheit und als Geistesknechtung bezeichnet, gegen welche
sich die Sozialdemokratie ausspreche; hiedurch wird jedenfalls der Religion
A'erachtung bezeigt.
Der Ausspruch in der Wiesenthaler Rede, daß von den österreichi-
schen Gerichten wahre Bluturteile gefällt werden, beinhaltet in seinem
klaren Sinne und im Zusammenhang mit der ganzen Rede den Vorwurf der
Ungerechtigkeit und Parteilichkeit, daher eine Schmähung zur Herab-
würdigung der Entscheidung der Behörden.
Die Reden in Reichenau und in Schumburg ergehen sicli insbesondere
in heftigen Angriffen gegen den Reichsrat, -welcher als parteiisch und volks-
feindlich hingestellt und daher so geschmäht wird, daß gegen ihn die Gefühle
des Hasses und der Verachtung erweckt werden.
Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg 131
Die Rfden m Dessendorf und in Reiohenau suchen insbesondere in den
inkriminierten Äui3erungen durch krasse Hers^orhebung des Gegensatzes
zwischen reich und arm die ärmeren Volksschichten zu Feindseligkeiten,
(las heißt zu feindseligen Gesinnungen gegen die Besitzenden und höher-
testellten Klassen noch mehr anzueifern.
In der Dessendorfer Rede wird auch die rechtliche Begründung des
heutigen Eigentums, hauptsächlich des Großgrundbesitzes und der Groß-
industrie, in Zweifel gezogen und diesem Eigentum, wie aus dem Sinne der
vom Redner gestellten Fragen klar hervorgeht, die Anerkennung von seiten
der Sozialdemokratie versagt. Diese in einem Rechtsstaat unzulässige An-
schauung ist zweifellos geeignet, die Rechtsbegriffe über das Eigentum zu
eischüttem.
Die in allen fünf Reden vorkonunende Außeixing über das Militär
richtet sich gegen das Militär, wie es heute in Österreich zum Schutze des
Vaterlandes gegen äußere und innere Feinde zu Recht besteht; es wird
f>eradezu die Notwendigkeit der Armee zum Schutze gegen äußere Gefahren
ti e 3 t r i 1 1 e n und in wegwerfender, gehässiger Weise behauptet, daß die
vrmee zum Schutze der gefüllten Kassen der Reichen, des von ihnen dem
Volke gestohlenen Kapitals da sei.
Hiedurch wird offenbar die kaiserliche Armee verächtlicher Eigen-
schaften geziehen und dem öffentlichen Spott ausgesetzt. Die Beleidigung
■ler Armee ist gemäß Art. V des Gesetzes vom 17. Dezember 1862 von Amts
wegen zu verfolgen und liegt die hiezu notwendige Zustimmung des Kriegs-
ininisters vor.
Alle diese inkriminierten Äußerungen wurden vom Beschuldigten
öffentlich und vor mehreren Leuten vorgebracht. Daß der Beschuldigte die
zum Tatbestand der obenerwähnten Straftaten erforderliche böse Absicht,
die übrigens in den Worten selbst liegt, hatte, geht aus seiner Zugehörigkeit
zur sozialistischen Partei, welche auf den Umsturz der staatlichen und ge-
sellschaftlichen Ordnung abzielt, hervor. Auch besitzt derselbe eine solche
[nlelligonz und Erfahrung, daß er voraussetzen konnte, seine Worte werden
bei den Anwesenden, die teils zu den Anhängern der sozialistischen Idee
;^ehürten, teils zu solch'en von ihm gewonnen werden sollten, erregend und
aufreizend wirken. Der tatsächliche Erfolg entsprach auch dieser
Absicht, da, wie oben gezeigt, die Reden auf die Zuhörer einen
zündenden Eindruck machten.
Der Beschuldigte ist demnach aller ihm zur Last gelegten Straftaten
dringend verdächtig.
Die Zuständigkeit des k. k. Kreis- als Schwurgerichtes Reichen-
berg ist in §§ 14. 51, 56 St.P.-O. und Art. 2. 24, 25 des Einführungsgesetzes
hiezu begründet.
24. Juni 1893. K. k. Staatsanwaltschaft Reichenberg.
S c h ö b e 1.
Vorsitzende r; Herr Doktor Adler, erklären Sie sich für schuldig?
Angeklagter: Ich erkläre mich für nichtschuldig.
Vorsitzender: Es steht Ihnen frei, der Anklage eine Erklärung
entgegenzustellen; ich ersuche aber, nur bei der Sache zu bleiben, damit
9*
132 Die Scliwuigerichtsverhandlung in Reichenberg
ich niclit notwendig habe, Abweichungen von der Saclie durch eine Unte'--
brechiing zu verhindorn.
Angeklagter: Ich werde von dieser Erlaubnis Ge-
brauch machen und werde so kurz als möglich sein. Aber die
Anklage umfaßt ein so weites Gebiet, daß die Herren Ge-
schwornen und der hohe Gerichtshof mir gestatten müssen, ihre
Geduld einige Zeit in Aneprucli zu nehmen. Der Prozeß, um
den es sich handelt, ist ein politischer Prozeß, der Prozeß
ist ein T e n d e n z p r o z e ß. Ks ist daher vor allem nötig, die
Umstände feetzustellen, unter welchen all die Delikte begangen
worden sein sollen. Im Jahre 1891 im Frühjahr fanden zum
ersten Male in Österreich Wahlen in den Reichsrat statt, an
welchen die Sozialdemokratie teilnahm. Zum ersten Male
wurden Kandidaten aufgestellt, allerdings ohne die Aussicht,
sie durchzubringen, aber mit der Absicht, ihre Grundsätze
zu verbreiten und um sich nach und nach in den mittleren
Schichten Anhänger zu gewinnen. Ich hatte damals schon die
Ehre, für den Eeichratswahlbezirk Reichenberg-Land als
Kandidat aufgestellt zu werden und habe damals eine Reihe von
Versamlungen abgehalten, und zwar überall, in der Bezirks-
liauptmannechaft Reichenberg, m der Bezirkshauptmannschaft
Friedland, in Rochlitz drüben, ohne die geringsten Schwierig-
keiten, ohne jeden Anstand. In der Bezirkshauptmannschaft
G a h 1 o n z aber wurden unsere Versamlungen von der Bezirks-
hauptmannschaft gestört; es wurden in Morchenstern und
Wiesenthal sowohl der Herr Bezirkskommissär als auch die
Gendarmerie aufgeboten und Leute, die nicht Wähler waren,
nicht zugelassen. Ich erwähne das, um zu begründen, Avarum
wir bei der nächsten Reichsratswahl etwas anders vor-
gegangen sind.
Es ist ungefähr ein Tahr. daß Herr Müller, der Abge-
ordnete jener Bezirke, starb, und es war eine Nachwahl nötig:
ich wurde neuerdings als Kandidat aufgestellt. Ich habe wieder
etwa 30 Versammlungen abgehalten. Sie waren alle einberufen
vom politischen Verein „Vorwärts"; es waren nicht eigentliche
Wählerversammlungen, sondern es waren öffentliche Wander-
versammlungen. Wir haben diese Form für die Wahlagitation
wählen müssen, weil gerade in der Bezirkshauptmannschaft
G a b 1 o n z von vornherein die Stimmung war, die sozial-
demokratische Agitation in jeder Weise einzuschränken und vor
Die Schwurgerichtsverhandlung- in Reichenberg l'iS
iillem die Versammluugen so zu gestalten, daß diejenigen, die
nicht Wähler sind, die nicht das Eecht haben, einen Abge-
ordneten zu wählen, nicht einmal hören können, wie er sich
etwa verantworte, und ihre Anforderungen an ihn zu stellen.
Wir aber sind von der Voraussetzung ausgegangen, daß, wenn
auch zwei Drittel der Bevölkerung vom Wahlrecht ausge-
fchlossen sind, der Abgeordnete, trotzdem er nur ein Drittel zu
vertreten hat, auch in die Interessen der zwei ausgeschlossenen
Drittel einzugreifen habe, mithin auch die Verpflichtung, sich
auch mit den Nicht Wählern auseinanderzusetzen. Die Auf-
fassung der Gablonzer Bezirkshauptmannschaft war die ent-
gegengesetzte, wir mußten darauf gefaßt sein, daß mit Waffen-
ii:ewalt die Nichtwähler ausgeschlossen würden, daß es deshalb
wieder zu ganz erheblicher Aufregung kommen würde. Es sind
also vom politischen Verein ., Vorwärts" Versammlungen ver-
anstaltet worden, welche aber ihren Sinn und Bedeutung als
Wählerversammluugen für die Eeichsratswahl hatten. Außer-
dem ist zu bemerken, daß ein Gegenkandidat damals, als ich die
Versanunlungen hielt, noch nicht aufaestellt war, aber es war
schon sicher, daß nur die liberalePartei einen solchen
aufstellen würde. Ich habe also wieder Versammlungen abge-
lialten, und zwar in der Bezirkshauptmannechaft Reichen-
b e r g etwa 14 Versammlungen. Es wurde von selten des
löblichen Kreisgerichtes von dieser Bezirkshauptmannschaft ein
(rutachten abverlangt, und die Bezirkshauptmannschaft fand,
(laß keine Veranlassung zur Einleitung einer Straf-
auitshandlung vorgelegen sei. Ich habe in der Bezirkshaupt-
uiannschaft F r i e d 1 a n d neun Versammlungen altgehalten,
und auch diese, die mir sein* ängstlich oder sehr sorgfältig
hinterher war, hat nichts gefunden, was eine Ausschreitung be-
deutet hätte, wie ja aus dem Protokoll hervorgehen wird. In der
Bezirkehauptmannschaft Starke n b a c h habe ich unter
anderem unmittelbar nach den beanständeten Versammlungen
zwei Reden gehalten — sie wurden nicht als sträflich erachtet.
Nun ist eine solche Agitationstour eine anstrengende Sache
und man hat immer über dieselben Dinge zu sprechen. Man
sjiricht ja verschieden nach dem Publikum: vor einem bäuer-
lichen wird man mehr die agrarischen, vor einem kleingewerb-
lichen mehr die kleingewerblichen Gegenstände berühren. Aber
wenn ich noch viel ..intelligenter'* wäre, als zu sein der Herr
IM Die Schwurgerichtsverhandlung in Keichenberg
Staatsanwalt mir das Kompliment macht, wäre e? mir nicht
möglich, in 30 Versammlungen binnen drei Wochen ver-
schiedene Reden zn halten. Es sind also diese Reden im wesent-
lichen, in den Grundzügen dieselben. Sie bewegen sich überall
um zwei Dinge: erstens um dieEntwicklung des sozialdemokra-
tischen Programms, und zweitens um die Kritik der heutigen
Verhältniisee, der wirtschaftlichen in erster Linie, der politi-
schen *in zweiter, speziell unserer Wahlordnung und politischen
Gesetzgebung überhaupt. Ich habe also, das darf ich ruhig
sagen, in Reichenberg genau so „aufreizend" und „verhetzend"'
gesprochen wie in Gablonz, ich habe am 22. Jänner in H a r-
r a c h e d o r f ebenso „aufgereizt" wie am 20. Jänner in Schum-
burg. Dazu kommt noch ein umstand. Die Dessendorfer Rede,
die am meisten inkriminiert ist, hielt ich am 2. Jänner. Die An-
zeige an das Kreisgericht erfolgte aber nicht nach dieser
Rede, sondern erst nachdem die Wahlagitation in (Jablonz im
vollen Zuge war, nachdem ich noch weitere fünf Reden ge-
halten hatte, also um drei Wochen später. Und noch eines. Ich
habe am 17. Jänner in Reichenau, am 18. in Wiesenthal, am
19. in Grünwald gesprochen. In der Anklageschrift wird mir
aus der Auflösung der Versammlung ein Verbrechen gemacht.
Die Auflösung ist nicht etwa erfolgt wegen Verhetzung gegen
das Eigentum oder wegen Aufreizung zu Haß und Verachtung
gegen Gesetze .oder dergleichen. Die Auflösung erfolgte, wie
durch Zeugen und durch ein vom Regierungpjvertretor unter-
zeichnetes Protokoll bewiesen w^erden wird, wegen Beleidigung
der liberalen Partei. Nach dieser Versammlung in Grünwald
habe ich in Schumburg am 20. Jänner gesprochen, die ebenfalls
eine der belastendsten sein soll. Nun, dieselbe Bezirkshaupt-
mannschaft, welche mich am 20. für einen so gefährlichen
Menschen halten mußte, nachdem sie mich schon fünfmal reden
gehört hatte, ließ mich am 21. auf ihrem Gebiet in Oberpolaun
reden, wo ich dasselbe sprach, und die Rezirktshau])tmannschaft
mußte voraussetzen, daß ich dasselbe sprechen würde, aber diese
Versanunlung bildet nicht den Gegenstand einer Anklage.
Und warum nicht? Es war etwas Schneewetter, und die löbliche
Rezirkshauptnuuiusehaft hat gefunden, daß es doch noch ge-
fährlicher sei, wenn sich ein Kommissär nach Oberpolaun ver-
füge, als wenn ich <lort den I'msturz predige: sie hat vorge-
zogen, keinen Kommissär hinzuschicken. Ich konstatiere das
Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg 135
hier, weil icli voraussetze, daß die Bezirkshauptmannschaft
Gablonz, wenn sie bereits am 21. Jänner der Ansicht gewesen
wäre, daß es da so gefährliche Dinge gebe, 60 viele Verbrechen
begangen werden, es dann mit ihrer Amtspflicht ernst genug
genommen hätte, um trotz des Schneewetters nach Oberpolaun
einen Kommissär zu schicken. Die Vertretung der Dinge, die
mir zu Last gelegt werden, ist gewiß keine leichte, und zwar
darum, weil ich bestreite, sehr vieles davon gesagt zu haben :
davon aber, was ich gesprochen, ziehe ich kein Wort
zurück, das halte ich für wahr, nur bin ich überzeugt, daß es
dem Strafgesetz nicht widerspricht. Anderseits ist die Anklage
auf zwei sogenannten „Stenogrammen" aufgebaut. Das eine
stammt von einem Studiosus juris, der auf meine Frage, warum
er stenographiere, antwortete, er tue es nur zu seiner Übung,
und dessen Vater, der Gemeindevorsteher von Dessendorf , sagte,
er wolle nur wissen, „ob der Junge schon etwas gelernt habe",
l'nd jetzt ist dieses „Stenogramm" dieses Jüngers der Wissen-
schaft eines der belastendsten Materiale! Das zweite Steno-
gramm von Schumburg, dessen Verfasser unbekannt geblieben
ist, wird dadurch charakterisiert, daß vier Bela.'^tungszeugen
erklären, daß es den Sinn der Worte „mit ziemlicher Treue"
wiedergebe. Bei Stenogrammen gibt es nichts „ziemlich
Treues", entweder ist es eine mechanische Wiedergabe der
Worte, die ich gesprochen habe, oder es ist eine Aussage
irgendeines Anwesenden. Ich bekenne nun vollständig, daß ich
alle die Dinge berührt habe, konstatiere aber, daß die Stellen,
welche die Anklage vorbringt, aus dem Zusammenhang ge-
rissen, ungetreu, ungenau und lückenhaft wiedergegeben sind,
und daß dadurch vielfach ein ganz falscher Sinn entstanden ist.
Es sind mir so zahlreiche Verbrechen, Vergehen und
Übertretungen zur Last gelegt, als man überhaupt anständiger-
weise begehen kann. Ich fange mit den „V erbrechen" an.
Ich soll gesagt haben; „Die Spitzbuben fehlen bei uns zwar
auch nicht, nur daß sie bei uns nicht eingesperrt werden." Das
soll begründen die Störung der öffentlichen Ruhe und Auf-
reizung zum Haß oder zur Verachtung wider die Regierungs-
form oder die Staatsverwaltung nach § 65 a. Ich könnte mich
ja billig aus der Affäre ziehen und sagen, daß das der allge-
meine Vorwurf sei, daß die Polizei überall eine Anzahl Spitz-
buben nicht erwischt, sogar im Gablonzer Bezirk soll das vor-
136 Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg
gekommen sein. Das wäre die allgemeine Klage der Bürger, daß
die größten Räuber nicht erwischt werden; aber diese Art der
Verantwortung paßt mir nicht, weil sie nicht wahr wäre. Ich
habe in Dessendorf jene Stelle in folgendem Zusammenhang
gesagt: Die Rede hat als Thema die Forderungen der »Sozial-
demokratie gehabt; ich habe damit angefangen, was die Sozial-
demokratie wäll, daß man über dieselbe sehr falsche Ansichten
habe, daß sie von den verschiedenen Parteien natürlich sehr
verurteilt werde, daß aber ihre Bedeutung fortwährend zu-
nehme; heute sei sie sogar schon die zahlreichste Partei nicht
nur in Deutschland, sondern auch in England, ja vielleicht auch
in Österreich, wo wir es bisher noch nicht konstatieren können,
weil wir kein Wahlrecht haben. Ich habe die einzelnen Länder
besprochen und bin auch auf Frankreich gekommen. Dort war
gerade die Panamageschichte los und ich habe ungefähr ge-
sagt : Sehen Sie hinüber nach Frankreich ; die korrupte Re-
publik, die einer noch korrupteren Monarchie gefolgt ist, wird
durch einen Skandal zerfressen; und fügte nun hinzu: Man
soll aber nicht etwa Pharisäer sein und sagen, Gott, wir danken
Dir, daß wir besser sind als diese da; auch bei uns sind solche
Spitzbuben vorhanden, nur hängt man die politische Kor-
ruption nicht so an die große Glocke, nur spricht man darüber
nicht so in den Zeitungen, weil wir Preßzustände haben, wie
sie eben sind, weil das Parlament nicht die Macht hat wie in
Frankreich, und darum werden sie nicht eingesperrt. Das zu
konstatieren soll nun ein Verbrechen sein. Ich könnte eine ganze
Reihe von Fällen anführen, wo Spitzbübereien, wo politische
Korruption in Österreich öffentlich konstatiert wurde und nicht
<iazu geführt hat, daß die Leute eingesperrt wurden, wie bei
einzelnen der Panamabestochenen. Sie erinnern sich an den
Länderbankskandal im österreichischen Abgeordnetenhaus, wo
die Namen R a p p a p o r t, aber auch K o s 1 o w s k i, Graf
Wodzicki, der Gouverneur der Länderbank, Ritter
V. Hahn, eine große Rolle gespielt haben; Sie erinnern sich
an die T r a n s v e r s a 1 b a h n geschichte, die darauf folgte,
und bei welcher außer diesen Herren auch noch ein Name eine
Rolle spielte, der heute zu besonderer Perühmtheit gekommen
ist, der des Grafen S t a d n i c k i. Damals hat eine ünter-
-uchungskommission über jene unter dem Namen K a m i n s k i-
A f f ä vp liekainitc Sache im Parlament stattaefunden. und die
Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg l^T
liberale Minorität hat einen Ausschußantrag gestellt, daß dem
Herrn Abgeordneten K o s 1 o w s k i von selten des Abge-
ordnetenhauses wegen seines Vorgehens anläßlich seiner Be-
teiligung von Seiten der österreichischen Länderbauk am 2. Ok-
tober 1882 mit einer Summe von über 60.000 fl. das Bedauern
ausgesprochen werde. Damals war aber die Linke im parlamen-,
tarischen Ausschuß in der Minorität, der Antrag kam gar nicht
zur Debatte. Die Herren Polen haben es verstanden, ihre
Ko.slowskis zu schützen. Sie erinnern sich, wie einige Jahre
später ein Angriff auf den damaligen Handelsminister P i n o
von selten des Abgeordneten S t e i n w e n d e r gemacht wurde
in der Frage gewisser böhmischer Bahnen, wo sehr verdächtige
Beziehungen des Handelsministers festgestellt wurden, wo ein
ganzes Netz von Korruption enthüllt wurde, aber eingesperrt
wurde keiner. Vor ganz kurzer Zeit hat sich folgendes ereignet:
Da hatte einer der polnischen Führer eine Audienz beim
Kaiser, es handelte sich um das Kriegsbudget, es handelte sich
um die Aussichten für einen nächsten, etwa zu gewärtigenden
Krieg. Merkwürdigerweise standen darauf angebliche Äuße-
rungen des Kaisers im „Wiener T a g b 1 a 1 1", geleitet von
Herrn M o r i t z S z e p s, zu lesen. Darauf war eine große
Spekulation gebaut, welche Millionen „ins Verdienen" gebracht
hat; und als darauf eine Interpellation im Abgeordnetenhaus
an die Regierung und den Polenklub gestellt wurde, man möge
den Spitzbuben suchen, man möge untersuchen, wie das
„Wiener Tagblatt" denn zu diesen falschen oder wahren Nach-
richten über die Audienz gekommen sei, um mit dem angeb-
lichen Wort des Kaieeis zum Zweck der Börsenspekulation
Mißbrauch zu treiben, da wurde wieder ein Untersuchungs-
ausschuß eingesetzt, aber die Spitzbuben wurden nicht einge-
sperrt.
\' 0 r s i t z e n d e r unterbiecliend): Ich möclile Sie ermahnen, nicht
so vorzugehen. Das sind nur allgemein hingestellte Behauptungen ohne
weitere Begründungen. Das Material, das jenen Akten vorlag, steht uns
nicht zur Verfügung. Es würde eine einseitige Darstellung sein, wenn
Persönlichkeiten verdächtigt werden, ohne Beweise anführen zu können,
und anderseits die Beschuldigung erhoben wird, die Verwaltungsorgane und
die Gerichte hätten die Spitzbuben laufen gelassen. Ich kann solche Ab-
weichungen von der Verteidigung ferner nicht zulassen.
Angeklagter: Ich bin damit bereits fertig; übrigen.«
sind Ihnen ja diese Tatsachen aus der Presse bekannt. Von der
138 Die Schwurgerichtsverhandlung in Heicheiiberg
Panuinakorruption in Frankreich war also dit^ Kede, und ich
habe nur behauptet, Panama ^ebe es anderswo auch. Die zweite
Stelle, um die es sieh handelt, von „derselbe Staat, welcher den
Bauern das Mark aus den Knochen . . ." bi? für die
Armee" klingt etwas abgebrochen. Ich habe im Zusammen-
hang gesagt: Wenn wir die offiziellen Ziffern der Rekru-
tierung betrachten, so sehen wir, daß das Resultat imme;-
schlechter wird, daß in den achtziger Jahren die Hälfte der Ab-
gestellten noch zum Militärdienst tauglich war, im Jahre 1881
nur 462 von 1000, daß im Jahre 1885 schon 568, im Jahre 1891
schon 691 von 1000 untauglich waren, und fahre fort: Wenn
das 60 weiter geht, haben wir in zehn Jahren ein rauchloses,
vielleicht geruchloses Pulver, aber wir haben die Menschen
nicht, welche fähig sind, die Gewehre auf die Schulter zu
nehmen, und derselbe Staat, welcher den Bürgern das Mark au-
den Knochen nimmt für das Militär, derselbe Staat .... hier
fehlt die Fortsetzung im Stenogramm, während ich gesagt habe :
derselbe Staat wird nicht fähig sein, sich zu verteidigen, weil
das Menschenmaterial zu sehr degeneriert ist. Das alles ist aber
nur die Konetatierung einer allgemein anerkannten Tatsache.
Das dritte Verbrechen soll darin liegen, daß ich sagte;
„Alle bürgerlichen Freiheiten sind für die Besitzenden vor-
handen, für die Arbeiterklasse existieren sie nicht." Wenn das
ein Verbrechen ist, dann bin nicht ich der Verbrecher. Sie
wiesen, daß bei jeder Wahlagitation eine Rolle spielt der Kampf
für allgemeines, gleiches und direktes Wahlrecht. W^enn ich bei
jeder Gelegenheit die Ungleichheit des W^ahlrechtes hervor-
hebe, wenn ich sage, daß der Satz, der an der Spitze der Staats-
grundgesetze steht: ,,Vor dem Gesetz sind alle Bürger gleich",
daß dieser Satz im W a h 1 r e c h t einfach nicht vorhanden ist.
so ist das kein Verbrechen, sondern bloß die Konstatierung
einer Tatsache. Ich sagte ungefähr: Es heißt im Staatsgrund-
gesetz, daß alle Staatsbürger vor dem (lesetz gleich sind. Nun
probieren Sie es, gehen Sie hin und wählen Sie, dann wird man
Ihnen zeigen, daß Sie nicht gleich sind, daß der Mensch erst
beim Fünfguklenmann anfängt. Dann sprach ich vom Heimats-
recht und vom Preßgesetz. Es heißt hier im Stenogramm: „Dif
freie Presse haben wir, wenn wir aber schreiben . . .", hier
fehlt der Satz, der Herr iStudiosus N i t s c h e. welcher steno-
grajdiierte. hat nicht weiter gewußt: ich aber weiß, was ich ge-
Die Schwurgerichtsverhaudlung in Reichenberg 139
sagt habe: j,Die freie Pre:--^o ist auch nicht für alle Bürger
gleich ; diejenigen, welche den Stempel nicht bezahlen, die
Kaution nicht bezahlen können, haben kein Preßrecht oder es
ist sehr eingeschränkt: diejenigen, die auf ein Jahr abonnieren
können, können verbreiten so viel sie wollen, die aber kreuzer-
weise ihre Zeitung kaufen, sind durch § 23 eingeschränkt usw..
kurz, die bürgerlichen Freiheiten sind für die Besitzenden da,
aber für die Arbeiter existieren sie nicht/' An anderer Stelle
soll ich gesagt haben, und daraus wird mir merkwürdigerweise
nur ein Vergehen gemacht: ,,Die verfassungsgemäßen Frei-
heiten sind nur ein Wisch Papier." Das habe ich so nicht ge-
sagt. Wir haben einen ungeheuren Respekt vor dem Staats-
grundgesetz und hegen nur den Wunsch, daß die sämtlichen
Behörden und die Herren Gesetzgeber denselben Respekt voi-
diesem Staatsgrundgesetz hätten wie wir. Wir wollten, daß der
(reist dieser Staatsgrundgesetze die ganze übrige Gesetz-
gebung beherrsche, auch die Verwaltung und Handhabung.
Was wir auszusetzen haben, ist, daß dieser freiheitliche Geist
der Staatsgrundgesetze, wo das Recht auf freie Meinungs-
äußerung garantiert ist, wo Gleichheit vor dem Gesetz, Frei-
zügigkeit usw. garantiert ist, durch andere Gesetze einge-
schränkt und durch die Ausführung derselben direkt ver-
nichtet werde. Ich sagte ungefähr: ,.Die Staatsgrundgesetze
sind ausgezeichnet : wenn sie aber durch andere Gesetze, wie
Preßgesetz, unsere Wahlordnung usw. eingeschränkt werden,
und durch eine Verwaltung, welche den Staatsgrundgesetzen
\ielfach direkt ins Gesicht schlägt, dann haben die Staatsgrund-
gesetze kein Leben und dann wären sie allerdings nicht mehr
wert als das Papier, auf dem sie gedruckt sind." Und das ist
selbstverständlich. Je<les Gesetz, das nicht gehandhabt wird, ist
ein toter Buchstabe, absolut wertlos. Ob das auf unsere Staats-
grundgesetze paßt oder nicht, das zu konstatieren habe ich hier
nK-ht notwendig, aber ein Verbrechen oder ein Vergehen katin
es nicht sein.
l'ud nun koiiiiiit das Schwerste: es wird mir znm^'orwurl
gemacht, was ich über das Vaterland gesagt habe: daß wii'
das Vaterland, wo in gemeinsamer Arbeit ein freies Volk von
seiner Arbeit lebt, wo Gerechtigkeit herrscht, wo der Arme
nicht verkommt und auegebeutet wird, erst schaffen müssen,
daß es noch nicht vorhanden sei. daß wir für jenes Vaterland
140 Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg
mit Überzeugung kämpfen würden. Von diesem Standpunkt aus-
zeigt eigentlich meine Rede die höchste Art der Vaterlands-
liebe. An dieser Stelle habe ich die Sozialdemokratie gegen den
Vorwurf der Vaterlandslosigkeit zu verteidigen gehabt. Ich
fragte, wer das Vaterland mehr liebt: diejenigen, welche
trachten, das Volk zu verelenden, oder diejenigen, welche das
Volk zu kräftigen trachten, zu einem Volk von gesunden und
sittlich erzogenen Menschen machen wollend
Es wird mir dann weiter die Stelle über das .,M i 1 i t ä r'"
zur Last gelegt. Ich habe dae Wort ,,Militär" nicht ausge-
sprochen; ich habe von der österreichischen Armee nur ein
einziges Mal in ganz anderem Zusammenhang geredet. Wovon
ich aber gesprochen habe, und sehr scharf, das ist die Inetitutiou
des Militarismus. Ich habe die Folgen des Militarismus
dargeetellt; das tun aber nicht nur wir, sondern ebenso ein-
zelne Männer der bürgerlichen Parteien, die den Militarismus
ebenso scharf bekämpfen wie wir. Ich habe auch nicht gesagt,
daß der heutige Militarismus ausschließlich zum Schutz
der gefüllten Kassen diene, sondern ich habe ausführlich dar-
gelegt, daß die gegenseitigen Rüstungen die Völker aufreiben,
daß er sich aber von den bürgerlichen Parteien nicht be-
seitigen läßt, weil der Militarismus nicht nur aufgebaut ist auf
der gegenseitigen llinauflizitierung der einzelnen Länder, auf
der politischen Spannung, eondern weil er wesentlich auch eine
Begleiterscheinung des Kapitalismus ist, die mit unseren
kapitalistischen Einrichtungen notwendig verknüpft ist; es
wird ja ganz offiziell von „äußeren und inneren
Feinde n" geöprochen. Je mehr ,,i n n e r e Fein d e" es gibt,
je mehr Mißtrauen die heute besitzende Klasse gegen die besitz-
lose Klasse hat, um so mehr hält sie sich an den Militarismus,
um so weniger kann sie ihn entbehren. Und wenn selbst nach
außen die Verwicklungen aufgehört hätten und eine allgemeine
Abrüstung beschlossen wäre, so würde die besitzende Klasse den
Militarismus und das stehende Heer schwer entbehren können,
weil sie es auch zum Schutze ihres Eigentums braucht oder zu
brauchen glaubt. Das ist der Sinn der Worte; daß das keine
Enteteilung ist, daß das einfach wahr ist, ist bekannt. Aber noch
mehr: Es wurde von mir gesagt, aber nicht inkriminiert — und
der Herr Staatsanwalt möge seine Anklage ausdehnen, wenn
er kann — daPi der Milit;ii-isinus mir dciii Kapit;di~uius noch in
Die Schwurgerichtsverhandlung in Reicheuberg 141
ganz anderer Weise verknüpft ist. Der Kapitalismne kann den
Militarismn? nicht aufgeben, weil der Militarismus, so wie er
einerseits das Volk auesaugt, anderseits ein sehr g u t e s^
Geschäft ist für die großen Kapitalisten. Ich habe aus-
einandergesetzt, daß die mehr als 130 Millionen, die in Zis-
leithanien alle Jahre für die stehende Armee bewilligt werden.,
zum großen Teil in die Taschen derjenigen zurückfließen,
welche die Millionen bewilligt haben. Ich habe weiter einen
Fall angeführt — und ich bitte, die Anklage nur auszudehnen,
denn das ist eines der „verhetzendsten" Dinge — daß zum Bei-
spiel in Heinersdorf ein Fabrikant ist, der hauptsächlich mit
Militär'lieferungen zn tun hat, natürlich ohne Schaden für ihn,
der einen viel größeren Einfluß auf die Gesetzgebung hat ah
Sie alle, indem er in seinem Bezirk in der J.age ist, Wahl-
männer zu machen, der auch auf den Militarismus Einfluß
nimmt und bei welchem die schlechtesten Löhne in ganz Nord-
höhmen bezahlt werden. Ich habe einen Prozeß zitiert, der
sehr aufreizend auf das Publikum gewirkt hat; ich habe kon-
statiert, daß eine arme Frau angeklagt war, sie hätte Garn nach
Hause genommen im Werte von 17 kr., und der Militärlief eiant
habe sie angeklagt, und da sei herausgekommen, daß sie einen
Taglohn von 25 kr. bekam, daß sie davon 2 kr. für den Platz ab-
geben mußte und daß auch sonst geradezu elende Löhne gerade
für Ausfertigung der Militärlieferungen bezahlt wurden. Wie
sollen Sie verlangen, daß der Kapitalismus, der mit dem Mili-
tarismus so glänzende Geschäfte macht, diesen Militarismus be-
seitige? Er ist wuvzelhaft verknüpft mit ihm und kann und
wird ihn nicht beseitigen. Daß das aber eine Beleidigung der
Armee sein soll, begreife ich nicht. Welcher Truppenkörper ist
da beleidigt? Oder bilden etwa die Fabrikanten, welche Militär-
lieferungen haben, auch schon einen besonderen Truppen-
körper?
Nun zu einer zweiten Kategorie von Verbrechen. Ich muß
gestehen, daß ich über nichts mehr überrascht war als über die
Anklage auf „R e 1 i g i o n s s t ö r u n g" ; überrascht deshalb,
weil ich weiß, daß ich prinzipiell niemals eine Religionsstörung
begehe. Wir sind ja einer ganzen Menge von Verbrechen und
Vergehen fähig, nach Ansicht der anderen; wir sprechen sehr
viel, und ,.subsumieren" läßt sich leicht. Aber die Sozial-
demokratie hat einen riesigen Respekt vor fremder Meinung
142 Die ^Schwurgerichtsveihandlung- in Reichenberg
und fremder Überzeugung-. Das Wichtigiste, was sie vertritt, was
^ie heute sich erkämpfen muß, ist das Recht der freien
Meinungsäußerung, und -weil sie dieses Recht so hoch stellt, hat
-ie vor jeder Meinung, auch vor der der ihrigen entgegen-
gesetzten, den größten Respekt. Die Sozialdemokratie würde,
wenn sie die Macht hätte, niemals Versammlungen durch
Polizisten überwachen lassen und niemals Redner einsperren.
Die Religionsstörung aber ist durch unser Parteiprogramm
direkt ausgeschlossen. Im Hainfelder, im Erfurter, in allen
Programmen aller sozialistischen Parteien findet sich ein .Satz :
Die Religion ist Privatsache. Freilich, wir wünschen, daß die
religiösen Lehren, wie sie sich heute in verschiedenen Kon-
fessionen geltend machen, der freien Kritik zugänglich gemacht
werden. Daß wir aber die religiöse Überzeugung der Leute so
angreifen, daß wir sie darin verletzen, das kommt bei Sozial-
demokraten, die sich auf dem Boden des Programms bewegen,
nicht vor. Wir suchen sie zu überzeugen, das ist unser gutes
Recht, mit allen Mitteln der Aufklärung suchen wir ihnen jene
Ansicht der Religion beizubringen, die wir selbst haben. Wir
A-ermeiden es aber, „verächtlich zu machen", ,,herabzu-
würdigen", mit einem Wort, zu beleidigen. Ich hätte mir eine
Rüge der Partei zugezogen, wenn ich es getan hätte. Wir
meinen, daß der Gläubige wii-klich gläubig sein, aber nielit
heucheln soll. Vor dem* Glauben als einer inneren Überzeugung
haben wir alle Achtung, keine aber vor der Heuchelei und
Muckerei, und die S t ö r u n g d e r Heuchelei gilt bisher
noch nicht ak Verbrechen. Ich sagte, wenn die unverständigen
Kinder von vornherein in eine bestimmte Richtung gezwängt
werden, dann wird nicht Glaube erzeugt, sondern eine Gewohn-
heit, eine Geistesknechtschaft, die wir nicht wünschen. Meine
Herren Geschwornenl Wenn einer von uns beiden, der Herr
Staatsanwalt oder ich, in dieser Anklageschrift der Religion Ver-
achtung bezeigt hat, so bin ich es nicht. Nicht ich habe be-
hauptet, daß die Geistesknechtschaft und die leidige Gewohn-
heit, der konfessionelle Drill zur Religion gehören, nicht i c h
habe behauptet, daß die Gedankenloeigkcit ein unveräußerliches
Inventarstück der Religion ist — das allein zeigt Ihnen schon,
wie diese Anklage gemacht ist!
Und nun zu den kleineren Delikten. Die Vergehen sind
natürlich die gewöhnlichen: §§ 300. 305. Es sind dies Para-
Die Schwurgericht-sverhandlung in Reichenberg 148
giaphen. ohne deren Übertretung eigentlich eine politische Dis-
kussion einfach ausgeschlossen ist. Wenn das als Basie ange-
nommen würde, könnte überhaupt kein Redner, welcher Partei
immer angehörig, irgendeine Kritik an politischen Zuständen
aussprechen, ohne daß sich irgendein Staatsanwalt fände, dei
behauptete, daß er zum Haß oder zur Verachtung gegen irgend
etwas oder die Einwohner des Staates zu feindseligen Partei-
iiugen gegeneinander aufzureizen versucht habe, besonders
wenn er mit einem Staatsanwalt zu tun hat, wie ich die Ehre
habe. Denn der Herr Staatsanwalt dehnt den Begriff in seiner
Klage wesentlich au6. Er sagt, in der Rede in Dessendorf ver-
suche ich, ..durch krasse Hervorhebung des Gegensatzes
zwischen Reichen und Armen die ärmeren Volksschichten zu
Feindseligkeiten, das heißt zu feindlichen Gesinnungen gegen
die Besitzenden noch mehr anzueifern". Wenn eine .,Feind-
seligkeit", zu der man aneifert, schon etwas Unbestimmtes ist,
was ist das erst^ eine .,feindliche Gesinnung"? Wenn das ein
von der Gesetzgebung anerkanntes Prinzip würde, dann wäre
kein politischer Redner irgendeiner Partei mehr sicher, dieses
Vergehens nicht beschuldigt zu werden. Wenn ich als Redner
für meine Partei spreche, habe ich zu sagen: Unsere Partei
hat die richtigen Anschauungen, die anderen Parteien haben
falsche Anschauungen. Wenn ich dieee Überzeugung nicht habe,
fange ich gar nicht an, oder ich bin ein Lump. Ich sage weiter:
Rs i=t eure Pflicht, die anderen Parteien zu bekämpfen, und
zwar so scharf, als das möglich ist, das heißt, ich habe sie zu
..feindseligen Gesinnungen" gegen die anderen aufzureizen,
sonst bin ich ein schlechter Agitatoi-, und jede Politik hört auf,
wenn das Wort feindselig in diesem weiten Sinn gefaßt wird.
Etwas anderes ist es, wenn ich sage: „Jeder einzelne, der der
anderen Partei angehört, ist ein Lump, man könne jener Partei
nicht angehören, ohne verlogen zu sein oder ein rein persön-
liches Interesse daran zu haben", das wäre eher feindselig.
Aber der Ton meiner Rede geht im Gegenteil immer mehr
darauf hinaus, weil es eben die Grundlage unseres Programms
ist, festzustellen, daß die Leute, welche die besitzende Klasse
repräsentieren, die einzelnen sowohl als die Klasse, nicht ver-
antwortlich sind für die Zustände, weil sie ebenso der Gewalt
dieser Zustände unterliegen wie die Proletarier selbst. Wir
sind überzeugt, daß der Ausgebeutete unter einem ungeheuren
144 Die SchwLirgerichtsverhandhing in Reichenberg
Druck steht, wissen aber ganz gut, daß auch der Ausbeuter
nicht andere kann, daß er getrieben wird, daß eine Sehraube die
andere treibt. Daß wir darum durchsetzen wollen, was unsere
Überzeugung ist, versteht sich, und daß wir das so energisch
machen, als wir können, versteht sich auch. Ich glaube aber
nicht, daß der Sozialdemokratie daraus ein Vorwurf gemacht
wird von einer Partei, die selbst etwas leistet, die selbst Mut
und Energie hat, sondern höchstens von einer solchen Partei,
die so altersschwach ist, daß sie nichts mehr leisten kann.
Ich soll das Vergehen nach § 300 dadurch begangen
haben, daß ich angeblieh sagte: „Von den österreichischen
Gerichten werden wahre Bluturteile gefällt." Nun, diese
Äußerung in diesem Sinne, so blank, wie sie da steht, glaube
ich nicht gemacht zu haben; ich halte das darum für eehr un-
wahrscheinlich, weil dies nicht vernünftig gewesen wäre. Was
ich aber sicher gesagt habe, und was ich aufrecht halte, ist
folgendes: Ich sprach von der Art und Weise", wie speziell in
der Bezirkshauptmannschaft Gablonz gegen die sozialdemo-
kratische Agitation vorgegangen wird, und meinte, daß das der
Sozialdemokratie ebensowenig schadet, als ihr die frühere
Gewaltanwendung geschadet hat, und habe an die Zeiten er-
innert am Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre,
wo ungezählte Geheimbundsprozesse gegen Sozialisten statt-
gefunden haben; ich erinnerte daran, daß ein Trupp nach .dem
anderen von Genossen meiner Partei in Ketten nach Prag ge-
liracht wurde: es genügte, Abonnent einer Arbeiterzeitung zu
sein, um zu beweisen, daß man Mitglied einer geheimen Ver-
bindung sei, und monatelang in Untersuchungshaft zu sitzen,
wie es mindestens 400 Menschen passierte. Ich erinnerte daran,
v/ie sehr oft nach langer Untersuchungshaft nicht mehr heraus-
kam als aclit Tage, vierzehn Tage, ein Monat Arrest. Und da
habe ich gesagt: .,Wenn die Prager Eichter zu so leichten
Strafen verurteilt haben, dann können Sie überzeugt sein, daß
die Leute nicht sehr schuldig waren. In Österreich, und speziell
bei diesem Gericht, ist man nicht allzu milde; der Senat, der in
Prag zusammengesetzt wurde speziell für die Sozialisten, der
Senat, der in Wien während des Ausnahmezustandes bestand,
hat sich nicht schuldig gemacht einer übergroßen Milde gegen-
über der Sozialdemokratie. Wenn da Leute freigesprochen oder
Die Schwurgerichts Verhandlung in Reichen berg 1-15
nur zu geringen Arreststrafen verurteilt wurden, so waren sie
wirklich ganz unschuldig, darauf kann man sich verlassen."
Vorsitzender (unterbrechend) : Ich muß Ihnen die strengste Rüge
für die Äußerung erteilen, die österreichischen Gerichte hätten Unschuldige
verurteilt.
x\ n g e k 1 a g t e r: Ich meinte, wenn sie so kleine Strafen .
erhielten oder überhaupt freigesprochen wurden, dann müssen
sie selbstverständlich unschuldig gewesen sein an den großen
Vergehen, die man ihnen vorgeworfen und deretwegen sie oft
halbe Jahre in Untersuchung saßen. Es ist wohl möglich, daß
in diesem Zusammenhang der Ausdruck Blutnrteil einmal vor-
gekommen ist. Die Nervosität des Herrn Staatsanwalts über
diese Äußerung kann ich nicht begreifen. Haben wir nicht ein
eigenes Gesetz, welches die Entschädigung un-
schuldig Verurteilter zum Gegenstand hat? Der Fall,
daß ein ungerechtes Urteil gefällt werde, ist also nicht aus-
geschlossen. Und wenn wir erst ein Gesetz hätten, welches jene
entschädigt, welche unschuldig von Polizei und Staatsanwalt-
schaft zu Untersuchungshaft verurteilt wurden! Wenn aber
das Wort Bluturteil hier gebraucht wurde, so heißt das nichts
anderes, als daß es vorgekommen ist, daß gegen Sozialisten
Urteile gefällt wurden, welche der Herr Gerichtspräsident
gewiß als sehr gerecht anerkennen muß, von denen ich mir aber
erlauben darf zu sagen, daß sie allzu streng, allzu schart waren.
Es sind an hundert Sozialdemokraten in den Kerkern zugrunde
gegangen an Tuberkulose und Skorbut; es sind — und da er-
innere ich an die Tätigkeit des Wiener Ausnahmegerichts bei
Prozessen, die hervorgerufen wurden unter Intervention des
Herrn Polizeirates Bernhard F r a n k 1 — Leute wegen Münz-
verfälschung und anderer angeblich anarchistischer Dinge ein-
gesperrt worden, die auf Lockspitzeleien hineingefallen waren
und die in den Kerkern elend zugrunde gegangen sind. Wenn
man die Leute gekannt hat, wenn man sah, wie so ein Mensch
erst verleitet wurde, um Material zu bekommen, wie er dann
zugrunde ging, dann drängen sich einem unwillkürlich harte
Worte auf die Lippen. Wenn man aber ein einzelnes Urteil als
das bezeichnet, was es ist, so kann darin noch nicht eine Be-
leidigung, eine Herabsetzung der Richter überhaupt gesehen
werden.
10
146 Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg
Nun komme ich auf den § 300. Ich soll in der Reichenauer
Eede das Parlament und das Herrenhaus beleidigt haben. Das
ist ein Gebiet, welches sehr weit führen könnte. Leider liegt in
bezug auf diese Rede nicht einmal jene Art von Stenogramm
vor wie bezüglich der Dessendorf er Rede ; aber es ist doch not-
wendig, daß man den Zusammenhang herstellt. Daß der Reichs-
rat heute in seiner Zusammensetzung den Großgrundbesitz und
die Interessen des Großkapitals vertritt, ist eine in unserer Ver-
fassung anerkantc Tatsache, <]arül;er habe ich gar nicht zu
reden. Von 353 Abgeordneten gehören 85 dem Großgrundbesitz
und 21 den Handelskammern, also ungefähr ein Drittel; man
muß anerkennen, daß die Interessen des Großgrundbesitzes und
des Großkapitals eine sehr bedeutende Vertretung haben. Aber
das geht noch viel weiter. Wir haben Provinzen, wo der Groß-
grundbesitz in der Lage ist, auch die anderen Kurien, auch die
Kurien der städtischen und ländlichen Wähler in hohem Grade
bei den Wahlen zu beeinflussen, und vollständig frei von dieser
Beeinflussung ist überhaupt kein Ort. Aus Galizien kommen
aus den städtischen und ländlichen Kurien viel mehr Groß-
grundbesitzer als andere Leute. Ich will hier nicht auf die
Wahlstatistik eingehen, obwohl ich beinahe dazu verpflichtet
wäre. Daß aber die Großgrundbesitzer ihren Einfluß in dem
Sinne ausüben, daß in erster Linie die Interessen des Groß-
grundbesitzes gewahrt werden, versteht sich von selbst ; daß
diese Leute ihre Interessen wahren, wird allgemein anerkannt,
und wir haben erst vor kurzem ein Beispiel erlebt, wo eine
wichtige politische Reformmaßregel einfach darum vom Schau-
platz verschwand, und mit ihr die Regierung, weil sie das
Interesse der bevorzugten Klasse verletzte. Was das Herren-
haus anbelangt sieht man es für gewöhnlich als den
Hemmungsapparat für jedes Parlament an. Man erwartet, daß
das Abgeordnetenhaus, welches aus dem Volke gewählt ist — in
anderen Ländern nämlich, bei uns nur aus einem Drittel des
Volkes — daß dieses Abgeordnetenhaus zu rasch, zu überstürzt
in Reformen vorgehen würde, und hat dazu ein Oberhaus, um
das zu hemmen. Dieses Oberhaus ist selbstverständlich so
zusammengesetzt, daß es einen solchen Hemmungsapparat dar-
stellen kann. LTnser Herrenhaus ist aus recht konservativen
Elementen zusammengesetzt, durchaus nur verläßliche Leute
sind hineingesetzt. Wir haben derzeit 125 lebenslängliche Mit-
Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg 147
glieder; das sind ernannte Leute, meist pensionierte Generale,
kirchliche Würdenträger, ab und zu ein Mann der Wissen-
schaft, Bankiers und solche Leute. Wir haben unter diesen
Lebenslänglichen auch eine Anzahl von Adeligen: 4 Fürsten
und 48 Grafen, und unter den erblichen Mitgliedern 21 Erz-
herzoge, 26 Grafen und Fürsten. Sie sehen, das Herrenhaus ist
beruhigend zusammengesetzt. Es ist eine Tatsache, die ein jeder
Politiker in Österreich berücksichtigen, der er ins Gesicht
sehen muß, die er in Rechnung ziehen muß, daß es Reform-
maßregeln gibt, die vielleicht noch im Abgeordnetenhaus
durchgehen — es sind ja nicht viel, aber doch einige — - die
aber irDizdom im Herrenhaus nicht durchgehen würden und
nicht durciigogangen sind. Ich führe ein Beispiel aus der letzten
Zeit au. Sie erinnern sich, daß vor kurzer Zeit unser Vereins-
und Versammlungsrecht eine ganz erhebliche Einechränkung
dadurch erfuhr, daß die Bezirkshauptmannschaften, Polizei und
Magistrate auf eine eigentümliche Auslegung des § 2 des Ver-
sammlungsgesetzes gekommen sind; die Geschichte mit den „ge-
ladenen Gästen". Es wurde im Abgeordnetenhaus darüber inter-
pelliert, ein Antrag eingebracht, sogar angenommen, und jetzt
liegt er im Herrenhaus, er liegt schon lange, er kommt gar nicht
zur Beratung, und wenn er zur Beratung kommt, geht er viel-
leicht geändert zurück. Meine Rede ist also keine Schmähung
dee Herrenhauses, keine Beleidigung, nur die Konstatierung
der Tatsache, daß das Herrenhaus noch mehr konservativ und
noch weniger volkstümlich ist als das Abgeordnetenhaus.
Vorsitzender (unterbrechend): Sie führen da eine rein politische
Begründung, meine Geduld ist erschöpft. Ich will Ihnen Zeit und Raum zu
Ihrer Verteidigung gönnen; aber daß Sie Ihre politischen Ansichten hier ver-
treten, kann ich unbedingt nicht zulassen und ermahne Sie ernstlich, bei
der Sache zu bleiben. Eine Kritik des Reichsrates, der einzelnen Parteien,
die können Sie auf parlamentarischem Boden vorbringen, wenn Sie dort
stehen. Vor Gericht kann ich das nicht weiter zulassen.
Angeklagter: Herr Präsident! Ich werde inlcli so
gut ak möglich an die gemachte Vorschrift halten. Aber wenn
mir vorgeworfen wird, daß ich in jener Stelle vom Abge-
ordnetenhaus und vom Herrenhaus etwas Strafbares gesagt
habe, kann ich doch unmöglich umhin, das zu erklären, was ich
wirklich sagte. Ich kann eben nicht anders ale mich auf poli-
tischen Boden begeben, aus dem Grunde, weil mir ein politi-
scher Prozeß gemacht wird.
10*
148 Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg
Vorsitzender: Das ist aber nicht in so weitgehendem Maße
nötig, als es Herr Doktor unternehmen. Sie haben so unendlich viel vor-
gebracht, um es vielleicht möglicherweise in den Zeitungen zu verbreiten,
und ich kann einen solchen Vorgang nicht zulassen. Sonst werden wir in
vier Wochen nicht fertig. Sie kommen mit allgemeinen Ausführungen, mit
allgemeinen Dingen; Sie nützen die Gelegenheit, um gegen dies oder jenes
loszugehen, und wollen damit jedenfalls einen anderen Erfolg, als sich
einfach gegen die Anklage zu verteidigen. Es ist zu erweisen, ob Sie das
gesprochen haben, was die Anklage behauptet, und inwiefern das als
gesprochen Konstatierte strafbar ist. Diese Beurteilung obliegt den Herren
Geschwornen. Die Intelligenz unserer Herren Geschwornen bietet die
Garantie dafür, daß sie sich darüber klar werden; es ist unnötig, vom
Gegenstand der Verhandlung so weit abzuschweifen. Herr Doktor, wollen Sic
sich daran halten!
Angeklagter: Herr Präsident ! Ich bedauere ja sehr,
wenn ich Ihre Geduld etwas in Anspruch genommen habe. Aber
ich möchte mich gegen die Vorwürfe des Herrn Präsidenten
in aller Bescheidenheit verteidigen. Herr Präsident haben mir
gesagt, daß ich wahrscheinlich das Gesprochene journalistisch
verwerten wolle; ich erlaube mir aber zu bemerken, daß ich das
nicht nötig habe, da ich Herausgeber eines in 20.000 Exem-
plaren zweimal wöchentlich erscheinenden Blattes bin und alle
Wochen ein paarmal in Versammlungen spreche. Wenn ich so
spreche, wie ich gesprochen habe, so hielt ich — der Herr Prä-
sident ist ja Richter darüber, ob ich die Grenze der Verteidi-
gung übersehritten habe — jedes Wort für notwendig zu meiner
Verteidigung. Ich bedauere sehr, wenn es länger dauert, aber
es würde vielleicht für mich persönlich viel länger dauern,
wenn ich verurteilt würde, weil ich mich nicht ausreichend ver-
teidigt hätte.
Vorsitzender: Die Politik wollen Sie als unnötig beiseite lassen,
die Rechtsmittel dagegen stehen Ihnen zu jeder Zeit zu. Wenn Sie sagen,
daß Sie ein Journal haben, imi sich auszusprechen, so ist das doch etwas
ganz anderes, wenn Sie sagen können: „Das habe ich vor Gericht
gesprochen." Und daher bleibt es bei meiner Ermahnung.
Angeklagter: Ich kann ja natürlich meine Motive
nicht verteidigen. Allee, was ich sagte, hielt ich für meine Ver-
teidigung für notwendig. — Nun, der nächste Paragraph, un)
den es sich handelt, ist der § 302; es soll eine Verhetzung der
einzelnen Klassen und ßtände stattgefunden haben, indem ich
gesagt haben eoll: „Der Jude Rothschild verträgt sich mit
allen Erzbischöfen sehr gut, und die Großjuden und Groß-
klerikalen sind einig unter einem Haufen, wenn es gegen die
Die Schwurgerichtsverhandlung in Keichenberg 149
Arbeiter geht.'' Daß ich etwas Ähnliches gesagt habe, will ich
gar nicht leugnen. Ich habe damit nichts anderes bezeichnen
wollen, als daß hinter den Parteien Klaeseninteressen stecken
und daß alle Parteien, der Jude Kothschild und die Erzbischöfe
Koalitionen abschließen, wenn sie Interessen der Besitzenden
gegen die Besitzlosen zu verteidigen haben; daß sie Koalitionen
abschließen, wenn die Arbeiterschaft ein politisches Recht ver-
langt; daß sie Koalitionen abschließen, um ihr dieses Recht
nicht zu gewähren. Ich habe gar keinen Grund, das zu leugnen,
was ich gesagt habe; aber eine Störung der öffentlichen Rulie
kann ich darin nicht eehen. Auch in der Rede in Reichenau,
wo etwas von „gestohlenem Kapital" vorkommt, soll das Ver-
gehen nach § 302 liegen. Das beruht nicht einmal auf einem
Stenogramm, sondern auf Erinnerungen des Herrn Sekretärs;
Ich habe dem Wesen nach die Äußerungen in Dessendorf ge-
geben; daß ich aber in irgendeiner Versammlung einen der-
artigen Ausdruck wie „gestohlenes Kapital" gebraucht hätte,
dagegen verwahre ich mich ausdrücklich.
Nun zum § 305, bei welchem es mir unter den mir auf-
erlegten Beschränkungen recht schwer wird, ihn so zu er-
läutern, wie ich es für notwendig finde. Aber ich muß es ver-
suchen. Ich habe in Dessendorf nacheinander die verschiedenen
Einwürfe gegen das sozialdemokratische Programm erörtert
und zum Schluß sagte ich : „Ja, man nennt uns auch Feinde des
Eigentums. Sind wir denn Feinde des Eigentums?" Und durch
die folgende Stelle soll ich die Rechtsbegriffe über dae Eigen-
tum zu erschüttern versucht haben. Daß ich ungefähr so ge-
sprochen habe, leugne ich nicht; aber nicht mit einem Wort
habe ich den „Rechtsbegriff" des Eigentums berührt oder er-
schüttert, den heutigen juristischen Zustand. Jeder von uns
weiß, daß die Angehörigen der heute besitzenden Klascse ihren
Besitz auf vollständig legale Weise überkommen haben. Wer
heute eine Fabrik besitzt, kann mit Brief und Siegel beweisen,
daß er der Eigentümer dieser Fabrik ist, und es fällt uns nicht
ein, den „Rechtsbegriff" zu erschüttern, daß er nach dem
heutigen Gresetz berechtigt ist, Eigentümer zu sein. Keiner von
uns zweifelt daran, daß der heutige Großgrundbesitz gute
Briefe hat über jedes Joch, das er besitzt, daß es vor jedem
Gerichshof als rechtlich begründetes Eigentum anerkannt
werden muß. Aber ich habe von dem Eigentumsrecht gar nicht
150 Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg
gesprochen, sondern von der Heiligkeit, von der Heili-
gung des Eigentums. Ich sagte, daß die Rechsbegriffe über
das Eigentum in der Entwicklung begriffen sind, daß das, was
heute berechtigtes Eigentum ist, darum noch kein Heiligtum
ist, an dem nicht gerüttelt werden kann. Denn zu keiner Zeit
war in diesem Sinne der Rechtsbegriff über das Eigentum
heilig oder unabänderlich. Ich habe den Dreißigjährigen Krieg
zitiert; ich habe die Quellen da, aber ich will nach den Unter-
brechungen, die mir zuteil wurden, sie nur wenig berühren.
Kein Mensch fand im Dreißigjährigen Krieg nach der Schlacht
am Weißen Berg etwas Merkwürdiges darin, daß Güter kon-
fisziert wurden im Betrage von 3.0 Millionen Gulden, daß das
ausgeteilt wurde an einige Familien, daß die Gegenreformation
überhaupt so eehr mit Güterkonfiskationen gearbeitet hat. Der
Rechtsbegriff über das Eigentum war also zu der Zeit nicht
heilig. Das Gesetz, der damalige Rechtsbegriff, ist über die
Heiligkeit des Eigentums hinweggegangen, hat es konfisziert;
und heute leben wir in einer Übergangsperiode, wo sehr viel
Eigentum vernichtet wird, wo die Eigentümer immer weniger
werden. Nun habe ich gesagt: Nur das Eigentum ist heilig,
welches auf eigener Arbeit beruht. Dieses Eigentum entspricht
dem iheute geltenden Rechtsbegriff nicht. Dieses Eigentum
wünschen wir zur Grundlage einer Gesellschaft. Wenn ich den
Rechtsbegriff über das Eigentum hätte erschüttern wollen,
dann hätte ich den Leuten sagen müssen : Da seht, die Herren
Besitzenden, die haben geraubt oder gestohlen, geht hin und
nehmt es ihnen weg, die haben kein Recht dazu. Das habe ich
aber nicht gesagt, das war nicht der Sinn rneiner Rede. Wenn
ich hier zwei wichtige Kategorien von Eigentum hervorgehoben
habe, die des Großgrundbesitzes und die des Kapitalbesitzes, so
könnte ich an beiden Gattungen von Kapital den eingehenden
Nachweis erbringen, daß es im Verlauf der Zeiten große Ände-
rungen in bezug auf seine Rechtsbegriffe erlebt hat, daß es
also nicht „heilig" war. Denken Sie an die Ba\iernbefreiung,
an die Abschaffung der Robot; daß bis zu jener Zeit der
Grundherr ein verbrieftes Recht auf die Bauern gehabt hat.
gegen welches damals zu sprechen, zu erklären, daß es nicht
heilig sei, daß es anders werden könne, gewiß auch angesehen
worden wäre als eine Aufreizung gegen die Rechtsinstitution
des Eigentums, als ein Versuch, die Rechtsgrundlage zu er-
Die Schwurgerichtsverhaudlung in Reichenberg 151
schüttern. Und diese Rechtsgrundlage hat sich geändert und
auch die Rechtsgrundlage, die das heutige Eigentum hat, wird
sich ändern, das ist ein geschichtlicher Prozeß. Von einer Auf-
reizung war nicht die Rede, der Sinn meiner Rede war vielmehr
gegen den Vorwurf gerichtet, daß die Sozialdemokratie jedem
da-^ Eigentum wegnehmen wolle.
Zum Schluß führt der Staatsanwalt eine ganze Reihe von
Stellen an, wodurch ich nicht nur das Verbrechen der Störung
der öffentlichen Ruhe, sondern auch eine „Beleidigung
der A r m e e" begangen haben soll. Ich habe bereits erwähnt,
daß ich nirgends von der Armee als solcher, nirgends vom
Militär gesprochen habe, sondern überall nur von der Insti-
tution des Militarismus. Kein Mensch wird leugnen, daß die
Armee in erster Linie für den Krieg gegen außen da ist. Aber
allerdings auch zum großen Teil für den Krieg nach innen. Von
einer Verepottung oder Verächtlichmachung der Armee aber
kann darin nichts gefunden werden. Ich habe diejenigen, die
infolge des Militarismus gezwungen sind, die Waffen zu
führen, durchaus nicht verächtlicher Eigenschaften geziehen,
sondern sie als unter einem Zwang stehend hingestellt, als
Leute, welche die größten Opfer zu bringen haben; und Opfer
zu bringen ist niemals verächtlich, die Opfer des ]\[ilita-
rismus zu verspotten ist mir am allerwenigsten eingefallen.
Ich bin somit zu Ende. Ich bin geständig, eine Reihe von
Reden gehalten zu haben, in welchen ich nach meiner Meinung
in logischer Weise das Programm der Sozialdemokratie aus-
einandergesetzt habe; ich konstatiere aber, daß die einzelnen
Äußerungen in der Anklage mitunter höchst ungenau, aus dem
Zusammenhang gerissen sind und daß ich einzelne Worte über-
haupt nicht gesprochen habe. Der Herr Staatsanwalt wirft mir
Störung der öffentlichen Ruhe und Aufreizung in allen Formen
vor, die dae^ Strafgesetz aufweist. Er spricht auch von E r-
folgen der Aufreizung, und die tatsächlichen Erfolge, die
wiederholt als erschwerend und belastend vorgeführt werden,
bestehen darin, daß in der Tat in jenen Orten sozialdemokra-
tische Wahlmänner gewählt wurden. Der Herr Staatsanwalt
führt als besonders erschwerend an, daß die Rede in Dessen-
dorf einen lebhaften Eindruck machte, daß sie mit Beifall -luf-
genommen wurde, daß die Rede in Reichenau applaudiert
wurde und ..der Redner durch Zurufe zum weiteren Sprechen
152 Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg
ermuntert wurde, daß die Reden, nach dem Beifall zu schließen,
großen Eindruck machten" usw. Ich muß sagen, daß ich darin
eigentlich keine Unterßtützung der Anklage sehen kann. Ich
weiß nicht, wie der Staatsanwalt in einem Atem erklären kann,
das, was ich gesprochen, seien Verbrechen, Vergehen und
Übertretungen in Massen, und auf der anderen Seite, daß
Hunderte von Menschen in jeder Versammlung dem zuge-
stimmt haben und sich somit mit mir solidarisch erklärt haben.
Wenn das wirklich eine {Störung der öffentlichen Ruhe be-
gründet hätte und sich solche Massen mit solchen Störungen
einverstanden erklären, dann wäre die öffentliche Ruhe in ganz
anderer Weise gestört worden, als das geschehen ist. Daß aber
hundert sozialdemokratische Wahlmännerstimmen abgegeben
wurden, ist zwar in Österreich etwas Neues, aber eine Störung
der öffentlichen Ruhe im Sinne des Strafgesetzes ist es immer-
hin nicht. Wenn der Herr Staatsanwalt schließlich sagt, daß die
,.sozialdemokratische Partei auf den Umsturz der staatlichen
und gesellschaftlichen Ordnung gerichtet ist", so ist das eine
Ausdrucksweise, welche eo alt, so hundertmal abgewiesen und
widerlegt ist, daß ich mich damit nicht zu beschäftigen brauche.
Die Ruhe wurde nicht gestört, und indem der Herr Staats-
anwalt mich beschuldigt, beschuldigt er mit mir Hunderte, ja
Tausende von Leuten, die dabei waren, zugestimmt und sich so
an diesen Dingen mitschuldig gemacht haben.
Was ich gesagt habe, davon habe ich nichts zurück-
zunehmen; was mir aber in den Mund gelegt wird, kann ich
natürlich nicht verantworten. Anderseits habe ich die Über-
zeugung, daß das, was ich gesprochen habe, dem Gesetz nicht
zuwiderläuft!
Um 3 Uhr beginnt
das Z e II g e n V e r h ö r,
und zwar zunächst bezüglich der Rede in Dessendorf.
Der Zeuge Anton N i t s c h e, Gemeindevorsteher, erklärt, an den
Inhalt der Rede könne er sich nicht mehr erinnern. Er habe damals die
stenographische Aufnahme verfügt, ohne Auftrag dazu zu haben.
Vorsitzender: Welche Absicht hatten Sie dabei?
Zeuge: Ich wollte sehen, ob mein Sohn, der Jurist ist, gut
stenographieren kann; auch zu dem Zweck, um vielleicht festzustellen, was
gesprochen wurde. Es war aber mehr eine stenographische Übung. Erst über
Auftrag der Bezirkshauptmannschaft wurde die Rede übertragen. Die ein-
zelnen Lücken kann ich nicht ergänzen.
Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg 153
Vorsitzender: Haben Sie den Eindruclc gehabt, daß das, was
gesprochen wurde, nicht zulässig erscheint?
Zeuge: Es wurde etwas zu scharf gesprochen.
Vorsitzender: Warum haben Sie den Redner nicht unterbrochen?
Zeuge: Wenn man mit dem Gesetz nicht vertraut ist, so ist einem
das Urteil, wie weit der Redner gehen kann, nicht zugänglich. Ob etwas
Strafwürdiges vorkam, weiß ich nicht.
Zeuge Adolf Ni Ische (Studiosus juris an der Universität in Prag,
in Einjährig-Freiwilligenuniform) spricht so leise, daß er fortwährend auf-
gefordert werden muß, lauter zu sprechen und sich nicht zu genieren. Er
sagt aus: Was über das Wesen der Sozialdemokratie, über das Militär gesagt
wurde, kann ich jetzt nicht wiedergeben. Ich stenographierte damals auf
Auftrag meines Vaters, der sehen wollte, ob ich schon etwas gelernt hätte.
Ich kann eine gewöhnliche Rede mitschreiben. Manche Punkte sind mir
aber nicht geraten, manchmal ist eine Lücke entstanden durch Umwenden
der Blätter, Bleistiftspitzen oder wenn zu schnell gesprochen wurde. Beim
tjbertragen habe ich die Stellen, die ich nicht lesen konnte, ganz weggelassen.
Vorsitzender: Welchen Eindruck haben Sie bekommen?
Zeuge: Es fiel mir auf, daß etwas Unzulässiges gesagt wurde,
nämlich über den Militarismus. Was das war, erinnere ich mich nicht. Es
schien mir aber nicht richtig.
Vorsitzender: In welcher Beziehung?
Zeuge (schweigt).
Vorsitzender: Dann sagen Sie einfach: Das verstehe ich nicht.
Sie sind doch Jurist; erschien Ihnen etwas unzulässig mit Rücksicht auf
die bestehenden Gesetze?
Zeuge: Es kam mir zu scharf vor gegen die bestehenden Gesetze.
Vorsitzender: Zum Beispiel: wurde die Regierung angegriffen
oder die Verfassung herabgesetzt?
Zeuge: Der Besitz wurde angegriffen, die Not der Arbeiter wurde
zu drückend geschildert.
Vorsitzender: Haben Sie nur gefunden, daß vielleicht bestehende
Zustände übertrieben oder aber daß etwas Sträfliches gesagt wurde? Sie
sind doch Jurist.
Zeuge (schweigt).
Vorsitzender: Können Sie sich darüber nicht aussprechen, so
sagen Sie einfach: Ich weiß es nicht.
Zeuge: Ich kann mich darüber nicht aussprechen.
Vorsitzender: Dann habe ich weiter nichts zu fragen.
Verteidiger: Wie lange hat die Rede Dr. Adlers gedauert?
Zeuge: Das weiß ich nicht.
Verteidiger; Wie lange haben Sie zur Übertragung gebraucht?
Zeuge: Das weiß ich nicht mehr.
Dr. Adler: Können Sie behaupten, daß ich dort, wo Sie
^[ i 1 i t ä r geschrieben haben, nicht Militarismus ge-
sagt habe?
Zeuge: Das kaim ich nicht ganz genau sagen.
154 Die Schwurgerichtsverhandlung- in Reichenberg
Zeuge Franz S i m m, Oberlehrer, sagt unter anderem aus: Herr
Dr. Adler hat über den Militarismus ganz im allgemeinen gesprochen. Den
Eindruck, daß etwas Strafbares gesagt wurde, habe ich nicht erhalten. Von
einer Beleidigung der österreichischen Armee habe ich nichts gemerkt.
Dr. Adler: Sie haben sich an der Debatte beteiligt, da-
mals die liberale Partei in Schutz genommen. Hätten Sie nicht
auch eine Beleidigung der Armee zurückgewiesen?
Zeuge: Wenn mir eine solche aufgefallen wäre, hätte ich das jeden-
falls getan.
Dr. Adler: Sie werden sich vielleicht eines (Schuh-
machermeisters erinnern, der sich an der Debatte beteiligte
und in V e t e r a n e n u n i f o r m Avar. Hat der vielleicht einer
Verletzung wegen einer Beleidigung der Armee Ausdruck
gegeben ?
Zeuge: Nein, das hat er nicht getan.
Dr. Adler: Haben Sie vielleicht zufällig gesehen, daß
mir jener Herr nach der Rede die Hand drückte?
Zeuge: Gesehen habe ich es nicht.
Zeuge Eduard Z e 1 1 e r, Korbmacher, war Vorsitzender in
sämtlichen inkriminierten Versammlungen : Wenn ich gleich einvernommen
worden wäre, was merkwürdigerweise nicht geschah, hätte ich die Reden
vielleicht fast wörtlich wiedergeben können, jetzt sind mir nur mehr die
«einzelnen Sachen im Gedächtnis. Es wurde das Programm der Sozial-
demokratie entwickelt, über die Verfassung wurde gesprochen. Auch von der
Religion wurde Erwähnung gemacht, daß sie nämlich Privatsache sei. Von
einer Verächtlichmachung der Religion habe icht nichts gehört. Wir achten
die Überzeugung des anderen zu sehr, um jemand wegen seiner religiösen
Überzeugung zu verachten. Über den Militarismus wurde wie in allen
unseren Versammlungen gesprochen. Das österreichische Militär ist nicht
beleidigt worden; ein Veteran, der im Ausschuß des dortigen Veteranen-
vereines sitzt, war anwesend, und es hat ihm die Rede sehr gut gefallen.
Ich habe mit einer großen Anzahl von Leuten gesprochen, denen allen die
Rede sehr gut gefallen hat. Etwas Mißfälliges habe ich von keiner Seite
gehört.
Verteidiger: Sind von seilen der Regierungsvertreter außerhalb
von Gablonz gegen Dr. Adlers Reden Einwendungen erhoben oder Be-
anstandungen vorgekommen?
Zeuge: Nein, nur im Gablonzer Bezirk war das der Fall.
Zeuge Wilhelm B a r 1 1 erklärt, sich nicht mehr au den Inhalt
der Rede erinnern zu können, und beruft sich auf seine protokollarische
Aussage. Etwas Strafbares fand er nicht in der Rede.
Zeuge Karl Herold gibt auf die Frage, welches Urteil er sicii
über die Rede gebildet habe, an: „Sie hat mir gefallen. Etwas Strafbares
oder Unzulässiges habe ich nicht gefunden."
Die Sch\\airgerichtsverhandlung in Reichenberg 155
Zeuge Johann Endler: Es wurde der MiUtarismus einer Kritik
unterzogen, von einer Beleidigung der österreichischen Armee habe ich
nichts gehört.
Vorsitzender: Hat die Rede den Eindruck auf Sie gemacht, daß
das zu weit gehe, daß man das nicht überall reden dürfte?
Zeuge: Diesen Eindruck hat sie auf mich nicht gemacht. Diese
Rede ist überall zulässig.
Es wird nun die Rede nach dem Stenogramm des Adolf N i t s c h e
\erlesen und die einzelnen Zeugen wieder gefragt, ob die Übertragung der
Rede Dr. Adlers entspreche.
Zeuge Anton N i t s c h e glaubt, daß die Übertragung ganz genau der
Rede entspreche. Unterbrochen habe er Dr. Adler nicht, weil er dachte,
er habe ja die Rede aufgeschrieben. Ob etwas Ungesetzliches gesagt wurde,
konnte er nicht beurteilen.
Zeuge Adolf Nitsche: Den Sinn habe ich nicht geändert, sondern
höchstens einen Übergang geschaffen. Es kann möglich sein,
daß auch ein größerer Satz über ein Thema weggeblieben ist.
Vorsitzender: Haben Sie im Protokoll niedergelegt, daß Ihnen
die Sache aufreizend erschienen sei?
Zeuge: Ich glaube, es war eine übertriebene Darstellung; ob etwas
unter das Strafgesetz Fallendes gesagt wurde, weiß ich nicht.
Zeugen Simm, Zeller, Bartl, Herold, Endler erklären das
Stenogramm für sinngemäß, aber nicht wortgetreu.
Es werden hierauf Zuschriften der Bezirkshauptmannschaften Fried-
land, Reichenberg und Starkenbach verlesen, in welchen erklärt wird, daß
die Regierungsvertreter in den Reden Dr. Adlers in jenen Bezirken nichts
Strafbares gefunden haben.
Zweiter Verhandlnngstag.
Das Zeugenverhör wird fortgesetzt und auf die Versammlung in
Reichenan eingegangen.
Zeuge Josef Ullrich, Bezirkssekretär: Ich war genötigt, Herrn
Dr. Adler in seiner Rede in Reichenau unzähligemal zu unterbrechen, weil
er durch die Hervorhebung der Klassengegensätze gegen die bestehende
soziale Ordnung aufreizte und über die Institution des Reichsrats eine ab-
fällige Kritik übte, welche jedenfalls danach angetan war, daß die Zuhörer
zur Verachtung gegen die bestehenden Institutionen verleitet werden konnten.
Nach jeder Unterbrechung sprach er gemäßigter; dann verfiel er in den
alten Ton, worauf ich wieder unterbrach und er wieder gemäßigter sprach,
so daß es zu keiner Auflösung kam.
Vorsitzender: In welcher Weise sprach er sich über den Reichs-
rat aus?
Zeuge: Er hatte es hauptsächlich auf das Wirken
der liberalen Partei abgesehen; es war mehr eine Kritik der
Parteien als des Reichsrats selbst. Dann hat der Redner über den Milita-
rismus gesprochen, daß er in allen Staaten die Kräfte des Volkes aussauge
und daß dadurch die Leute am Fortschritt in anderer Richtung geschädigt
156 Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg
werden. In Grünwald hat er sich auch nach meiner Ansicht über das Militär
in einer Weise ausgedrückt, die es ins Lächerliche ziehen konnte. Er sprach,
daß die Krüppel höchstens eine Drehorgellizenz erhalten.
Vorsitzender: Das also erschien Ihnen als Beleidigung.
Zeuge gibt dann an, daß er den Inhalt der Reichenauer und Grün-
walder Rede nach der Versammlung aus dem Gedächtnis niedergeschrieben
habe, daß aber die Rede in Schumburg über Auftrag der Bezirkshaupt-
mannschaft vom Lehrer Wünsch aus Gablonz stenographiert wurde.
Vorsitzender: Warum ist nach Oberpolaun kein politischer
Kommissär gekommen?
Zeuge: Nachdem der Herr Bezirkshauptmann aus den anderen
Reden ersehen hatte, was die Tendenz derselben sei, und namentlich weil
der Beamte überanstrengt war und ein ungeheures Schneewetter herrschte,
wurde niemand dorthin geschickt.
Verteidiger: Erinnern Sie sich an eine oder die andere Stelle,
wo Sie unterbrochen haben?
Zeuge: Wie Herr Dr. Adler gegen den Kapitalismus und den
Großgrundbesitz sprach, da habe ich ihn beim Nennen der Namen
Schwarzenberg und Rothschild unterbrochen, wegen der
Tendenz, da ich gesehen habe, daß er immer weiter geht.
Dr. J e n n e 1 beantragt die Vorladung des Lehrers Wünsch, da
nun zum erstenmal der Stenograph der Schumburger Rede genannt werde.
Die Vorladung wird beschlossen.
Zeuge Vinzenz P e u k e r t, Gemeindevorsteher: Es war bei der Rede
in Reichenau ein sehr verläßlicher Stenograph anwesend, der damalige
Kaplan Wenzel Beran; der hat mir die Rede nachher vorgelesen.
Dr. Adler: Vor Ihrer ersten Einvernahme oder nach
derselben?
Zeuge: Vor der Einvernahme.
Zeuge Karl Hofrichter, Exporteur, bezieht sich auf seine erste
Aussage: „Wie wir nach Gablonz vorgeladen wurden, gingen wir zum Herrn
Kaplan Beran, der stenographiert hatte, und da schrieben wir uns den
Inhalt ab. An den Ausdruck „gestohlenes" Kapital kann ich mich nicht
erinnern. Ich habe den Eindruck gehabt, daß Dinge gesprochen wurden, die
ungesetzlich sind, weil sie gegen die bestehende Ordnung gerichtet waren,
weil tatsächlich das Volk dadurch nur unzufrieden gemacht wird und weil
es nicht so arg ist. Eine Beleidigung des Militärs habe ich nicht heraus-
gefunden."
Zeuge Josef P r e i ß 1 e r, Maler: Ich habe vor dem Bezirksgericht vor-
gebracht, was ich aus der Übertragung des Kaplans Beran mir abge-
schrieben hatte. Ich habe den Eindruck gehabt, daß einzelnes nur zur
Verhetzung gesprochen wurde. Das Stenogramm des Pater Beran ist dem
ganzen Sinne nach richtig gewesen, wenn auch nicht dem Wortlaut nach.
Zeuge Eduard Zeller: Ich habe zahlreiche Versammlungen geleitet,
aber unter solchen Schwierigkeiten wie in Reichenau noch nie. Der Herr
Regierungsvertreter hat jedesmal, wenn von der liberalen Partei gesprochen
wurde, unterbrochen. Kein Satz konnte zur Ausführung gelangen. Der
Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg 157
Referent kam auf Rothschild zu sprechen und meinte, daß Herr
Rothschild Besitzer von Bergwerken und gleichzeitig Aktionär der Nord-
bahn sei, was ihm durch eine Ermäßigung der Fahrpreise ermögliche,
seine Kohlen billiger nach Wien zu bekommen. Wie er bei Rothschild an-
gelangt war, unterbrach ihn der Herr Ullrich und drohte, ihm das Wort
zu entziehen, wenn er so weiterspreche. Ich hatte den Eindruck, daß man
nicht reden lassen wollte. In Reichenberg hat eine Versammlung mit
derselben Tagesordnung ganz unbeanstandet stattgefunden. Nicht die
geringste Gesetzesübertretung hat stattgefunden. Wenn man von Rothschild
spricht, so ist das doch keine Gesetzesübertretung.
Zeuge Anton Scheffel, Tischler in Pulletschnei, bemerkt ebenfalls,
als Dr. Adler auf das Großkapital und auf Rothschild zu sprechen kam,
wurde er vom Regierungsvertreter unterbrochen. Dr. Adler habe dann gesagt:
Ja, das habe ich nicht gewußt, daß Baron Rothschild unter polizeilichem
Schutz steht. Der Zeuge führt dann aus, daß Dr. Adler in der Versammlung
gesagt habe, daß sich das Kapital immer mehr und mehr auf einem Platz
anhäuft und daß Rothschild so und so viel Besitz hat. Wenn er (Roth-
schild) 100 Jahre lebt, kann er auf seine Taschen klopfen und fragen: Was
kostet die Welt? Auf dieses hin wurde er vom Regierungsvertreter unter-
brochen. Eine Beleidigung des Militärs hat nicht stattgefunden. Ich habe
nicht gefunden, daß etwas Ungesetzliches gesagt wurde. Ich hätte den Redner
nicht unterbrochen.
Zeuge Anton H i 1 1 e b r a n d t, Krämer: Der Redner wurde oft unter-
brochen wegen Aufreizung gegen die besitzende Klasse. Mir schien es aber
nicht so, ich habe nichts Schlechtes entdeckt.
Zeuge Alois Massopus t, Weber und Gemeindevorsteher: Es ist
gar nichts Unrechtes gesprochen worden, durchaus nichts Strafbares.
Zeuge Anton M a s c h k e, Gastwirt: Etwas Gesetzwidriges, eine Auf-
reizung gegen die Reichen habe ich nicht gefunden.
Zeuge Anton Lang, Kaufmann: Es wurde nur über den Militarismus
im allgemeinen gesprochen. Er sprach in scharfen Worten; aber es machte
nicht den Eindruck auf mich, daß er aufrührerisch sprechen wollte, sondern
er lieferte nur eine scharfe Kritik der bestehenden Einrichtungen.
Zeuge Franz Dreß 1er: So oft vom Liberalismus gesprochen wurde,
unterbrach der Herr Regierungsvertreter. Von einer Beleidigung des Militärs
ist mir nichts bekannt.
Es wird die Übertragung des Stenogramms des Pater B e r a n ver-
lesen, imd die einzelnen Zeugen werden wieder vorgerufen.
Zeuge Bezirkssekretär Ullrich: In diesem Ideengang war die Rede;
ob es wortgetreu ist, kann ich nicht sagen, aber die Tendenz ist dieselbe.
Zeuge Peukert: Die Rede hat auf mich den Eindruck gemacht,
daß Dr. Adler zu viel gesprochen hat. Seine Absicht war, daß er als Abge-
ordneter gewählt werden wollte. (Heiterkeit.) Die Rede hat im ganzen keinen
günstigen Eindruck auf mich gemacht. Es wurde viel getadelt an der Rede
Dr. Adlers.
Zeuge Hillebrandt gibt an, daß die jetzt verlesene Rede viel
schärfer sei als die von Dr. Adler gehaltene; die einzelnen Stellen sind
zusammengedrängt, so daß man einen ganz anderen Eindruck bekommt.
158 Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg
Dasselbe geben die Zeugen Zeller, Massopus t, Maschke und
D r e ß 1 e r an. Die übrigen Zeugen finden den Aufsatz zwar sinngetreu,
aber nicht dem Wortlaut entsprechend.
Es wird auf Antrag Dr. J e n n e 1 s die Vorladung des Pfarrers B e r a n
beschlossen.
Nun wird zur Erörterung der Versammlung in Wiesenthal über-
gegangen.
Zeuge Josef J a s c h e k, Bezirkskommissär; Ich erinnere mich an
zwei Momente, wo ich Herrn Dr. Adler in Wiesenthal unterbrach. Das
erstemal war es, als er sich anschickle, die Verfügungen der Bezirks-
hauptmannschaft anläßlich seiner Anwesenheit vor zwei Jahren in Johannis-
berg zu kritisieren. Da unterbrach ich, weil ich der Ansicht war, daß er die
Verfügungen der Behörde herabzuwürdigen suchte. Das zweitemal unterbrach
ich, als er vom Militarismus sprach und erwähnte, daß das Militär nicht
etwa wegen der russischen Bauern da sei, sondern lediglich dazu, wenn es
den Armen einmal einfiele, in die feuerfesten Kassen einzubrechen. Das Wort
Bluturteil ist ganz sicher gefallen, den Zusammenhang weiß ich nicht; die
Notizen, die ich mir machte, habe ich leider nicht mehr.
Dr. Adler: Habe ich da im allgemeinen von österreichi-
schen Gerichten gesprochen oder habe ich einen speziellen
Fall erwähnt?
Zeuge: Das weiß ich wirklich nicht. Ich denke, es war im allge-
meinen gemeint, die österreichischen Gerichte überhaupt.
Dr. Adler: Das denken Sie also.
Zeuge Wenzel Schneider, Lehrer: Dr. Adler sprach darüber, daß
nicht alle Leute vor dem Gesetz gleich seien. Wenn ein armer, zerlumpter
Mann auf der Landstraße gehe, packe ihn der Gendarm und frage um
Papiere; den reichen Lumpen, der im Wagen fährt, packe aber niemand an.
Ich hatte den Eindruck, daß nur eine scharfe Kritik geübt wurde; ob etwas
Ungesetzliches vorkam, weiß ich nicht. Aufreizend kam mir die Rede nicht
vor, aber auch nicht gerade beruhigend. (Heiterkeit.)
Zeuge Wilhelm P 1 a c h t, Gemeindesekretär: Ich habe die Rede für
aufreizend gegen die bestehende Ordnung gehalten.
Zeuge Adolf Bergmann, Hotelier, will zuerst den Eid nicht ablegen
und sagt: Ich will mich der Aussage enthalten. Man wird von den Sozial-
demokraten angefeindet. Ich habe anonyme Briefe bekommen. Es wurde mir
angedroht, ich soll mich hüten, und wenn ich in eine Versammlung komme,
werden sie mich hinauswerfen. Für mich sei gesorgt, ich habe einen Posten
als Schinder im Zukunftsstaat.
Der Vorsitzende macht den Zeugen aufmerksam, daß er die
Wahrheit s^agen solle, und da die Sozialisten auch immer die Wahrheit
wollen, so habe er nichts von diesen zu fürchten; die Sozialisten hätten auch
gewiß nicht jene Briefe geschrieben, denn sie kennen das Gesetz. Dann
begann der Zeuge mit seiner Aussage, nachdem er auf Befragen des Staats-
anwalts noch erklärt hatte, er habe den anonymen Brief schon ^ erbrannt:
Erst hat Dr. Adler über die Arbeiterbevölkerung gesprochen, in welcher
Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg 159
Art sie behandelt werde, dann ist er auf die Liberalen übergegangen. Ich
habe mich gewundert, daß er in einem derartigen Ton sprechen darf, wenn
ein politischer Kommissär anwesend ist. Dann hat er gegen die Ämter
gesprochen, wie dort die Arbeiter behandelt werden, wie sie angeschnauzt
und angefahren werden, und wie ein Liberaler zu Gericht kommt, wie der
ganz anders behandelt wird. Er ist dann so fortgefahren bis an die oberste
Behörde hinauf, alles mögliche ins Werk zu setzen, so daß es mich nicht
gewundert hätte, wenn die Leute sich wirklich empört hätten und etwas '
entstanden wäre. Eine solche Rede habe ich noch nie gehört. Dann hat er
über das Militär gesprochen, daß die Väter in den Fabriken Gewehre machen
und die Söhne sie tragen müssen; dann daß sich die armen Arbeiterfamilien
oft nicht einmal einen Kaffee machen können, weil er durch die Zuckersteuer
verteuert ist. Dann maclite er Ausfälle auf die Liberalen. Es wäre nicht nötig,
daß man so viel Militär ha.be; er hat nicht von Österreich allein gesprochen»
sondern überhaupt vom Militär. Ich kann nicht sagen, daß er gerade das
Militär beleidigt hat, aber er beleidigt alles, er zieht alles in den Schmutz
mit seinen Reden. Die Rede hat auf mich einen äußerst ungünstigen Ein-
druck gemacht, es war eine wahre Brandrede. Ich sagte ihm das auch, als
er nächsten Morgen in mein Kaffeehaus zum Tee kam. Ich sagte ihm: „Sie
wären wert, daß man Sie per Schub nach Wien zurückschickte." Darauf
sagte er: „Ja ich glaub' schon; wenn's möglich war', würden Sie's schon
tun." rAllgemeinc Heiterkeit.) Ich habe nicht die ganze Rede angehört, ich
i)in weggegangen, weil mir die Sache zu toll wurde.
Dr. Jennel: Haben Sie etwas gehört, daß die Freisinnigen, Eugen
Richter zum Beispiel, im Deutschen Reichstag ebenfalls gegen den Mili-
tarismus gesprochen haben?
Zeuge: Es kommt eben auf den Ton an, alles muß seine gewissen
Grenzen haben.
Dr. Adler: Sie sind ganz vorne geseseen. Ich habe sofort
gesehen, daß Sie sehr aufgeregt waren, daß meine Eede auf Sie
sehr aufreizend gewirkt hat. Aber wurden auch noch andere
aufgereizt, weil Sie sagen, daß es zu etwas hätte knninien
können?
Zeuge: (iekommen ist es zu nichts; aber Beispiele sind ja schon
dagewesen, daß solche Dinge Unheil bringen.
Dr. Adler: Doch, es ist zu etwas gekommen: in Wiescn-
tlial wurden sechs sozialdemokratische Wahlmänner gewählt.
Haben Sie bemerkt, daß andere auch eo entrüstet waren
wie Sie?
Zeuge: Das kommt ganz darauf an, zu wclchom Publikum man
spricht- Wenn man sicli in der Versammlung empört hätte, wäre man ja
liinausgeworfen worden.
Zeuge Eduard Zelter kann keinen aufreizenden Kiiulruck konstatieren.
V.s wird nun zur Rede in Grünwald übergegangen.
Zeuge Bezirkssekrt'tär Ullrich: Ich habe darüber eine Relation
gemacht, die dem Inhalt der Rede genau entspricht. Bei der Versammlung
160 Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg
selbst habe ich mir keine Notizen gemacht, sondern den nächsten Tag die
Relation aus dem Gedächtnis verfaßt. Ich habe diese Versammlung aufgelöst.
Die Relation sagt : „Weil der Redner in den Angriffen gegen die
liberale Partei fortfuhr, in einer Art und Weise, von der ich glaube, daß
man nicht so weit gehen dürfe, unterbrach ich den 'Redner. Herr
Dr. Adler sagte darauf: >Sie sehen, die liberale Partei steht unter poli-
zeilichem Schutz«, worauf demonstrative Zustimmung erfolgte, so daß ich
mich veranlaßt sah, die Versanmilung aufzulösen, und unter Inter-
vention der Gendarmerie wurde der Saal ohne besonderen Zwischenfall
geräumt."
Dr. Adler: Sie haben mich unterbrochen, wenn icli
etwas Ihnen gesetzwidrig Erscheinendes sagte. Haben Sie diese
Stelle, bei welcher ßie mir das Wort entzogen, auch für gesetz-
widrig gehalten?
Zeuge: Als Sie gegen die liberale Partei losgezogen
sind, habe ich Ihnen das Wort entzogen.
Dr. Adler: Halten Sie das für etwas Ungesetzliches,
im Strafgesetz Verbotenes?
Zeuge: Ja, als eine Verhetzung gegen eine politische Partei.
(Bewegung.)
Dr. Adler: Wissen Sie mir den Gesetz p a r a-
g r a p h e n dee Strafgesetzes zu bezeichnen, welcher verbietet,
gegen die liberale Partei zu sprechen?
Zeuge: So im § 302 glaube ich. (Heiterkeit.)
Dr. Adler: Dort steht doch nichts von der liberalen
Partei . . .
Vorsitzender: Herr Doktor, diese Frage scheint mir nicht mehr
zulässig. Der Herr Zeuge ist ja übrigens kein richterlicher Beamter und
braucht das Strafgesetz nicht so zu kennen; er hat das für unzulässig
gehalten; ob mit Recht oder nicht, kümmert uns hier nicht.
Dr. Adler: Ich wurde oft unterbrochen, und bei dieser
Stelle .wurde mir das Wort entzogen, obwohl ich nicht gegen
eine Körperschaft oder eine Institution, sondern nur gegen eine
gegnerische politische Partei gesprochen habe. Daraus werden
die Herren Geschwornen ihre Konsequenzen ziehen. Es existiert
außerdem ein Protokoll, von Herrn Ullrich unterschrieben,
welches dasselbe besagt.
Zeuge Anton J ä c k e 1, Gemeindevorsteher: Ich weiß, daß er die
Staatsgrundgosetze einen Wisch Papier nannte. Er hat auch einen Steuer-
schein über 4 fl. 96 kr. vorgezeigt und gesagt, daß nach der Wahlordnung
der Mann nicht politisch reif ist, weil ihm 4 Kreuzer an direkter Steuer
fehlen. Auf mich hat die Rede keinen aufreizenden Eindruck gemacht, ich
fürchte mich nicht vor solchen Reden. Allerdings war sie mehr aufregend als
beruhigend.
Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg 161
Zeuge Adolf Kratzer t, Glaswarenerzeuger : Ich habe das Wort
., Wisch Papier" gehört. Er hatte den Zweck, gewählt zu werden, weil er
gedacht hat, die Wähler seien Leute, die seinen Gesinnungen beipflichten.
Er schien die Absicht zu haben, Anhänger zu gewinnen. Er schien mir sehr
scharf zu sprechen, vielleicht über das Zulässige hinaus.
Die Verhandlung wird um /42 Uhr abgebrochen. Um 3 Uhr nach-
mittags wird das Zeugenverhör fortgesetzt.
Zeuge Wenzel Seh öf fei: Dr. Adler hat über die Bauern und die
Kleingewerbetreibenden gesprochen, die er gegen das Großkapital in Schutz
nahm. Die Versammlung wurde aufgelöst, weil er die liberale Partei be-
handelte. Einen richtigen Grund zur Auflösung konnte ich nicht finden. Er
hat nichts gesagt, wa.3 beanstandet werden könnte.
Zeuge Franz Jacke 1, Ökonom: Ich dachte, daß das Volk aufgereizt
würde und daß er sich beliebt machen wollte. Es hat den Leuten gefallen.
Verteidiger: Wozu wollte er das Volk aufreizen?
Zeuge: Daß er sie für seine Person gewinnen wollte.
Verteidiger: Wenn ich jemand gewinnen will, reize ich ihn
ja nicht auf.
Zeuge Josef K r a t z e r t, Gastwirt : Ich könnte nicht sagen, daß etwas
Strafbares vorgebracht worden wäre. Aufregend war es. Von den Leuten habe
ich aber nicht gemerkt, daß sie aufgeregt waren.
Zeuge Eduard Zell er: Die Auflösung ist unter so eigentümlichen
Um.ständen vor sich gegangen, daß ich ein Protokoll darüber aufnehmen ließ.
Es lautet:
„Als der Referent Dr. Adler in seinem Referat auf die Verhand-
lungen zwischen der Linken und der Regierung zu sprechen kam und die
Worte gebrauchte: >Wenn die Liberalen darauf eingehen, auf jeden poli-
tischen Fortschritt zu verzichten, wie das bei der Majoritätsbildung
Bedingung ist, so bleibt vom Liberalismus nichts anderes übrig als die
nackte Sanktionierung der Ausbeutung.«
Bei diesen Worten entzog der Regierungsvertreter Herr Bezirkssekretär
Josef Ullrich dem Redner das Wort. Als Redner noch hinzusetzte, »die
Liberalen also stehen unter polizeilichem Schutz • und die Versammlung
zustimmte, löste er die Versammlung auf."
G r ü n w a 1 d, am 19. Jänner 1893.
Ullrich, E. Zeller,
Bezirkssekretär. Anton Jacke 1, Vorsitzender.
Ortsvorsteher.
Die Leute waren nicht aufgereizt worden, sonst wären sie nicht auf
mein Ersuchen ruhig aus dem Saal gegangen.
Zeuge Thomas Gahler, Gürtler: Dr. Adler hat über die Arbeiter-
frage gesprochen, aber nicht in gehässiger Weise. Nach meiner Überzeugung
kann ich nur sagen, daß er die Wahrheit gesprochen hat. Die
Leute wurden nicht aufgereizt; mich hat die Rede auch nicht aufgereizt.
Zeuge Heinrich S c h o I z e, Gürtler: Vom österreichischen Militär
war nicht die Rede, sondern von den Steuerlasten. Etwas Verhetzendes habe
11
162 Die Schwurgerichtsverhandlung- in lieicheuberg
ich nicht in der Rede gefunden, niemand wurde aufgereizt, die Leute waren
ruhig. Von einem „Wisch Papier'" habe icli nichts gehört.
Zeuge Josef Dreß 1er: Der Redner hat über den Militarismus über-
haupt gesprochen. Aufgehetzt wnrrde niemand. Es wurde nichts U n-
wahresgesagt.
Zeuge Anton Wünsch: Den Ausdruck „Wisch Papier" habe ich
nicht gehört. Vom Militär wurde nichts Beleidigendes gesprochen. Von einer
Aufreizung oder Aufregung habe ich nichts bemerkt. Auf mich hat die Rede
einen guten Eindruck gemacht.
Zeuge Gottfried König, Bäcker: Vom „Wisch Papier" habe ich nichts
gehört, sondern, daß die Staatsgrundgesetze nicht mehr wert sind als das
Papier, auf welchem sie gedruckt sind, wenn sie nicht gehandhabt werden.
Ich habe nichts Strafbares gefunden, die anderen haben auch Beifall gezollt.
Es wird nun die Relation verlesen.
Die Zeugen, nochmals vorgerufen, erklären dieselbe im allgemeinen
für sinngemäß, aber nicht wortgetreu.
Es gelangen die Zeugen über die Schumburger Rede zum Verhör.
Zeuge Bezirkssekretär Ullrich: Diese Rede habe ich durch den
Lehrer Wünsch stenographieren lassen. Diesmal hat der Dr. Adler
etwas gemäßigter gesprochen; ich war selten in der Lage, ihn zu
ermahnen. Ich habe den Eindruck gemacht, daß sie Unzufriedenheit mit
den bestehenden Zuständen erregt hat.
Vorsitzender: Woraus schließen Sie das?
Zeuge: Die betreffenden Stellen wurden von den Zuhörern mit
Beifall aufgenommen.
Dr. Adler: Glauben Sie, daß eri^t meine Rede die Leute
unzufrieden gemacht hat oder daß die Leute vielleicht doch
schon früher unzufrieden waren?
Zeuge: Darüber habe ich kein Urteil; die Möglichkeit ist nicht
ausgeschlossen.
Zeuge Josef Hoff m a n n fand nichts besonders Neues in der Rede.
Zeuge Eduard Z e 1 1 e r hat nichts Aufreizendes gefunden. Ich habe
nachher mit vielen Leuten über die Versammlung gesprochen, aber ich habe
keine Erregung gefunden.
Zeuge Siegmund Robitschek, Gastwirt: Etwas Böses habe ich
nicht gefunden, eine aufreizende Tendenz habe ich nicht gemerkt.
Zeuge Emanuel Schwarz hat nichts Aufreizendes gefunden.
Zeuge Wilhelm Schi e r, Kaufmann : Ich meinerseits erkenne die
Rede Dr. Adlers als wahr an. Dieselbe hat auf die Zuhörer einen gün-
stigen Eindruck gemacht. Niemand hat öffentlich den Ausführungen des
Redners widersprochen, nur einer sagte: „Wenn er nur kein Jude war'!'"
Vorsitzender: Herr Dr. Adler ist ja kein Jude, ich habe das
gestern zu konstatieren vergessen; er ist Protestant.
Zeuge: Auch wurde ^•om Regier ungs vertretet das
Lachen verboten, und dann wurde auch nicht mehr gelacht!
Zeuge Alois Wünsch, Lehrer in Gablonz, welcher telegraphisch
vorgeladen wurde, gibt an, er habe auf Ansuchen des Bezirkssekretärs die
Dit' Schwargerichtsverhandlung in Reichenberg 163
Rede Dr. Adlers in Scliumburg stenographisch aufgenommen und bezeichnet
sein Stenogramm sowie dessen ihm vorgewiesene Übertragung als richtig.
Der Vorsitzende verliest nun die von Dr. Adler in Schumburg gehal-
lene Rede, w-as fast eine Stunde in Anspruch nimmt.
Die Zeugen werden wieder einzeln befragt, ob die verlesene Rede
übereinstimme mit der Adlers.
Zeuge Bezirkssekretär Ullrich erklärt sie für richtig.
Dr. Adler: Sie haben gesagt, daß die Rede in Scham-
burg Ihnen am wenigsten Anlaß zu Unterbrechungen gegeben
hat, daß Sie bei allen anderen Versammlungen öfter unter-
brochen haben als in Schumburg. Ich bitte, Herr Präsident, zu
konstatieren, wie oft diese Rede unterbrochen wurde.
Vorsitzender: Es sind 17 Unterbrechungen notiert.
Heiterkeit.^
Die anderen Zeugen geben an, die Rede sei ziemlich richtig wieder-
gegeben.
Hierauf wird die Verhandlung um halb 7 Uhr abgebrochen.
Dritter Yerhandlungstag.
Montag früh um 9 Uhr wird die Verhandlung wieder eröffnet. Es
werden Aussagen der Zeugen Josef Friedrich und Vinzenz E n d 1 e r
verlesen.
Zeuge Wenzel Heran, Pfarrer: Ich bin zur Versammlung gegangen,
um zu hören, ob etwas gegen die Religion vorgebracht werde. Ich habe mir
Amnerkungen gemacht, keine stenographischen. Über die Religion hat er
wenig gesprochen; was er gesprochen hat, war zum Teil auch im Interesse
des niederen Klerus, von der Kongrua, von der Stola, wie sich die niedere
Geistlichkeit ihr Einkommen herausbetteln müsse. Sonst ist mir nichts
besonders aufgefallen. Mir war nur der Ausdruck „himmlische Gendarmerie'"
etwas ungewohnt, sonst habe ich nicht gehört, daß der Redner der Religion
Verachtung bezeigt hätte. Es sind dann der Gemeindevorsteher und andere
zu mir gekommen, und ich habe ihnen meine Notizen diktiert. Es war bloß
ein Auszug. Der Eindruck, den die Rede auf mich machte, war, daß die
meisten Leute sie nicht verstanden haben. Ich glaube, daß die Rede
beabsichtigte, die Leute unzufrieden zu machen.
Vorsitzender: Das werden sie wohl schon ohnehin gewesen sein.
Zeuge: Ich würde vor einem solchen Publikum nicht so gesprochen
haben, daß es geheißen hat: „Gestohlenes Kapital."
Dr. Adler: Sie haben also nicht stenographiert. Können
Sie behaupten, daß es geheißen hat: „Gestohlenes Kapital"?
Zeuge: Nein. Es kann auch anders geheißen haben.
Sodann nimmt der Vorsitzende dem Angeklagten die Generalien ab.
Vorsitzender: Haben Sie ein Vermögen?
Dr. Adler: Ich besitze jetzt kein Vermögen, ich lebe
von meiner Arbeit.
11*
164 Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg
Vorsitzender: Sind Sie schon gerichtlich beanständet?
Dr. Adler: Ich bin einmal bestraft wegen Vergehens
nach § 302 und § 305 St.-G. ; das war in Wien während de;^
Ausnahmezustandes, in einem Preßprozeß vor dem Ausnahme-
gericht. Es handelte sich um den Tramwaystreik. Ich erhielt
vier Monate verschärften Arrest. Dann hatte ich einige kleinere
Strafen, die ich nicht in Evidenz halte, wegen § 23, § 24 Preß-
gesetz, § 312 einigemal.
Vorsitzender: Waiaim kamen Sie vor das Ausnahmegericht?
Dr. Adler: Weil der Staatsanwalt behauptete, es sei ein
anarchistisches Vergehen. Der Herr Landesgerichtsrat H o 1-
z i n g e r war auch der Ansicht.
Staatsanwalt: Sie wollen sagen, der Gerichtshof war auch der
Ansicht.
Dr. Adler: Der Herr Holzinge r war der Ansicht..
Staatsanwalt: Es war ja ein ganzer Senat.
Dr. Adler: Herr Holzinger war der Ansicht.
Der A^erteidiger läßt aus dem Protokoll eine Äußerung des Anton
Jäckcl verlesen: „Der Eindruck der Rede auf die Mehrzahl der Anwesenden
war ein bedeutender. Man sah, daß Adler ihnen aus dem Herzen
gesprochen habe." Es wird hierauf die ?sote der Polizeidirektion Wien
verlesen. Darauf wird das Beweis verfahren geschlossen und
die Fragen an die Geschwomen formuliert.
Es folgen nun die
Plädoyers.
Zunächst ergreift das Wort der
Staatsanwalt: Meine Herren Gesell wornen! Hoher Gerichtshof!
Herr Dr. Adler bezeichnete den gegen ihn angestrengten Prozeß als einen
Tendenzprozeß. Ich erlaube mir, dieser Anschauung entgegenzutreten. Die
Regierung hegt keine Gehässigkeit gegen die ärmere und arbeitende Klasse.
Im Gegenteil, sie schuf in den letzten Jahren das Institut der Gewerbe-
inspektoren, sie schuf die bekannten Wohlfahrtsgesetze, die Arbeiter-
Krankenversicherung, die Unfallversicherung, und sie wird vielleicht auch
mit der Zeit die in Deutschland bereits eingeführte Alters- und Invaliden-
versorgung schaffen. Ja, die Regierung sucht auch die politischerr Rechte der
Arbeiter zu erweitern; sie legte ihrerseits einen Wahlreformcntwurf vor.
welcher den bürgerlichen und gemäßigten Parteien sogar zu weitgehend,
schien. Daraus kann man das Wohlwoilen der Regierungskreise für die
Arbeiter am besten ersehen. Auch die Staatsanwaltschaft oder meine Wenig-
keit hat keine Voreingenommenheit gegen die ärmeren Klassen und gegen die
.\rbeiter. Ich selbst bin ja nicht Kapitalist. Ich hege auch keine Voreinge-
nommenheit gegen Dr. Adler. Er ist ja ein geistvoller, sympathischer Mann,
mit dem man sich recht gerne über politische und soziale Fragen >auf aka-
demische Weise unterhalten wird. Er ist auch wegen keines ehrlosen Delikte
bestraft oder verfolgt. Er ist, abgesehen von politischen Delikten, ein sehr
Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg- 165
anständiger Mann. Wenn irgend jemand solche Reden gehalten hätte, würde
jeder ohne Ansehen der Person wegen derselben strafgerichtlich verfolgt
Avorden sein, wenigstens in diesem Sprengel. Es ist nur eine Amtspflicht,
welche mich dazu bewegt, die Anklage gegen Herrn Dr. Adler zu erheben,
um dem verletzten Gesetz Sühnung zu verschaffen. Der Prozeß ist in dem
Sinne ein politischer, weil es sich um sogenannte politische Delikte handelt.
Die inkriminierten Reden entstanden aus seinem Bestreben, die sozia-
listischen Ideen zu verbreiten. Die Verbreitung sozialistischer Ideen ist an
und für sich nicht strafbar. Die Regierung bewilligte namentlich in den
letzten Jahren, daß es gestattet sei, sich als Sozialist zu bekennen und seinen
Ideen Verbreitung zu verschaffen. Sie bewilligte ein Koalitionsgesetz, wonach
es gestattet ist, zu streiken, sie bewilligte zahlreiche Vereine der Arbeiter,
sie bewilligte noch zahlreichere Versammlungen, es existiert eine bedeu-
tende, weitverbreitete Presse. Wenn auch die Behörden häufig in die Lage
kommen, Artikel dieser Presse als ungesetzlich, strafbar zu inhibieren und
zu verbieten, so existiert dennoch eine bedeutende Preßfreiheit, durch welche
es möglich ist, daß die Arbeiter ihre Beschwerden zur öffentlichen Kenntnis
bringen können. Ja es ist allgemein bekannt, daß in Arbeiterblättern oft
die Zustände in manchen Betrieben in so greller Weise geschildert werden,
daß sie nicht immer der Wirklichkeit entsprechen und Berichtigungen zur
Folge haben. Die sozialdemokratische Agitation ist also gestattet, jedoch mit
der Einschränkung: im Rahmen, in den Schranken der bestehenden Gesetze.
Wenn diese Agitation über diese Grenzen hinausgeht, dann ist die Staats-
anwaltschaft vei-pflichtet, einzuschreiten. Es handelt sich also darum, ob
der Angeklagte diese Schranken überschritten hat.
Es sind im ganzen fünf Reden, welche inkriminiert sind. Die erste ist
in Dessendorf gehalten worden. Da liegt ein Stenogramm des Juristen
Witsche vor, welches, abgesehen von einigen Lücken, im ganzen wort-
nnd sinngetreu ist. Der Zeuge selbst sagt, daß vielleicht noch mehr
gesprochen wurde, was aber darin stehe, sei gesprochen worden. Die
Richtigkeit des Stenogramms wird auch von anderen Zeugen bestätigt;
diesen Aussagen stehen die der Entlastungszeugen gegenüber, welche aber
auch zugeben müssen, daß es der Rede im wesentlichen entspricht, über
die Rede in Reichenau liegt ein Stenogramni des Pfarrers Beran vor; die
Richtigkeit desselben wird von diesem, vom landesfürstlichen Kommissär
Josef Ullrich, vom Gemeindevorsteher P e u k e r t und anderen Zeugen
bestätigt, welche sich von Pater Beran die Aufzeichnungen diktieren
ließen. Von der Rede in Wiesenthal liegt keine schriftliche Aufzeichnung
vor, sondern der Regierungskommissär Josef Jacek machte sich damals
Notizen, die er heute nicht mehr hat. Er hat aber bei seiner ersten Ver-
nehmung unter dem frischen Eindruck des Gehörten Angaben gemacht und
selbstverständlich die reine Wahrheit gesagt. Alle Zeugen bestätigen wenig-
stens im wesentlichen diese Angaben. Über die Versammlung in Grünwald
machte sich der Herr Kommissär Ullrich bei der Verhandlung Notizen
und erstattete eine Relation bei seinem Vorgesetzten. Es liegt ein Aktum der
politischen Behörde vor, ein PmtokoU über die Aussagen der Zeugen
J ä c k e 1, Vorsteher, Adolf Kratzer t, Schöffe 1, Josef K r a t z e r t, die
sich selbst zur Zeugenschaft anboten. Diese bezeichnen die Relation als
166 Die Scliwurgerichtsverhandlung in Reichenlieig
Vollkommen richtig. Die Entlastungszeugen erklären, die Aufzeichnungen
entsprechen dem Sinn der Rede. Über die Rede in Schumburg liegt ein Steno-
gramm des Lehrers Wünsch vor, dessen Richtigkeit allgemein anerkannt
wird. Dr. Adler erklärt sich für nichtschuldig, hat aber im großen und
ganzen die Richtigkeit der Aufzeichnungen und der Zeugenaussagen
zugegeben. Nur einzelne Ausdrücke, die ihm besonders A-orfänglich er-
scheinen, bestreitet er; er hat aber vorgestern vor Gericht Äußerungen
gemacht, die es ganz möglich erscheinen lassen, daß er auch die anderen
Stellen gesagt hat. Er erklärt, daß jene Stellen aus dem Zusammenhang
gerissen sind. Er will weiters nicht vom Militär, sondern vom Militarismus
als System gesprochen haben. Er will auch keine Religionsstörung begangen
haben. Aber vorgestern sagte er erst: „Wir wünschen nicht, daß die Kinder
m eine dogmatische Richtung hineingezwängt werden; wir wollen keinen
konfessionellen Drill." Als sehr verfänglich schien ihm jedenfalls auch die
Äußerung über die Bluturteile. Das sucht er nun anders zu drehen, als
es aufgefaßt wird, stellt aber wieder eine Behauptung auf, die wieder hart
an die Grenzen des Strafgesetzes stößt. Er sagt; „Wenn die Prager Richter
so leichte, milde Urteile fällten, so können Sie überzeugt sein, daß diese
Leute ganz unschuldig waren.'" Das ist offenbar eine Zumutung, daß die
Prager Richter Unschuldige zu einer, wenn auch geringen Strafe verurteilen.
Schließlich bestätigt er aber: „Ich sagte vielleicht, daß auch von öster-
reichischen Gerichten einmal Bluturteile, Urteile, die allzu streng und scharf
waren, gegen Sozialisten gefällt wurden.'" — Die Äußerungen über den
Reichsrat gibt er zu; den Ausdruck „gestohlenes"" Kapital will er als bedenk-
lich nicht gebraucht haben, das ist das einzige, was er entschieden und
direkt in Abrede stellt. Die Äußerungen über das Eigentum deutet er zu
einem anderen Sinne um, welchen er zu motivieren sucht. Endlicli stellt er
jede beleidigende Absicht gegenüber der Armee in Abrede.
Was die Behauptungen über die Stenogramme betrifft, so wiid nur
bestätigt, daß in der Rede auch noch anderes vorgebracht wurde, als was
hier steht. Was aber hier steht, ist tatsächlich vorgebracht worden. Heri-
Dr. Adler sagte, die Äußerungen seien ungenau, lückenhaft, aus dem
Zusammenhang gerissen und entstellt wiedergegeben. Aber er konnte dies im
einzelnen Falle nicht beweisen. Er verlegt sich auch weniger auf die Bestrei-
tung der Äußerungen als darauf, eine andere Auffassung, eine andere Inter-
pretation glaubhaft zu machen. Es ist auch gar nicht anzunehmen, daß die
Verfasser der Aufzeichnungen irgend etwas hineingedichtet, etwas ersonnen
hätten. Der Einwand, daß die Äußerungen aus dem Zusammenhang gerissen
seien, ist nicht stichhaltig bei so langen Reden und bei fünf Reden, welche
zum Teil in vollkommenem Zusammenhang vorhanden sind. Die bestrittenen,
weil bedenklichen Äußerungen, wie „Wisch Papier"", „Bluturteil", über das
Militär, sind jedenfalls bestätigt.
Nun die Zeugenaussagen. Wir haben da positive Zeugen-
aussagen, welche die Richtigkeit der Äußerungen, daß sie dieselben wirklich
gehört haben, bestätigen oder wenigstens in dem nach den Versammlungen
aufgenommenen Protokoll bestätigten. Ihnen gegenüber stehen negative
Aussagen, nämlich die der meisten Entlastungszeugen, welche sich die Sache
recht leicht gemacht haben, indem sie auf die Fragen nach den verfänglichen.
Die Schwiirgerichtsverhandlung in Reichenberg 167
Worten angaben, nichts zu wissen, sich nicht mehr erinnern zu können,
nicht die ganze Rede gehört zu haben. Ohne der Wahrhaftigkeit dieser
Zeugen nahetreten zu wollen, so ist doch zu bemerken, daß positive Zeugen-
aussagen nicht ohnewoiters durch die Aussagen von Zeugen entkräftet
werden, welche eine Wahrnehmung nicht gemacht haben. Dazu kommt
der Unterschied in der Stellung der Zeugen. Auf seifen der Belastung stehen
)ene öffentlichen Organe, Regierungskommissäre, Gemeindevorsteher, Aus-
Schüsse und dergleichen, diese halten ein weit größeres Interesse, zu
erfahren, was wirklich gesprochen wurde. Sie waren auch auf einem
bevorzugten Platze, offenbar neben dem Redner. Die anderen Zeugen hatten
weniger Interesse daran, haben auch in der Bewegung, im Lärm nicht alles
gehört. Es kam noch eine schriftliche Aufzeichnung zutage, die vorher gar
nicht vorkam; da kommt sogar eine neue verfängliche Äußerung vor,
nämlich, „daß die neuen Gewehre an den Arbeitern in Nürschan und Pilsen
erprobt wurden"; dadurch ist die Möglichkeit, daß die anderen ehrenrührigen
Äußerungen über das Militär vorgebracht wurden, bestätigt. Es ist meiner
Ansicht nach alles vollkommen erwiesen, was tatsächlich vorgebracht wurde,
und dann handelt es sich nur darum, zu prüfen, ob imd welche strafbaren
Handlungen durch die einzelnen Reden begangen wurden. Vorher aber will
ich noch den Eindruck der Reden besprechen. Bezüglich der Rede in
Dessendorf gibt der Vorsteher N i t s c h e an, daß er zwar den Redner
nicht unterbrochen habe. Er dachte sich, daß er ja ohnehin das Gesprochene
fixiert habe. Aber sowohl er als Adolf N i t s c h e halten die Rede für auf-
reizend. Wenigstens gaben sie das in dem Protokoll an, welches sie unter
dem Eindruck der Rede abgegeben haben, wenn sie auch diesmal diese
Ansicht nicht so entschieden vorbringen wollten. Dementgegen halten andere
Zeugen die Rede für nicht aufreizend. Die Rede in Reichenau wurde vom
landesfürstlichen Kommissär öfter unterbrochen; der Gemeindevorsteher
Peukert gibt an, daß zu viel gesprochen wurde, was nicht gut war, daß
viele diese Rede tadelten. Hofrichter gibt an, daß die Rede ihm
ungesetzlich und aufreizend schien. Dagegen finden Herr Zell er und fünf
andere Zeugen nichts Ungesetzliches darin. Der Pater Beran erklärt, er
habe zwar nichts gegen die Religion darin gefunden, aber er habe den Ein-
druck, daß die Rede unzufrieden machen könne, daß er vor einem solchen
Publikum nicht so gesprochen hätte, daß es ihn wunderte, als der Polizei-
kommissär bei den Äußerungen über das Militär nicht unterbrach. Die Rede
in Wiesenthal wurde vom Herrn Regierungsvertreter J a c e k zweimal unter-
brochen; er findet die Rede gehässig und aufreizend. Herr Bergmann,
jener Zeuge, welcher trotz des erhaltenen Drohbriefes mit voller Ent-
schiedenheit bei der Wahrheit blieb und aussagte, der dadurch einen großen
Beweis von Charakterfestigkeit und Uberzeugungstreue an den Tag legte,
erklärte, daß die Rede eine wahre Brandrede war, daß er sich wundere, wie
man solche Dinge öffentlich vorbringen dürfe. Herr Z e 1 1 e r fand die Rede
nicht gehässig. Die Rede in Grünwald wird vom Kommissär Ullrich als
einen gewaltigen Eindruck machend geschildert, daß demonstrativer Beifall
folgte, daß er die Versammlung auflösen mußte, weil das Publikum lebhaft
demonstrierte, als er dem Redner das Wort entzog. Die Zeugen Anton
J ä c k e 1, Franz .1 ä c k e 1. Adolf K r a t z e r t und Josef K r a t z e r t finden
168 Die Sch^vurg•erichtsvel■handlung• in Reichenberg
die Rede aufreizend und melden sich selbst bei der Bezirkshauptmannschaft
als Zeugen, dagegen finden die anderen Zeugen die Rede für nicht aufreizend.
Die Rede in Schuml)urg findet der Regierungskommissär etwas gemäßigter,
aber doch Unzufriedenheit erregend ; die anderen Zeugen finden nichts Straf-
bares darin. Nun sind die inkriminierten Äußerungen auf ihre Slrafbarkeit
zu prüfen.
Nach der Ansicht der Staatsanwaltschaft ist die Störung der öffent-
lichen Ruhe und Ordnung durch Erregung und Haß und Verachtung gegen
die Staatsverwaltung durch Äußerungen in Dessendorf, Reichenau und
Grünwald begangen, und zw'ar dadurch, daß die Zustände im österreichischen
Vaterland auf eine so schwarze Weise geschildert wurden, daß dadurch in
jedem Hörer eine Erbitterung gegen das Vaterland, gegen diejenigen, die
solche Zustände verschulden, hervorgerufen werden kann und muß. Es wird
da gesagt, daß eine Ungleichheit in der Behandlung der Staatsbürger
herrsche, daß die armen Arbeiter nur unterdrückt und geknechtet werden,
daß die Ableistung der Wehrpflicht eine ungleiche sei. Wenn jemand die
Zustände im Viaterland, welches uns doch so teuer und heilig ist, auf eine
so entstellte Weise schildert, so ist das warklich geeignet, in den Zuhörern
das Gefühl der Erbitterung hervorzurufen. Der Herr Dr. Adler wendet ein,
daß er das Wort Staatsverwaltung und Regierung gar nicht gebraucht hat.
Das ist unrichtig- Der Herr Doktor ist durch langjähriges Verfassen von
Artikeln, durch Abhaltung von Versammlungen in dieser Beziehung hin-
reichend erfahren, um vorsichtig zu sein, wie ja alle Redakteure es über-
haupt vermeiden, direkte Vorwürfe gegen die Regierung oder die Behörden
zu machen, sondern sich mit allgemeinen Ausdrücken: „man'", „es wird'",
„es geschieht'", zu behelfen, weil sie meinen, damit der Verantwortung für
eine Gesetzesverletzung, namentlich dieses Paragraphen, zu entgehen.
Dadurch wird aber der wahre Sinn, die Tendenz, die Absicht des Sprechers
nicht gehindert. Wenn in einem Lande wirklich solche
Zustände herrschen, so muß doch jeman<l daran schuld
tragen, dafür verantwortlich sein! Wer ist das? Die
Regierung oder die Staatsverwaltung! Wenn man daher
gegen die Zustände in einem Lande solche Vorwürfe und Beschwerden erhebt,
so greift man die verantwortliche Staatsverwaltung an, gegen welche dadurch
jedenfalls zu Haß und Verachtung aufzureizen gesucht wird.
In der Rede in Grünwald wurde auch vorgebracht, die Staatsgrund-
gesetze hätten nicht mehr Wert als ein Wisch Papier. Der Ausdruck Wisch
ist ein so geringschätziger, verächtlicher, daß darüber gar nicht gestritten
werden kann, ob dadurch zum Haß und zur Verachtung gegen die Staats^,
grundgesetze aufgefordert wird. Der Angeklagte sucht das so zu drehen, daß
er die Äußerung nur bedingungsweise gemacht habe. Aber das selbst
zugegeben, so bleibt das ganz gleich; auch durch die Äußerung, die Staat>-
grundgesetzo seien nicht mehr wert als das Papier, worauf sie gedruckt sind;
wird zur Verachtung gegen die Staatsgrundgesetze aufgefordert. Das Ver-
brechen der Religionsstörung ist in der Dessendorfer Rede begründet. Wenn
auch der Herr Dr. Adler dies leugnet und korrigiert, so ist es docli
strafbar, wenn man das Heiligste, was der Mensch hat, die Religion, die
Grundlage des Staates, der Familie, herabzieht und sich über sie in so ver-
Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg 169
•ächÜichem Sinne ausspricht. Jede Religion muß einer positiven Konfession
entsprechen, und diese muß wieder in einer bestimmten Weise dem Men-
schen beigebracht werden- Dieselbe muß den Kindern im zartesten Alter
beigebracht werden. Wenn sich der Herr Doktor nun dagegen so scharf
ausspricht, so muß in jedem das Gefühl der Verächtlichmachung der Religion
erweckt werden. Durch die Rede in Wiesonthal, und zwar durch die
Äußerung, daß die österreichischen Gerichte wahre Bluturteile gefällt hätten,
werden jedenfalls die österreichischen Gerichte, das heißt die Behörden
herabzuwürdigen gesucht. Der Angeklagte hat diese Äußerung eigentlich nicht
bestritten, sondern vielmehr zu rechtfertigen gesucht. Er hat dabei eine
Äußerung gemacht, welche das bestätigt, was die Anklage behauptet.
Durch die Rede in Reichenau wurde der Reichsrat beleidigt, indem
ihm vorgeworfen wurde, daß er seiner Zusammensetzung nach die Vorteile
der Großgrundbesitzer und Großkapitalisten wahre; vom Herrenhause wurde
gesagt, daß es das wenige Volksfreundliche, wenn etwas im Abgeordneten-
haus durchgehe, vernichte. Es wird zwar manche Kritik gegen das Parlament
auch in Österreich vorgebracht, allein eine solche Äußerung über.-chreitet
jedenfalls das Maß einer erlaubten Kritik. Auch ist sie unwahr und entstellt,
indem bekanntlich alle volksfreundlichen Gesetze, die in der letzten Zeit
geschaffen wurden, eben von den beiden Häusern des Reichsrates beschlossen
wurden und beschlossen werden mußten.
Durch die Reden in Dessendorf und Reichenau wurde nach meiner
Ansicht auch zu Feindseligkeiten gegen die einzelnen Klassen der bürger-
lichen Gesellschaft, insbesondere gegen die Besitzenden aufzureizen ven-^ucht.
E? werden da die Zustände in übertriebener und entstellter Weise dargestellt,
es werden die Besitzer und die Großindustriellen als die wahre Ursache
alles Elends in der Welt hingestellt, es wird nur Schlechtes vorgebracht,
was dieselben tun oder dulden, nicht das geringste Gute erwähnt, das sie
tatsächlich tun; es wird verschwiegen, daß auch reiche Großmdustrielle,
Großhändler mitunter fallieren. Es wird der Gegensatz zwischen Reichen
und Armen in so greller und krasser Weise herv'orgehoben und geschildert,
da(j dadurch in den Hörern, i)esonders ia denen mit minderem Besitz, wirklich
ein Gefühl des Hasses, eine feindselige Gesinnung gegen die Besitzer hervor-
gerufen wird. Es ist nicht nötig, daß es gerade zu Feindseligkeiten kommt,
es genügt die Erweckung einer feindseligen Gesinnung, die im Herzen des
Hörers immer mehr erstarkt und vielleicht bei eintretender Gelegenheit sich
kundgibt- Durch die Äußerung in der Dessendorfer Rede wird jedenfalls auch
der Rechtsbegriff über das Eigentum zu erschüttern versucht. Es wird das
Eigentum als nicht heilig hingestellt. In jedem, der weniger Eigentum hat,
wird das Gefühl hervorgerufen, daß das Eigentum der anderen möglichst bald
■und radikal beseitigt werden möge.
Ich komme nun zu der Beleidigung der kaiserlichen Armee, welche
in allen Reden begangen wurde. Herr Dr. Adler sucht das dahin zu deuten,
daß er eigentlich den Militarismus im allgemeinen gemeint habe. Wir haben
aber hier die Rede in so viel Variationen gehört, daß an dem wahren Sinn
kein Zweifel sein kann. Es ist auch vollkommen unglaubwürdig; denn eine
rein theoretische, abstrakte Abhandlung über den Militarismus als System
in Europa hätte bei den Zuhörern, unbeschadet ihrer Intelligenz, doch zu
170 l-)ie Sohwurgerichtsverhandlung in Reichenberg
wenig Interesse und Verständnis gefunden. Wenn dem Militär imputiert wird,
daß es nicht gegen äußere Feinde, sondern eigentlich nur gegen die Arbeiter,
zum Schutz der gefüllten Kassen da ist, so muß das in jedem das Gefühl
der Verachtung und des Hasses gegen das Militär als solches erwecken. Es
mag sein, daß sich ein einzelner Soldat nicht beleidigt fühlt, der sich im
Sinne des Herrn Dr. Adler als Opfer des Militarismus betrachtet, das ist
aber nicht maßgebend, aber die ganze Körperschaft ist jedenfalls verächtlicher
Eigenschaft geziehen und dem öffentlichen Spott preisgegeben. Es bleibt noch
die böse Absicht, die vom Gesetz gefordert wird, zu erörtern- Der Angeklagte
bestreitet jede aufreizende Absicht und gibt an, daß er jene Reden nur in
der Absicht gehalten habe, um sich als Kandidat für den Reichsrat vor-
zustellen, und dann auch, um Anhänger für sein Programm zu finden. Die
persönliche Vertretung des Programms ist an und für sich nicht strafbar, nur
muß sie innerhalb der Schranken des Gesetzes geschehen. Die ^Vbsicht liegt
in diesen Fällen im Wortlaut und im wahren .Sinne. Und sie ist eine böse,
aufreizende. Wenn man immer nur das Ungünstigste hervorhebt, was in
einem Staate geschieht, wenn man als die Ursache von allem möglichen den
Staat und die besitzenden Klassen hinstellt, so kann doch keine andere
Absicht vorhanden sein, als die Hörer gegen die Institutionen, die ihrem
Wohl so feindlich entgegenstehen, aufzureizen und in ihnen das Gefühl zu
erwecken, daß möglichst bald eine radikale Umwälzung in diesen Ein-
richtungen stattfinden sollte. Die Absicht ist bei solchen mündlichen Äuße-
rungen nicht zweifelhaft, namentlich wenn es sich nicht um ein zufälliges
Gespräch in i'inem Wirtshaus handelt, wo ein der Politik fernstehender
Mensch ein Wort hinwirft, ohne aufreizen zu wollen. Aber ein Mann wie
Dr. Adler, der eine solche politische und soziale Bildung besitzt, der sich
nach eigenem Geständnis jahrelang mit politischer Tätigkeit und
Agitation befaßt. Reden hält und Artikel schreibt, der muß sich voilkoiiimen
bewußt sein der Bedeutung und der Tragweite seiner Äußerungen. Der
Angeklagte ist aber auch wirklich fähig, eine solche Absicht zu haben. Ich
will ihm keinen Vorwiirf wegen überstandener Strafen machen, aber es
muß auch die Frage geprüft werden, ob jemand nach seinem Vorleben einer
Handlung fähig ist. Und da muß er zugeben, daß er tatsächlich bereits
wiederholt mit dem Gesetz in Konflikt gekommen ist, und zwar wegen
ähnlicher Handlungen. Es kann also bei ihm nicht der geringste Zweifel über
das Vorhandensein der bösen Absicht obwalten. Ich glaube daher, daß die
Herren Geschwornen ohne Skrupel, ohne Bedenken die an sie gestellten
Fragen einhellig bejahen und so dem verletzten Gesetz Sühnung ver-
schaffen werden.
Dr. Jennel:
Wenn ich es übernommen habe, die Verteidigung des Herrn Dr. Adler
in diesem politischen Prozeß zu führen, obwohl ich weder der Partei angehöre,
der er angehört, noch mit seinen Anschauungen im einzelnen und vielleicht
im ganzen übereinstimme, so geschah es in der Erwägung, daß hier etwas
ganz anderes in Frage steht als die Persönlichkeit des Herrn Dr. Adler
selbst, daß hier in Frage steht das Recht der freien Rede in politischen A.n-
gelegenheiten überhaupt. Meine Herren Geschwornen! Sie mögen die An-
sichten des Herrn Dr. A d 1 e r teilen oder nicht — es wird von Ihnen viu'-
Die Schwurgerichtsverhandlung- in Reichenberg 171
mutlich niemand sein, der sie teilt — aber wenn eine Rede, in welcher mau
sich derartig mit der Kritik der öffentlichen Venhältnisse befaßt, jedesmal der
VerfolKung; durch den Staatsanwalt und einer Verurteilung unterläge, dann ist
das politische Leben in Österreich überhaupt unmöglich, dann ist es tot.
Denn jeder, der in irgendeiner Versammlung über öffentliche Zustände spricht^
si€ vom Standpunkt dieser oder jener Partei einer Kritik unierzieht, er wird
dasjenige, was er für schlecht findet, als schlecht bezeichnen, er \vir<i
trachten, die Zuhörer von seiner Ansicht zu überzeugen, für seine Partei An-
hänger zu wefben, er wird alles das in einem sogenannten Rechtsstaat Er-
laubte und 'für jede Partei Erlaubte tun. Es hat der Herr .Staatsanwalt selbst
die Güte gehaibl, zuzugestehen, daß auch die sozialdemokratische Partei von
der Regierung geduldet wird — natürlich nicht von der Regierung, sondern
vom Gesetz. Sie ist eine Partei, die wie jede andere unter das gemeine Recht
gestellt ist und auf welche also auch 'd'as geraeine Recht angewendet werden
muß. Es mag sein, daß Ihnen einzelne Lehren dieser Partei recht gefährlich
erscheinen, daß diese Partei vom Standpunkt ganzer Gesellschaftsklassen
ungemein schädlich erscheint. Aber von diesem Gedanken dürfen Sie sich
hier nicht leiten lassen, denn Sie sitzen hier als Richter. Sie müssen Ihre
eigene Parteistellung, Ihre eigenen politischen Ansichten beiseite lassen, Sie
müssen ganz unparteiisch prüfen, ob das, was Dr. Adler vorgebracht hat,
d*em bestehenden Strafgesetz nach zulässig sei oder nicht. Und da freilich
kommen wir zur Frage unseres Strafgesetzes über politische Vergehen über-
haupt. Das bestehende Strafgesetz verdankt seine Entstehung dem Jahre 1803,
einer Zeit, wo es eine Verfassung in Österreich überhaupt nicht gab, wo der
Kaiser absolut regierte; im Jahre 1852 ist es neuerdings revidiert worden, zu
einer Zeit also, welche wie Sie ja wissen, die Zeit der schwärzesten Reaktion
nach dem kurzen Aufflackern des konstitutionellen Lebens im Jahre 1848
war. Es sind also die Bestimmungen über politische Delikte eigentlich für
verfassungsmäßige Zustände schon recht schwer anwendbar und schwer an-
zupassen.
Wenn wir abei' selbst den strengen Wortlaut dieses Strafgesetzes an-
wenden, so kommen wir zur Überzeugung, daß Dr. Adle r, mag er auch sonst
ein noch so gefährlicher Mensch sein, in jenen Reden keines jener Verbrechen,
Vergehen und Übertretungen begangen hat. Wie kam er dazu, jene Reden
zu halten? Es war anläßlich der Reichsratsersatzwahl, daß die sozialdemo-
kratische Partei die Gelegenheit benützte, um zu demonstrieren, daß sie
bereits unter den Wahlberechtigten Anhang habe. Ihr Kandidat, Dr. Adler,
hat 20 bis 30 Versammlungen abgehalten. Nun ist es klar. <laß niemand über
ein Thema 20 bis 30 verschiedene Reden halten kann. Man kann also ganz
sicher schließen, daß die unbeanstandeten Reden von Reichenberg, Fried-
land, Starkenbach ganz dieselbe Tendenz, ganz denselben Inhalt, ja zum
großen Teil denselben AVortlaut gehabt haben wie die beanstandeten Reden
im Gablonzer Bezirk. Der Gedankengang scheint mir am besten in der Re-
lation des Regierungsrates Ullrich üiljer die Reichenauer Rede wieder-
gegeben zu sein. Dr. Adler sagte also: „Wir haben uns mit einer Reichs-
ratswahl zu beschäftigen. Diese beruht auf der Verfassung; in der Verfas.sung
sind wunderbare Prinzipien; es ist an die Spitze derselben das Prinzip ge-
stellt: Alle Staatsbürger sind vor dem Gesetze gleich. Ist aber diese Gleich-
172 Uie Sch\\T.irgerichtsverhandlung in Reichenberg
heit vor dem Ges-etze wirklich vorhanden?" Und er beantwortet diese Frage:
..Nein, weil die Verfassung durch spätere Bestimmungen vielfach ab-
geschwächt und durch die Verwaltungspraxis noch mehr abgeschwächt ist."
Er sagt ganz drastisch: „Gehen Sie und probieren Sie zu wählen, und Sie
werden sofort überzeugt sein, daß vor dem Wahlgesetz nicht alle Staatsbürger
gleich sind." Er zeigt dann an der Hand des Preßgesetzes, an der Hand des
A'agabundengesetzes, daß die Staatsbürger nicht gleich vor dem Gesetze sind.
Damit hat aber Dr. Adler nichts Neues gesagt, das haben wir so alle gewußt.
Er hat dann über das allgemeine Wahlrecht gesprochen und ist auf die ali-
gemeinen Zustände gekommen, hat auf das bestehende Elend weiter Be-
völkerungsschichten hingewiesen, hat dargelegt, daß die Übermacht des
Kapitals die Arbeiter, die Kleinbürger und die Bauern niederdrückt, und hat
dagegen dargelegt, daß das Großkapital und der Großgrundbesitz eine überaus
bevorzugte Stellung einnehmen, daß sich das Kapital immer mehr anhäuft,
und ist auf den Militarismus übergeganigen und hat erklärt, daß derselbe nicht
nur den Schutz des Staatsgebietes gegen auswärtige Feinde, sondern auch im
wesentlichen einen Schutz Jür das Großkapital bildet. Darin erblickt nun die
Staatsanwaltschaft eine ganze Reihe von Delikten. Es handelt sich um Wort-
delikle. Bei Wortdelikten kommt es nicht so sehr auf den Sinn als auf den
Wortlaut der einzelnen Äußerungen an. Es liegen uns nun allerdings bezüglich
zweier Reden stenographische Aufzeichnungen vor; aber bezüglich des
Dessendorfer Stenogramms erklärt der Verfasser, Herr Nitsche, selbst, daß
er nicht einer der vorzüglichsten Stenographen sei, daß er nur 60 bis 70
Wörter in der Minute schreibe. In der Tat sind auch derartige Lücken und Aus-
lassungen vorhanden, ist die Konstruktion der einzelnen Sätze so mangelhaft,
daß man wii^lich auf den Wortlaut dieser Aufzeichnung nicht viel Gewicht
legen kann. Aber ich lege darauf wenig Gewicht, da sich ja Herr Dr. A d 1 e r
nicht auf den Standpunkt des Leugnens gestellt hat, sondern nur seine eigene
rednerische und logische Auffassung vor einzelnen Entstellungen und Zu-
sammenziehungen schützen will. In dieser Rede soll er das Verbrechen der
Störung der öiffentlichen Ridie be,gangen haben, indem er zu Haß und Ver-
achtung gegen die Staatsverwaltung aufzureizen versucht habe. Es liegt schon
ein Widerspruch darin, daß die Anklage sagt, er habe zu Haß u n d zur Ver-
achtung aufgereizt. Was ich hasse, erscheint mir gefährlich, aber nicht ver-
ächtlich, was ich verachte, erscheint mir zu niedrig, als daß ich es hassen
könnte. Es könnte also nur heißen: Zum Haß o der zur Verachtung. Nun hat
.iber der Herr Staatsanwalt selbst zugeben müssen, daß in der ganzen Rede
von der Staatsverwaltung, von der östen-eichischen Regierung oder von einem
Mitglied derselben alDsolut keine Rede war. Es ist auch zu envarten, daß die
sozialdemokratische Partei, welche eine internationale Partei ist, nicht eine
einzelne Regierung, nicht einzelne Minister zum Gegenstand ihrer Angriffe
machen wird, sondern daß sie die ganze Gesellschaftsordnung, welche ein ge-
schichtliches Produkt ist, angreift. Die geschilderten Ztistände bestehen nicht
nur in Osterreich, sondern in allen Ländern, in welchen die gegenwärtige
Gesellschaftsordnung herrscht, wenigstens nach der Auffassung des Herrn
Dr. Adler. Weder eine Regierung, noch ein Ministerium, ja nicht einmal
die besitzenden Klassen, gegen welche die Angriffe gerichtet werden, sind
schuld an den Zuständen. Die Verhältnisse sind ein Produkt der Geschichte,
Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg- 173
sie haben sich Ciitnickelt. und ebensowenig wie man sagen kaoin, daß die
remischen Patrizier schuld waren, wenn in Rom die Sklaverei bestand, oder
daß die Pflanzer in -Amerika schuld waren, wenn dort die Negersklaverei
bestand, ebensowenig kann ma^i sagen, daß für gewisse gesellschaftliche
Nichteiie irgendeine bestimmte Piegierung verantwortlich sei. Aber dem
Herrn Dr. Adler wird auch vorgeworfen, daß er gegen das Vaterland ge-
sprochen habe. Aber er sagte: Der arme Teufel, dem keine Scholle des vater-
ländischen Bodens zu eigen gehört, der kann scliwer eine Liebe haben zu dem
Vaterland, das ihm nichts bietet. Aber wenn die Verhältnisse besser werden,
wenn das sozialdemokratische Programm durchgeführt wird (was ich natürlich
für ganz utopistisch lialte), wenn die Welt von Milch und Honig überfließen
wird, dann werden wir -das Vaterlanö lieben. Das ist doch keine Aufreizung
zu Haß und Verachtung gegen die österreichische Regierung, das sagen die
Parteigenossen des Dr. Adler in Paris, ein anderer in London und ein dritter
in Amsterdam. Daß die derzeitige österreichische Regierung jene Zustände
nicht geschaffen hat. ist ja klar, denn die Regierungen wechseln. Daß Herr
Dr. Adler sich nicht ausschließlich mit österreichischen Verhältnissen
beschäftigt hat, zeigt ja gerade die Stelle von den Spitzbuben, die es a u c h
bei uns gebe. Er hat offenbar auch von Frankreich gesprochen und gesagt:
.Seien wir nicht Pharisäer, bei uns ist's auch nicht besser, auch bei uns gibt
es politische Korruption, nur geht man bei uns mit der Sache nicht so weit.,
l'nd daß er da recht hat, beweist ja der neueste Fall, wo sogar die Worte des
Kaisers zu faulen Börsienmanövern benützt wurden und wo die Untersuchung
doch im Sande verlaufen ist. — Dr. A'dler soll aber auch gegen die Ver-
fassung zu Haß und zur Verachtung aufgereizt haben. Aber aus dem Steno-
gramm von Schumburg ersehen wir deutlich den Zusammenhang. Er sagte:
•,Die Verfassung ist sehr •schön und gut." Nun, etwas, was man schön und
gut findet, das haßt und verachtet man nicht. Er sagte dann \veiter: „Aber
leider sind die schönen Grundprinzipien in der Ausführun^g nicht vorhanden,
die Grundsätze der Verfassung werden nicht gehandhabt." Er hat also nicht
gegen die Verfassung aufgereizt, sondern nur getadelt, daß die Verfassung
durch spätere Gesetze, durch Verordnung und hauptsächlich durch die Ver-
waltungspraxis nicht durchgeführt w-ird. Speziell die Verwaltungspraxis ist
so eine Sache; da ändert sich oft vieles, was 'man Jahre und Jahrzehnte lang
für heilig und sicher gehalten hat, im Handumdrehen. Ich erinnere da an die
Verwaltungspraxis bezüglich des § 2 des Versammlungsgesetzes. Plötzlich
erscheint eine oberstgerichtliche Entscheidung über den Begriff der «geladenen
Gäste" und die zwanzigjährige Verwaltungspraxis wird vollständig um-
geäjidcrt. Ein anderes Beispiel. Es besteht seit 1803 im Strafgesetz ein Para-
graph über das Hasardspiel. Bis vor drei Jahren ist keinem Menschen ein-
gefallen, daß das Spielen in der „blauen Lotterie" darunterfällt. Plötzlich
erklärt eine Entscheidung, daß es unter den Hasardparagraphen zu sub-
sumieren sei. Wenn man die Verwaltungspraxis mit der Verfassung vergleicht,
so sieht man, daß von dem ganzen Prinzip nur der Name übrig geblieben ist.
Wenn man aber das feststellt, begeht man keineswegs das Verbrechen der
Störung der öffentlichen Ruhe, und ich erwarte auch bezüglich dieses Punkte-
den Freispruch meines Klienten.
ITi Die Schwiu'gerichtsverhandlung- in Reichenberg .
Nun kommen wir zum Verbrechen der Religionsstörung. Sie haben
hier einen Vertreter deiienigen Konfession gehört, welchier die ungeheure
Majorität der Bevölkeiiing angehört; der mit der Absicht in die Versammlung
kam, um zu hören, ob etwas Verächtliches' über die Religion gesprochen
wurde, und der ausdrücklich erklärt, daß er nichts Strafbares gefunden habe.
Dr. Adler hält es nicht für gut, daß die Kinder in ein bestimmtes konfessio-
nelles System hineingezavängt werden. Dazu braucht man aber durchaus kein
Sozialdemokrat zu sein, u'm einzusehen, daß man kleine Kinder nicht Sachen
lehren soll, die weit über ihre Auffass^mgskraft hina/usgehen; daß es besser
wäre, wenn man in diesen jungen Jahren nicht so sehr dogmatische und
konfessionelle Dinge, sondern mehr den moralischen Gehalt, der in jeder
lleliigion ist, lehren solle.
Nun komme ich au<f das Vergehen nach § 300. Ich habe hier den
Bericht des ständigen Strafgesetzausschusses des österreichischen Abgeord-
iTetenhauses, unterzeichnet von höchst konserMativen Männern, von Hemi
Dr. Kopp, von Graf P i n i n s k i, und da ist folgendes Urteil über den § 300
enthalten: „Die vorstehende Bestimmung hat den Zweck, den berüch-
tigten, sogenannten Haß- und Verachtungsparagraphen des
gelte n d enRechtes (§ 300 St.-G.) zu ersetzen. Daß die Bestimmung des
geltenden Rechtes, unter welche jede schärfere Kritik irgend-
eines R e g i e r u n lg s a k t e s sich siubsuimieren läßt, d'en konstitutio-
nellen Prinzipien njcht entspricht und reformbedürftig
ist, dürfte allgemein anerkannt sein-" Wenn unser Parlament etwas mehr
gearbeitet und zu der Reform des Strafgesetzes gekommen wäre, wäre dieser
Paragraph schon längst umgeändert worden. Aber selbst wenn Sie diesen
Paragraphen so fassen, wie er da steht, so werden Sie finden, daß er von
der Anklage falsch angewendet wurde. Es soll durch das Wort „Bluturteil"
das Vergehen nach § 300 begangen worden sein. Dieses Wort ist nur durch
■einen einzigen Zeugen, Herrn Jacek, bezeugt; aber selbst dieser war nicht
imstande, irgendwie den Zusammenhang anzudeuten, in welchem dieses
AVort gebraucht wurde. Wenn ich so im allgemeinen sage, daß von den
österreichischen Gerichten Bluturteile gefällt werden, so sage ich nichts
Unwahres, denn manchmal werden ja in der Tat Todesurteile gefällt. Ich
W'ill damit sagen, daß man nichts schließen kann aus dem einzigen Worte,
wenn der Zusammenhang gänzlich fehlt. Es geht nicht an, wegen einer
allgemeinen Kritik über allzu große Strenge oder auch allzu große Milde
der Urteile nach § 300 belangt zu werden. Der Herr Minister Schönborn
hat vor einiger Zeit die entgegengesetzte Meinung geäußert, nämlich daß die
gefällten Urteile der österreichischen Gerichte zu milde seien- Das ist
ebenfalls eine Kritik, in welcher man ebenso eine Sclmaähung der Behörden
erblicken könnte wie in der Kritik, daß die Urteile zu streng seien. Ich
•jjaube, daß auf diese angebliche Äußerung Adlers der § 300 nicht
anwendbar ist.
Dann kommt der Reichsrat, der dadurch beleidigt worden sein soll,
daß gesagt wird, das Parlament habe infolge seiner Zusammensetzung nur
das Interesse des Großgrundbesitzes und des Großkapitals im Auge. Aber
meine Herren, das ist ja das oberste Prinzip der Wahlordnung, daß gewisse
bestimmte Interessen vertreten sein sollen. Unser Parlament ist eine Inter-
Die öchwurserichtsvei'handlung in Reichenberg 175
osscnverlretung, aber eine Volksvertretung offenbar nicht, weil ja zwei Drittel
der Bevölkerung vom Wahlrecht ausgeschlossen sind. Nun ist es ja klar, daß
ein so zusammengesetztes Parlament, daß eine solche Interessenvertretung
vor allem die Interessen dieser Kreise, des Großgrundbesitzes und des Groß-
kapitals, vertreten wird. Daß es das tut, haben wir ja in den letzten Tagen
pesehen, wo die kaiserliche Regierung einen Wahlreformantrag eingebracht
hat und damit gescheitert ist. Was, die Äußemng über das Herrenhaus soll ,
auch eine Beleidigung sein? Es ist doch bekannt, daß alle Herrenhäuser aus
höchst konservativen Personen zusammengesetzt sind, welche gegen 'Ände-
rungen der bestehenden Zustände unbedingt einschreiten. Das Herrenhaus
ist überall dazu da, um ein zu rasches Tempo der Gesetzgebung, ein zu
rasches Vorwärtsschreiten hintanzuhalten. Diese Bestimmung erfüllt das
österreichische Herrenhaus in Übereinstimmung mit den Herrenhäusern aller
Staaten. Das ist aber eine Tatsache und keine Aufreizung, keine Beleidigung-
Wenn das zu sagen nicht erlaubt wäre, dann wäre überhaupt keine Kritik
der Tätigkeit des Parlaments erlaubt. Wenn das Volk wählen soll, muß es
wissen, was der Abgeordnete getan hat, muß es die Tätigkeit derjenigen, die
gewählt wurden, beurteilen können; jeder Mann, der gewählt ist, muß sich
die Kritik gefallen lassen. Eine Beleidigung des Reichsrates aber liegt in den
Äußerungen Dr. Adlers nicht.
Es handelt sich noch um Vergehen nach § 302 und § 305. Das Ver-
sehen nach § 302 begeht, wer zu Feindseligkeiten gegen Nationalitäten oder
Klassen und Stände der bürgerlichen Gesellschaft aufzureizen versucht.
Der Herr Staatsanwalt aber substituiert auf einmal „feindselige G e s i n-
n u n g e n". Das Gesetz ist ohnehin streng genug, aber Gedanken und
Gesinnungen sind bisher denn doch noch in Österreich zollfrei. Zu feind-
seligen Gesinnungen aufzureizen ist gestattet; das muß gestattet sein,
weil sonst ein öffentliches und konstitutionelles Leben gar nicht denkbar
ist. Es müßte der Herr Staatsanwalt den Beweis führen, daß Dr- A d 1 e r
zu Feindseligkeiten, zu Tätlichkeiten aufgefordert hat; aber der Herr Staats-
anwalt hat sich darüber mit der Phrase von „feindseligen Gesinnungen"
hinweggeholfen. Wenn die Gegensätze zwischen den Besitzenden und Besitz-
losen in etwas greller Farbe geschildert werden, so konstatiert man doch nur
landläufige^ allgemein bekannte Tatsachen, aber dadurch reizt man noch
nicht zu feindseligen Taten auf.
Der Herr Staatsanwalt sprach von der bösen Absicht des Dr. A d 1 e r.
Seine wahre Absicht war, gewählt zu werden oder wenigstens eine bedeu-
tende Stimmenzahl zu erreichen. Einzelne zartbesaitete Gemüter haben die
Sachen etwas zu stark gefunden; nun, das Urteil der Menschen ist ver-
schieden. Mancher ist päpstlicher als der Papst, manchem scheint das etwas
Gewöhnliches zu sem, was dem anderen gefährlich erscheint. Ein biederer
Zeuge, ein alter Herr, Vertreter einer Gemeinde, hat uns ganz schlicht gesagt :
Ich habe nichts Besonderes gefunden, mich hat es nicht aufgereizt, ich habe
CS nicht aufreizend gefunden. Mit dem Zeugen Adolf Bergmann hätte der
Herr Staatsanwalt am besten nicht hervortreten sollen; auf einen unpar-
teiischen Menschen hat dieser Zeuge gewiß keinen günstigen Eindruck
gemacht. Wenn jemand mit einem solchen Fanatismus auftritt wie dieser
Zeuge, wenn jemand so entsetzt von einer „Brandrede" spricht und sich
176 Die Schwurgerichtsvei'handlung in Reichenberg
nicht genug verwundern kann, daß der Regierungsvertreter „solclie Reden"'
zuläßt, so kann einem Richter ein solcher Zeuge niclit imponieren. Der
Regierungsvertreter war da noch liberaler als Herr Bergmann. Da haben
wir einen anderen Zeugen, den Herrn Oberlehrer Simm, dem man gewiß
keine Parteilichkeit vorwerfen kann, und der sagt: „Den Eindruck von etwas
Strafbarem habe ich nicht gewinnen können, eine Beleidigimg des Militärs
habe ich nicht vernommen." Es ist so, wie ich gesagt habe. Man könnte
vielleicht sagen, daß es vielleicht besser wäre, die Sozialdemokraten unter
ein Ausnahmegesetz zu stellen. Aber solange dies nicht der Fall ist, stehen
sie unter dem gemeinen Recht. Was der einen Partei recht ist, muß auch
der Sozialdemokratie gegenüber billig sein. Es mag sein, daß die Sozial-
demokratie unseren bürgerlichen Parteien nicht gefällt; wir sollten sie
violleicht energischer bekämpfen, als wir es tun, aber den Sozialdemokralen
überhaupt das Wort abzuschneiden, haben wir so lange kein Recht, als sie
unter dem gemeinen Recht stehen. Herr Dr. Adler soll auch die Rechts-
begriffe über das Eigentum zu erschüttern versucht haben. Er hat gewiß als
Sozialdemokrat über das Eigentum gesprochen, aber er hat nur die Heiligkeit
des Eigentums angezweifelt. Meine Herren! Die Heiligkeit des Eigentums ist
meiner Ansicht nach doch wirklich eine Art Blasphemie, welche die kapi-
talistische Gesellschaft auf dem Gewissen hat. Heilig ist nach meiner Idee
etwas Irdisches überhaupt nicht. Was Adler sagte, daß nur das Eigentun»
heilig genannt werden könnte, das auf eigener Arbeit beruht, das wird jeder
von uns sagen. Ich schätze den Mann, der mit Fleiß und eigener Anstrengung
ein kleines Besitztum erworben hat, mehr als den, dem vielleicht ein Gewinn
in der Lotterie ein Vermögen in den Schoß geworfen hat oder der an der
Börse ein gutes Geschäft gemacht hat. Adler hat auf die Konfiskationen
im Dreißigjährigen Krieg hingewiesen. Ich als Jurist kann das nur dahin
ergänzen, daß allerdings das Eigentum im Laufe der Geschichte seine
AVandlungen gemacht hat. Wenn der alte Aristoteles in einem seiner Werke
die Sklaverei verteidigt, verteidigt er damit eine Form des Eigentums, die
uns heute den größten Abscheu einflößt. Wenn nach der Entdeckung von
Amerika Las Casas, um die Ausbeutung der einheimischen Bevölkerungr
welche die schwere Arbeit in den Zucker- und Kaffeeplantagen nicht ver-
tragen konnte, zu verhindern, auf die Idee gerät, Negersklaven einzuführen,
und wenn diese Sklaverei durch .lahrhunderte in Amerika als ein Staats-
grundgesetz besteht, so werden Sie doch selbst sagen: „Heilig war dieses
Eigentum an den Schwarzen nicht." Dr. Adler hat die Heiligkeit auch
des heutigen Eigentums bestritten; sein Standpunkt ist, daß das Privatkapital
in ein kollektives, in Eigentum der Gesellschaft übergehen sollte; das ist
eine Lehre der Sozialdemokratie, die jeder Sozialdemokrat zu vertreten
befugt ist, solange man nicht überhaupt die Verbreitung seiner Lehren
untersagt. Die verschiedenen Formen des Eigentums haben aufgehört, die
Leibeigenschaft hat aufgehört, obwohl die Großgrundbesitzer fest daran
gehalten haben, die Gesetzgebung mußte es beseitigen. Die Möglichkeit einer
Änderung in bezug auf das heutige Eigentum ist also nicht ausgeschlossen.
Es soll in allen Reden die k. u. k. Armee beleidigt worden sein. Aber
unter allen Zeugen hat sich nicht eine Stimme erhoben, welche das bewiese.
Alle stimmten darin überein, daß es sich bloß um die Institution des Mili-
Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg 177
tarismus gehandelt habe. Und diese Institution anzugreifen, ist durchaus
nicht verboten. Im Deutschen Reichstag haben die Freisinnigen diesen Mili-
tarismus aufs heftigste bekämpft und ihm sogar alle Schuld an den schlechten
Zuständen in die Schuhe geschoben. Der Militarismus saugt das Volk aus, er
bewirkt den großen Steuerdruck, das sagt nicht nur der Herr Dr. Adler,
das sagen alle Leute. Die Armeen müßten nicht so groß sein, meint er
weiters, wenn es sich bloß um die auswärtigen Feinde handelte. Der Kapi-
talismus benützt die Armeen überall zu seinen eigenen Zwecken. Aber das
weiß ja heute jeder Mensch, und wenn ich mich über etwas gewundert habe,
so darüber, daß der Herr Staatsanwalt nicht diesen Klagepunkl aus eigener
Überzeugung zurückzog. Er gibt aber von der Anklage nicht den kleinsten
Faden preis. Daher ist es an Ihnen, meine Herren Geschwornen, zu erkennen,
daß alles, was Herrn Doktor Adler zur Last gelegt wird, nichts weiter ist
als eine von seinem Standpunkt berechtigte Kritik der bestehenden Ver-
hältnisse, vielleicht mit etwas grellerer Farbe gemalt, daß aber darin eine
Verletzung irgendeines positiven Gesetzes nicht gefunden werden kann. Es
ist weder zu Haß und Verachtung gegen die Staatsgrundgesetze, noch gegen
■die Verfassung, noch gegen die Regierung, noch gegen die Religion auf-
zureizen versucht worden. Es ist weder eine Beleidigung des Reichsrates,
noch eine Schmähung der Behörden, noch eine Aufreizung zu Feindselig-
keiten gegen einzelne Stände versucht worden. Es hat weder ein Versuch
2ur Erschütterung der Rechtsbegriffe über das Eigentum, noch eine Be-
leidigung der k. u. k. Armee stattgefunden. Ich glaube, daß jeder von Ihnen
diese Überzeugung teilt, die ich als Jurist und als Mensch von diesen Sachen
gewonnen habe, und so erwarte ich von Ihnen ein einhelliges Nicht-
schuldig auf alle Fragen.
Nach der Mittagspause erhält das Wort der .Ingeklagte.
Dr. Adler:
Nach der sehr ausführlichen, ausgezeichneten Rede
meines Herrn Vertreters wäre ich vielfach der Mühe enthoben,
noch zu sprechen, und ich würde es gern vorziehen, Ihre schon
lange angestrengte Geduld nicht noch länger in Anspruch zu
nehmen, wenn ich es nicht für wesentlich hielte, außer dem rein
juristischen Gesichtspunkt auch noch einen, ich möchte sagen,
rein persönlichen Gesichtspunkt hervorzukehren, welcher bei
dieser Anklage eine Rolle spielt. Der Herr Staatsanwalt hat zur
Grundlage dieser Verhandlung eine Anklage gemacht, die mir
eine ganze Anzahl von Verbrechen und Vergehen und auch eine
Übertretung in die Schuhe schiebt, eine Anklage, von der es
mich nicht wundern würde, wenn einer oder der andere der
Herren vielleicht jetzt, nachdem wir so lange darüber sprechen,
einigermaßen überrascht wäre, daß so viele Voraussetzungen,
so viele Behauptungen aufgestellt wurden, und die so wenig
12
178 Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg
eigentlich den Kern der Sache berührt. Unter den vielen
Zeugenaussagen waren mir einige besonders wichtig; es sind
diejenigen, die gesagt haben: „Was Adler gesagt hat, das
wissen wir alle schon lange; was Adler gesagt hat, i s t
w a h r." Denn das ist es, was ich für die Dinge, die ich ge-
sprochen habe, in Anspruch nehme. Ich behaupte, daß sie durch-
aus objektiv wahr sind, so wie sie auch meine innerste Über-
zeugung sind, und daß diese Überzeugung nicht nur die meine
ist, nicht nur die meiner Partei, der Sozialdemokratie, sondern
daß sie im wesentlichen der Standpunkt der heutigen Wissen-
schaft ist. Freilich, der Herr Staatsanwalt hat sich die Sache
leicht gemacht. Er sagt: Der Mann hat ein Verbrechen be-
gangen, das der Ruhestörung; zu einem Verbrechen gehört der
„böee Vorsatz", der ist gegeben, denn — er ist Sozial-
demokrat, das genügt vollständig. Er hat weiter gesagt: Die
„böse Handlung" ist auch gegeben: Er hat — gesprochen; und
der Erfolg ist auch gegeben: Man hat ihm applaudiert, und
es wurden die Sozialdemokraten als Wahlmänner gewählt. Und
nun fragt es sich: Ist es in Österreich unter dem bestehenden
Strafgesetz erlaubt oder nicht, das sozialdemokratische Pro-
gramm zu vertreten? Ist es erlaubt, dann muß auch erlaubt sein,
was ich gesprochen habe; ist es nicht erlaubt, dann gebe ich
dem Herrn Verteidiger recht, dann mache man Ausnahme-
gesetze. Man hat allerdings mit den Ausnahmegesetzen in
Österreich und im Ausland sehr böse Erfahrungen gemacht, daß
sie zweischneidig sind, daß man im Interesse der Nicht-
aufreizung handelt, wenn man erlaubt, daß Dinge, die bestehen,
Übelstände, die vorhanden sind, beim richtigen Namen ge-
nannt werden, daß man besser tut, wenn man nicht zuungunsten
der Arbeiterschaft, zuungunsten der Sozialdemokratie das
oberste Prinzip der Staatsgrundgesetzc ändert. — Ich bin
einer ganzen Reihe von Delikten angeklagt, und ein umfang-
reiches Beweisverfahren ist vorbei. Aber eines müssen Sie mir
zugeben: B e w i e s e u wurde durch dieses Heweisverfahren
nur einzig und allein das, was ich v o n v o r n h e r e i n
nicht geleugnet habe, daß ich im Sinne des Programms
meiner l'artei gesprochen habe, das habe ich nicht geleugnet;
alle anderen einzelnen Ausdrücke, die beim Staatsanwalt be-
sonderen Anstoß erregten, wurden auch durch das Beweis-
verfahren nicht bewiesen. Der Herr Staatsanwalt hat sich in
Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg 179
eieinem Plädoyer immer auf mich berufen und gesagt: „Der
Angeklagte hält diesen oder jenen Ausdruck für besonders
verfänglich und wehrt sich deshalb dagegen." Ich muß ihm da
leider widersprechen. Ich halte diese Ausdrücke für durchaus
nicht verfänglich; ich finde aber zu meinem Erstaunen, daß die
löbliche Staatsanwaltschaft sie für verfänglich hält, und da
muß ich ihn wohl bitten, zu beweisen, was er behauptet. Aber
beweisen konnte er doch nur, was ich von vornherein ohne-
weiters zugegeben habe.
Ich habe zunächst nach Ansicht der Staatsanwaltschaft
das Verbrechen der Störung der öffentlichen Ruhe nach § G5 a
begangen. Ich brauchte mich damit nicht lange zu beschäftigen,
da ja mein Herr Verteidiger diesem Punkt sehr viel Zeit
gewidmet hat. Aber eines muß ich sagen. Ee ist doch merk-
würdig, daß der Staatsanwalt sagt: Der Angeklagte hat Übel-'
stände geschildert, er hat die soziale Not ausführlich dargelegt;
diese muß doch einen Urheber haben : wer ist schuld an
dieser sozialen Not ? Und der Herr Staatsanwalt sagt,
nicht ich sagte es : ,,Dae kann kein anderer sein als die Re-
gierung." Und wo es sich an anderer Stelle um soziale Übel-
stände handelt, wo es sich um das Vergehen nach § 305 handelt,'
daß ich das Elend der Armen, der Arbeiterschaft, geschildert'
habe, da fragt er: Wer ist schuld daran? Und er antwortet:
Ja, das müssen die besitzenden Klassen sein. Das sagt der Herr
Staatsanwalt, ich habe das nicht gesagt, ich konnte es auch nicht
sagen. Im Hainfelder Programm der sozialdemokratischen
Partei Österreichs heißt es: „Die Ursache dieses unwürdigen
Zustandes ist nicht in einzelnen politischen Einrichtungen zu
ruchen, sondern in der das Wesen des ganzen Cresellschafts-
zustandes bedingenden und beherrschenden Tatsache, daß die
Arbeitsmittel in den Händen einzelner Besitzender monopoli-
siert sind." In der Gesellschaftsordnung als(j, nicht in einer'
Staatsverwaltung, die zufällig besteht: unsere Partei ist der
Republik gegenüber ebenso in Opposition wne der ^lonarchie.
Wir geben auf die Frage, wer schuld sei an dieser Not, nicht
die Antwort: „Die derzeitige Regierung ist schuld oder ein-
zelne Fabrikanten oder Besitzende sind schuld", sondern wir
sagen, die ganze Einrichtung der Gesellschaft; und die not-^
wendige Weiterentwicklung dieser Gesellschaft wird diese Ein-
richtungen beseitigen, genau so wie sie andere Einrichtungen
12*
180 Die Schwiirgerichtsverhandlung in Reichenberg
beseitigt hat. Dr. J e n n e 1 hat Ihnen einen anderen Ge-
sellschaftszustand vorgeführt, dessen Grundlage die Sklaverei
war. Ja, waren an der Sklaverei etwa die einzelnen Sklaven-
hälter schuld? Durchaus nicht, die waren ebenso Werkzeuge,
Organe jener Gesellschaftsordnung, wie heute die Besitzenden
und Nichtbesitzenden, die Ausbeuter und Ausgebeuteten in
diese Gesellschaftsordnung eingekeilt sind. Eine einzelne In-
stitution oder gar eine einzelne Regierung zu bezeichnen als die
Ursache des Elends liegt uns ferne, das ist unserem Prinzip
gerade entgegengesetzt. Der Herr Staatsanwalt meint aber
auch, daß ich jenes Verbrechen nach § 65 a durch einige
Äußerungen über das Militär, über Patriotismus begangen habe.
Zunächst die Bemerkung, daß meines Wissens im § 65 a von
Patriotismus überhaupt nicht die Rede ist, daß es vom rein juri-
stischen Standpunkt vollständig ausgeschlossen ist, diesen Para-
graphen auf diese Stelle zu beziehen. Aber ich möchte aulJer-
dem anführen, daß meine Ausführungen nicht gegen die wahre
und echte Vaterlandsliebe gerichtet waren, sondern darauf, den
Leuten klarzumachen, daß es eine erst noch zu lösende Auf-
gabe sei, auch für die Massen der Ausgebeuteten ein Vaterland
herzustellen. Mit dieser Ansicht stehe ich nicht allein, Sie
haben einen Landsmann, einen Reichenberger, Herrn Professor
H e r k n e r, jetzt an der Technik in Karlsruhe, dem ich zu
meinem Bedauern nicht nachsagen kann, daß er Sozialdemokrat
ist. Dieser Mann hat vor einiger Zeit einen Aufsatz geschrieben:
„Die Zukunft der Deutschösterreicher", in welchem es unter
anderem heißt: „Allein würde mich jemand fragen, wen ich für
den besseren deutschen Patrioten halte, jenen der inter-
nationalen Sozialdemokratie angehörigen, sein Dasein der
Hebung seiner Genossen aufopfernden schlichten Volksmann
oder einen Exporteur, der mit unsoliden Praktiken den Ruf der
heimischen Ware auf dem Weltmarkt untergräbt, der infolge
einer gewissenlosen Lohndrückerei die Ware um ein Zehntel
des Preises ausbietet, zu welchem andere Nationen produzieren,
der allen Bestrebungen zur Organisation der Industrie mit er-
l)armungslosem Egoismus eich widersetzt — ich würde mich
keinen Augenblick besinnen und die Palme dem „Hetzer"
reichen, mag vor der Villa des „hervorragenden Industriellen"
eine noch so große und schöne schwarz-rot-goldene Flagge
wehen, und mag er selbst „gründendes Mitglied" des Schul-
Die Schwurgerichtsverhandliing in Reichenberg 181
Vereines sein. Wohl mögen in der Hitze des Gefechtee die
Leiter der Bewegung die Unbefangenheit des Urteils zum Teil
eingebüßt haben, sie mögen sich im Ton und in der Wahl der
Mittel nicht selten vergreifen, der Kern ihrer Bestrebungen,
die aufsteigende Klassenbewegung der Arbeiter, ihre Erhebung
aus unsäglichem Elend zu Wohlstand und Gesittung ist nicht
nur vom rein menschlichen, sondern auch vom nationalen
Standpunkt dankbar anzuerkennen." . . . Also auch Herr Pro-
fessor H e r k n e r scheint zu meinen, daß eine Vaterlandsliebe
nur gedeihen kann, wo eine wirkliche Heimat, ein wirklicher
Herd vorhanden ist. Und wenn Sie sich erinnern, daß bei jedem
patriotischen Fest Schiller zitiert wird:
„Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an ...
Hier sind die Wurzeln deiner Kraft!"
so möchte ich bemerken, daß Schiller diese Worte im
„W i 1 h e 1 m Teil" geschrieben hat, daß er sie dem alten
Attinghausen in den Mund legt, in dem Moment, wo sein
Volk ein freies Volk geworden ist. Und er läßt ihn sagen :
„Hier sind die Wurzeln deiner Kraft", nicht wie heute —
der Kraftlosigkeit, der E n t k r ä f t u n g, das ist das
Moment, worauf es ankommt.
Es käme noch das Verbrechen der Eeligionsstörung,
allein ich erachte dieses Verbrechen für so gründlich erledigt,
daß ich der Sache nicht ein einziges Wort widme.
Es kommen nun die Vergehen. Ich habe nach Ansicht
des Staatsanwalts das Vergehen nach § 300 begangen, und
zwar unter anderem durch einen Angriff auf die Verfassung,
was anderseits auch als Verbrechen nach § 65 a aufgefaßt wird;
man weiß nämlich in der Praxis nicht, wo der § 65 a anfängt
und der § 300 aufhört. Das kann auch ein Richter nicht unter-
scheiden, der Staatsanwalt hat es überhaupt nicht unter-
schieden. Es handelt sich angeblich um einen Angriff gegen
die Staatsgrundgesetze. Darüber war ich sehr verwundert, denn
wir Sozialdemokraten, und ich als einer der lledner und
Schreiber der Sozialdemokratie bin mit in erster Linie dazu
berufen, es gehört zu meinem täglichen Geschäft, fortwährend
auf die Durchführung der Staatsgrundgesetze mit aller Energie
zu dringen. Ich weiß nicht, ob es dem Herrn Staatsanwalt
schon passiert ist, aber wir pflegen in Wien und andernorts,
wenn uns etwas konfisziert wird in unseren Blättern, in die
182 Die Schwiirgerichtsverhandlung in Reichenberg
Lücken hinein einzelne Artikel der Staatsgriindgesetze zu
.'stellen; das tun wir nicht, um die Staatsgrundgesetze „ver-
ächtlich zu machen", das tun wir nicht, um die Staatsgrund-
gesetze zu tadeln, das tun wir, um die — Staatsanwälte zu
tadeln, um zu zeigen, daß gegenüber dem Prinzip der Staat.s-
grundgesetze, die wir verfechten, die — wir wollen uns milde
.ausdrücken — Einsicht und Praxis der Staatsanwälte eine ab-
weichende ißt. Es ist unsere Tätigkeit der Durchsetzung der
.■Staatsgrundgesetze gewidmet, und ich wäre in der Lage, eine
ganze Eeihe von Bezirkshauptmannschafton anzuführen, di«'
Gablonzer ist auch darunter, wo wir mit schwerer und harter
Arbeit den Staatsgrundgesetzen erst Geltung verschaffen
mußten. Der Herr Staatsanwalt besteht darauf, daß ich das
Wort „Wisch Papier" gesagt haben müsse. Ich habe dieses
Wort nicht gesagt, es ist nicht mein Stil. Ich habe nach aller-
größter Wahrscheinlichkeit gesagt: Die Staatsgrundgesetze,
die nicht gehandhabt werden, sind nicht so viel wert wie das
Papier, worauf sie gedruckt sind. Das soll eine Beleidigung der
Staat sgrundgesetze sein? Ist es denn ein integrierender Be-
standteil unserer Verfassung, daß sie nicht gehandhabt wird?
Ich gehe aber noch weiter. Ich habe in Orünwald das Wort
„Wisch Papier" nicht gesagt; wenn aber dem Herrn Staats-
anwalt damit ein Gefallen geschieht, so sage ich es hier und
jetzt, daß ein Gesetz, das nicht gehandhabt wird, nicht mehr ist
als ein Wisch Papier; wenn es ihm beliebt, möge er davon
Gebrauch machen, ich stelle es ihm frei.
Ich habe weiters vom Reichsrat gesprochen; ich habe
gesagt, daß das Abgeordnetenhaus die Vorteile des Großgrund-
besitzes und Großkapitals im Auge hat. Das habe ich gewiß
gesagt und auch in Schumburg, in Reichenau und in Wiesen-
thal. In den Aufzeichnungen des Herrn Pater B e r a n, der ja
tseinen Beruf verstehen mag, jedoch weder ein Politiker nocli
ein Stenograph ist, fehlt aber der Zusammenhang. Ich werde
■jene Stelle im Zusammenhang mit dem Wahlrecht besprociion
und gesagt haben: Können Sie es dann den Herren übel-
'nehmen, die im Parlament sitzen, die gewählt sind als Ver-
treter ihrer Klasse, wenn sie die Interessen ihrer Klasse ver
treten? Wenn die Arbeiterschaft einmal in der Lage sein wii-d,
.Vertreter ins Parlament zu senden, sie wird froh sein können,
iwenn diese Leute die Interessen der Arbeiter so energisch
Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg 183
vertreten wie die Herren Kapitalisten und Großgrundbesitzer
die Interessen ihrer eigenen Klasse. Das alles ist aber keine
Herabsetzung. Übrigens haben sich in bezug auf diese Dinge
andere Leute viel schärfer ausgedrückt, und Leute, die nicht
etwa Sozialdemokraten sind, also nicht böse Menschen, denen
man von vornherein alles mögliche zutraut. Da ist ein Mann,
der seinerzeit Minister in Österreich war, Herr Schäfflc,
der einer der eifrigsten und unermüdlichsten ]3ekämpfer der
Sozialdemokratie ist. Dieser sagt im ersten Band seines
Werkes „Bau und Leben des sozialen Körpers" über die Zen-
suswahlen:
„Das Vermögen gewährleistet nicht einmal die Einsicht
für vernünftige Ausübung des Wählerberufes, die intellek-
tuelle Fähigkeit zu dem Amt, welches durch Wahl übertragen
wird. Bei gewissen Wahlen handelt es sich jedoch zuerst um
den guten Willen: der Zensus aber verbürgt ganz
sicher nur die Geltendmachung der Sonder-
interessen des Besitzes, also, da einseitige
K 1 a s s e n h e r r s c h a f t in ihren weiteren Folgen äußerst
revolutionär wirkt, nicht einmal eine konservative Entwick-
lung des öffentlichen Lebens; die wenigen Zehntausende,
welche unter Ludwig Philipp Frankreichs „pays legal" waren,
haben die Revolution von 1848 als Gegenschlag ihrer Klassen-
herrschaft hervorgerufen."
Ich habe von unserem Zensuswahlsystem lange nicht so
scharf gesprochen, ich habe das Wort Klassenherrschaft, das
jedem auf der Zunge liegt, nicht ausgesprochen; denn der
Herr Staatsanwalt hat recht, wir müssen vorsichtig reden, wir
reden vorsichtig; und daß er uns das zum Vorwurf macht,
hat mich sehr sonderbar berührt. Ich leugne gar nicht, daß ich
hätte noch viel schärfer reden können; aber die Bücksicht auf
die Kommissäre, und nicht zuletzt auf den Herrn Staatsanwalt,
hat es mir auferlegt, so umschreibend, so gemäßigt, so be-
sonnen und so die Dinge nur andeutend zu besprechen als nur
möglich. Allerdings meinte der Herr Staatsanwalt, die Dinge,
die von mir besprochen wurden, hätte jeder Staatsanwalt be-
anstandet; aber er hat wohlgetan hinzuzusetzen: „Wenigstens
in diesem Sprengel". Denn im ganzen übrigen Österreich sind
diese Reden nicht beanstandet worden, obwohl sie auch zur
Kenntnis der Behörden gekommen sind. Allerdings war viel-
18-t Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg
leicht keine politisch so bewegte Zeit, keine Eeichsratswahl,
vielleicht war auch keine so „pflichteifrige" Bezirkshaupt-
mannschaft zur Hand.
Der § 302, zu dem ich nun komme, mit dem § 305 zusam-
men, das sind zwei Paragraphen, die für uns gemacht sind, die-
der Sozialdemokratie auf den Leib geschrieben wurden, bevor
es noch eine Sozialdemokratie gab. Da heißt es von Verhetzung
der Klassen untereinander — von dem Passus „Verhetzung
der Nationen" wird jetzt weniger Gebrauch gemacht — von
Aufreizung gegen Institutionen, der Familie und des Eigen-
tums. Ich muß gestehen, ich bin überrascht, wenn ich das
Stenogramm, das einzige, das existiert, das von der Schum-
burger Rede, lese, das ist für mich überraschend ruhig ge-
halten. Es heißt in der Anklage, daß durch die „krasse Hervor-
hebung des Gegensatzes zwischen reich und arm die ärmeren
Volksschichten zu feindseligen Gesinnungen noch mehr an-
geeifert werden". Worauf bezieht sich dieses „noch mehr"?
Noch mehr, als ich bereits getan habe, oder etwa gar, noch
mehr, als sie es schon sind? Daß sie es sind, ist wohl
nicht meine Schuld. Der Herr Staatsanwalt hat diesen Para-
graphen aber auch auf die Stelle angewendet, wo es heißt:
„Der Jude Rothschild verträgt sich mit den Erzbischöfen sehr
gut" usw. Was das mit dem § 302 zu tun hat, weiß ich nicht.
Ich bin kein Prophet, ich habe nur die Dinge ausgesprochen.,
die unseren Anschauungen als Sozialdemokraten entsprechen,
nämlich den Satz, daß die Klassengegensätze es sind, welche
die Politik beherrschen. Ich bin kein Prophet, und deshalb
war es mir nicht möglich, anstatt Rothschild zu sagen:
Herr von P 1 e n e r und statt der Erzbischöfe einzusetzen :
(xraf H o h e n w a r t. Ich bedaure sehr, aber wenn ich ein
Prophet wäre, hätte ich sagen können: „Der Herr von
P 1 e n e r vereinigt sich mit dem Grafen H o h e n w a r t in
dem Atomont, wo die Arbeiter das Wahlrecht kriegen eollen."
Das ist aber keine Aufreizung, das ist bloß die Konstatierung
der Tatsache, die sich wiederholen wird, solange es Klassen-
gegensätze gibt, daß nämlich alle kleinen Streitfragen,
nationale und politische, untergeordnet werden dem gemein-
samen Klasseninteresse. Die Arbeiter selbst machen es auch so;
die internationale Sozialdemokratie, was ist sie sonst als eine
Vereinigung, welche alle Unterschiede, ja manche Gegensätze
Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg 185
der Nationalität, der Erziehung unterdrückt, um den gemein-
samen Klassenkampf zu führen. Eine Aufreizung zu Haß und
Verachtung ist das aber nicht.
Ich eoll die „krasse Hervorhebung des Gegensatzes" da-
durch verübt haben, daß ich das Elend als zu groß geschildert
habe, daß ich übertrieben habe usw. Da möchte ich doch hervorT
heben, daß ich in sämtlichen fünf Versammlungen von dem
herrschenden Elend der Arbeiterklasse sehr wenig ge-
sprochen habe, sondern daß ich gesagt habe: „Über das Elend
reden wir gar nicht, denn ihr wißt das viel beseer als ich, dar-
über könntet ihr mir erzählen." Daß ich den armen Glas-
arbeitern im Gablonzer Bezirk etwas Neues über ihr Elend
sagen könnte, werden die Herren Geschwornen selbst nicht
glauben. Was aber die krasse Hervorhebung des Gegensatzes
anbelangt, so erkläre ich, daß dae, was ich gesagt habe, sehr
milde war. Sehr milde gegenüber dem, was heute die offi-
zielle Wissenschaft der Gelehrten sagt. Ich zitiere wieder nicht
„berufsmäßige Hetzer und Schürer", sondern immer und immer
nur Angehörige der bürgerlichen Wissenschaft und bürgerliche
Politiker. Auch hier kann ich wieder Professor H e r k n e r
zitieren. Ich möchte wissen, was der Herr Staatsanwalt sagen
würde, wenn ich in meiner Rede folgendes erwähnt hätte :
„Wie oft hört man den Trost aussprechen, vor dem
Tode seien arm und reich gleich! Nichts kann dem
wahren Sachverhalt mehr widersprechen. Während der Tod in
den wohlhabenden Schichten der Gesellschaft mit einem Tribut
von 26 aus 100 Kindern im ersten Lebensjahr sich begnügte,
forderte er von den Armen 50. Die Sterblichkeit von arm und
reich überhaupt aber verhielt eich wie 30:18."
Wenn diese Schrift Herkners: „Die soziale Reform
als Gebot des wirtschaftlichen Fortschrittes" dem Herrn
Staatsanwalt von Reichenberg in die Hände gekommen wäre,
er hätte sie konsequenterweise nach § 302 und § 305 kon-
fiszieren müssen, schon wegen dieser einen Stelle, und da er-
wähne ich eine Menge anderer nicht, um Sie nicht zu ermüden.
Dieser „krasse Gegensatz" ist eben keine Erfindung der
„Hetzer", sondern eine wissenschaftlich festgestellte Tatsache,
und es gibt dieser Tatsache gegenüber nur e i n Verbrechen der
Störung der öffentlichen Ruhe, das ist, sich die Augen davor
1R6 Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg
zu verschließen, anstatt mitzuarbeiten an der Beseitigung dieser
Tatsache.
Noch eine Gruppe von Äußerungen ist dem Herrn Staats-
anwalt außerordentlich gefährlich und bedenklich erschienen.
Im § 305 wird die Institution des Eigentums geschützt. Und da
meint die löbliche Staatsanwaltöchaft, ich hätte „die rechtliche
Begründung des heutigen Eigentums in Zweifel ge-
zogen und diesem Eigentum die Anerkennung von
Seiten der Sozialdemokratie versag t". Ich glaube nun nicht,
daß das heutige Eigentum oder die Herren Eigentümer sich
besonders reißen um die „Anerkennung" von Seiten der Sozial-
demokratie. Auch steht in keinem Gesetz vorgeschrieben, daß
man etwas „anerkennen" muß. Aber der Herr Staatsanwalt ist
im Irrtum ; wir „anerkennen" das heutige Eigentum gar sehr.
als eine harte Tatsache, mit der wir rechnen müssen, solange
sie besteht. Allerdings meinen wir, daß der heutige Eigentums-
begriff ebenso wie er nicht von Ewigkeit her ist, auch nicht
ewig derselbe bleiben wird; allerdings wissen wir, daß der
heutige Eigentumsbegriff wie die heutigen Verhältnisse etwa^^
geschichtlich Gewordenes sind, und geschichtlich geworden
nicht immer auf einem Weg, der mit Eau de Cologne und mit
Eosenwasser besprengt war. Das heutige Eigentum anerkennen
wir als Tatsache; es aber heilig zu sprechen, wie der
Herr Staatsanwalt von uns verlangt, dazu haben wir nicht die
geringste Veranlassung. Forschen Sie nicht in der Geschichte
des heutigen Eigentums, lassen wir diese in jenem Dunkel,
das die Götter gnädig bedecken mit Nacht und Grauen! Der
Herr Staatsanwalt meint aber, es sei eine „in einem Rechts-
staat unzulässige A n s c h a u u n g". Ich war sehr erstaunt,
heute noch einnuil diesen Satz aus dem Munde desselben
Staatsanwalts zu vernehmen, der mir vorwarf, daß ich die
Staatsgrundgesetze nicht respektiere. Die Grundlage unserer
Staatsgrundgesetze ist, daß es in einem Rechtsstaat keine
unzulässige A n s c h a u u n g gibt. Jede Anschauung ist
zulässig, nur das Ausdrücken und Betätigen unterliegt
gewissen Beschränkungen. Aber ein Staatsgrundgesetz, welches
sagt: „Die Wissenschaft und i>hre Lehre ist frei", das weiter
sagt: „Jedermann hat das Recht, in Wort, Schrift und Druck
seine Meinung innerhalb der gesetzlichen Schranken frei zu
äußern", ein solches Staatsgrundgesetz kennt keine „unzu-
Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg 187
lässige Anschauung". In einem Rechtsstaat ist nichts anderes
unzulässig als die Überschreitung des Strafgesetzes. Ich muß
an dieser Stelle etwas ziitieren, um Ihnen zu zeigen, daß auch
<iie Form meiner Ausdrücke ebenso wie ihr Inhalt durchaus
nicht übertrieben sind. Es wird an dieser Stelle der Dreißig-
jährige Krieg erwähnt und daß damals halb Böhmen an den
Adel verschenkt wurde. In B r o c k h a u s' Konver-
sationslexikon, einem bisher wenigstens auch vom
Staatsanwalt nicht beanständeten Buch, heißt es: „Auch von
solchen, die weniger beteiligt waren, wurden in Böhmen
480 Edelleute, in Mähren über 300 Personen ihres Vermögens
ganz oder teilweise beraubt. Die Güterkonfiskationen wurden
in Böhmen auf einen Wert von 30, in Mähren von 5 Millionen
Gulden geschätzt . . . Durch den Ankauf der konfiszierten
Güter bereicherten sich insbesondere Wallenstein und der
Statthalter Fürst Karl Liechtenstein. Sehr viele Güter wurden
vom Kaiser dem Erzbistum Prag, den Jesuiten und anderen
Geistlichen geschenkt . . . Von den drei Millionen Einwohnera,
die Böhmen 1618 gezählt, waren 1648 nur noch 300.000 übrig.''
Ich könnte diese Belege fortsetzen, will aber nicht weiter auf
<Iie Geschichte des Grundeigentums eingehen. Aber nicht nur
Geschichtsforscher drücken sich in dieser Beziehung sehr klar
aus. Ich weiß nicht, ob der Herr Staatsanwalt den deutschen
Philosophen Fichte für einen Sozialdemokraten hält, ich
weiß niclit, ob er ihn im Verdacht der „Störung der öffent-
lichen Ruhe" hat; aber der Mann sagt sehr „verfängliche"
Sachen und hat „x\nschauungen", die nach der Ansicht des
Herrn Staatsanwalts in einem Rechtsstaat völlig „unzulässig"
sind, was um so bedenklicher ist, als das die Anschauungen
eines der ersten Philosophen, eines der berühmtesten Namen
der deutschen Nation sind und als diese Anschauungen heute
-^eine so furchtbare Verbreitung haben, daß sich jeder für zehn
Kreuzer diese Bücher in der Reclamausgabe anschaffen kann,
was die Gefährlichkeit und Unzulässigkeit in den Augen des
^Staatsanwalts beträchtlich erhöht. Und der Mann sagt unter
anderem: „Das Eigentum kann keinen anderen Ursprung
haben als die Arbeit. Wer nicht arbeitet, hat nicht das Recht,
voD der Gesellschaft die Mittel zu seiner Existenz zu
erhalten . . . Derjenige, der nicht so viel hat, daß er davon
leben kann, darf weder das Eigentum anderer anerkennen.
188 Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg
noch Rücksicht darauf nehmen. Die G-esellschaft ist ver-
pflichtet, allen die Arbeitsmittel zu liefern."
Sehen Sie, meine Herren Geschwornen, so weit bin ich
lange nicht gegangen. Und Fichte hat ein Buch über den
„E echtsstaat" geschrieben, und man müßte also an-
nehmen, daß Fichte vom Rechtsstaat mindestens so viel ver-
stehe wie der Herr Staatsanwalt, und in diesem Buch heißt es:
„N iemand darf Überfluß haben, solange
nicht alle das Nötige haben, und das Eigentum an
Luxusgegenständen entbehrt der Grundlage, solange nicht
jeder Bürger seinen Anteil am Eigentum hat." Welch
„unzulässige Anschauungen" !
Aber ich erinnere mich eben, daß ich auch der Religions-
störung angeklagt bin, und da fühle ich mich doch verpflichtet,
dem Herrn Staatsanwalt, der ja einen anerkennenswerten Eifer
entwickelt, die Religion ja nicht „stören" zu lassen, doch zu
empfehlen, die religiösen Bücher etwas eifriger zu lesen; es
könnte ihm da allerdings passieren, daß er in diesen Büchern
Dinge findet, die mit dem § 305 nach seiner Auffassung als
„in einem Rechtsstaat unzulässige Anschauungen" kollidieren
würden. Wir reden gar nicht so scharf, wir haben ökonomisch
und geschichtlich geklärte Auffassungen; aber in dem Grund-
zug des Evangeliums: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadel-
öhr als ein Reicher ins Himmelreich", da ist der § 305 in seiner
ganzen Größe zu finden, da haben Sie die „Klassenverhetzung".
Aber die Kirchenväter haben noch ganz andere Dinge gesagt.
Was ich jetzt vorlese, ist nicht meine Anschauung, sind nicht
meine Worte — wir haben eine andere, eine geschichtliche
Auffassung der Dinge — nein, das sagen Kirchenväter,
lauter heilig gesprochene Menschen. Da sagt der heilige
B a s i 1 i u s : „Der Reiche ist ein Dieb" ; da sagt der heilige
Johann Chrysostomus: „Der Reiche ist ein
Räuber; es ist notwendig, daß eine Art Gleichheit entsteht,
indem der eine dem anderen von seinem Überfluß gibt; es
wäre besser, daß alle Güter gemeinsam wären." Der
heilige Hieronymus sagt: „Der Überfluß ist stets das
Ergebnis eines Diebstahls; wenn er nicht durch den
gegenwärtigen Eigentümer begangen worden ist, so ist er doch
begangen worden durch dessen Vorfahren." Der heilige
Ambrosius sagt: „Die Natur hat die Gemeinschaft-
Die Schwurgeiichtsverhandlung in Reichenberg 189
lichkeit eingeführt, die widerrechtliche
Besitzergreifung das Sondereigentu m." Der
heilige K 1 e m e n s sagt : „Nach Fug und Eecht muß alles
allen gehören. Die Ungerechtigkeit ist es, welche das
Sondereigentum geschaffen hat."
Sie werden zugeben: wenn Heilige so sprechen, dann ist
ein moderner Sozialdemokrat, ein ganz ordinärer „Hetzer und
Schürer", wirklich sehr gemäßigt, wenn er sagt, was ich gesagt
habe. Ich habe nur gesagt: das Eigentum ist nicht^ h e i 1 i g,
denn es ist nicht ewig, es ist eine der geschichtlichen Ent-
wicklung unterliegende Eechtsform. Die Kirchenväter
sprechen ganz anders, die sagen: das Privateigentum ist eine
Sünde; das sagen wir nicht, wir kennen die Geschichte; aber
ich glaube, daß der Herr Staatsanwalt doch gut täte, seine
Aufmerksamkeit nicht einzig und allein auf die ihm durch
Bezirkskommissäre überbrachten Reden, sondern auch auf die
Kirchenväter zu richten. An die Heiligkeit des Eigentums,
-an die TJnerschütterlichkeit der heutigen Eigentumsrechts-
verhältnisse glaubt ja heute kein Mensch mehr; da brauchen
Sie keine Kirchenväter, da nehmen Sie die Professoren; ich
will Ihnen die meisten von meiner kleinen Sammlung ersparen,
aber einen will ich noch . . .
Vorsitzender (unterbrechend): Ich habe weitgehende Geduld
gehabt, aber sozialpolitische Vorlesungen anzuhören sind wir nicht ver-
pflichtet. Ich bitte, beim Gegenstand zu bleiben.
Angeklagter: Herr Präsident! Ich bin mir bewußt,
daß ich die Geduld der Herren Geschw^ornen und auch die
Ihrige zu viel in Anspruch nehme. Aber ich bitte eines zu
bedenken ! Ich habe mich nicht auf diesen Platz gedrängt,
ich bin hieher berufen worden vom Herrn Staatsanwalt. Ich
bitte weiter zu bedenken, die Verbrechen und Vergehen, um
die es sich handelt, haben einen Strafsatz von ein bis fünf
Jahre Kerker, respektive von einem, bis sechs Monate ver-
schärften Arrests. Ich gebe zu, Herr Präsident, daß es Ihnen
scheinen kann, als sei das alles, was ich vorbringe, recht lang-
weilig. Aber wenn ich hoffen kann, den Herren Geschwornen
klarzumachen und auszuführen, daß dasjenige, was ich gesagt
habe, nicht nur meine persönliche Überzeugung, sondern die
Überzeugung der heutigen Wissenschaft sei, ist es dann
vielleicht möglich, mir einige von diesen Jahren oder einige
190 Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg
von diesen Monaten zu ersparen. Und ich richte noch einen
Appell an die Herren Geschw^ornen. Wenn Sie so lange
zugehört haben, werden Sie gewäß nichts dagegen haben, wenn
ich so wie der Staatsanwalt von Ihrer Geduld Gebrauch mache.
Es ist sehr langweilig, hier zu sitzen und mir zuzuhören, das
räume ich ein; aber bedenken Sie, es wäre für mich noch
erheblich langweiliger, wo anders länger zu sitzen.
Vorsitzender: Das kann aber unmöglich so weit gehen, um
ganze Bibhotheken zur Vorlesung zu bringen. Die Verteidigung mögen Sie
führen, wie Sie wollen, aber diese Vorlesungen möchte ich hintangehalten
haben.
Angeklagter: Es war mir daran gelegen, gerade
diesen § 305 etwas ausführlicher zu erläutern. Die Vertei-
digung hat naturgemäß dieses Prinzipielle weniger ausführen
können, und muß das mir überlassen bleiben. Ich habe gesagt,
daß niemand mehr an die Heiligkeit und Unerschütterlichkeit
des Eigentums glaubt, und da wird es mir wohl noch gestattet
sein, den Herrn Professor Adolf Wagner zu zitieren, der
kein Sozialist ist, sondern preußischer Geheimrat und konser-
vativer Reichsratsabgeordneter. Der Mann sagt in seiner
„Grundlegung zur Nationalökonomie" : „Das Privatkapital ist
in der Tat direkt und indirekt vielfach den Arbeitern vor-
enthaltener Lohn oder, allgemeiner ausgedrückt, dem wahren
Erwerber unbillig entzogenes Einkommen; ja ist vielfach,
wenn man sich an den durch die vorausgehenden Erörterungen
festgestellten richtigen Sinn des Ausdrucks hält, mit
Lassalles Wort: Fremdtum." Mit dieser Definition
gibt er sich aber nicht zufrieden und sagt in einer Fußnote:
„Selbst P r o u d h o n s »berüchtigtes« Wort: »Eigentum ist
Diebstahl« enthält einen richtigen Kern, wenn man es auf
einige der obigen Fälle beschränkt." Und so weiter.
Meine Herren, das sagt ein Professor, ja es gibt heute
niemand mehr, der daran glaubt, daß Eigentum „heilig", von
Ewigkeit her sei, so wie es heute ist. Und selbst im Staatsgrund-
gesetz steht neben der „Unverletzlichkeit des Eigentums" der
Satz, daß eine Enteignung stattfinden kann, selbst-
verständlich im Rahmen der einschlägigen Gesetze. Wenn das
Eigentum heilig wäre, da könnte eine Enteignung überhaupt
nicht stattfinden. Das Eigentum ist nicht heilig, und das ist in
meinen Ausführungen gesagt, weil es immer mehr aufhört zu
Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg 191
bestehen, weil es immer weniger Eigentümer gibt. Ich habe
vom Großgrundbesitz gesprochen und will nicht weiter von der
Geschichte der kleinen Eigentümer im Bezirk sprechen, von
der Geschichte der Keichenberger Tuchmacher, von den einmal
selbständigen Eigentümern ihrer ^Yerkzeuge, welche heute
durchaus besitzlos, Proletarier, sind. Wenn ich also gesagt,
habe, das Eigentum ist nicht heilig, so habe ich damit nur eine
Tatsache ausgesprochen, die von der gesamten Wissenschaft
anerkannt wird. Heilig wird das Eigentum nur hie und da
noch von dem einen oder dem anderen Herrn Staatsanwalt
gehalten. Aber damit habe ich durchaus nicht die „Rechts-
begriffe über das Eigentum" erschüttert. Die Sozial-
demokraten, die heute nach Millionen zählen, auch in Öster-
reich schon eine ziemliche Zahl, die wissen das sehr gut zu
unterscheiden. Wir stehlen nicht, wir wünschen nur, daß andere
nicht stehlen ; wir ,,erschüttern" diesen Eechtsbegriff nicht.
wir suchen ihn zu entwickeln, wir sind überzeugt, daß an die
Stelle dieses Rechtsbegriffes ein anderer treten wird. Aber
solange dieser Rechtsbegriff besteht, wird von uns kein Wort
gesprochen, etwa in dem Sinn: Geht hin und nehmt dem
Manne, was er gestohlen hat. Der Herr Staatsanwalt
beschuldigt mich auch, den Ausdruck „gestohlenes Kapital"
gebraucht zu haben. Ich halte das nicht für „verfänglich", aber
es ist nicht wahr, daß ich es gesagt habe; ich spreche nicht so,
nicht etwa aus Vorsicht, sondern weil es meiner wissenschaft-
lichen Überzeugung widerspricht. Der Diebstahl ist ein
privater Akt, während die Eigentumsreform, die wir anstreben,
ein öffentlich-rechtlicher Akt ist. Heute handelt es sich gar
nicht um Diebstahl, sondern um rechtliche, gesetzlich
geschützte Formen, in welchen das Eigentum der einen in den
Sack der anderen hinübergeleitet wird.
Es bleibt nur noch die M i 1 i t ä r b e 1 e i d i g u n g. Ich
glaube nicht, daß ich dem noch viel Zeit widmen soll, denn es
haben alle Zeugen einstimmig hervorgehoben, und es geht aus
den ganzen Reden hervor, daß es mir nicht um einen Truppen-
körper, sondern um die Institution zu tun war. Ich habe über-
haupt nicht so gesprochen, wie es mir der Herr Staatsanwalt
imputiert. Ich habe eine prinzipielle Rede gehalten, einen
Kommentar zu unserem Prognunm; ich habe über die Gesell-
schaft gesprochen und dann auch über das Wesen des Mili-
192 Die Schwurgerichtsverhandhmg in Reichenberg'
tarismus. Der Herr Staatsanwalt hängt sich durchaus daran,
was ihm das eine oder das andere Stenogramm sagt, daß ich
ausgeführt hätte, das Militär sei ausschließlich für die inneren
Feinde da. Wenn ich das so gesagt hätte, hätte ich nicht die
statistischen Ziffern gebraucht, die ich verwendet habe.
Überhaupt sind die hier vorgelesenen Reden sehr abgerundet;
in Wirklichkeit sprach ich viel langweiliger, brachte eine
Menge Material an Ziffern, weil ich stets den Leuten auch
einige Tatsachen geben will. Ich habe also über den Mili-
tarismus gesprochen, und daß ich auch Österreich von der Be-
sprechung nicht ausgeschlossen habe, ist selbstverständlich. Ich
habe die Institution des Militarismus als eine die Volkskraft
verwüstende hingestellt, ich habe dargelegt, daß der Mili-
tarismus darauf hinausläuft, gerade die kräftigsten Menschen
zu opfern und die schwächeren zu erhalten. Und ich habe
weiter gesagt: Diese Meinung über den Militarismus haben
aber andere Leute auch. Aber selbst wenn die äußeren Gründe
des Militarismus nicht mehr wären, könnten diese Leute den
Militarismus nicht beseitigen, weil er nicht nur gegen die
äußeren Feinde gerichtet ist, sondern auch mit dem Kapi-
talismus zusammenhängt und auch gegen die „inneren Feinde"
gerichtet ist, weil er die besitzenden Klassen gegen die Besitz-
losen zu schützen berufen ist. Das sind Tatsachen, die jeder so
:genau kennt wie ich. Und wenn der Herr Staatsanwalt das
als ein wegwerfendes und gehässiges Urteil über die Armee
bezeichnet, wenn er meint, daß sie damit verspottet wird, dann
möge er doch gefälligst, wenn der Baron Rothschild bei
«inem nächsten Streik um ein paar Kompagnien Soldaten
telegraphiert, diesen Baron Rothschild vor seine Schran-
ken ziehen wegen seines „wegwerfenden und gehässigen"
Urteils über die Armee; oder wenn, wie es vorgekommen sein
soll, nicht nur in Wien, am I.Mai überall das Militär auf-
marschiert, dann möge er doch die Fabrikanten der Militär-
beleidigung anklagen, die doch von ihrem Standpunkt im guten
Recht zu sein glauben, weil das Militär dazu da sei. Das Militär
ist ja am 1. Mai nicht notwendig; es könnte ganz ruhig zu
Hause bleiben, aber die Fabrikanten glauben einmal, das
Militär nötig zu haben. Möge doch der Herr Staatsanwalt diese
Fabrikanten anklagen wegen eines „wegwerfenden und
i?ehässigen" Urteils über die Armee. Ich weiß nicht, in welcher
Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg 193
Welt ich lebe. Mir sind die Din^e ganz klar. Wenn der Herr
Staatsanwalt von all dem zum erstenmal hört, und glaubt, daß
ich das erfunden habe, nur um die Armee zu verspotten,
dann kennt er seine Umgebung nicht, dann weiß er nicht,
welche Institutionen er in seinem Amt zu schützen hat.
Meine Herren! Ich bin mir wohl bewußt, daß ich durch
meine Ausführungen niemand von Ihnen zur Sozialdemokratie
bekehrt habe. Das war auch meine Absicht nicht. Meine
Absicht mußte sein, Ihnen klarzulegen, daß das, was ich in
meinen Reden gesagt habe, nicht nur meine Überzeugung ist,
sondern auch die Überzeugung einer großen Anzahl von
Menschen, daß sie eine durch die Wissenschaft fundierte ist,
und daß sie innerhalb der strafgesetzlich erlaubten Grenzen
sich hielten, denn Äußerungen, die weit darüber hinausgehen,
werden ohneweiters geduldet. Man sollte doch glauben, daß
einem Sozialdemokraten das noch erlaubt ist, was einem Pro-
fessor gestattet ist. Bleibt noch die „böse Absicht". Der Herr
Staatsanwalt meint : Ja, der Angeklagte hat die „böse Absicht"
gehabt, denn er gehört zur sozialdemokratischen Partei, welche
auf den Umsturz der staatlichen und gesellschaftlichen Ord-
nung abzielt. Der Herr Staatsanwalt muß sich doch gesagt
haben: Da kommt ein Mann, welcher den Umsturz der staat-
lichen und gesellschaftlichen Ordnung will, und zwar will er
das umstürzen mit seinen Reden, und der tatsächliche Erfolg
ist kein anderer, als daß die Leute applaudieren und daß dann
einige Wahlmänner gewählt werden. Da steht denn doch die
Absicht, der „Umsturz", mit dem tatsächlichen Erfolg in
ziemlich krassem Gegensatz! Was aber den vielbeliebten „Um-
sturz" anbelangt, das rote Gespenst, das Ihnen vorgemalt
worden ist, habe ich nur zu sagen: Wir Sozialdemokraten sind
mit der heutigen Gesellschaftsordnung nicht zufrieden, weil
wir die Vertreter der Klasse der Besitzlosen sind, die keine
Ursache zur Zufriedenheit haben. Wir sprechen allerdings
nicht vom Umsturz; doch ich will dem Herrn Staatsanwalt
das Wort „Umsturz" gar nicht nehmen, er mag weiter damit
arbeiten. Aber Umsturz ist ein zweideutiges Wort. Es kann
auch etwas umstürzen, ohne daß es von .iemand umgestürzt
wird; das ist der Zusammenbruch, das Zusammenfallen;
es stürzt zusammen, aber nicht weil wir Sozialdemokraten mit
nackten, unbewaffneten Händen es wünschen. Allerdings, der
13
194 Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg
Herr Staatsanwalt hat recht, die staatliche und gesellschaft-
liche Ordnung geht nach unserer Ansicht einem solchen Um-
sturz entgegen. Aber wenn er das als Motiv für meine böse
Absicht anführt, dann sage ich ihm, das haben wir gar nicht
nötig, die staatliche und gesellschaftliche Ordnung stürzt
ohnehin; und anderseits ist sie, solange sie noch steht, noch
immer zu stark, als daß sie, wie der Staatsanwalt meint, um-
fallen würde, wie einst die Mauern von Jericho, indem man
viel Spektakel macht und Reden hält. Was wir aber für unsere
Pflicht halten, ist, die Menschen auf diesen Umsturz, der ganz
unabhängig von uns eintritt, vorzubereiten, die Arbeiter vorzu-
bereiten auf die E-olle, die sie dann zu spielen haben werden,
wenn dieser Umsturz sich vollzieht.
Noch eins. Der Herr Staatsanwalt sagt an einer Stelle,
daß mit Rücksicht auf das Publikum, vor dem ich gesprochen
habe, vor den Arbeitern, die Dinge so gefährlich seien. Da
wird sehr oft der Vergleich gemacht, und es hat dies schon
einmal ein Staatsanwalt mir gegenüber getan: Ja man soll den
Pulverfässern gegeiiüber nicht mit brennendem Licht herum-
gehen, das sei furchtbar gefährlich. Darauf sagte ich: Wenn
eine Gefahr der Explosion besteht, so sind daran nur die
Pulverfässer schuld, das heißt die Masse von Elend, die ange-
sammelt ist; und wenn der Staatsanwalt diese Gefahr besei-
tigen will, dann möge er die Pulverfässer wegschaffen, nicht
aber das Licht, welches zeigt, daß die Gefahr vorhanden ist.
Meine Herren Geschwornen! Sie gehören nicht meiner
Partei an; die Arbeiterschaft, und noch weniger die Sozial-
demokratie, gehört nicht jener Klasse an, aus der sich die
Geschwornen rekrutieren. Ich appelliere gar nicht an Ihre
Objektivität; ich bin überzeugt, daß Sie objektiv sein werden
und müssen, obwohl Ihr Klasseninteresse nicht dasjenige ist,
welches wir vertreten. Sie werden es sein, weil Sie ganz genau
wissen, die Sozialdemokratie — ich stehe hier allein für sie
ein, sogar mein Herr Verteidiger, für dessen ausgezeichnete
Verteidigung ich ihm sehr verbunden bin, hat sich die Gelegen-
heit nicht entgehen lassen, sie ein bißchen abzutöten, so gut
das in aller Schnelligkeit ging, aber auch er und alle sind darin
einig — die Sozialdemokratie ist durch Verfolgungen und Ver-
urteilungen nicht aus der Welt zu schaffen. Man mag sie, wie
der Herr Staatsanwalt, als eine große Gefahr ansehen, durch
Die Schwurgerichtsverhandlung in Keichenberg 195
Verurteilungen läßt sie sich nicht beseitigen. Sie wissen ganz
gut, daß, ob Sie verurteilen, ob Sie freisprechen, das Verhältnis
zwischen Parteien, welchen Sie und ich angehören, dasselbe
bleibt, das Verhältnis zwischen den Besitzlosen und den Be-
sitzenden das gleiche bleibt. Eia Moment gibt es aber, welche.s
diesen Kampf, der sich weder durch Justiz noch durch die
Polizei beendigen läßt, wesentlich verändern kann, welches
ihn vergiften kann, verbittern kann, mehr als nötig ist, welches
diesen Kampf, der ein geschichtlicher ist, herabzieht auf das
gewöhnliche Niveau der gewöhnlichen Verfolgungen und der
Tendenzprozesse, nämlich, wenn einer großen Partei, die nach
Millionen zählt und die täglidh wächst, widerrechtlich das
Recht der freien Meinungsäußerung beschnitten wird, wenn
man sie, anstatt sie zu widerlegen, einsperrt.
Ich bin zu Ende. Ich habe hier über dreißigmal den Eid
sprechen gehört, wo es heißt: „Ich verpflichte mich zu sagen
die reine und volle Wahrheit und nichts als die Wahr-
heit." Nun, meine Herren Geschwornen, wenn wir Sozial-
demokraten auf die Tribüne steigen, so haben wir das Gefühl,
unter dem Eid zu stehen, daß wir verpflichtet sind, die reine
Wahrheit zu sagen und nichts als die Wahrheit, aber auch, und
das wird mir zum Verbrechen gemacht, die volle Wahrheit.
Die volle Wahrheit mag ja mitunter unangenehm klingen, aber
sie hört darum noch nicht auf. die W a h r h e i t zu sein.
Und damit erlauben Sie mir zu schließen.
Replik und Dnplik.
Der Staatsanwalt erhebt sich zur Replik: Der Angeklagte ist in
der glücklichen Lage, einen der glänzendsten Vertreter des Barreaus zu
seinem Verteidiger gewonnen zu haben- Da kommt es nicht auf die politische
Überzeugung desselben an, er wird mit Wärme auch für diesen Klienten
eintreten. Freilich gerät er dadurch bezüglich der Verantwortung und der
Verteidigung in einen gewissen Widerspruch mit den Ausführungen des An-
geklagten. Während dieser seine Ansichten ernst nimmt, sie mit Be-
geisterung vorträgt und sie für geeignet hält, seinem Programm neue An-
hänger zu gewinnen, muß der Herr Verteidiger diese Ausführungen gering-
schätzig behandeln, sie als Utopien hinstellen und als harmlos und unge-
fährlich darstellen. Dem glänzenden und scharfsinnigen Redner ist es
wirklich gelungen, diese Klippe möglichst zu umschiffen. Der Herr Ver-
teidiger mußte sich selbstverständlich auf die Seite der Ordnungsparteien
stellen und das Meritorische der sozialdemokratischen Anschauungen be-
kämpfen. Von diesem Gesichtspunkt aus werden die Herren Geschwornen
die Ausführungen des Herrn Verteidigers würdigen. Der Herr Verteidiger
13* •
196 Die Schwurgerictitsverhandlung in Reichenberg
hat an Stelle der inkriminierten Rede eine ganz andere Rede substituiert,
die sehr harmlos klang; leider hat aber Dr. Adler diese Rede nicht ge-
halten, sondern eine ganz andere. Was vor allem die Störung der öffent-
lichen Ruhe durch Aufreizung gegen die Staatsverwaltung betrifft, so haben
beide Redner die von Dr. Adler gehaltene Rede als harmlos hinzustellen
gesucht. Damals sagte aber Dr. AdJter den Zuhörern keineswegs, daß die
Staatsverwaltung, die Regieiung nicht schuld sei an den scheußlichen Zu-
ständen, die er schilderte. Jeder Unbefangene muß empfinden, daß es der
Rede darum zu tun war, das Gefühl für das Vaterland und für das Heer
zu unterdrücken. Das stimmt auch mit der Ansicht des Angeklagten, mit
der Internationalität der Sozialdemokratie vollkommen überein. Für die
Zustände, die er da anführte, muß nach seiner Darstellung jedenfalls die
Staatsverwaltung verantwortlich gemacht werden; wenn sie auch nicht
namentlich erwähnt ist, so kann doch nach dem Geist und wahren Sinn
niemand anderer damit gemeint sein. Der Herr Verteidiger meint, es
sei unmöglich, zu Haß u n d zu Verachtung gegen irgend etwas aufzureizen.
Ich glaube, daß das wohl möglich ist; aber wenn die Herren Geschwornen
meinen, daß n u r zu Haß oder zur Verachtung aufgereizt wurde, so steht
es ihnen ja frei, nur das eine oder das andere zu bejahen. — Bezüglich der
Religionsstörung muß ich mir doch erlauben, auf der Anklage zu beharren.
Nach der Rede des Angeklagten muß der Unbefangene den Eindruck be-
kommen, daß es getadelt wird, daß die Kinder überhaupt in einer Kon-
fession aufgezogen werden. Das richtet sich gegen die Aufnahme von
Kindern in eine Religionsgenossenschaft überhaupt, und dadurch wird in-
direkt der Religion Verachtung hezeigt. Der Herr Angeklagte hat die Stellen,
in welchen eine Verhetzung der Besitzlosen gegen die Besitzenden gefunden
wurde, selbst als das Verfänglichste, Bedenklichste gehalten, weil er ihnen
eine längere Ausführung widmete; er fühlte selbst, daß darin der schwächt^
Punkt für ihn und der starke für die Anklage liege. Juristisch ist ein-
gewendet worden, daß feindselige Gesinnungen nicht Feindseligkeiten im
Sinne des Gesetzes seien. Es ist aber nicht notwendig, daß durch eine
Schrift oder eine Rede direkt zu einer feindseligen Handlung gegen jemand
aufgereizt werde, es genügt, wenn die Anwesenden, deren Gemüt besonders
empfänglich ist, zu einer feindseligen Gesinnung gegen andere Klassen auf-
gereizt werden; wenn das Gefühl der Bitterkeit gegen die Besitzenden er-
weckt oder noch verstärkt wird, so muß die Geneigtheit zum Handeln nicht
unmittelbar auf die Rede folgen, sondern die Folgen können sich auch
späterhin bei sich ergebenden Ereignissen zeigen. Daß tatsächlich feind-
selige Handlungen gegen die Besitzenden schon vorgekommen sind, ist nicht
zu leugnen. Der Angeklagte gibt an, daß die Absicht bestand, sich erstens
als Kandidat bei den Wählern zu insinuieren und zweitens Propaganda
für seine Ideen zu machen. Die erste Absicht kam wenig in Betracht, da
er nicht Aussicht hatte, gewählt zu werden. Aber zugegeben, daß er diese
Absicht hatte, so schließt das nicht aus, daß er noch eine andere Tendenz
hatte. Die vom Gesetz geforderte böse Absicht kann aus dem Wortlaut
und dem Sinne der Rede erschlossen werden, aber auch aus äußeren Um-
ständen und dem Vorleben des Verbrechers. Und Herr Dr. Adler ist
eine Persönlichkeit, von der man sich einer solchen Handlung versehen
Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg 197
kann. Es wird als Entlastung angeführt, daß die Rede auf die Zeugen keinen
aufreizenden Eindruck gemacht hat. Ich gebe ja zu, daß vielleicht Ge-
sinnungsgenossen des Dr. Adler nicht aufgereizt worden sind. Allein auf der
anderen Seite stehen Personen, behördliche Organe, welche am besten die
Verhältnisse kennen und welche für die öffentliche Ordnung verantwortlich
sind. Wenn diese finden, daß der Eindruck ein aufreizender war, so ist
dem mehr Bedeutung beizulegen als anderen Personen, welche an der
Wirkung der Worte nicht so interessiert waren. Sie haben die Zeugen nicht
zu zählen, sondern zu wägen, ihrer Qualität nach zu beurteilen. Wenn
zum Beispiel Herr Z e 1 1 e r sagt, nach seiner Ansicht habe nichts Straf-
bares stattgefunden, so ist diese Äußerung mit großer Skepsis aufzunehmen.
Ich weiß nicht, bei welcher Äußerung des Herrn Adler oder eines anderen
sozialdemokratischen Redners Herr Z e 1 1 e r denselben unterbrochen hätte.
Ich kann mir auch nicht denken, welche Äußerung vorgebracht werden
müßte, damit sie der Zeuge Massopust für strafbar halte. Ich über-
lasse es getrost den Herren Geschwornen, die Qualität dieser Zeugen zu
prüfen.
Unter anderem meint Herr Dr. Adler, daß er nicht nötig hatte, die
Gemüter der Armen aufzuregen und ihnen ihre traurige Lage zu schildern,
die sie am besten kennen. Daß er sie nicht unzufrieden gemacht hat, ist
"selbstverständlich. Wenn es aber gefährlich ist, Unzufriedenheit zu er-
wecken, so ist es noch mehr gefährlich, die bereits bestehende Unzufrieden-
heit noch zu vermehren. Der Herr Dr. Adler meint auch, er sei nur im
Gablonzer Bezirk beanstandet worden. Er hat aber wahrscheinlich nicht
überall so gesprochen. Er verfügt über eine so lebhafte Phantasie, einen
Reichtum von Gedanken, er weiß immer neue drastische Bilder vorzuführen,
er besitzt kaustischen Humor, um seine Reden damit zu würzen, so daß
er offenbar immer etwas anderes gesagt hat. Er hat sich gerade den Reichen-
berger und Gablonzer Bezirk zur Kandidatur gewählt, eben weil hier die
Gegensätze schärfer sind als anderswo, weil da eine Großindustrie und dem-
entsprechend eine zahlreiche Arbeiterbevölkerung existiert, er mochte daher
am meisten in diesem Sprengel darauf gerechnet haben, wenn auch nicht
damals schon gewählt zu werden, aber neue Anhänger für seine Ideen zu
gewinnen und die Unzufriedenheit noch zu vermehren. Was hätte es für
einen Zweck, ihre Lage in den schwärzesten Farben zu schildern und die
Regierung und die besitzenden Klassen als die Ursache dieses Elends hin-
zustellen, wenn die Leute das bereits wissen? Aber jene Verhetzung zwischen
den Klassen und die Verschweigung der mildernden Übergänge, darin liegt
die wahre Ursache der Reden, die Tendenz, aufzureizen. Die Leute in diesem
Sprengel sind durch die Erfahrung belehrt, und daher war es nicht zu er-
warten, daß sie unmittelbar nach der Rede hingehen und Ausschreitungen
gegen Personen oder das Eigentum begehen, aber wohl konnte das Gemüt
eines in ungünstiger materieller Lage Befindlichen noch mehr zu feind-
seligen Gesinnungen gegen alle jene Institutionen erregt werden, die ihm
als Ursache seines Elends hingestellt werden. Es ist eine allgemeine Er-
fahrung, daß die Macht der Rede einen gewaltigen Einfluß auf die Gemüter
der Menschen ausübt, um so mehr, wenn sie bereits vorher empfänglich
sind. Es war oft ein neues Schlagwort, das in die Menge geworfen
198 Die Schwurgeriehtsverhandlung in Reichenberg
wurde und dann eine große Umwälzung der staatlichen und
gesellschaftlichen Einrichtungen herbeigeführt hat.
Und wer ist mehr geeignet, die Macht über die Gemüter der Volksmassen zu
gewinnen als der Herr Dr. Adler? Sie haben seine Verteidigungsrede
gehört ; mit welcher Begeisterung ist er für seine Ansichten eingetreten, und
das unter dem immerhin beengenden Gefühl, daß er vor seinen Richtern
steht; ich bitte nun, ihn sich vorzustellen in der Freiheit, als Volksredner,
und Sie werden die Macht des Wortes gewiß nicht unterschätzen. Der An-
geklagte verwahrt sich allerdings dagegen, anarchistische Gesinnungen zu
hegen und weiter zu verbreiten. Ich bin aber immerhin gezwungen, darauf
hinzuweisen, daß derselbe nach dem Urteil vom 27. Jänner 1889 wegen eines
Artikels verurteilt wurde, von dem angenommen wurde, daß er auf solchen
Bestrebungen beruhe, die auf einen gewaltigen Umsturz der staatlichen
Ordnung hinarbeiten. Das haben vier geprüfte Richter. . .
Angeklagter: Fünf.
Vorsitzender: Aber das gehört doch nicht her!
Staatsanwalt: Ich muß nun auf die Endziele der Sozialdemo-
kratie zu sprechen kommen. Es ist dies die Überführung des Privateigen-
tums an allen Produktionsmitteln in das Gesamteigentum, die Änderung des
Einzelbetriebes in den gesellschaftlichen Betrieb. Es ist nun schwer, sich vor-
zustellen, daß diese Änderung so ganz ruhig und ohne Gewalt stattfinden
wird. Der Herr Doktor hat darum wohl nicht zu ungesetzlichen Handlungen
aufreizen wollen; wäre dies geschehen, dann stände er unter einem anderen
Paragraphen hier, oder wenn Ausschreitungen stattgefunden hätten, stände
er wegen Mitschuld da. Aber es lastot auf ihm eine indirekte Mit-
schuld ander bloßen Möglichkeit, daß aus den gefährlichen
Reden und Schriften einmal wirklich etwas entstehen könnte.
Auch die Anklage wegen Beleidigung des Militärs halte ich aufrecht.
Das hohe Kriegsministerium hat als Vertretung der Armee die Zustimmung
zur Verfolgung gegeben und dieses wird wohl am besten wissen, ob das
Militär beleidigt ist. Es kommt nicht darauf an, ob ein Mitglied der Armee,
das sich als Opfer des Militarismus im Sinne des Dr. Adler betrachtet,
sich beleidigt fühlt oder nicht, sondern ob die k. u. k. Armee beleidigt ist,
und da hat das hohe Kriegsministerium als Vertretung der Armee gesprochen.
Ich erlaube mir noch, Ihnen ein P r ä ] u d i zu r t e i 1 des Schwur-
gerichts vorzulesen . . .
Vorsitzender (^unterbrechend) : Ich bitte das zu unterlassen. Das
gehört nicht hieher. Die Herren Geschwornen haben selbst zu urteilen. Der
Fall ist ihnen ganz unzugänglich, sie kennen jenen Akt nicht.
Staatsanwalt: Ich lege aber darauf ein Gewicht. Dann dürfte
man auch keine oberstgerichtliche Entscheidung vorlesen.
Vorsitzender: Das wäre nach meiner Rechtsüberzeugung in der
Tat unstatthaft; ich rate Ihnen, das zu unterlassen.
Staatsanwalt: Es wurde dort ein jüngerer Mann verurteilt. Wenn
dieser Mann, der politischen Dingen gegenüber weniger erfahren war und
die Tragweite seiner Worte nicht so beurteilen konnte, bestraft wurde, werden
Sie um so weniger Bedenken tragen, bei Herrn Dr. Adler anzunehmen.
Die Schwurgerichtsverhandlung^ in Reichenberg 199
daß er im vollen Bewußtsein, in voller Absicht gesprochen hat. Ich erlaube
mir nun noch einige Worte aus dem ^Präger Abendblatt" zur Begründung
der Ausnahmeverfügungen vorzulesen. (Liest:) «Die bedauerlichen sozialen
Strömungen, welche mit ihren gegen die herrschende Gesellschaftsordnung,
gegen die bestehenden staatlichen Einrichtungen, gegen das derzeitige Re-
gierungssystem gerichteten Tendenzen in immer weiteren Schichten der
Bevölkerung Eingang finden, ihren religiösen Sinn beirren, das Volk zur
Unduldsamkeit und Härte gegen Andersgläubige verhetzen, seine Sitten ver-
wildern, die Begriffe von Recht und Unrecht verwirren, den wechsel-
seitigen Kampf der einzelnen Klassen der mensch-
lichen Gesellschaft entfachen, das arbeitende Volk verleiten,
die von ihm angestrebten Rechte auf bessere Lebensbedingungen selbst
auf dem Wege der Gewalt zu erzwingen; das in letzterer Zeit
in den weiteren Schichten des Volkes wiederholt hervorgetretene Bestreben,
die Autorität der bestehenden Gesetze zu mißachten, gegen die Staatsgewalt
und ihre Organe bei jeder Gelegenheit zu demonstrieren, den Organen der
öffentlichen Sicherheit in der Ausführung ihres Amtes Hindernisse in den
Weg zu legen, ja selbst gewaltsamen Widerstand zu
leisten: das alles sind Erscheinungen, welche die Regierun'g veranlaßt
haben, diejenigen verfassungsmäßigen Rechte, deren Mißbrauch zu gesetz-
widrigen Ausschreitungen geführt hat, in der Landeshauptstadt Prag und
deren nächster Umgebung als dem Schauplatz solcher beklagenswerter Vor-
gänge zeitweise in ihrer Wirksamkeit zu beschränken.'" Meine Herren Ge-
schwornen! Wir finden, daß diese Anführungen für ganz Europa gelten, daß
überall die sozialistischen Bestrebungen und Ausschreitungen überhand-
nehmen. Es bleibt nicht bei Worten und Schriften, sondern es kommt zu
gewaltsamen Ausschreitungen, und sehr oft lassen sich solche Aus-
schreitungen zurückführen auf irgendeine mündliche oder schriftliche
Äußerung. Hier herrscht kein Ausnahmezustand, der Angeklagte ist seinen
ordentlichen Richtern nicht entzogen, sondern er steht vor den Geschwornen,
welche für politische Delikte kompetent sind. Die Justiz hofft, daß die
Rechtschaffenheit, die überzeugungstreue, die Charakterfestigkeit und Un-
abhängigkeit der Geschwornen sich auch in diesem Falle beweisen wird,
und hofft, daß es gelingen wird, mit den verfassungsmäßigen Mitteln
die Ruhe und Ordnung aufreclitzuerh alten, bcz i(■hungs-
^\■eise dem \' erletzten Gesetz Sühnung zu verschaffen!
Dr. Adler:
Ich werde weder auf das ..Prager Abendblatt" noch auf
die Drohung mit dem Ausnahmezustand eingehen, die der
Herr Staatsanwalt an den Schluß seiner Rede setzte, noch auf
die falschen Zitate aus meiner Rede bezüglich der Handels-
verträge. Das sind Sachen, die uns gar nicht beschäftigen
können, denn sonst brauche ich wieder einige Stunden, um die
neuen Behauptungen zu widerlegen. Aber einige Punkte muß
ich noch berühren. Der Herr Staatsanwalt war so ungeheuer
200 Die Schwurgerichtsverhandlung in Reicheuberg
freundlich, meiner bescheidenen Person eine Reihe von aus-
gesuchten Komplimenten zu machen in bezug auf meine Bil-
dung, auf meine Fähigkeit als Redner, meinen Charakter, alles
mögliche. Er hat auch gesagt, daß ich politisch sehr gebildet
sei. Ich bedauere aufrichtig, daß ich nicht in der Lage bin,
dem Herrn Staatsanwalt dieses Kompliment zurückzugeben.
Der Herr Staatsanwalt hat gesagt, es sei geschichtlich er-
wiesen, daß Schlagworte Umwälzungen bewirken. Ich be-
dauere sehr, mir ist nicht ein einziges solches Faktum bekannt.
Ich würde diesen Satz nicht herausgerissen haben, wenn er
nicht mit etwas anderem zusammenhinge, was der Herr Staats-
anwalt in seiner Replik vorgebracht hat, jetzt zum erstenmal.
Jetzt hat er das eigentliche rote Gespenst heraufbeschworen
und Ihnen gesagt, daß diese Umwälzungen ohne Grewalttaten
unmöglich sind. Er hat sogar gesagt, daß ich eine „M i t-
schuld an der Möglichkeit" solcher Gewalttaten
hätte. Es gibt meines Erachtens eine Mitschuld an Delikten;
aber eine Mitschuld an Möglichkeiten, das war dem Herrn
Staatsanwalt von Reichenberg vorbehalten, zu erfinden.
Was aber die Gewalttaten anbelangt, ohne welche die
neuen Zustände nicht herbeigeführt werden könnten, so sage
ich: Wir wissen, daß das nicht von uns abhängt, sondern von
den Herrschenden. Haben sie Einsicht, haben sie den nötigen
Verstand, um die nötigen Reformen vorzubereiten, so kann
sich der Übergang friedlich vollziehen; wenn nicht, nicht.
Aber der Herr Staatsanwalt möge sich gedulden; wie kommt
er dazu, mich heute für die möglichen Gewalttaten verant-
wortlich zu machen, die sich vielleicht einmal ergeben werden (
Ich finde, daß dieser Appell doch etwas zu weit hergeholt ist.
Er scheint zu meinen, daß die Stunde noch weit früher kommt,
als selbst wir annehmen. Gut, wenn er dann noch Staatsanwalt
ist, möge er dann die Gewalttätigen vor Gericht stellen, wenn
er kann — - aber wie komme ich dazu^
Das zweite ist das Wort „Aufreizung", um das es sich
immer und immer handelt. Es ist durch Zeugen erwiesen, daß
sie nichts Aufreizendes gefunden hätten. Aber da sagt nun der
Herr Staatsanwalt: Nein, die Zeugen, die muß man „wägen".
Ich weiß nicht, ob es statthaft ist, einen Zeugen für gewich-
tiger zu erklären als einen anderen. Ich gebe zu, daß der Herr
Hotelier Bergmann eine „gewichtigere" Persönlichkeit ist
Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg 201
als der Herr Zeuge Zeller; aber wenn er auch „gewich-
tiger" ist, so ist damit noch nicht gesagt, daß seine Aussage
vor dem Gericht schwerer ins Gewicht fallen dürfe. Was das
..Aufreizen" anbelangt, frage ich: wer wurde aufgereizt?
Ich bin hier angeklagt, die Massen aufgereizt zu haben, und
die Massen, soweit sie hier zu Wort kommen, die waren gar
nicht aufgereizt. Aufgereizt wurden der Herr Hotelier Berg-
mann, ein Amtsvorsteher etc., aber der Herr Staatsanwalt
dürfte mich doch wohl nicht wegen Aufreizung des Herrn
Bergmann vor die Geschwornen gestellt haben. Der Herr
Staatsanwalt hat sehr scharfsinnig bemerkt, daß ich deshalb
den Gablonzer Bezirk für meine Kandidatur gewählt habe,
weil dort die Gegensätze sehr -weit entwickelt und die Leute
der Sozialdemokratie zugänglich sind. Das ist wahr, gewiß,
deshalb wurde meine Kandidatur dort aufgestellt, das stimmt
vollständig. Im böhmischen Großgrundbesitz würde ich keine
Aussichten gehabt haben. Aber ich glaube nicht, daß das etwas
Belastendes ist. Ich kann nicht verstehen, warum ich ein so
furchtbar gefährlicher Mensch sein soll, bloß deshalb, weil ich
die Leute aufsuchte und zu den Leuten spreche, die meinen
Ideen zugänglich sind, weil sie unter der Not leiden, der ich
abzuhelfen versuche, so gut ich es verstehe und kann. Ja, aber
der Herr Staatsanwalt sagt, von der Kandidatur war über
haupt keine Kede. Ich gebe zu, daß die Chancen nicht be-
deutend waren, aber trotzdem war es ein ganz ehrlicher, und,
die löbliche Staatsanwaltschaft beliebe sich zu erinnern, ein
sehr erbitterter Wahlkampf, und durchaus kein erfolgloser, da
ich ungefähr ein Drittel der Stimmen bekam. Ich leugne aber
gar nicht, daß meine Rede auch eine agitatorische Absicht
hatte. Das ist selbstverständlich. Was also der Herr Staats-
anwalt vorgebracht hat, um mich den Herren Geschwornen so
viel als möglich als einen noch gefährlicheren Menschen hin-
zustellen, als er ohnehin schon getan hat, ist nichts Besonderes.
Wenn er Ihnen aber außerdem sagt, daß die Begründung des
Prager Ausnahmezustandes unter anderem den Saiz enthalte,
es hätten Freisprüche vor den Geschwornen stattgefunden und
man hätte deshalb die Schwurgerichte abschaffen müssen, so
glaube ich, meine Herren, daß dieses x\rgument bei Ihnen nicht
zieht. Ich habe bereits betont, daß ich sehr gut weiß, daß ich
nicht vor Parteigenossen als Richtern stehe. Ich weiß abei
202 Die Schwurgerichtsverhandlung in Reichenberg
auch, daß das Schwurgericht ein Gericht ist, welches weder an
vorhergegangene Urteile, noch an die Wünsche der
Prager Statthalter ei gebunden ist. Ich erwähne das
deshalb, weil die Anzeige der Gablonzer Bezirk s-
haupt mann Schaft erst an die Prager Statt-
hai t e r e i eingeschickt wurde, wie aus den Akten
hervorgeht. Wir wissen, alle, daß meines Erachtens das Schwur-
gericht es sich gefallen lassen muß, durch ein Ausnahmegestz
abgeschaft zu werden, daß es aber, so lange es besteht, rück-
sichtslos, ohne Kücksicht auf jene Wünsche zu richten hat imd.
dessen bin ich ülierzeugt, auch richtewi wird.
Dr. Jennel:
Das Gesetz spricht dem Angeklagten das Schlußwort zu, und wie ich
meine Aufgabe auffasse, kann ich nicht darauf verzichten. Der Herr Staats-
anwalt faßt das allerdings anders auf, ihm wäre am liebsten gewesen, wenn
sich Herr Dr. Adler recht ungeschickt verteidigt und einen möglichst
albernen Verteidiger gewählt hätte. Ich glaube, meine Herren, daß Sie es
dem Angeklagten doch nicht übelnehmen werden, daß er einem bescheidenen
Advokaten an Ort und Stelle das Vertrauen geschenkt hat, daß der Mann
als Jurist seine Pflicht erfüllen werde, wenn er auch nicht sein Parteigenosse
ist. Ich danke für die vielen Komplimente, die der Herr Staatsanwalt
auch an mich verschwendet hat, und ich glaube, auch Herr Dr. Adler
wird sich höflichst dafür bedanken, mit allen diesen Komplimenten ins
Kriminal hineinzukommen. Der Herr Staatsanwalt hat nachmittags nui'
wiederholt, was er morgens vorgebracht hat und kein einziges meiner
juristischen Argumente widerlegt. Ich habe Ihnen schon dargelegt, daß ich
auf dem Standpunkt stehe: Erkennt man einmal der Sozialdemokratie di'j
Rechte einer Partei zu und ihren Führern die Rechte von Führern einer
Partei, dann muß man ihr auch diejenige Redefreiheit gewähren, die allen
anderen Parteien gewährt ist, und dann muß man der Sozialdemokratie
vor allem das Recht einräumen, daß sie erstens ihr Programm entwickelt,
und zweitens agitatorisch für dasselbe eintritt. Das hat mein Klient getan,
mehr nicht. Ist das gefährlich, dann hätte man die Sozialdemokratie von
vornherein außerhalb des gemeinen Rechtes stellen sollen. Solange das nicht
geschieht, muß sie mit gleichem Maßstab gemessen werden wie andere
Parteien. Ich habe das Vertrauen, daß Sie trotz Ihrer verschiedenen Partei-
stellung ebenso wie ich zu dem Urteil gelangen werden, daß das, was Doktor
Adler gesagt hat, jene Reihe von Verbrechen, Vergehen, Übertretungen nicht
involviert. Der Herr Staatsanwalt hat mein juristisches Argument bezüglich
der Störung der öffentlichen Ruhe sehr leicht hingenommen. Ich sagte, daß
es ganz unlogisch sei, wenn der Herr Staatsanwalt dem Angeklagten unter-
schiebt, er habe dadurch, daß er das Elend schilderte, die Regierung dafür
verantwortlich gemacht und dadurch zu Haß und Verachtung aufgereizt.
Daraufhin verlangt nun der Herr Staatsanwalt, Herr Dr. Adler hätte damals
Die Schwiirgerichtsverhandlung in Reichenberg 203
der Regierung ein Wohlverhallungszeugnis ausstellen, er hätte ausdrücklich
erklären sollen, daß die Regierung daran unschuldig sei. Meine Herren, wenn
man das von einem Oppositionsmann verlangt, was sollen dann erst die
Anhänger der Regierung tun? Der Herr Staatsanwalt hängt sich an das
Wort „Wisch Papier", aber der ganze Zusammenhang, der ganze Wortlaut
ist so gründlich zerstört, daß man daraus gar keinen Schluß ziehen kann.
Der Herr Staatsanwalt hält die Klage bezüglich der Religionsstörung noch
immer aufrecht- Nun, ich glaube, die Aussage des Pater Beran, der extra
hingeht, um zu horchen, ob etwas gegen die Religion gesprochen wird, und
der nicht findet, daß Dr. Adler verächtlich über die Religion gesprochen
hat, wird den Herren Geschwornen ausreichend sein. Daß Dr. Adler
wünschte, die unverständigen Kinder sollten nicht mit Dogmen vollgestopft
werden, die sie nicht fassen können, das ist keine Verächtlichmachung der
Religion, daß ist eine Ansicht, die ja auch andere Leute hegen. Für die Be-
leidigung des Militärs hat der Herr Staatsanwalt zum Schluß als Krone
seiner Argumente darauf hingewiesen, daß das hohe Kriegsministerium die
Erlaubnis zur Anklage erteilt habe, das sei schon ein Beweis. Wo kämen
wir hin, wenn jeder Ehrenbeleidigungsklage, die jemand einbringt, schon
einfach daraufhin stattgegeben wird, weil sich der Kläger beleidigt fühlt.
Vielleicht war die vermeintliche Beleidigung gar eine Schmeichelei. Das
hohe Kriegsministerium erhält von solchen Sachen Kenntnis durch eine
Anzeige der Staatsanwaltschaft, in welcher kurz gesagt wird, dort und dort
habe der und der eine Rede gehallen, in welcher Beleidigungen der Armee
vorkämen, und es werde um die Ermächtigung zur Verfolgung ersucht. Das
Kriegsministerium gibt seine Zustimmung und überläßt es dem Staatsanwalt,
den Tatbestand zu konstruieren. Dieses Argument zieht also nicht- Zuletzt
hat der Herr Staatsanwalt das „Prager Abendblatt'" herangezogen. Sie wissen,
meine Herren, was solche offiziöse Auslassungen eines Journalisten, der im
Solde einer Regierung steht, zu bedeuten haben. Der schreibt heute für das
Ministerium Taaffe, morgen für das Ministerium Windischgrätz,
heute so und morgen wieder anders. Das ist auch ein Argument, welches
auf unabhängige, ehrenhafte Männer keine Wirkung haben kann. Diese
Auslassungen sind eine journalistische Rechtfertigung des über Prag ver-
hängten Ausnahmezustandes. Aber was kann da Dr. Adler dafür? Für
übertriebene nationale Agitation, welche den Ausnahmezustand verschuldete,
ist Herr Dr. Adler nicht zu haben, da er auf internationalem Standpunkt
steht. Was ist ihm Hekuba, was ist ihm Prag? Ich muß mich sehr kurz
fassen, um Sie nicht zu übermüden, aber ich glaube, Sie sind durch die
lange Verhandlung ohnehin in Ihrem Urteil gefestigt- Dieses Urteil kann
nach meiner festen Überzeugung nur lauten zugunsten der unbe-
dingten Freiheit der Rede, und wenn dieses Urteil in diesem Sinne
lautet, dann sehe ich ihm mit Beruhigung entgegen.
Es folgen das Resümee des Präsidenten Landesgerichtsrates
Salaschek sowie die Rechtsbelehrung an die Geschwornen.
Die Geschwornen ziehen sich nun zur Beratung zurück, die mehr als
zwei Stunden währt. Nach ihrem Wiedereintritt verkündet der Obmann der
Jury, Herr Dr. H e r g e 1, das
204 Eine Volksversammlung nach der Verhandlung-
Verdikt der Geschwornen.
Die 1. Hauptfrage, betreffend das Verbrechen der Störung
der öffentlichen Ruhe und Ordnung (§ 65 a), wird in albn
drei Absätzen beantwortet mit 12 Stimmen Nein.
Die 2. Hauptfrage, Verbrechen der Religionsstörung
(§ 122 b), wird beantwortet mit 12 Stimmen Nein.
Die 3. Hauptfrage (§ 300):
a) Schmähungen der Behörden: 5 Stimmen Ja, 7 Stimmen Nein.
b) Beleidigung des Abgeordnetenhauses: 2 Stimmen Ja, 10 Stimmen
Nein.
c) Beleidigung des Herrenhauses: 3 Stimmen Ja, 9 Stimmen Nein.
Die 4. Hauptfrage, Verleitung zu Feindseligkeiten
gegen einzelne Klassen (§ 302) : a) 7 Ja, 5 Nein; b) 7 Ja, 5 Nein.
Die 5. Hauptfrage, Erschütterung der Rechlsbegriffe
ü b e r d a s E i g e nt u m (§ 305) : 5 Ja, 7 Nein.
Die 6. Hauptfrage, Beleidigung der Armee; 12 Stimmen Nein.
Darauf verkündet der Vorsitzende das iieispiechende Urteil.
Das aus allen Bevölkerungsschichten zusammengesetzte, dicht gedrängt
den großen Saal und die Galerie füllende Publikum bricht nach dem
Geschwornenverdikt und nach dem Freispruch in laute Bravorufe aus.
Eine Volksversammlung nach der Verhandlung.
(Ans einem Feuilleton des Herausgebers dieses Bandes in der „Arbeiter-
Zeitung" vom 11. November 1922.)
F.^ war schon spät abends, als der Prozeß zu Ende war.
Und jetzt, nach dieser ungeheuerlichen körperlichen und geistigen
Leistung, nach dieser Anspannung des Gehirns und aller Nerven, nach diesem
dreitägigen Kampf mit dem Staatsanwalt und mit bösartigen Zeugen, nach
diesem Turnier, wo beständig vollste Geistesgegenwart, Schlagfertigkeit und
Gedächtnis notwendig waren, am Abend dieses dritten Tages, nachdem er
eine erschöpfende Verteidigungsrede gehalten und ein zweitesmal gesprochen
hatte, nach der mehr als zweistündigen Nervenfolter, welche die Beratung
der Ge^^chwornen für den Angeklagten mit sich bringt und die um so größer
ist, als der Delinquent seine na.türliche Unruhe beherrscht und mit dem Ver-
teidiger in der Armensünderzelle über Gott und die Welt spricht, nach der
unerträglichen Spannung, welche die Wiedereröffnung der Sitzung, das Er-
scheinen des Gerichtshofes, die wörtliche Verlesung der ausführlichen Frage-
punkie und ihre Beantwortung durch den Obmann mit sich bringen, nach
dem formalen Freispruch durch den Vorsitzenden, den Glückwünschen der
Umstehenden und dem Jubel der Zuhörer — nach all dem, was tut Victor
Aciier?
Victor Adler begibt sich zu einer Volksversammlung im
Schießhause, dem größten Lokal von Reichenberg! Die Versammlung ist auf
seinen Wunsch einberufen, um !f ü r jeden Fall für die Partei zu agitieren.
Verurteilung? — Gut, aber dann muß man sofort die anderen
Eine Volksversammlung nach der Verhandlung 205
trösten, jeder Depression der Gemüter entgegenwirken, kein Verzagen, keine
EntmuligTing aufkommen lassen! Freispruch? Um so besser — aber
dann muß man die gehobene Stimmung scfort ausnützen, um Schwankende
zur Partei herüberzuziehen, die Zuversicht der Genossen zu stärken, sie zu
erhöhter Tätigkeit anzuspo^rnen !
Das war Victor Adler!
Die Versammlung war überfüllt, die Stimmung erregt, da das Urteil'
noch nicht bekannt war. Stürme des Beifalls, da Kiesewetter den Frei-
spruch mitteilt, ein Orkan der Freude umtost Adler, da er auf der Tribüne
erscheint und zunächst auf die Bedeutung des Freispruchs für die
Partei verweist: die Verurteilung der Rechtlosigkeit der Arbeiter, ein Ver-
dikt bürgerlicher Richter über die behördlichen Schikanen und' Rechts-
beugungen gegenüber den Sozialdemokraten! Aber auch wenn eine Ver-
urteilung erfolgt wäre, fügt er hinzu, hätte sie dem Bestand und der Fort-
entwicklung der Partei nicht das mindeste anhaben können! Und dann spricht
Adler zur Tagesordnung: Das allgemeine, gleiche, 'direkte Wahlrecht, hält
nach den gewaltigen Mühen dieses Tages, dieser drei Tage, eine regelrechte
Rede für die Erkämpfung dieses Wahlrechtes! Der Schriftführer der Ver-
sammlung, ein Arbeiter namens S p o n e r, schilderte im Reichenberger
„Freigeist" die Rede mit folgenden schlichten Worten: „Adler geht dann
zur Besprechung des au^f der Tagesordnung stehenden Programmpunktes
über und erledigt sich dieser Aufgabe in einer nur ihm einzig
eigenen Art, aber auch trefflichen Kritik und brmgt zum Schluß seiner
meisterhaften, oft mit mit großem Beifall aufgenonimenen Rede nachstehende
Resolution zur Verlesung." Und er schließt den Bericht nach der Schilderung,
wie die Arbeiter das Lied der Arbeit singen und langsam abziehen, mit den
Worten: „Für die Arbeiter aus Reichenberg und Umgebung wird aber der
20. November 1893 stets ein denkwürdiger Tag bleiben."
Spät nachts kam Adler zur Ruhe; nächsten Morgen aber ging es zum
Bahnhof — zurück nach Wien! Dort war während dieser Tage viel Rück-
stand aufgehäuft, neue Arbeit, neue Sorgen warteten.
Das war er, Victor Adler!
Unermüdlich, ohne Rast und ohne Ruh', wenn es ifür die Partei, für
die Arbeiterklasse etwas zu tun gab. Und gab es nichts zu tun, dann sorgte
er dafür, daß es wieder etwas gab. Woher nahm dieser Mensch mit dem
schwächlichen, mageren Körper diese Energie, wie konnte dieser zarte Leib
diese körperlichen und geistigen Anstrengungen leisten, diese Hetzjagd mit-
machen durch die Jahrzehnte hindurch, von der Gründung der „Gleichheit"
im Jahre 1886 an bis zur Abdankung des Kaisers Karl von Habsburg?
Flammen brannten in ihm, das brennende Mitleid mit der gequälten Kreatur,
das Feuer des Idealismus und die stilleuchtende Fackel der Erkenntnis. Nur
tieifes Wissen, gepaart mit sittlichem Ernst, nur ideale Begeisterung, ver-
schwistert mit der Überzeugung von der Notwendigkeit des Sozia-
lismus und von seiner Möglichkeit, wenn es nur gelänge, die Arbeiter-
klasse zu wecken, konnte diesen schwachen Leib zu so unerhörten Leistungen
spornen. Er peitschte alle um ihn zur Arbeit für das Proletariat, weil er diese
Peitsche beständig gegen sich selbst schwang. Er konnte alles von seinen
Genossen verlangen, weil er sich selbst die Ruhe versagte, dem Proletarial
206 Für die Rechte der tschechischen Arbeiter in Wien
alles opferte, sein Wissen, sein Können, seine Ruhe, seine Tage und seine
Nächte, seinen Geist und seinen Leib, sein Leben vom ersten Tage an, da
er zu ihrem Segen in die Reihen der damals verachteten Arbeiterklasse trat.
bis zu dem elften November, wo er wußte, daß die Habsburger hinausgejagl,
die demokratische Republik erobert sei.
Für die Rechte der tschechischen Arbeiter
in Wien.
Das Reichsgericht hatte im Jänner 1894 eine Entscheidung gefällt, die
den nichtdeutschen Minderheiten — und zwar handelte es sich vor allem um
die Tschechen in Wien — 'das Recht absprach, sich in Versammlungen und
Vereinen der Muttersprache zu bedienen. Die tschechischen Sozialdemokraten
hielten in Wien Protestversammlungen ab, aber auch die deutschen Sozial-
demokraten veranstalteten gegen diese Einschränkung des Versammlungs-
rechtes der tsichechi&chen Arbeiter am 28. Jänner beim Schwender in Rudolfs-
heim eine große Protestversammlung, wo Schuhmeier und Adler
sprachen. Schuhmeier wurde wegen Releidigung der Regierung, Adler wegen
Beleidigung des Reichsgerichts durch die Worte: „Das Reichsgericht hat
ja zufällig auch vernünftige Urteile gefällt . . ." angeklagt.
Am 17. März standen Adler und S c h u h m e i e r wegen Übertretung
des § 491 und des Art. V des Gesetzes vom Jahre 1862 vor dem Bezirksgericht
Rudolfsheim.
Beide Angeklagte gaben zu, ähnliche Worte gebraucht zu haben, kon-
statierten aber, daß sie vollständig aus dem Zusammenhang gerissen seien.
So habe Schuhmeier nicht 'die Regierung als solche eine brutale ge-
nannt, sondern habe auf die zahlreichen und festgestellten Gesetzes-
verletzungen hingewiesen, die ohne Zweifel Brutalitäten gegenüber der Ar-
beiterschaft darstellen, von der Regierimg aber nicht gehindert werden.
Adler erklärt, eine Beleidigung des Reichsgerichts liege
nicht vor, er habe nur die Exekutivbehörden auf jene
sehr vernünftigen Urteile des Eeichsgerichts in
bezug auf die Freizügigkeit hingewiesen, welche von den
Behörden regelmäßig unbeachtet blieben. Der Regierungs-
vertreter habe ihn mitten in dem Satze unterbrochen, der lauten
sollte: „Das Reichsgericht hat ja zufällig auch einige vernünf-
tige Urteile gefällt, in einer Sache, die für uns große Wichtig-
keit hat, und hat entschieden, daß die Bezirkshauptmann-
schaften nicht das Recht haben, streikende Arbeiter als »be-
stimmungslos« abzuschieben." In diesem Sinne hätten auch
seine weiteren Ausführungen gelautet.
Der Verteidiger Dr. Richard Ulbing konstatierte, daß die Äußerungen
Schuhmeiers absolut nicht unter den Paragraphen der Ehrenbeleidigung von
Behörden zu bringen seien. Insbesondere sei es mehr als zweifelhaft, ob
Die Bhrenbeleidigungsklage eines Gesinnungslumpen 207
überhaupt die Regierung als eine Behörde im Sinne dieses Paragraphen auf-
zufassen sei. Er führte weiters aus, daß aber, wenn hier überhaupt Delikte
vorlägen, dieselben nicht unter diesen Paragraphen zu subsumieren seien,
sondern als Vergehen nach § 300 aufzufassen und somit von den Geschwornen
abzuurteilen wären.
Der Richter Dr. Schober nahm eine beleidigende Absicht beider Redner
ohnewciters an und verurteilte Adler und S c h u h m e i e r zu je einem
Monat Arrest. Von beiden Verurteilten wurde die Berufung gegen Schuld
und Strafe eingebracht (^Arbeiter-Zeitung"' Nr. 23 vom 20. März 1894).
Die Berufungsverhandlung.
Bei der Berufungsverhandlung vor dem Landesgericht am 19. Mai 1894
legte der Verteidiger Dr. U 1 b i n g wieder dar, daß es, falls überhaupt ein
Delikt vorliege, was nicht der Fall sei, keineswegs die Übertretung der Ehren-
beleidigung sein könnte, da nicht die persönliche Ehre, wohl aber Entschei-
dungen der Behörden und ihre Amtsführung Gegenstand der Kritik waren. Die
Angeklagten wurden ihrem ordentlichen Richter, nämlich dem Schwurgericht,
entzogen, offenbar weil dort ein Freispruch nicht ausgeschlossen sei. Betreffs
der Äußerung Adlers sei 'durch den Zeugen B r ü g e 1, der die Rede steno-
graphierte, nachgewiesen, daß der vom Regierungsvertreter angegebene Wort-
laut unrichtig sei.
Adler
konstatierte, daß er in der inkriminierten Stelle nicht das
Reichsgericht, von welchem er sagte, daß es auch sehr vernünf-
tige Urteile gefällt habe, kritisiert habe, sondern die exeku-
tiven Behörden, von welchen er nachwies, daß sie sich an di.ese
Urteile nicht kehren.
Nach sehr kurzer Beratung bestätigte der Gerichtshof (Landes-
gerichtsrat Dr. G rohmann) das erstrichterliche Urteil. (,, Arbeiter-
Zeitung" Nr. 41 vom 22. Mai 1894.)
Die Ehrenbeleidigungsklage eines Gesinnungs-
lumpen.
Emil K r a 1 i k, der geniale Humorist der ,, Arbeiter-Zeitung",
hatte im Juli 1894 im „Vorwärts", Fachorgan der Buchdrucker, einen Artikel
über Gewerkschaften und Partei veröffentlicht und dabei von „geistigen
Lumpenproletariern" gesprochen, die sich den Gewerkschaften aufdrängen
und in Fachblätlern in der „radikalsten" Weise schreiben, während sie in
anderen Fachblättern „besonnene Mäßigkeit" verfechten. Darauf nannte die
„Arbeiter-Zeitung" (Nr. 60 vom 27. Juli 1894) den Namen des Betreffenden
und bezeichnete ihn als „einen Lumpen, der nicht nur mit dem Sozialismus
und der Gewerkschaftsorganisation Geschäfte macht, sondern auch mit
anderen Gesinnungen" und als „Allerweltstintenkuli". Darauf erstattete er
208 Der unbefangene Holzinger
die „Anzeige" beim Landesgericht „behufs Erhebung der Anklage auf Ehren-
beleidigung". Doch kam es nie zur Verhandlung, obwohl sich Adler sofort
als Verfasser des Artikels bekannte . . .*) Der Mann hat schließlich ein
schreckliches Ende genommen: er wurde Redakteur der christlichsozialen
„Reichspost" und bekam das päpstliche Ehrenkreuz pro ecclesia et pontifice,
für Kirche und Papst ... ' '
Der unbefangene Holzinger.
Am 20. August 1894 fand vor dem Erkenntnissenat des Wiener Landes-
gerichts die Verhandlung gegen Dr. Adler als Herausgeber der
„Arbeiter-Zeitung" wegen Vergehens nach § 24 Pr.-G. statt; dieses Delikt
sollte dadurch begangen sein, daß der Angeklagte die zweite Auflage
der Nummer 45 der „Arbeiter-Zeitung" hergestellt hatte. In jener Nummer
waren zwei Notizen: „Heiteres aus Galizien", behandelnd die Eröffnung der
Lemberger Landesausstellung, und „88 Monate schweren Kerkers", behandelnd
die Verurteilung von vierzig streikenden Tischlern durch den Herrn Vize-
präsidenten Holzinger, weiters zwei Artikel, der eine über die Abschieds-
rede 'des Chlumetzky im Abgeordnetenhaus, der andere über die Be-
handlung der Vorgänge von Falkenau und Ostrau im Parlament, konfisziert
worden. Es war in jener einige Monate dauernden Zwischenzeit, in welcher
einem Erlaß des Justizministers gemäß nicht die einzelnen kon-
fiszierten Stellen, sondern die Artikel, in welchen der
Redakteur die konfiszierten Stellen zu suchen habe, vom Staatsanwalt
angegeben wurden. Es war nun dem Dr. Adler nicht gelungen, die Gedanken
des Staatsanwalts vollständig zu erraten, und es passierte ihm, daß in einigen
dieser Artikel einzelne Sätze Aufnahme fanden, welchen der Staatsanwalt
die Konfiskation zugedacht hatte. Die zweite Auflage wurde nun abermals
konfisziert und zugleich die Anklage erhoben, es sei durch ihre
Herstellung der Inhalt einer mit Beschlag belegten Druckschrift veröffentlicht
worden.
In der Voruntersuchung verantwortete eich
Dr. Adler dahin, es sei das Delikt nach § 24 des Preß-
gesetzes weder subjektiv noch objektiv gegeben. Subjektiv
nicht, w^eil die einzige Absicht bei der Herstellung einer zweiten
Auflage die sei, alles zu entfernen, was wieder eine Konfis-
kation herbeiführen könne; das müsse notwendigerweise be-
absichtigt werden, weil die zweite Auflage nicht wie die erste
vor den Händen der Sicherheitsbehörden zu bergen möglich
sei, sondern regelmäßig, falls sie konfisziert werde, ziemlich
dem ganzen Umfang nach weggenommen werde. Objektiv sei
*) Vergleiche 1. Heft „Victor Adler und Friedrich
Engels". Seite 122: Brief Adlers vom 22. Jänner 1895.
Der unbefangene Holzinger 209
der Tatbestand nicht ^e^eben, weil die zweite Auflage eine
vollständig' neue Nummer, die Artikel durch Wegdassunu der
einzelnen Stellen vullständig neu und deshall» als solche /u l«e-
handeln seien.
Es sei auch bei früheren Gelegenheiten vor jenem
iMinistererlaß, wo die zweite Auflage wieder konfisziert wurde,
niemals eine Anklage auf § 24 geführt worden.
Die Verhandlung fand' unter dem Vorsitz des Vizepräsidenten Ritter
V Holzinger statt. Vor Verles'ung der Anklageschrift erbat sich der An-
geklagte das Wort zur Stellung i1es prozessualen Antrages, die Verhandlung
zu vertagen.
Adler
begründete diesen Antrag folgendermaßen: Die Vorladunti' sei
ihm während seiner Abwesenheit von Wien zugestellt worden
und er habe nicht gewußt, w e 1 c h e m E r k e n n t n i s s e n a t
die Verhandlung zugewiesen sei. Ich habe durch meinen Ver-
treter, Herrn Dr. Karl Ornstein, die Vertagung der Verhand-
lung angestrebt, die aber vom Vorsitzenden nicht bewilligt
wurde. Ich habe erst am gestrigen Tage erfahren, daß Herr
V. Holzinger Vorsitzender des Senats ist. Ich halte es nun für
mein Eecht und meine Pflicht, die Ablehnung des Vor-
sitzenden zu erwirken, weil im Sinne des § 72 der Straf-
prozeßordnung Gründe vorliegen, welche geeignet sind, die
volle Unbefangenheit des Abzulehnenden i n
Zweifel zu ziehen. Ich weiß wohl, daß die Straf gesetz-
ordnung verlangt, das Gesuch an das Oberlandesgericht um die
Ablehnung müsse 24 Stunden vor Beginn der Verhandlung
eingebracht werden. Da dies aber aus erwähnten zufälligcji
Ursachen nicht möglich war, ersuche ich den Gerichtshof um
die V e r t a g u n g der Verhandlung, um die Frist zu gewinnen,
das Gesuch rechtzeitig einzubringen. Die Zweifel in die
Unbefangenheit des Vorsitzenden Ritter v. H o 1-
zinge r sind aber durchaus begründete; das Blatt, welches in
Frage steht, die „Arbeiter-Zeitung", und insbesondere ich
selbst haben wiederholt die richterliche Tätigkeit des Herrn
H o 1 z i n g e r einer scharfen, aber durchaus be-
gründeten Kritik unterzogen. Insbesondere habe
ich in der Nummer 3 der „Arbeiter-Zeitung" vom 9. Jänner
1894, welche ich dem Gerichtshof zur Einsicht übergebe, in
dem Artikel, betitelt „Herr Ritter v. H o 1 z i n g e r",
14
210 Die Schüsse in Falkenau und Ostrau
dessen Tätigkeit so austührlich bebandelt, daß icb einen Zweifel
in der Befangenheit des Richters nicht haben kann. Diese
Nummer ist amtlich ;?ur Kenntnis des Herrn Präsidenten ge-
kommen, überdies liegt sie vor.
Der Slaalsanwalt murmelte den Satz, er finde Iceinen Grund zur Ver-
tagung. Der Gerichtshof zog sich zurück und verkündete nach längerer Be-
ratung, der Antrag auf Vertagung sei abgelehnt. Herr v. Holzinger
hat also gefunden, es sei ihm nicht erwünscht, dem Angeklagten die Gelegen-
heit zu geben, das Oberlandesgericht über seine Unbefangenheit entscheiden
zu lassen. Nach Verkündigung dieser Ablehnung t' n t f e r n t e sich
der Angeklagte und überließ die Verteidigung seinem Vertreter Doktor
Ornstein. Dieser machte die bereits angeführten Momente geltend und
beantragte zur Feststellung der Tatsache, daß nicht die Artikel in ihrem ge-
samten Umfang als konfisziert angegeben wurden, sondern nur einzelne Sätze
ihres Inhalts, die Vorladung des Herrn Staatsanwalts Dr. Hawlath.
-Auch dieser Antrag wurde vom Gerichtshof abgelehnt und der Angeklagte
zu 50 fl. Geldstrafe verurteilt. („Arbeiter-Zeitung'" Nr. 68 vom
2-i. August 1894.)
Die Schüsse in Falkenau und Ostrau.
Die Bergarbeiter im Falkenauer und Ostrauer Kohlenrevier waren
Anfang Mai 1894 in den Streik getreten, um die A c h t s t u n d e n s c h i c h t
zu erringen. Mit allen Mitteln der Einschüchterung und Unterdrückung
arbeiteten alle staatlichen Behörden Hand in Hand mit den Grubenbesitzern
Bothschild, Gutmann, Wilczek, Larisch, um den Streik zu brechen. Am
3. Mai schössen Gendarmen, die von der Werksleitung mit Bier und Wein
traktiert worden waren, in Bergarbeiter, die ruhig von einer Versammlung
am Berg Han bei Falkenau heimkehrten, wo sie beschlossen hatten, die
Arbeit wieder aufzunehmen, von rückwärts hinein; vier Tote,
neun Verwundete blieben liegen. Am 9. Mai schössen Gendarmen beim
Dreifaltigkeitsschacht in Polnisch-Ostrau auf die Bergarbeiter, die wie jeden
Tag gekonunen waren, um nachzufragen, ob sie acht Stunden oder zwölf
Stunden arbeiten müßten, und umkehrten, als die Achtstundenschichl abge-
lehnt wurde; 2 2 Bergarbeiter blieben auf dem Schlachtfeld, zehn
tot, zwölf mehr oder minder schwer verwundet. Ein Aufschrei der Ent-
rüstung entrang sich der Brust der Arbeiterschaft. Im Parlament brachte
P e r ne r s t o r f e r einen Antrag auf gesetzliche Einführung des Achtstunden-
tages im Berghau ein, der „natürlich" von Regierung und Parlament
abgelehnt wurde. In Wien fanden am 21. Mai zwölf sozialdemokratische
Vorsammlungen mit der Tagesordnung „Das Koalitionsrecht und die Regie-
rung" statt, die Protest gegen die Vergewaltigung des Koalitionsrechtes in
Ostrau und Falkenau, aber auch in Wien bei den Streiks der Maurer und
Tischler erhoben und den Achtstundentag für die Bergarbeiter verlangten.
Fünf von diesen zwölf Versammlungen wurden von den Regierungsvertretern
aufgelöst, darunter auch die Versammlung in Ottakring, wo Dr. Adler
Die Schüsse in Faikenau und Ostraii 211
^jprach. Wegen seiner Rede wurde gegen ihn die strafgerichtliche Inlei-
suchung eingeleitet.
Am 18. Dezenüjer stand Adler vor dem Bezirksgericht Ottaknng,
augeklagt der Ehrenbeleidigung (§ 491 u. Art. V, Gesetz vom Jahie 1862).
Adler hatte seine Ausführungen mit der Erklärung begonnen, daß er das
Vorgehen der Behörden im einzelnen kritisieren werde, aber sich dagegeii
verwahre, einzelne Beamte oder Behörden persönlich beleidigen
zu wollen; es könne bei der Heiklichkeit des Themas passieren, Anordnungen
oder Entscheidungen von Behörden im Sinne des § 300 „herabzuwürdigen",
aber die „Ehre" der Betreffenden komme nicht ins Spiel, und er verwahre
sich dagegen, wieder vor ein Bezirksgericht wegen Ehren-
beleidigung gestellt zu werden. Dieser Protest hatte nichts genützt, denn
wenn auch die Auflösung der Versammlung wegen § 300 erfolgte und eine
Untersuchung gegen den Redner auf Grund desselben Paragraphen eingeleitet
wurde, fand es das Wiener Landesgericht, wie es scheint, denn doch nicht
geraten, es «bei den Wiener. G e s c h w o r n e n zu probieren'", und wählte
den bequemen und sicheren Weg des Artikels V und des Bezirks-
gericht s,
Der staatsanwaltschaftliche Funktionär hatte eine Reihe von Stellen
der Rede inkriminiert, in welchen der Angeklagte die Vorgänge von Ostrau
und Faikenau geschildert, die Unterdrückung des Versammlungs- und Vereins-
rechtes in den Bergarbeiterbezirken kritisiert und die Massenverhaftungen
bei den Wiener Arbeitseinstellungen als ungesetzlich bezeichnet hatte.
Für alle diese Äußerungen bot bei der Verhandlung
Adler einen umfänglichen Wahrheit .s b e w e i s an. und
Dr. Orn stein, welcher zufällig im Laufe der Verhandlung
er.schien und die Verteidigung übernahm, .-^teilte zu diesem
Zweck eine Eeihe von Anträgen, darunter die Reiiuisitiun einer
A u f f o r d e r u n g, worin vom Wiener Polizeipräsidium allen
unterstehenden Behörden ein gesetzliches Vorgehen für die
Zukunft zur Pflicht gemacht wird. Auch in bezug auf die in-
kriminierten Äußerungen: ..In den Wachstuben werden mehr
Arbeiter geprügelt als auf der IStraße" und ..Ks wurden in Wien
Dutzende von Arbeitern ohne jeden Grund verhaftet" wurde
der Wahrheit.sbeweis angeboten. Weiters war eine Eeihe von
Stellen inkriminiert, welche mit Bezugnahme auf die früher
angeführten einzelnen Tatsachen eine Kritik dos Vorgehens
der Behörden enthielten.
Der Pichter. Adjunkt P a u ni g ;i r t e n. stellte sich
auf den Standpunkt, der § 491 verfolge' Beleidigungen ohne
Anführung bestimmter Tatsachen. Es seien also alle jene
Stellen der Rede, in welchen die Tatsachen angeführt wurden,
auszuscheiden und der angebotene Wahrheitsbeweis als gegen-
14*
212 Die Schüsse in Fallcenau und Ostrau
standslos abzulehnen. Wegen jener Stellen der Rede aber, in
welclien er sieb l:)loß auf die früher antreführten Tatsachen
berufen liabe. ohne sie nochmals anzuführen, wurde Adle r
zu eine ni M o n a t Arrest verurteilt, woliei der Kieliter
als mildernd annahm, daß sieli A d 1 e r infolge der Ereignisse
von Ostrau in großer Erregung befand. Die Stellen, welche
eine Beleidigung öffentlicher Behörden „ohne Anführung be-
stimmter Tatsachen'" entbaltcui soll, lauten: „Ein schiefer Blick
streikender Arbeiter wird von der Behörde schon überwacht.
Wer nicht verhaftet werden wolle, dürfe sich in der Xiiiie
einei- Werkstätte überhaupt nicht blicken lassen." „Die Ab-
geordneten sind wohl gegen den Terrorismus der Arbeiter, aber
nicht gegen den Terrorismus der Behörden aufgetreten;"
„Nichts ist empörender, nichts greift uns so ans Herz, als
wenn man in die Menge hineinpfeffert, wenn man Proletarier
wählt zum Probieren der Mannlichergewehre." Endlich: „Die
Arbeiter werden zusammengefangen wie die Hunde und in den
Arrest gebracht, sie werden abgeschoben und sie werden nieder-
geschossen, und das alles, wie Oraf Wurmbrand sagt, um die
»Freiheit der Arl)eit« zu sichern." Der Freispruch betraf zehn
Stellen.
Der Verteidige)' meldete den Eekurs und die Xicli-
t i g k e i t s b e s c h w e r d e gegen das Urteil an, ebenfalls
der 'Staatsanwalt gegen den freisprechenden Teil des I^rteils.
Die Berufungsverhandlung.
Am 2. März 1895 fand vor dem Landesgericht die Bt-riifirngsverhaAid-
lung statt. Vorsitzender war Landesgericlitsrat Dr. (t roll mann, Dr. 0 rn-
stein vertrat den Angeklagten.
Dr. Adler
blieb bei seiner Verantwortung und wies nach, daß er sicli in
jedem Satz seiner Rede auf bestimmte Tatsachen bezogen und
aus denselben nur die logischen Schlüsse gezogen habe.
Die Staalsanwaltschafl erklärte gleich zu Beginn der Yerhandluntr.
daß sie die ihrerseits erfolgte Berufung nur bezüglich eines Punktes aufrecht-
halte, die übrigen neun aber fallen lasse. Hierauf nahm das Wort zu folgenden
Aijsführungen
Adler :
Ich bekenne mich als nichtschuldig. Die Versammlung
wurde infolge der ganz konkreten Vorgänge in Falkenau und
Die Schüsse in F'alkenau und üstrau -13
Ostrau, chmii während des Tischler- und Gasarbeiterstreiks ein-
berufen. Sie bezweckte einen öffentlichen Protest gegen
die llaudliabun^ des Koalitionsrechtes in einzelnen .:!,• a n z
b e s t i ni m t e n Fällen. Ich habe in jener Kede «leich anfangs
gesagt, daß ich nicht .»beleidigen", sondern Tatsachen vor-
bringen werde. Es ist O-epflogenheit, daß die l\ritik der Be-
hörden, welche, wenn sie das ^laß überschreitet, v o r d i e
G e s c h w I) r n e n bringen muß, äh Beleidigung derselben
angesehen und dem Bezirksgericht übergeben wird. Ich habe
deshalb in diesem Tiill in der ersten Verhandlung eine Keihe
von Wahrheitsbeweisen angeboten. Dies wurde abgelehnt, und
ich wurde bezüglich aller Stellen, welche ich mittels Wahr-
heitsbeweises erhärten wollte, freigesprochen, aber wegen der
allgemeinen Stellen verurteilt. Das Gericht sagt also: Wii
lassen uns auf einen Wahrheitsbeveis unter keiner Be-
dingung ein, sondern sprechen ihn lieber in den betretteu-
den Tunkten frei; wo er abei- die Schlüsse aus den Tatsachen
ziehen will, da verurteilen wir und umgehen auf diese Weis.-
den Wahrheitsbeweis. Dadurch weiter, daß die Belation des
Regierungsvertreters mich in I^riisens anstatt, wie es tatsäch-
lich der Fall war, im Perfektum sprechen ließ, gewinnt alles
den allgemeinen Charakter, den es tatsächlich nicht hatre.
Wenn ich beispielsweise sagte: „Ein schiefer P)lifk des Ai-
iteiters genügte, um seine Arretierung zu \ (Manlassen". so
liabi' ich spezielle, in der Vergangenheit voigefallene Tat-
sachen im Auge gehabt. Wüi-de ich aber sagen: ..Ein schiefer
Blick des Arbeiters genügt.. .", dann ist dem Ausspruch ein
verallgemeinernder Charakter gegeben und das Substrat zu
einer A'nklage konstruiert. Adle r wendet sich dann zu den
übrigen Punkten, bezüglich deren er \erurteilt wurue, weist
nach, daß das Wort ., Tcrrorismus der Behörden" auf die
Gendarmerie gemünzt war, für deren Vorgehen es noch d;e
mildeste Bezeichnung sei. Der Ausspruch: ..Die Arbeiter wur-
den zusammengefangen wie Hunde", sei ebenfalls nicht zu
stark angesichts des Vorgehens der Polizei, die bei den Str-üks
auf die nichtigsten (Jründe hin unzählige Arbeiter verhaftete,
deren Fnschuld sich dann vov dem Biditer herausstellte. Der
Staatsanwalt hat die Berufung bezüglich ^ämtlicher Punkte
mit Ausnahme des Punktes der ursprünglichen Anklage, wo
es heißt : ..\) i e B e h ö i' d e n v f r < ü n d igen sich n i c h t
214 Die Schüsse in Falkenau und Ustrau
bloß an d 0 in TJ e c li t, sondern auch an dem Leben
der Ar h e i t e r". fallen gelassen. Und doch hatte ich sehr
wohl ein Recht, diesen Satz zu sprechen im Hinblick auf die
Versuche der Behör<^en, die Organisierung der Arbeiter zu
verhindern. Denn wo die Arbeite]- nicht organisiert sind, wo
es ihnen nicht möglich wird, bessere Lebensbedingungen zu
erringen, da ist ihre und besonders ihrer Kinder Mortalität,
wie die Statistik nacliweist, viel größer als in Bezirken, w'o sich
mächtige Arbeiterorganisationen befinden. Ganz besonders ist
dies in den Kohlenrevieren der Fall. Ich habe also auch hier
die Behörden nicht beleidigt, sondern bloß kritisiert, und zwar
vom g]-ößten (Jesiclitsi^unkt aus, der möglich ist. Findet man
eine solche Kritik ungesetzlich, dann möge man die Courage
hallen, mich vor die Oeschwornen zu stellen. Das Vorgehen des
Gerichtes ist in diesem Fall so, als wenn ich zu jemand sagte:
„Du hast geraubt, du hast gemordet, folglich bist du ein Raub-
mörder!" und ich würde wegen der letzten Äußerung wegen
Ehrenbeleidigung verurteilt, ohne daß es mir gestattet wäre,
durch die Richtigkeit der beiden ersten Bemerkungen die
Richtigkeit dieses Schlusses zu beweisen. Ich habe von den
§§ 805 und 401 schon vi(d zu leiden gehabt, ich habe nie fhis
Gefühl gehabt, daß mir recht geschieht, aber das Gefühl, daß
mir so unrecht geschieht, habe ich nie gehabt.
Der Verleidiger, Dr. Ornstein, wcm^I darauf hin, daß nian, wäre die Ver-
folgung des Staatsanwalts ihren natürlichen Weg gegangen, den Angeklagten
vor das Schwurgericht stellen müßte. Aber der Staatsanwalt wähle
sich das Kampffold dort, wo es ihm bequemer und leichter werde, und brachte
deshalb den Angeklagten vor das Bezirksgericht. Der Verteidiger legt eine
Anzahl Akten über das ungesetzliche Vorgehen der Wiener Polizei und d"r
Behörden in Ostrau und Falkenau bei den Streiks vor.
In seinem SchlufUvort antwor'ef(>
Adler
iiuf die Austiiln iiiigen ck's b^ t a a t s it n w a 1 t s, welcher unter
;mderem gesagt hatte, es sei geradeso, als ob der Angeklagte
mit seiner Behauptung bezüglich der Kindersterblichkeit
sagen wollte: der Bezirkshauptmann bringe die Kinder uin --
es sei ihm um den Naclnveis zu tun, diiÜ er nicht generalisiert,
am allerwenigsten gos(*liim]ift, sondern bestimmte Hand-
lungen bestimmter Behörden kritisiert habe. Nicht ein-
mal der Staatsanwalt werde glauben, daß er gesagt habe, diiß
Beleidigung- eine> Krzherzogs. 215
ein Bezirkshauptmanii direkt Kinder umbringe. Nicht um eine
Beschimpfung, sondern um eine Kritik der Amtsführung,
welchem Worte der Staatsanwalt so ängstlich ausweichen muß.
sei es ihm zu tun gewesen. „Ich habe", fuhr Dr. Adler fort,
j.eine ganze Eeihe von Behörden auf Grund bestimmter Tat-
sachen, die ich beweisen kann, kritisiert. Ich habe selbst-
verständlich mit dem Zeitmangel des Gerichtshofes zu kämpfen:
hätte ich aber meine Verteidigung richtig führen wollen, so
hätte ich die acht Jahrgänge der ,,Arbeiter-
Zeitung" hieher bringen müssen; in jeder hätten sich Bei-
spiele für meine Behauptungen gefunden. Es ist einfach eine
Unwahrheit, die mir das Urteil unterschiebt. Wir schmähen
nicht, wir schimpfen nicht, wir lassen Tatsachen sprechen, und
leider sind diese danach angetan. <laß sie aufreizen müssen."
Hierauf zog sich der Senat zur Beratung zurück, um nach einstündiger
Beratung das Urteil zu verkünden, demzufolge die Berufung der Staats-
anwaltschaft zurückgewiesen erscheint, der Berufung des
Angeklagten in zwei Punkten der Anklage („Terrorismus der Behörden"
und „das Versammlungsrecht wird vielfach zugunsten der Unternehmer
gehandhabt"'; Folge gegeben wurde. Dagegen wurde bezüglich zweier
Punkte („wenn man Proletarier wählt zum Probieren der Männlicher" und
::die Arbeiter werden zusammengefangen wie Hunde" usw.j das erst-
lich t e r 1 i r h e Urteil bestätigt und die Berufung bezüglich des
StiafausmaBes zuiückgewiesen. Die Begründung besagt, daß in einem Punkte
die Behörden tatsächlich eines frivolen Vorgehens gegenüber der Arbeiter-
schaft beschuldigt erscheinen. Im anderen Punkt ist ebenfalls eine ganz
bestimmte Behörde durch Generalisierung einzelner Handlungen beleidigt
worden. Wenn selbst Inkorrektheiten der Behörde in Falkenau
vorgekommen sind, so ist es doch nicht gestattet, eine Äußerung zu
machen, welche über den Bahmen einer erlaubten Kritik hinausgeht. In allen
übrigen Punkten ist die Verantwortung des Angeklagten, daß er nur Kritik
übte, glaubwürdig.
Es blieb also bei dem Monat .\ r r e s t (.,Arbeiter-Zeitun?" Nr. 62
vom i. März 1895 .
Beleidigung eines Erzherzogs und des
Kaisers.
Am 26. Februar 1895 fand das Begräbnis des Erzherzogs AI brecht,
der bekanntlich am 13. März 1848 als Militärkommandierender von Wien ins
Volk hatte feuern lassen, statt, wobei es durch die Brutalität der
k. u. k. Armee, die da aufgeboten war, zu argen Szenen mit den neugierigen
und schaulustigen Massen kam. Berittene Wachmänner und Husaren ritten
216 Beleidigung eines Erzherzogs.
in die schaulustige Menge hinein, so daß es zu einer Panik kam und viele
verletzt wurden.
Im Abendblatt der „Arbeiler-Zeitung'' vom 28. Februaj' erschienen
darüber folgende zwei Glossen :
Der Servilismns der Wiener Bevölkerung war diese Woche wieder
einmal deutlich zu sehen. Wenn wir sagen „Wiener Bevölkerung", so meinen
wir selbstverständlich nicht die Arbeiter, sondern jenen schaulustigen Mob.
der überall dabei sein muß und sich als Patenlwiener ausgibt. Das waren
dieselben Leute, nur ins Tausendfache vermehrt und auf einejn Platze
konzentriert, die von weitem schon vor einem Hofwagen und einem gold-
betreßten Kutscher ihre Hüte herabreißen, die sich glücklich fühlen, wenn
eine „hoh(>" Persönlichkeit an ihnen vorbeigehl, und die mit Wonne ein
.hihr iiires Lebens hingäben, wenn ihnen diese „hohe" Persönlichkeit ins
(lesicht spucken würde. Lind sie ließen sich am Dienstag aus lauter
Patriotismus von Pferdehufen treten, die Kleider vom Leibe reißen, mit
(lewehrkolben prügeln, und wenn es ihnen auch nicht gelang, mehr zu seh<'n
als etliclie Tschakos und Helme, sie waren dabei gewesen und hatten demon-
striert, daß sie echte Österreicher, .,echte Wiener'', das heißt die servilsten
Knechte der Welt sind. Das Schauspiel mag für die hohen Herrschaften recht
erhebend gewesen sein, als sie gesehen haben, wie zahlreich diese ...Stützen"
der „Ordnung" noch sind. Aber es sind doch nur morsche Stützen. Die
llurracanaille ist zugleich so feig, daß sie nicht ernst genommen werden
kann. Vielleicht weiß man es auch „oben", und die schaulustige Mengi3 mul.i
zu den Kolbenstößen auch noch die Verachtung ihrer Herren in den Kauf
nehmen.
In die dichtgedrängte Menge dringt die Polizei zu Fuß em, in die eng-
gepreßte Masse lenken die Schutzmänner ihre Pferde, in die Haufen, die
nicht zurück können, reiten Husaren ein. Männer und Krauen werden nieder-
geworfen, getreten, gestoßen, verwundet. Blut fließt, .Jammern. Angst- uiul
Wehschreie steigen zum Himmel empor.
Im .Sarge liegt der Wiener Kommandierende von bSiiS. Ein verklärtes
Lächeln liegt auf seinem bleichen Antlitz.
-X-
Die Konfiskatit)!! der bitterbösen Notizen war natürlich zweifellos; sie
wurden deshalb auch im Abendblatt untergebracht, dessen ganze Aul-
lage ja durch die Kolporteure vor der zugreifenden Polizei stets in Sicherheit
gebracht wurde. .Adler hatte sie nicht geschrieben — der Verfasser der
ersten wai- Emil Kralik, der Verfasser der zweiten war der Herausgeber
dieses Heftes. .\ber da auch eine subjektive Verfolgung zu erwart. 'U
war, wurden sie .Vdler gezeigt und er gab unbedenklich seine Zu-
stimmung. Die Wirkung war stark. Im Reichsrat ließ der feudalklerikale
.luslizminisler Graf Schönborn, vor loyaler Emjiörung bebend, eine Rede
gegen die „Arbeiter-Zeitung" und diese „Verletzung der Majestät ih's TcmIcs"
vom Stapel. Außerdem aber wurde wegen dieser Notizen gegen Adler als
Iferausgebei- und B r e t s c h n e i d e r als verantwortlichen Redakteur die
Anklage nach S M, Verbiechen di^r Beleidigung eines .Mitgliedes des kaiser-
lichen Hauses sowie wegen drei anderer .Artikel in der gleichen Nummer
Die Wienerberger Zie.arelfabriken und die Behörden 217
ob Verbrechens der Beleidigung der lebendigen Majestät Franz Josefs 1.
und ob Vergehens der Aufreizung gegen Behörden und einzelne Klassen der
bürgerlichen Gesellschaft erhoben. Da die Sache aber vor die Wiener G e-
schwornen hätte kommen müssen, zog es der Justizminister \ni, ■Vi<-
Entrüstung hinunterzuschlucken, und die Untersuchung wurde eingesteltt.
Die Wienerberger Ziegelfabriken und die
Behörden.
Das heute wie eine Unmöglichkeit erscheinende und auch im
Jahre 1S95 doch nur mehr seltene Elend der Ziegelarbeiter, die eine Stunde
vor den Toren Wiens in vollkommener Recht- un'd Schutzlosigkeit den Aus-
heutun^gspraktiken der Wienerberger Ziegelfabriks- Aktie n-
undBaugesellschaft ausgeliefert waren, hatte frühzeitig das Interesse
Adlers erregt. Schon im Jahre 1888 liatte die --Gleichheit" über die Zu-
stände in Inzersdorf geschrieben, und Pernerstorfer hatte im Reichsrat
eine Interpellation eingebracJit. Es hatte nichts genützt. Am 15. April 1895
traten, wie fast alljährlich in dieser Zeit, die Ziegelarbeiter, über viertausend
Männer und Frauen, in Streik, weil ihnen im Winter die Akkordlöhne gekürzt
wurden und sie sich erst im Frühjahr infolge der erhöhten Bautätigkeit wieder
höhere «Löhne erkämpfen konnten. .Sie erhielten so wie die Arbeiter des
Hernalser Werkes für eine ganze Ziegelarbeiterfamilie bei
einer täglichen Arbeitszeit von 4 Uhr f r ü h ■ b i s 9 U h r a 1) e n d s
wöchentlich 12 Gulden.... Nun verlangten sie 1 8 Gulden sowie
die Abschaffung der sogenannten Prämien, die eigentlich Abzüge vom
Lohn waren — das genügte, um Gendarmerie und Militär gegen
sie in Bewegung zu setzen. Eine Reihe blutiger Zusammenstöße, wobei
.\rbeiter und Arbeiterinnen lebensgefährliche oder wenigstens schwere .Säbel-
liiebe bekamen, ereignete sich, ohne daß die Regierung mehr tat, als eljen
ihre bewaffnete Macht in den Dienst des Kapitals zu setzen. Die -,Arbeiter-
Zeitung" brachte eine Reihe von Artikeln, die mehr oder minder konfisziert
wurden. Am 23. .\pril schrieb sie:
Der Streik der Ziegelarbeiter fordert jeden Tag neue blutige Opfer. Am
D. nnerstag ^ind in Inzersdurl zehn Arbeiter und' Arbeiterinnen
verwundet worden; Samstag ist der Arbeiter Urbanek lebensgefähr-
lich verletzt worden und aus seiner tiefen Ohnmacht bis heute nicht er-
wacht; am Montag sind im Vösendorfer Gebiete zwei schwere und
neun leichtere Verwundungen M ä h n e r n und Frauen zu-
gefügt worden. Das alles geschieht in Wien, eine Stunde vom Sitz des Mini-
steriums, vor den Augen der Regierung! Die Regierung sieht nichts und hört
nichts. In jedem anderen Lande würde das Ministerium die lauten und be-
weglichen Klagen der gepeinigten Proletarier hören und eine energische Untej*-
•uchung die.ser Zustände sofort beginnen müssen. Dabei sind alle Behörden
von der Gerechtigkeit und Billigkeit der Forderungen der Arbeiter i m
Innern vollständig überzeugt. Jeder Tag Ifordert neue Opfer, das
Ministerium bleibt unbeweglich. Blut ist geflossen, Mensclienblut, und
218 Die Wienei'bei'ger Ziege 11 abriken und die Behörden
es geselüelil luclit?, alt; daß der Staatsanwall die Zeitungen, clie nicht lügen.
konfiszieren läßt.
Wegen dieses Artikels leitete die k. k. Staatsanwaltschaft ausnahm.--
weise auch die subjektive Verfolgung ob Verbrechens der Störung der
öffentlichen Ruhe ein, und Adler meldete sich als Verfasser. Der verant-
wortliche Redakteur Bretschneider wurde wegen dieses und anderer Artikel
cb Vernachlä^^i!^uno■ der pflichtgemäßen Obsorge mitangeklagt. Gegen
Adler wurde gleichzeitig die Anklage wegen Vergehens gegen die
öffentliche Ruhe und Ordnung erhoben, begangen durch eine Rede am
1. Mai, worin er sagte: ..Der Achtstundentag ist eine revolutionäre
Forderung, nicht weil er „die Revolution'" ist, sondern weil er sie erst mög-
lich macht.'" Der Achtstundentag läßt den Arbeiter in der Ausbeutung, abe;-
er gibt ihm die Möglichkeit, sich von ihr zu befreien."
Der Schwurgerichtsprozeß.
Am 12. November 1895 standen Dr. Adler und Bretschneider vor dem
Wiener Schwurgericht. Nach Verlesung der Anklage erklärte
Dr. Adler:
Meine Herren Geschwornen! Ich bekenne, die Worte ge-
sprochen und den Artikel geschrieben und zum Druck beför-
dert zu haben. Aber ich habe damit weder das Verbrechen nach
§ 65 noch das Vergehen nach § 305 begangen. In der ersten
Sache, die einen Preßprozeß betrifft, muß ich weiter ausholen,
um den Herren Gesehwornen zu sagen, in welcher Weise die
Wienerberger Ziegelfabriksgesell.schaft gegen ihre Arbeiter
vorgeht, warum der Artikel geschrieben wurde, warum er ge-
schrieben werden mußte, warum es nicht ein Verbrechen war,
den Artikel zu schreiben, sondern warum es eine Pflicht war,
ihn zu schreiben. Die Lage der Ziegelarbeiter am Wienerberg
ist eine Angelegenheit, die, wie sie die Bevölkerung schon seit
Jahren erregt und entrüstet hat, für mich eine per.sönliche Be-
deutung hat, weil ich seit Jahren die Verhältnisse aus eigener
Anschauung kenne.
Es war im Jahre 1888 im ?\ovember, als in meine
Wohnung ein junger Mann kam, in Fetzen gehüllt. Ich lud
ihn ein einzutreten. „Das ist unmöglich, Herr," sagte er, „icli
bin verlaust." Der Mann hat Kleider bekommen, hat sich ge-
waschen, dann haben wir gesprochen. Er war ein Arbeiter, ein
Ziegelarbeiter von der Wienerberger Ziegelfabriksgesellschaft.
Er hat mir erzählt, was wir bis dahin nur geahnt haben, was
»iber die Behörden damals .>^clion liiitten wis.-^en stdlen, wissen
Die Wieuerbergei- Ziegelfabrikt^n und die Behörden 219
können. Aber ich war vorsichtie:. Ich habe nicht geglaubt, daß
Hunderte, ja Tausende von Menschen nackt auf Ringöfen
schhifeu, daß fünftausend Menschen, Arbeiter einer reichen
Aktiengesellschaft, in Wohnungen hausen, die schlimmer .ind
als alles, was in der Ik'ziehung möglich gedacht werden kann.
Darum habe ich mich persönlich von den Verhältnissen über-
zeugt. Ich bin bei Nacht hinein ins Werk. A\'ir mußten uns
einschleichen, denn so ohneweiters kann man in dieses Werk
nicht hinein. Wir haben Fürchterliches gesehen. In einer Woh-
nung, das ist in einem Raum, der ein Zehntel so groß ist wie
dieser Saal, wohnen achtzig Menschen beisammen. Auf
verfaultem Stroh lagen Menschen zAisammengepfercht, die ihre
Hemden ausSparsamkeitsrücksichten ausgezogen
und neben sich gelegt hatten: Männer, Weiber. Kinder durch-
einander. In einer Baracke sahen wir eine Frau, die ein neu-
geborenes Kind neben sich liegen hatte. Ich fragte sie: „Wo
haben Sie entbunden?" Die Antwort lautete: „Hier." Hier,
mitten unter den Männern und Kindern, unter sich die Glut,
über sich die Winterkälte. Wir sind hinaus nach diesem Wort.
Ich hatte gesehen und habe nun begonnen zu schreiben.
Den Mann, der mich damals geführt hat, wollte ich
Ihnen, meine Herren Geschwornen, als Zeugen vorführen, aber
es ist nicht möglich. Er wurde auf Grund des A u s n a h m e-
g e s e t z e s ausgewiesen, und er hat nichts angestellt,
als daß er mich herumgeführt hat. Der Abgeordnete Fern e r-
s t o r f e r hat eine Interpellation eingebracht im Parlament
wegen dieser fürchterlichen Zustände. Das war im Jahre 1888.
Ich bin heute angeklagt, daß ich aufgereizt habe, weil ich sagte,
daß die Regierung nichts tut. In seinem Bericlit über das Jahr
1888 erwähnte der Gewerbeinspektor ausdrücklich, daß die
Wohnungszustände in den Wienerberger Ziegeleien durch ein
., Wochenblatt" zur Kenntnis der maßgebenden Behörden ge-
bracht wurden. Dieses Wochenblatt war unsere „Gleichheit*',
die dann als „anarchistisch" unterdrückt wurde. Die Aktion
der Behörden ist aber erfolglos geblieben. Der Gewerbe-
inspektor hat Vorschriften gemacht, die Gesellschaft hat aber
nichts ausgeführt. Ich muß nun einen großen Sprung machen.
Im Jahre 1804 haben die Ziegelarbeiter, eine Klasse von
Arbeitern, die viel tiefer stehen als die Arbeiter in Wien ode?
sonstwo, eine Klasse, die viel widerstandslosiM- ist als andere
220 Die Wienerberger Zieselfabriken und die Behörden
Arbeiter, eine Klasse, die der Ausbeutung unterliegt wie keine
andere hier in Wien, im Jahre 1894 also haben diese Arbeiter
versucht, einen Schritt nach vorwärts zu machen, und sie haben
erlangt, daß ihnen eine Lohnerhöhung in Aussicht gestellt
wurde, und daß eine spezielle Manier, sie zu bewuchern, ab-
geschafft wurde. Die Wienerberger Ziegelfabriksgesellschaft
zahlt ihre Arbeiter im Akkord. Nun hat sie für jedes Maß
Ziegel, das fertiggestellt wurde, von dem Akkordlohn Abzüge
gemacht und diese erst im Herbst, wenn die Arbeit beendet
war, als P r ä m i e ausgezahlt. Dieses System hat zur Folge,
daß ein solcher Arbeiter nicht fort kann, auch wenn er eine
andere Arbeit erhält, bis die Saison abgelaufen ist. Sonst ver-
liert er die Abzüge. Die Gewerbeinspektion hat diese Abzüge
zwar als gesetzlich unanfechtbar erklärt, aber zugleich erklärt,
daß durch dieses System d i e A r b e i t e r auf Gnade u n d
r n g n a (1 e der Wienerberger Z i e g e 1 f a b r i k s-
g e s e 1 1 s c h a f t ausgeliefert sind.
Dnrch die vorjährige Arbeitseinstellung wurden die
Prämien also abgeschafft. Die Wienerberger Ziegelfabriks-
gesellschaft verpflichtete sich, von nun an den Lohn voll aus-
zuzahlen. Aber mit "Beginn des Jahres 1895 hat sie ihr
Wort gebrochen. Sic hat die Abzüge wieder gemacht,
und infolgedessen ist am 1. April der Streik ausgebrochen,
zunächst in beschränktem Umfang; er erstreckte sich aber in
kurzer Zeit über das ganze Grebiet von Inzersdorf bis Vöslau.
Das war am Dienstag den 10. April. Wenn in Wien ein Streik
ausbricht, dann hal)en die Peliiu-dcn das Eigentum der ]\fen-
schen, die in Frage kommen, zu schützen. Welche Menschen
konmien aber in 1^'rage? Das Eigentum der Unternehmer be-
wacht massenhaft Polizei und Militär. Das Eigentum der Ar-
beiter, die um ihren Lohn kämpfen, das wird nicht geschützt,
weil die Behörden erklären, daß sie nicht das Recht haben, in
die Lohnverhältnisse einzugreifen.
Wenn Arl^eiter die Arbeit einstellen, um bessere Bedin-
gungen zu erreichen, dann haben sie das Interesse, daß alle
Arbeiter ihr gegebenes Wort auch halten. Um sich davon zu
überzeugen, müssen sie an den Arbeitsstätten nachsehen. Das
war auch hier der Fall. Sie wai-en einzeln oder mit
F r a u e n hingegangen, um zu sehen, ob alle Wort iialten.
•N 11 n h a t d i (' I* o 1 i /. (> i s c h o n a m d r i 1 1 e n T a g e d e i
Die WienerberKt^i" Zieyelfabiiken und die Behürdeii 221
r t .
A r b e i t s e i n y t e ] 1 u n <• ii i c li t \v e u i g e r als sie li-
zehn Menschen verwundet. Es ist begreiflich, dal;)
die Arbeiter darüber aufgeregt sind. Es ist auch begreiflich,
daß die Sicherheitswache aufgeregt ist, weil sie für ihren
schweren Dienst eine schlechte Bezahlung hat, es ist begreif-
lich, daß sie nervös ist. Wenn sie ohne jedes Recht, ohne jede
Spur gesetzlicher Berechtigung Arbeitern verwehrt, in die
Ziegelöfen zu gehen, um nachzusehen, ob gearbeitet wird, wenn
sie dann einhaut, wenn die Arbeiter in ihrer Erregung ein
gutes Tiecht wahren wollen und vorwärtsgehen, dann tut sie
etwas, was in Österreich niemals mit Strafen verfolgt wird.
Nein, die verwundeten Arbeiter werden vor (lericht gestellt,
immer die Arbeiter, nie die Sicherheitswache. Am Freitag hat
die „Abendpost" erklärt, der Bericht in der ..Arbeiter-ZeituTig"
ist faisch ; es kamen keine schweren, sondern nur leichte
Verwundungen vor. Dieser Unterschied, meine Herren He-
schwornen. kommt bei Gericht in Frage. Für die Arbeiter-
schaft, insbesondere für die einzelnen, die auch verwundet
wurden, gibt es diese Frage nicht, sie werden durch leichte Ver-
wundungen geradeso aufgeregt. Der Gewerbeinspektor sagt,
er wolle Verhandlungen einleiten, er läßt sich den General-
direktor kommen. Der aber sagt, er wolle nicht verhandeln,
den Arbeitern gehe es ohnehin gut. Es kommt zii nichts —
als Blutvergießen.
Am Samstag erklären die offiziösen Blätter, daß die
Wache nur im Notfall von der Waffe Gebrauch
machen darf. Das wäre am !M o n t a g notwendig g c-
w e s e n. Aber nun beginnen die Verwundungen außer dem
Polizeirayon. Die Gendarmen treten in Aktion. Die Arbeiter
fürchten sich nun, weil sie von den Polizisten Hiebe bekommen
haben. Sie beschließen, trotzdem wir ihnen abraten, weil wir
wissen, wozu es kommen kann, nicht mehr einzeln zu gehen,
sondern in Haufen, um nicht wieder überfallen zu werden. So
gehen sie hinaus. Samstag kommt es in Rothneusiedl zu einem
Zusammenstoß mit der Gendarmerie, wobei der Ziegelarbeiter
Franz V r b a n e k eine schwere Wunde davonträgt. Das
offizielle Telegramm hierüber sagt, der Ziegelarbeiter Franz
T^rbanek habe einen Crendarmen schwer verletzt, lebensgefähr-
lich verletzt, worauf er selbst durch einen Bajonetthieb ver-
wundet wurde. TJrbanek ist am 2. Mai im Tnquisitenspital des
222 Die Wienerborger Ziegel fabriken und dio Bebörden
Wiener Landesgerichtes gestorben. Von dem Gendarmen, der
\erwLindet worden sein soll, hat niemand etwas gehört.
Sonntag den 21. April ist eine Verhandlung, dio der
Gewerheinspektor M u li 1 von Wiener-Neustadt in Mödliug
zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern veranstaltet. Die
Arbeiter sind bereit, die Arbeit wieder aufzunehmen, wenn das
Notwendigste ihrer Forderungen bewilligt wird. Aber die
kleinen Unternehmer erklären, sie können ohne die Wioner-
l)erger Ziegelfabriksgesellschaft nichts machen. Die kleineren
Werke sind vom Wienerberg abhängig. Da hat die „Arbeiter-
Zeitung" von der Regierung verlangt, daß sie Verhandlungen
einleite, daß sie die Gewerkschaft zwinge, in Verhandlungen
einzugehen. Die Regierung wäre gezwungen gewesen, die
Werke einfach zu schließen. Am Montag gibt es wieder einen
Zusammenstoß mit der Gendarmerie, wobei elf V e r w u n-
dungen vorkommen, und die Dragoner rücken ein. Das war
am Montag, an dem diese Notiz geschrieben ist.
Auf der einen Seite die Gesellschaft, die seit acht eTahren
nichts getan hat, die Löhne gezahlt hat, die unmenschlieh zu
nennen sind — ■ der Erfolg des Streiks bedeutete Sommer-
löhne für Männer von 1 fl., für Frauen 80 Kreuzer; W i n t e r-
löhne aber von 90 kr. und 70 kr. Auf der anderen Seite Ar-
heiter, die sich dafür verwunden lassen mußten, dafür diesen
Lohnkampf führen mußten. Nun ist da draußen alles von
Polizei, Gendarmen und Dragonern besetzt. Nicht nur zum
Schutze des Eigentums sind die Dragoner kommandiert, son-
dern auch um zu arbeiten; sie müssen Ziegel aufladen.
Unter diesen Umständen haben wir geschrieben, und wir
haben die Pflicht gehabt, zu schreiben. Vor den Augen der
Regierung bestehen menschenunwürdige Zustände, geschehen
ungesetzliche Handlungen, werden die Arbeiter gezwungen —
und dadurch aufgereizt — sich einer unmenschlichen Behand-
lung zu fügen, vor den Augen der Regierung kommt es zu
Blutvergießen und die Regierung tut nichts. Was hätte sie
jedoch tun sodlen? Sie hat nichts zu tun gehabt, als was säe
zwei, drei Tage später wirklich getan hat. Wir haben ja nicht
verlangt, daß die Regierung zum Schutze der Arbeiter ernst-
haft vorgehe, nur daß sie vernünftig und mit einiger Energie
vorgehe, denn die Regierung hat die Überzeugung gehabt, daß
die Forderungen der Arbeiter gerecht und billig sind. Ist das
Die Wienerberger Ziegeltabriken und die Behörden 223
eine Aufreiziina: gegen die Staatsverwaltung;! Oder etwa wenn
ich verlange, dai3 die Regierung ihre Pflicht erfüllet Wir
wollten nicht gegen die Eegierung, sondern die Regierung
aufreizen, das endlich zu tun, was sie schon längst hätte tun
müssen, diesen 10.000 Menschen die Möglichkeit zu ver-
schaffen, halbwegs wie Menschen zu leben. Wenn aber die
Staatsverwaltung sich nicht aufreizen läßt, wenn sie in ihrent
Nichtstun verharrt, dann sind nicht wir diejenigen, die auf-
gereizt haben, sondern die Tatsachen, die Zustände, die solche
Tatsachen schaffen, sie reizen auf.
Aber, meine Herren Geschwornen, Sie könnten vielleicht
sagen, daß man das auch in anderer Form hätte sagen können.
Ich sage Ihnen, die Form war nicht zu stark. Der Staatsanwalt
hätte die Xummer nie konfisziert, wenn er sich je hätte
träumen lassen, daß er sie subjektiv werde verfolgen und des-
halb vor Ihnen werde vertreten müssen. Der S c h ö n-
b 0 r n sehe Erlaß ist späteren Datums.
Diensta<i ist eine Krise eingetreten, Mittwoch hat der
Statthalter die Polizei zurückgezogen, die Gendarmerie und
das Militär verschwanden vom Schauplatz. Von dem Moment,
da die bewaffnete Macht fort war, ist auch nicht der leiseste
Versuch auch nur einer Übertretung des Gesetzes vorgekom-
men. Von dem Moment an war draußen Ruhe und Ordnung.
Die Unternehmer kommen zum Statthalter und verlan<;er!
l'olizei und Militär. Er weist sie ab, weil sie nicht bedroht sind,
und sichert ihnen Schutz zu für den Fall, daß sie wirklicii be-
droht werden. In den Lohnkampf selbst hat sich die politische
I3ehörde nicht einzulassen. Das wird am selben Tag erklärt, an
dem die inkriminierte Xotiz erscheint und konfisziert wird. Am
Mittwoch gehen Abgeordnete nach Inzersdorf hinaus, am
Donnerstag bringt Abgeordneter Pernerstorfer einen
Dringlichkeitsantrag im Parlament ein, in dem die Regierung
aufgefordert wird, die Dinge zu untersuchen und dem Hause
darüber zu berichten. Minister B a c q u e h e m erklärt, er weiß,
daß die Sachen so stehen, aber die Behörden können nichts
machen, weil die Wienerberger Ziegelfabriksgesellschaft fort-
während rekurriert. Die Zustände zählen zu den schlechtesten
in Österreich, alle Beamten melden es, aber es läßt sich nichts
machen, weil die Gesellschaft rekurriert. In bezug auf die
Arbeitseinstellung wird die Regierung sofort das Notwendige
224 Die Wienerberger Ziegelfabriken und die Beliörden
\eranlassen. Es ist in diesen Tagen der Bürgernieistor
von Wien aufgefordert worden zu inter\enieren, und. so sagte
der Minister, soeben konuiit mir die Mitteilung, dal') der
Statthalter sich mit dem Magistrat ins Einvernehmen gesetzt
habe.
Diese Verhandlungen kamen tatsächlich am Freitag zu.-
staude und damit die Einigung.
Tu diesem Streik war nichts zn gewinnen, nichts zu er-
reichen o h 11 e fl i e .. A r b e i t c r - Z e i t u n g". Die übrige
Presse ist mit wenigen Ausnahmen durchaus auf Seite der
Werksbesitzer gestanden, und erst als sich die Dinge niclit
mehr \erheimlichen lieLien. sclirieben auch andere Blätter iti
dem Silin. Die ..Xeue l'reie Presse" sogar, das Organ des (leld-
sacks, der Unternehmer, auch dieses Blatt konnte solch auf-
reizende Tatsachen berichten. Sie haben das größere Aufsehen
gemacht, weil sie die „Xeue Freie Presse" berichtet hat. Es
ist also schließlich geschehen, was wir verlangt haben.
Ich würde hier lügen, wenn ich sagen wollte, die Regie-
rung hat ihre Pflicht bereits vollständig erfüllt, wenn ich sagen
wollte, daß sie schon heute ihre Pflicht erfüllt habe. Sie wurde
beauftragt, energisch zu untersuchen. Ich war vorgestern auf
dem Wienerberg draußen, um mir alles an Ort und Stelle so
reclit deutlich ins Gedächtnis zurückzurufen. Ich kann sauen,
es schaut noch nicht besser aus. Die Löhne sind etwas gebessert.
Aber was die Wohnungen anlangt, hat sich so gut wie gar
nichts gebessert.
Für 5000 bis OOOO jMenschen sollen Wohnungen ge-
schaffen werden, und da baut man vier Häuser mit je vierzig
I'amilienwohnungen. Das ist alles, was mau seit acht Jahren
draiif.ten gebaut hat. Aber wie schauen diese Arbeiterliä:iser
aiis^ Ich war schon in Aerschiedenen Arresten. Ich habe hier
im l.andesgerieht eine Zelle gehabt, die genau so groß ist, wie
eine solche Zelle der Arbeiter in Inzersdorf für sich und seine
l-'aniilie erhält. 5;5 Kubikmeter Luftraum hat eine solche Zelle.
I)ort schlafen aber nicht etwa nur drei oder \ierPersonen, wie's
der Gewerbeinsi)ektor ^•orschreibt, sondern V^ater und Mutter,
Erwachsene und Kinder, acht bis neun Personen, schlafen zu-
sammen in einer solchen Zelle. Und eine Zelle ist neben der
anderen. Es sieht aus wie ein Arrest. Wir haben Arbeiter l»e-
sucht und mit ihnen gesprochen. Als uns der Inspektor er-
Die Wienerberger Ziegelfabriken und die Behörden 225
blickte, wollte er uns hinauswerfen. Das ist ihm freilich nicht
gelungen. Sie müssen nämlicli wissen, meine Herren Geschwor-
nen, daß zu den Inzersdorfer Arbeitern nur Verwandte, und
zwar mit Erlaubnis des Inspektors, zu Besuch kommen dürfen.
Das heißt, die Arbeiter sind dort genau so gehalter wie hier
Sträflinge im Arrest. Auch hier ist das mit den Besuchen so
geregelt. Aber die große Majorität wohnt noch in den alten
Eingöfen wie im Jahre 1888. Fünf bis sieben Familien in
einem Eaum, Männer, Weiber, Kinder untereinander. Wie das
aussieht, kann man sich vorstellen. Für jede Familie ein Bett,
die Wohnungen naß, die Erdäpfel verfault, das Stroh verfault,
die Schuhe verschimmelt — der Arbeiter geht zugrunde. Und
damit auch nicht das kleinste Detail fehlt: Im Ringofen Nr. 52
wohnt eine Frau mit fünf anderen Familien zusammen. Die
Frau ist hoch schwang e r. In nächster Woche noch wird
sie entbinden, mitten unter den Männern und Kindern. Und
die Regierung, die beauftragt wurde, dem Hause Bericht zu
erstatten, hat bis heute noch nicht berichtet. Die Regierung
hat verfügt, daß die Gesellschaft Arbeiterhäuser baue. Aber die
Gesellschaft hat sich der Verfügung zu entziehen verstanden.
Was sie über den Sommer hätte leisten können, tat sie nicht.
Jetzt erst erinnert sie sich des Regierungsauftrages und.
kündigt den Leuten und will sie delogieren — dies Mitte
November — sie will sie jetzt zu Beginn des Winters ohne
Wohnung und Arbeit lassen, damit sie im Winter neue Häuser
bauen könne — sagt sie!
Die Regierung hat aber auch in anderer Beziehung
Augen und Ohren geschlossen. Das Verhalten der Gesellschaft
in bezug auf den Unterstützungsverein läßt sie ganz kalt. Jeder
Arbeiter, der die Ehre hat, sich von der Wienerberger Zieg(d-
fabriksgesellschaft ausbeuten zu lassen, ist gezwungen, diesem
Verein beizutreten, den die Gesellschaft von dem Gelde der
Arbeiter errichtet hat und mit diesem (iclde erhält. Dieser
Verein hat nach den Statuten arbeitsunfähig Gewordene mit
Aushilfen zu versehen. In dem „Ausweis über die bei der
Wienerberger Ziegelfabriksgesellschaft zugebraclite Arbeits-
zeit" — es ist ein ganzes Buch — heißt es: „Die Beibringung
dieses Buches ist unbedingt notwendig, wenn sich
ein Arbeiter um eine Abfertigung etc. auf Grund des § 16 der
Statuten etc. bewerben will. Nun existiert in den Statuten des
. 15
226 Die Wienerberger Ziegelfabriken und die Behörden
„Unterstützungsvereines" gar kein § 16, sondern die Statuten
haben nur vierzehnParagraphen. Ich mache aufmerk-
sam, daß dieses Arbeitsbuch und dieses Statut von den Behör-
den gesehen und genehmigt worden sind. (Bewegung.) Nun erst
das Statut. Jeder muß Mitglied werden, jeder verliert un-
bedingt die Mitgliedschaft, wenn er aus was immer für
einer Ursache aus dem Dienst der Gesellschaft scheidet; damit
erlischt jeder Anspruch. Rückersatz in keinem Fall, von jedem
Gulden muß jeder einen halben Kreuzer zahlen. Die
Leistungen des Vereines liegen natürlich ganz im Ermessen des
Vereinsausschusses. In diesem Ausschuß sitzen Verwaltungs-
räte und drei Arbeiter oder Beamte, die vom Verwaltungsvat
hincingewählt werden. Den Vorsitz führt ein Direktor. Ver-
sammlungen des Vereines haben noch nie stattgefunden. Alles
regelt der Ausschuß. Sie können sich die Folgen denken. Cnd
diese Statuten hat dieselbe Statthalterei bestätigt, die Arbeiter-
vereinen die größten Schwierigkeiten macht. Wir haben also
nicht zuviel gesagt, wenn wir gesprochen haben: „Es geschieht
nichts."
Was den zweiten Anklagepunkt betrifft, soll ich am
1. Mai in einer Rede das Vorgehen der Gutheißung ungesetz-
licher Handlungen begangen haben. Ich sprach über die Be-
deutung des Achtstundentages. Noch vor zehn Jahren, sagte
ich, hielt man die Abkürzung der Arbeitszeit auf acht Standen
für etwas höchst Revolutionäres. Heute dagegen fordern schon
Ärzte, Professoren, Nationalökonomen den Achtstundentag, ja
eine Reihe von Arbeitern, die nicht auf dem sozialdemokra-
tischen Standpunkt stehen, sagt, der Achtstundentag sei gar
nichts Revolutionäres. Demgegenüber suche ich den Acht-
stundentag zu verteidigen und sage, er sei revolutionär, weil
er die Revolution möglich mache. Was ist die Revolution^ Wir
wollen allerdings die Revolution, wir wollen, daß an Stelle
dieser Gesellschaft der Ausbeutung eine vernünftige Gesell-
schaft gesetzt werde, daß die ganze Gesellschaft die Früchte
ihrer Arbeit genieße. Aber diese Umwälzung ist nicht bloß
wünschenswert, sondern eine andere Revolution, die
technische, macht sie notwendig; sie bewirkt, daß sich auf
der einen Seite immer mehr Besitzlose ansammeln, auf der an-
deren Seite immer weniger Besitzende. Da die Arbeitenden die
große Mehrzahl der Menschheit ausmachen, müssen sie die
Die Wienerberger Ziegelfabriken und die Behörden 227
Träger der Umwälzung sein. Und da ist wichtig, wie dieses
Proletariat aussieht. Die Umwälzung kommt, aber es hängt
davon ab, ob sie ein versklavtes, tiefgesunkenes, degeneriertes
Proletariat findet oder ein intelligentes und fähiges, das sich
hohe Ziele setzen und vernünftig verfolgen kann. Eines der
wichtigsten Mittel nun, das Proletariat physisch und geistig zu
heben, ist der Achtstundentag, der symbolisch für den Arbeiter-
schutz genommen wird. In dieser Hinsicht ist der Achtstunden-
tag revolutionär, weil er das Proletariat für die mit oder ohne
sein Zutun kommende Umwälzung reif macht. Wenn der
Staatsanwalt in der Revolution den Dreschflegel und die
Bombe sieht, so möchte ich ihm nur sagen: Es ist doch eine
ganz merkwürdige Sache, dieser gewaltsame Umsturz auf
gesetzmäßigem Wege. Wozu kommt die Arbeiterschaft am
1. Mai zusammen? Um die gesetzliche Feststellung des
Achtstundentages zu fordern. Das sieht nicht sehr nach Gewalt-
samkeit aus! Der gesetzliche Achtstundentag soll dazu dienen,
das Proletariat physisch und geistig kampfähig zu machen.
Das ist das Programm der Sozialdemokratie, das sie mit allen
Mitteln anstrebt, die zweckdienlich sind und dem natürlichen
Rechtsbewußtsein des Volkes entsprechen. So steht es in un-
serem Programm. Mit gutem Bedacht steht nicht das Wort
„gesetzliche" dabei. In einem Staate, wo es noch einen § 23
gibt, auf Grund dessen jeder Mensch, der einem anderen eine
Zeitung gibt, eingesperrt wird, spricht man nicht vom Gesetz,
sondern man muß sich an das natürliche Rechtsbewußtsein des
Volkes wenden, und wir wünschen, daß die Gesetzgebung
diesem natürlichen Rechtsbewußtsein angepaßt werde. Ich habe
also nicht zu ungesetzlichen Handlungen aufgefordert und
glaube, weder in dem ersten noch in dem zweiten Falle, das
Gesetz verletzt, sondern meine Pflicht getan zu haben.
B re l s c h n e i d e r; Die Art und Weise, wie 'die Bezirkshauptmann-
sehaften bei Erledigung von Versammlungsanzeigen vorgehen, bringt es mit
sich, daß wir schon acht Jahre einen Kampf gegen diese gesetzwidrigen Prak-
tiken führen müssen. Wir führen diesen Kampf nicht ohne Erfolg, und wir
haben gerade durch die von der Staatsanwaltschaft beanstandete schärfere
Tonart unserer Kritik schon manche Besserung 'der Verhältnisse erzielt. Aber
eines muß ausgesprochen werden: Was sich viele Bezirkshauptleute in der
Provinz trotzdem noch immer herausnehmen, ist der reinste Hohn und Spott
auf das Gesetz. Es kommt buchstäblich vor, daß sie unseren Genossen zu-
16'
228 Die Wienerberger Ziegelfabriken und die Behörden
rufen: „Was kümmert micli das Gesetz!" Wenn Sie Redakteure einer Zeit-
schrift wären, wie es die unsrige ist, und diese Haufen von Zuschriften über
eklatant gesetzwidrige Maßregeln 'der Bezirksbehörden durchlesen müßten,
Sie würden sich an den Kopf greifen und sich fragen, ob dies überhaupt
möglich ist; Wenn wir da nun einmal ein kerniges deutsches Wort sprechen,
werden wir zur Verantwortung gezogen. Es ist aber unsere einzige Absicht,
die Verhältnisse zu bessern, und, wie gesagt, das ist uns auch vielfach ge-
lungen. Selbst im Parlament sind von uns nachgewiesene Gesetzwidrigkeiten
zur Sprache gekommen und zugegeben worden. Es mußte so geschrieben
werden, denn die deutsche Sprache duldet für derlei ungesetzliche Schikanen,
wie wir sie anzunageln gezwungen sind, keine anderen Bezeichnungen.
Es woirde nun als einziger Zeuge der Polizeikonzipist Alois D u s i c,
der in der Maiversammlung als Regierungsvertreter anwesend: war und die
Relation hierüber verfaßt hat, einvernommen. Er skizzierte auf Aufforderung
des Vorsitzenden den Gedankengang der von Dr. Adler gehaltenen Rede. —
Vorsitzender: Welchen Eindruck machte auf Sie das Wort Revolution?
— Zeuge: Daß der Redner eine gewaltsame Erhebung im Sinne habe,
konnte ich mir hiebei nicht denken. — Vorsitzender: Wollen Sie das
genauer präzisieren. Hatten Sie den Eindruck, daß der Redner die wirtschaft-
liche Umgestaltung oder den gewaltsamen Umsturz meinte? — Zeuge: Das
erstere. Er sagte, der Achtstundentag vertrage sich ganz gut mit dem Kapi-
talismus, er ändere an der gegenwärtigen Produktionsweise nichts. Er be-
wirke aber, daß die Lage der Arbeiter sich auf ein menschliches Niveau er-
hebe, und nur Menschen werden in der Lage sein, die große Verände-
rung herbeizuführen, die die Aufgabe des Proletariats ist.
Verteidiger Dr. Harpner beantragte nun die Verlesung einer Stelle
aus der Relation, aus der herv-orgehe, was der Redner unter Revolution ver-
stehe. Dem Antrag wurde stattgegeben. Seine weiteren Anträge auf Ver-
nehmung der im Hause anwesenden Abgeordneten Pernerstorfer und Steiner,
auf Verlesung einiger Stellen aus den Parlamentsprotokollen, besonders aus
der Rede des Marquis Bacquehem, ferner auf die Verlesung eines Artikels
aus der „Neuen Freien Presse" zog Dr. Harpner wieder zurück, nachdem der
Staatsanwalt erklärt hatte, daß er d'ie vom Angeklagtenan-
gezogenen Tatsachen zugebe.
, Nach dem Plädoyer des Staatsanwalts und Dr. Hai-pners spricht
zum Schluß nochmals
Dr. Adler:
Mein Herr Verteidiger hat dargelegt, wie nach seiner
Meinung die Regierung- hätte handeln müssen. Ich bin nicht
so sanguinisch. Wir verlangen heute in Österreich von der
Regierung und dem Staatsanwalt nicht, daß man die T e i r i c h
einsperre. Das verlangte ich auch in dem Artikel nicht. Wir
verlangten nur von der Regierung, was sie am Donnerstag'
Die Wienerberger Ziegelfabriken und die Behörden 229
wirklich getan hat, was sie hätte früher tun sollen. Die Kegie-
rung hätte den Bürgermeister früher, vor dem Blut-
vergießen, zum Eingreifen auffordern können, sie hätte
die Eekurse der Wienerberger Ziegelfabriksgesellschaft
schneller erledigen können, aber sie hätte noch viel melir tun
können. Sie schließt mit der Gesellschaft fortwährend große ,
Geschäfte ab, sie hat die Herren bei den Lieferungen für die
ärarischen Bauten in der Hand und hätte nur sagen brauchen:
mit einer so schmutzigen Gesellschaft mache ich kein Geschäft,
und die Gesellschaft wäre zu Kreuz gekrochen. Das hätte die
Regierung tun können. Nun noch eine kleine Berichtigung
zum § 305. Der Herr Staatsanwalt verlangt von uns, wir sollen
ausdrücklich sagen: „Wir perhorreszieren die Gewalt." Ich
bedaure, ich kann kein Obligo übernehmen für die ganze
Weltgeschichte, weder für die Vergangenheit noch für die
Zukunft. Ich sage einfach: Der Herr Staatsanwalt hat selbst
zugegeben, daß die Sozialdemokratie, soweit sie vermag, die
Arbeiter auf dem Wege der Gesetzlichkeit nnd der Ordnung
führt. Durchaus nicht aus Achtung vor diesen Gesetzen, die
wir gar nicht für gerecht halten, sondern weil dieser Weg der
zweckdienlichste ist, auf dem die Arbeiterschaft leichter ihr
Ziel erreicht, weil wir ihn für den vernünftigsten halten. Wenn
der Herr Staatsanwalt meint, daß ihm das natürliche Eechts-
bewußtsein des Volkes nicht genug Garantien biete, und er von
uns Anerkennung der bestehenden Gesetze verlangt, so sagen
wir, daß die Gesetze nur insofern Bestand haben sollen, als sie
dem natürlichen Eechtsbewußtsein des Volkes entsprechen.
Die Gesetze müssen dem natürlichen Rechtsbewußtsein an-
gepaßt werden. Das Rechtsbewußtsein des Volkes ist das
Höhere, dem sich das Gesetz unterordnet. Eas natürliche
Rechtsbewußtsein des Volkes, das begreiflicherweise dem
Herrn Staatsanwalt nicht als genügender Schutz erscheiut, ich
schätze es hoch genug und verlasse mich auch bei dieser An-
klage auf das natürliche Rechtsbewußtsein des Volkes.
Nach einem objektiven Resümee des Vorsitzenden zogen sich die Ge-
schwornen zur Beratung zurück. Sie verneinten vier Schuldfragen ein-
stimmig, nur die den Genossen Dr. Adler betreffende zweite Schuldfrage
auf Vergehen des § 30.5 mit elf Stimmen. Adler und Bretschneider
wurden demgemäß freigesprochen („Arbeiter-Zeitung" Nr. 312 vom 13. No-
vember 1895).
230 Pater Stojalowski
Pater Stojalowski.
In das Zimmer Adlers in der Redaktion der „Arbeiter-Zeitung"
huschte im Jahre 1895 oft ein hagerer Mann in der Kutte: Es war der
galizische Kaplan Stojalowski, der bei ihm Schutz gegen seine Ver-
folger, die Schlachzizen und ihre Diener, die k. k. Behörden, suchte und auch
fand.
Eine seltsame Erscheinung, dieser galizische Geistliche, der durch
Jahre die Großgrundbesitzer erzittern gemacht hat, indem er den Bauern die
Bibel im Sinne des urkornmunistischen Christentums auslegte. Sie ver-
folgten und hetzten ihn aber auch mit allen Hunden, und ein Prozeß folgte
dem anderen. Aus dem Gefängnis schrieb er im Juli 1895 einen Brief an
Adler, der ihn am 10. Juli in der „Arbeiter-Zeitung" veröffentlichte und
deshalb wegen Aufreizung zu Haß und Verachtung gegen die Staatsbehörden
angeklagt wairde. Aus der Verantwortung Adlers ist zu ersehen, was der Brief
enthielt.
Am 16. Jänner 1896 fand die Verhandlung vor dem Schwurgericht
gegen Dr. Adler und Bretschneider statt. Adler war nach § 300
Strafgesetz angeklagt, Bretschneider als verantwortlicher Redakteur wegen
Vernachlässigung der pflichtgemäßen Obsorge in diesem Falle und wegen
zwei anderer Artikel über steirische Behörden. Den Vorsitz in der Ver-
handlung führte Landesgerichtsrat Fe i g 1, Staatsanwalt war Ritter von
C i s c h i n i, Verteidiger Dr. H a r p n e r.
Die Schwurgerichtsverliandlung.
Die Geschwornenbank war gebildet aus den Herren Peter Zwieauer,
Hugo Wilhelm Riha, Karl Fei. Job. Kellermann, Anton Frey, Hermann
Schuh, Emmerich v. Genzinger, Adolf Ruhmkorf, Jakob Lind, Franz Jaschke,
Franz Nowotny, Karl Kleiner und Richard Baumgarten.
Der Verhandlung wohnte ein zahlreiches Auditorium an, unter dem
man den Abgeordneten Pernerstorfer und den Paler Stojalowski
bemerkte.
Die Anklageschrift führt in den Gründen aus:
In den in der Nummer 186 der „Arbeiter-Zeitung" vom 10. Juli 1895
(Abendblatt) beanstandeten Artikeln werden durch Schmähungen und Ver-
spottungen die Anordnungen der Behörden herabzuwürdigen und auf solche
Weise andere zum Haß und zur Verachtung gegen Staatsbehörden und gegen
einzelne Organe der Regierung in Reziehung auf ihre Amtsführung auf-
zureizen gesucht.
So wird in dem Artikel „W i e die s t c i e r m ä r k i s c h e S t a 1 1-
halterei Rekurse erledigt" der Bezirkshauptmannschaft Pettau
„Blödsinn, Unwissenheit, Böswilligkeit", der Stalthalterei „plumpe Bauern-
fängerei" zum Vorwurf gemacht; in dem Artikel „Wie man uns be-
handelt" wird ein Bezirkskommissär fälschlich des Mißbrauches der
Amtsgewalt beschuldigt und gesagt, man sollte ihn davonjagen! In dem
Artikel „A u s n a h m s z u s t a n d in G a 1 i z i e n" wird das Vorgehen des
k. k. Ministeriums der Justiz und dessen Chefs, des Grafen Schön born.
Pater Stojalowski 231
als „ehrlos" bezeichnet, es wird behauptet, er habe ungesetzlichen und wider-
gesetzlichen Druck ausgeübt, er habe die Justizehre und seine eigene preis-
gegeben; im weiteren wird das Verhalten des Justizministors in der Straf-
sache des Pater Stojalowski als ein niederträchtiges bezeichnet, von seiner
Amtstätigkeit als von einer „sau — beren" Wirtschaft gesprochen und behauptet,
er habe seine Untergebenen zu Pflicht- und Gewissensverletzungen gedrängt.
Es ist dies eine Reihe von Schmähungen und Verspottungen, die in der
Person des Repräsentanten des Justizministeriums gegen diese Staatsbehörde
selbst gerichtet und in eminentester Weise geeignet sind, andere zum Haß
und zur Verachtung gegen diese Staatsbehörde sowie gegen einzelne Organe der
Regierung aufreizen, und diesen Zweck mit Rücksicht auf die bekannte
Tendenz der „Arbeiter-Zeitung" und deren Leserkreis auch
tatsächlich beabsichtigten. In dem letztgenannten Artikel wird' überdies auch
noch die Amtstätigkeit des Statthalters von Galizien in unverkennbar
spöttischer und schmähender Weise als ein „Bewirtschaften Galiziens"
bezeichnet.
Vorsitzender (zu Dr. Adler gewendet): Bekeniion Sie sich
schuldig?
Adler: Ich habe den Artikel nicht ge.^chrieben, gebe
aber zu, daß ich ihn gelesen und zum Drucke befördert habe.
Trotzdem erkläre ich mich nichtschuldig.
Vorsitzender: Es steht Ihnen frei, sich zu verantw^orten.
Adler: Hoher Gerichtsshof ! Ich habe mich, als ich diesen
Brief von absolut verläßlicher, obgleich nicht p a r t e i-
genössischer Seite empfing, ver])f lichtet gefühlt, ilin zu
veröffentlichen, weil es ein Prinzip unserer Partei ist, jedes
Unrecht, jede Ve rgew altig ungzu bekämpfen.
Insbesondere sind es die Zustände in Galizien, die offen ge-
brandmarkt werden müssen, da dies in Galizien selbst nicht
möglich ist, weil dort mehr noch als hier das Wort und die
Presse <]en behördlichen Verfolgungen ausgesetzt sind. Ich
könnte mir die vSache leicht macheu. weil der Angegriffene, Graf
Schönboru, zu jener Zeit nicht nu'lir iui Amte war. Graf Schön-
born war nicht mehr Minister. Die Koalition war unter dem
Hohngelächter der ganzen Bevölkerung zusammengebrochen und
es war also eigentlich ganz ungefährlich, über Vorgänge aus der
Zeit dieses }{('gime>- zu s]>reehen. Aber ich erkläre ganz offen,
daß ich auch dann diesen Artikel zum Di-uck befördert hätte,
wenn Graf S c h ö n b o r n noch ^linister gewesen wäre. Ich
hätte mich verpflichtet gefiiiilt, dies zu tun. Die Zustände,
unter denen das galizische Volk leidet, sind allgemein bekannt,
und ich brauche sie nicht zu schildern. Weniger bekannt aber
ist, daß die Bewegung, die in Galizien langsam anfängt, sich
232 Pater Stojalowski
geltend zu machen, die die armen Knechte der Großgrund-
besitzer zu ergreifen beginnt, daß diese Bewegung geleitet wird
einerseits von den Sozialdemokraten, anderseits von einem
Manne, der wohl Sozialist ist, aber keineswegs Sozialdemokrat.
Und diese Bewegung wächst fort und fort und fängt an, un-
bequem zu werden.
Und darum hat Graf (Schönborn sich beteiligt an der Hetze
gegen den Pater Stojalowski.
Es ist eine Erscheinung in Galizien, in Österreich und in
anderen Ländern, daß im niederen Klerus einzelne Männer auf-
treten, die ein evangelisches Christentum pre-
digen. Diese Männer, die alle Sozialieten sind — wenn auch
nicht Sozialdemokraten — werden von ihren kirchlichen Oberen,
den Bischöfen, anfangs geduldet, in der Hoffnung, daß sie der
immer mehr um sich greifenden Glaubenslosigkeit halt bieten
und die Autorität der Kirche festigen werden, werden aber ver-
folgt, so wie sie ein evangelisches Christentum propagieren. Die
Verfolgung beginnt, wo die Bewegung anfängt, über die heutige
Kirche hinauszugehen, wo sie aufhört, eine kirchliche und an-
fängt, eine evangelische zu sein. In diesem Moment richtet sich
die Verfolgung der kirchlichen Oberen in solidarem Einver-
nehmen mit den Herrschenden und den Behörden gegen diese
Priester. Ein solcher Mann, der in besonderem Maße solche Ver-
folgungen seitens der Bischöfe und Behörden zu erdulden hatte,
ist Pater Stojalowski. Vier und zwanzigProzesse
wurden gegen ihn anhängig gemacht, viele Monate hindurch
wurde er, obgleich keineswegs fluchtverdächtig, in Unter-
suchungshaft gehalten, die von ihm herausgegebenen Blätter
wurden konfisziert und ihre Verbreitung selbst dann ver-
hindert, wenn sie nicht konfisziert wurden. In Galizien wurde
ein eigener Hirtenbrief von drei Bischöfen erlassen, in dem die
Boykottierung der Blätter Stojalowskis und der beiden pol-
nischen sozialdemokratischen Blätter außgesprochen war. Das
war zur selben Zeit, wo in Wien unter dem Vorsitz eines
Bruders des Justizministers Grafen Sehönborn, unter Vorsitz
des Kardinals Sehönborn, ein Hirtenbrief ausgearbeitet
wurde, der sich gegen die evangelischen Bestrebungen des
niederen Klerus richtete, der allerdings von denBischöfen nicht
veröffentlicht wurde, weil die „Arbeiter-Zeitung" in der Lage
war, ihn früher zu veröffentlichen. (Heiterkeit.)
Pater Stojalowski 233
Vom Grafen Schönborn, dem Justizmiuister, ist es, wie
von seinem Bruder, dem Kardinal, seit Jahren bekannt, daß
er einer der engsten Verbündeten jenes plutokratischen
Klerus ist. Es ist daher für mich nicht nur wahrscheinlich ge-
wesen, sondern ich konnte es mit absoluter Sicherheit aus-
sprechen, daß bei den Verfolgungen gegen Stojalowski Graf
Schönborn direkt als Urheber mitgewirkt hat, ebenso wie Graf
Badeni, der ja ausführendes Organ war, und ich habe den
Artikel zum Druck befördert, weil ich seinen Inhalt für wahr
hielt und halte.
Die andere Stelle bezieht sich auf die Gefängnishaft
Pater ßtojalowskis. Hoher Gerichtshof! Aus meiner zur Ver-
lesung gelangten Leumundsnote ist bekannt, daß ich eine ziem-
liche Anzahl von Strafen abgebüßt habe. Ich bin in der Lage zu
wissen, wie es in den Gefängnissen zugeht, welche Behand-
lung einem Sträfling gebührt. Wenn ich nun höre, daß je-
mand, der wegen eines Preßdelikts, wegen desselben § 300,
wegen dessen ich heute angeklagt bin, in Haft ist, die ihm ge-
setzlich zustehenden JMilderungen entzogen werden, daß man
ihm verwehrt, daß er sich selbst verköstige, daß er rauchen
kann, daß man ihm seine Lektüre entzieht; wenn ich nun höre,
daß es einem Priester schon so ergeht, eo drängt sich mir die
Frage auf: Wie würde es erst einem Arbeiter ergehen? Es han-
delt sich hier nicht um einen einzelnen Fall, obwohl das hin-
reichen würde, hier handelt es sich um Verübung eines Un-
rechts, das eine ganze Eeihe von achtbaren Menschen trifft,
die nur wegen des offenen Aussprechens der Wahrheit in die
Hände der galizischen Behörden fallen und eine solche Be-
handlung erdulden müssen. Ich und meine Freunde sind wieder-
holt gesessen, und es ist nichts Angenehmes. Aber sowohl hier
als auch in den Provinzen — außerhalb Galiziens — hat man
eö uns niemals fühlen lassen und uns niemals behandelt, als ob
wir gemeine Verbrecher wären. Man hat uns immer mit dem
Kespekt behandelt, der uns gebührt. Das Gegenteil zu hören
mußte auf micli den tiefsten Eindruck machen. Aber die Sache
geht noch weiter. Daß man einem Mann verwehrt, daß er sich
seiner Gewohnheit gemäß nährt, ist eine Quälerei für den ein-
zelnen — es mag ein Racheakt sein — wenn man aber die Haft
eines Mannes über die Zeit hinaus verlängert, die er eigentlich
nach Recht und Gesetz hätte sitzen müssen, dann ist das kein
234 Pater Stqjalowski
Akt mehr, der von einem einzelnen Gericht oder Eichter voll-
zogen wird, dann ist das ein politischer Akt. Bei der Ge-
fährlichkeit, die dem Pater Stojalowski zugeschrieben wird,
und bei der Unbeliebtheit, deren er sich in den oberen Kreisen
erfreut, ist ja die Sache klar: „Wir behalten den Mann nur
um sechs Wochen länger im Gefängnis" — haben sich diese
Herren gesagt — „damit wir wenigstens sechs Wochen länger
vor ihm Ruhe haben." Um so mehr haben sie sich das gesagt,
weil in dieselbe Zeit die galizische Wahlagitation fiel, wo es
dem Badeni und dem Schönborn in höchstem Grade unange-
nehm gewesen wäre, wenn Pater Stojalowski mit \olieu
Kräften hätte agitieren können.
Hoher Gerichtshof! Im folgenden appelliere ich an Ihre
Gesetzeskenntnis. Wenn jemand sieben Monate Haft hat und
er verlangt Einzelhaft, so ist sie ihm nach dem Wortlaut des
Gesetzes zu gewähren. Es wurde zwar abgelehnt, den Pater
Stojalowski als Zeugen zu vernehmen, ich glaube aber, der hohe
Gerichtshof wird anderer Ansicht werden und die Vernehmung
zulassen. Es wird dann allerdings vorkommen, daß ihm die Ein-
zelhaft verweigert wurde, weil er leidend ist. Ein Herzleiden
wurde bei ihm herausgefunden und es sei wegen seines Ge-
sundheitszustandes nicht möglich, hieß es, ihn in Einzelhaft zu
lassen und ihm die dadurch bedingte Abkürzung der Haft zu
vergönnen. Ee muß für jedermann, speziell aber für jeden Arzt
klar sein, daß die kürzere Einzelhaft für einen solchen Kranken
vorzuziehen ist, daß ihm die sechs Wochen Freiheit, die ihm ent-
zogen wurden, in frischer Luft mehr genützt hätten. Nun
kommt aber das unsagbar Empörende an der Sache. Die Ein-
zelhaft wird ihm verweigert, er ist gezwungen, sechs Wochen
länger zu sitzen, und dann läßt man ihn erst recht einzeln
sitzen. Das heißt, er hat alle Nachteile der Einzelhaft, aber
den ilim vom Gesetz eingeräumten Vorteil hat er niciir. Er wird
ihm widerrechtlich entzogen. Ein solches Eingreifen in die
KecLte eines Gefangenen geht nicht von einem einzelnen Ge-
richt aus ; es ist wahr, was die dortigen Geriehtsbeamten ge-
sagt haben, daß da höherer Einfluß sich geltend gemacht habe.
EiS ist wahr, daß Graf S c h ö n b o r n in seinem doppelten
Haß als Hochklerikaler und als Mitglied der Koalitions-
regierung den Pater (Stojalowski verfolgte. Die Öffentlichkeit
hat die Pflicht gehabt, sich des Wehrlosen anzunehmen. Die
Pater Stojalowski 235
Ausdrücke des Artikels sind durchaus nicht übertrieben, sie ent-
sprechen dem, was geschehen- ist.
Noch einee: Es war dem Staatsanwalt klar, daß die An-
klage, nachdem Graf Schönborn zur Zeit des Erscheinens des
Artikels nicht mehr Minister war, auf schwachen Füßen stand,
er mußte also deduzieren, daß es sich nicht um den Minister,
sondern um das ganze Ministerium handle . . .
Vorsitzender: Das ist nicht richtig. Es heißt in der Anklage
wörtlich (liest) : . . . wird das Vorgehen des k. k. Ministeriums der Justiz
und dessen Chefs, des Grafen Schönborn, als „ehrlos" bezeichnet . . .
Dr. Adler: Das ist^e ja, was ich sage. (Fortfahrend:)
Der Staatsanwalt mußte das ganze Justizministerium dafür ver-
antwortlich machen, er mußte mich beschuldigen, ich hätte
nicht den Minister allein, sondern ich hätte das ganze Mi-
nisterium angegriffen. Es ist ein tragisches Geschick der
Staatsanwaltschaft, daß sie andere Stellen des Aufsatzes, die
viel mehr als die inkriminierten Stellen das ganze System der
Justiz betreffen und die ebenso schwer «und heftig sind, voll-
kommen unbeachtet gelassen hat und daß sie nicht mit der
Wimper zuckt, wenn es heißt, daß Graf Schönborn das Mi-
nisterium zwar nicht mehr leitet, aber daß seine Richtung fort-
leben wird, bis sich der Herkules findet, der diesen Augiast^tall
reinigen wird. Diese Stelle ist nicht inkriminiert. Ich zeige
damit, wie zufällig einzelnes herausgegriffen und der Anklage
zugeführt wird.
Bei der zweiten Auflage der Konfiskation war ich in der
Lage, anstatt der konfiszierten Stellen einfach die Inter-
pellation abzudrucken, die der Abgeordnete Pernerstorfer be-
reits sechs Wochen vorher an den damals noch im Amt be-
findlichen Justizminister gerichtet hat und in welcher alle Tat-
sachen, die hier angeführt sind, dem Justizminister vorgelegt
wurden und wo er gefragt wurde, ob er diese Mißstände nicht
beheben will. Diese Interpellation war nicht nur die sechs
Wochen später, da der Aufsatz erschien, unbeantwortet,
sondern t^ie ist dies noch heute. Graf Schönborn hat noch drei
Wochen Zeit gehabt. Er hat es trotzdem unterlassen, sich über
diese Beschuldigungen zu rechtfertigen, und wir sind gewiß be-
rechtigt, anzunehmen, daß dann, wenn eine solche Auskunft
verweigert wird, ein eigenes Geständnis des Angeklagten vor-
liegt. Ich kann also ruhig sagen, ich habe dae, was im Artikel
23G Pater Stojalowski
gesagt war, nicht nur darum veröffentlicht, weil ich es für
ineine Pflicht gehalten habe, sondern auch darum, weil ich von
der Wahrheit dessen überzeugt war, was in dem Artikel stand.
Vorsitzender: Ich mache Sie aufmerksam, daß Sie sich nicht
nur wegen der Angriffe gegen den Grafen Schönborn zu verantworten
haben, sondern auch wegen der gegen die Gerichtsbehörden gerichteten
Anwürfe.
Dr. Adler: Graf Schönborn hat seine Untergebenen da-
zu gedrängt.
Vorsitzender: Sie sprechen nicht nur vom Grafen Schönborn und
vom Ministerium, sondern Ihre Angriffe gelten auch den Gerichtsbeamten,
die sich zu diesen Gesetzesverletzungen hergegeben haben.
Dr. Adler: Es wird hier sogar mehr erzählt, nämlich
daß Pater Stojalowski früher die eigene Kost, die Begünstigung
des Rauchen usw. gehabt hat, daß dae alles aber eingestellt
wurde, „weil der S c h ö n b o r n ihnen e i n e N a s e ge-
schickt hat".
Vorsitzender: Sie deduzieren daraus deren Mitschuld.
Dr. Adler: Gerichtsbehörden, die sich zwingen lassen,
solches zu tun, machen sich entschieden mitschuldig an
den Gesetzes Verletzungen, aber sie haben
einen ]\I i 1 d e r u n g e g r u n d für sich... den un-
widerstehlichen Zwang ...
Vorsitzender: Daß durch Schmähungen und Verspottungen andere
aufgereizt werden, deshalb ist der Artikel inkriminiert. Die Behörden werden
herabgesetzt und beschimpfende Ausdrücke gebraucht.
Dr. Adler: Auch nicht von der Form des Artikels kann
ich das gelten lassen. Behörden, die solche Dinge tun, haben sich
selbst dem Haß und der Verachtung übergeben. Nicht wir
morden ihren Ruf, sie sind Selbstmörder. Von Spott ist in dem
ganzen Brief keine Spur. Er ist im tiefsten Ernst geschrieben.
Nicht einmal Ironie kommt zum Wort; Bitterkeit und Ent-
rüstung spricht daraus. Eine Schmähung kommt nicht vor. Ehr-
losigkeit ist kein Schmähwort.
Vorsitzender: Es kommt auch das Wort „Niederträchtigkeit" vor.
Das ist doch wohl Hohn. '
Dr. Adler: Die Unterdrückung des galizischen Volkes
ruft nicht Hohn, sondern Entrüstung hervor.
Vorsitzender: Es handelt sich nicht um das galizische Volk.
Dr. Adler: Ja, es handelt sich um die Leiden der unter-
drückten Klasse, die dieser Artikel zum Ausdruck bringt . . .
Pater Stojalowski 237
Landesgerichtsrat F e i g 1 wendet sich nun plötzlich an das Publikum
und apostrophiert es, trotzdem weder auf der Anklagebank noch in der
Journalistenloge irgendwelche Äußerung des Publikums vernehmlich war, sehr
scharf: „Ich bitte, sich ruhig zu verhalten, sonst lasse ich sofort den Saal
räumen. Noch einmal eine solche Äußerung, und ich lasse augenblicklich
den Saal räumen! Das Publikum hat sich ruhig zu verhalten . . . Ich bitte,
Herr Angeklagter, fortzufahren."
Dr. Adler: Hier ist nicht eine Schmähung, sondern eine
trockene Bezeichnung des Vorgehens ausgedrückt; es war ehr-
los, anders läßt es sich nicht richtig kennzeichnen.
Der Vorsitzende wendet sich nun dem mitangeklagten Redakteur
Bretschneider zu, der angeklagt ist, betreffs zwei gleichfalls konfiszierter
Notizen die pflichtgemäße Obsorge außer acht gelassen zu haben.
Vorsitzender: Herr Breischneider, Sie sind Redakteur der
..Arbeiter-Zeitun g'".
Bretschneider: Ja!
Pater Stojalowski, der in einer der ersten Bänke des Zuschauer-
raumes der Verhandlung beiwohnt, schneuzt sich.
Vorsitzender Landesgerichtsrat F e i g 1 izum Publikum) : B i 1 1 e sich
möglichst geräuschlos zu benehmen. (Stille Heiterkeit.)
Bretschneider: Meine Herren Geschwoinen! Ich stehe
heute nicht zum erstenmal wegen dieser Übertretung vor den Geschwornen,
sondern bereits zum viertenmal. Im Hinblick auf meine konsequente Ver-
antwortung nimmt mich dies wunder. Bei den November-Geschwornen ist
es mir gelungen, ihnen begreiflich zu machen, wie ich mein Amt ausgeübt
habe. Hier habe ich zwei Entscheidungen . . .
Vorsitzender: Ich bitte bei der Sache zu bleiben.
Bretschneider: (fortfahrend): Diese Dekrete der Be-
hörden werden meistens mir zugesendet; ich sehe mir diese merkwürdigen
Entscheidungen an, bilde mir ein Urteil darüber und bespreche dann mit dem
betreffenden Redakteur die Art und Weise, wie er das betreffende Dekret
beurteilen und behandeln werde. Ich habe es dann hinterher natürlich nicht
notwendig, die Manuskripte nachzulesen. Wir kennen ja diese Bezirks-
hauptmannschaften; ich muß also sagen, daß ich mich ruhig auf die
Redakteure verlassen kann. Ich kann mich heute nicht mehr erinnern, ob
ich die Notizen vor der Drucklegung gelesen oder zum Druck befördert habe,
aber die merkwürdigen Dekrete habe ich vorher gelesen und mich darüber
besprochen. Wir kennen diese sonderbaren Bezirkshauptmannschaflen . . .
Vorsitzender (unterbrechend) : Lassen Sie die Ausfälle. Be-
sprechen Sie den Tatbestand ohne die Adjektive.
Bretschneider: Ich werde mich danach richten. (Fort-
fahrend:) Uns klagt man an, und wir glauben uirs gerade durch Veröffent-
lichung solcher Tatsachen um das öffentliche Interesse mehr verdient zu
machen als der Staatsanwalt, der jede solche Sache rügen und auf die An-
klagebank bringen sollte. Der Staatsanwalt sollte den Mut haben, nicht die
Redakteure, die solches wahrheitsgetreu schreiben, auf die Anklagebank zu
bringen, sondern endlich damit anzufangen, daß solche Organe der politischen
238 Pater Stojalowski
Behörden, die bewußt und immer den Sozialdemokraten gegenüber ungesetz-
liche Amtshandlungen begehen, auf die Anklagebank kommen. Er sollte den
Mut haben, sie wegen Mißbrauchs der Amtsgewalt anzu-
klagen.
Vorsitzender: Das gehl über den Rahmen Ihrer Verteidigung
hinaus. Sie haben nicht dem Staatsanwalt vorzuschreiben, was er tun soll.
Es muß Ihnen genug sein, wenn er nur Ihnen gegenüber seine Pflicht erfüllt.
Bretschneider; Ich bin überzeugt, die Geschwornen
werden darin mit uns einig sein, daß sich unsere Delikte auf ein Vorgehen
reduzieren, das dem Gesetz entspricht, und ich erwarte zuversichtlich, daß
sie uns freisprechen werden.
Dr. Harpner bittet, nachdem der Vorsitzende die aktengemäße Vor-
geschichte des Prozesses kurz skizziert hatte,- das Erkenntnis der Kon-
fiskationsbestätigung der Nummer 186 der „Arbeiter-Zeitung'" zu verlesen.
Der Vorsitzende willfahrt diesem Wunsch und konstatiert unter einem, daß
in diesem Erkenntnis von „Entstellung der Tatsachen"' die Rede ist, eine
Beschuldigung, die in der Anklageschrift nicht mehr vorkommt.
Verteidiger: Ich habe schon in der Voruntersuchung die Ein-
vernehmung des im Hause anwesenden Pater Stojalowski als Zeugen
beantragt und wurde abgewiesen. Es wurde gesagt, daß diese Einvernahme
von keiner Relevanz sei. Die Staatsanwaltschaft steht regelmäßig auf dem
Standpunkt, daß es beim § 300 keinen Wahrheitsbeweis gebe. Wenn aber
behauptet wird, daß Unwahrheiten und Entstellungen von Tatsachen in dem
inkriminierten Artikel vorkommen, dann muß es doch dem Angeklagten
unbenommen bleiben, nachweisen zu dürfen, daß er keine Unwahrheiten ge-
schrieben und keine Tatsachen entstellt hat.
Der Staatsanwalt spricht gegen diesen Antrag und sagt, daß
der Angeklagte nicht beschuldigt sei, „Tatsachen entstellt"", sondern bloß
„geschmäht" zu haben.
Der iGerichtshof gibt dem Antrag keine Folge, mit der Begründung,
daß der Staatsanwaltschaft das Recht zustehe, die Anklage zu begrenzen, und
daß sie wirklich bloß den Artikel wegen der darin vorkommenden
Schmähungen verfolge.
Verteidiger: Ich bringe somit dem hohen Gerichtshof folgendes
zur Kenntnis. Der Verfasser des inkriminierten Artikels
ist zu mir gekommen, um mir zu sagen, daß er sich verpflichtet fühle, die
Verantwortung mitzuübernehmen und neben Dr. Adler seine Sache zu ver-
treten. Ich bin ermächtigt, mitzuteilen, daß Pater Stoja-
lowski der Verfasser ist und den Gerichtshof bittet,
sofort gegen ihn die Verhandlung durchzuführen, indem
er auf alle Fristen und jedeji Einspruch verzichtet. Der Staatsanwalt erhebt
sich und erklärt, daß er sich die Verfolgung des Pater Stojalowski vorbehalte,
aber nicht in derLage sei, heute die Anklage zu erheben.
Es werden hierauf den Geschwornen die Schuldfragen vorgelegt, und
zwar : Erste Hauptfrage : Ist Dr. Adler schuldig, durch Schmähungen zu Haß
und Verachtung gegen die Behörden aufgereizt zu haben? Zweite Hauptfrage:
Ist L. A. Bretschneider schuldig der Vernachlässigung der pflichtgemäßen
Obsorge?
Pater Stojalowski . 239
Nachdem der Staatsanwalt gesprochen und der Verteidiger sein
Plädoyer gehalten hat, suchte der Staatsanwalt in seiner Replik zu beweisen,
daJ3 faktisch das Justizministerium angegriffen sei, weil die Erlässe und Ver-
fügungen des gewiesenen Justizministers noch zu Recht bestehen. Er meint
ferner, daß die „Arbeiter-Zeitung"' sich sehr unästhetisch benehme, indem
sie nach dem Sturz eines jeden Ministeriums ein förmliches Wutgeheul
ausstoße, entgegen dem Satze, daß man von Toten nur Gutes sagen solle.
Dr. Adler:
Meine Herren Geschwornen! Ich würde nicht mehr ge-
sprochen haben, um Sie nicht zu ermüden, aber der Vorwurf,
den der Staatsanwalt gegen die „Arbeiter-Zeitung" gemacht hat,
zwingt mich hiezu. Es beliebt dem Staatsanwalt, der „Arbeiter-
Zeitung" nachzusagen, daß sie den Minister angreift, nachdem
er nicht mehr im Amt ist, und er bezeichnet das als Geschmack-
losigkeit. Ich glaube, es gibt niemand im Saal, der so genau
wie der Staatsanwalt selbst, es weiß, daß die „Arbeiter-Zeitung"
von diesem Vorwurf vollständig frei ist, und insbesondere
Minister Schönborn und die Regierung, der er angehört hat, die
Koalitionsregierung, ist, solange sie bestanden hat, von der „Ar-
beiter-Zeitung" mit der ihr gebührenden Kritik verfolgt worden,
und die Staatsanwälte haben uns genugsam konfisziert und
eventuell vor die Geschwornen gebracht. Anders ist die Sache
bei der Anklagebehörde selbst. Ich habe nicht nur diesen Pro-
zeß, sondern auch noch eine Anzahl von anderen Anklagen .^ur
Verfügung, um zu zeigen, wie die Anklagebehörde . . .
Landesgerichtsrat Feigl: Andere Prozesse gehören nicht hieher. Ich
bitte, sie nicht in den Rahmen dieses Prozesses zu ziehen.
Dr. Adler: Der Staatsanwalt hat in diesem Falle erklärt,
daß eine Aufreizung gegen Institutionen und Behörden vorliegt.
In zwei anderen Fällen, wo ich dieselben Anklagen gegen das
System Badeni mündlich vorbrachte, sieht der Staatsanwalt
darin nur eine Ehrenbelcidigung, eine persönliche Angelegen-
heit, und bringt die Sache vor das Bezirksgericht und nicht vor
die Geschwornen. Man changiert, wie man's braucht. DerStaats-
anwalt sagt, die „Arbeiter-Zeitung" untergrabe die Autorität
der Behörden, die das Gerüst des Staates seien. Ich erkläre
demgegenüber, die „Arbeiter-Zeitung" hat allerdings die Ten-
denz, die Autorität jener Beamten, die die Gesetze übertreten,
zu untergraben, und hat die Pflicht, das zu tun, um so mehr in
einem Lande, von dem der Staatsanwalt selbst sagt, daß »nan
240 • Pater Stqjalowski
nicht genug- Gerichtehöfe finden würde, um alle Beamten, die
das Gesetz übertreten, anzuklagen. Es ist dies die Pflicht, Ten-
denz einer „Arbeiter-Zeitung", des Organs der Arbeiter, die
ja am meisten darunter zu leiden haben. Die angemaßte, falsche
und auf Ungesetzlichkeit beruhende Autorität, die so oft „da-
neben haut", untergräbt sie allerdings. Wenn Sie diese Tat-
sachen ins Auge faesen, sehen, wie Pater Stojalowski von dieser
Autorität behandelt wurde, wäe ein ganz armes, ausgebeutetes
Volk dort behandelt wird, da müssen Sie sich sagen, daß die
Autorität von den Behörden untergraben wird. Die Bürokratie
wird da eine Maschine zur Unterdrückung des arbeitenden
Volkes in Galizien, eine ]\[aschine in der Hand der Großgrund-
besitzer, der Schlachzizen, der Leute, die das arme Volk aus-
beuten, an deren Spitze die Badenie gestanden haben und
stehen. Diese unrechtmäßige Autorität wollen wir allerdings
untergraben. Das Wort: „Wer über gewisse Dinge den Ver-
stand nicht verliert, hat keinen zu verlieren", läßt sich auch auf
die Gerechtigkeit anwenden; wer gegenüber so haarsträuben-
den Dingen objektiv und maßvoll bleibt, hat nie Gerechtigkeit
besessen, wen gegenüber dem Rechtsbruch nicht die Entrüstung
fortreißt, der hat nie die Billigkeit gekannt.
Wir fürchten die Wahrheit nicht. Aber der Staatsanwalt
fürchtet sie, der den Pater Stojalowski nicht als Zeugen
und nicht als Angeklagten hier haben will. Der
Staatsanwalt hat dadurch gezeigt, wie notwendig es ist, in
offenen, starken und kräftigen Worten aufzutreten, damit man
gehört werde. Bei abwägenden, gemessenen, akademischen Aus-
einandersetzungen wüßten Sie, meine Herren Geschwornen, und
andere Leute nichts von den Dingen, die bürgerliche Presse ver-
schweigt sie. Weder die liberalen noch die antisemitischen
Blätter haben darüber geschrieben. Sie wußten davon nichts.
Und doch ist die Öffentlichkeit unsere einzige Zuflucht. Gibt es
ein einziges Gericht in Österreich, das nur ein einziges Mal über
solche Vergehen eines Beamten zu verhandeln gehabt hätte?
Nein! Scharf und rücksichtslos muß man also diesen Kampf
führen. Es ist nötig, daß man die unaufgeklärte, leidende Menge
anreizt, aufreizt und aufklärt, daß sie helfe, endlich dieses
System zu beseitigen, das die Behörden nicht beseitigen. Darum
habe ich mit vollem Bewußtsein, eine heilige Pflicht zu tun, den
Brief des Pater Stojalowski abgedruckt und habe nicht ein ein-
Die galizischen Wahlgreuel 24:1
zigee Wort daraus zurückzunehmen. Ich bin überzeugt, Sie,
meine Herren Geschworneu, werden mir nicht unrecht geben.
Nach dem Resümee des Vorsitzenden zogen sich die Geschwornen zur
Beratung zurück. Ihr Verdikt, das der Obmann Emmerich v. G e n z i n g e r
verkündete, lautete:
Erste Frage (Dr. Adler : Vergehen nach § 300) v i e r Ja — ■ acht Nein.
Zweite Frage (Bretschneider: Vernachlässigung der pflichtgemäßen
Obsorge) sechs Ja — sechs Nein.
Adler und Bretschneider mußten somit freigesprochen werden.
Der Gerichtshof erklärte, daß er über den Antrag des Staatsanwalts,
das Verbot der Weiterverbreitung der konfiszierten Nummern der „Arbeiter-
Zeitung" auszusprechen, in geheimer Sitzung entscheiden werde.
Trotz des Freispruches wurde dann die Konfiskation der
Artikel ausgesprO'Chen („Arbeiter-Zeituag" Nr. 16 vom 17. Jänner 1896).
Pater Stojalowski entpuppte sich später als unwürdig des Schutzes,
den ihm Adler angedeihen ließ. Er wurde ein Werkzeug der Schlachzizen
und beschimpfte die Sozialdemokraten aufs gemeinste. Aber das ist Adler
öfter passiert und konnte ihn nicht abhalten, das Unrecht zu geißeln, wenn
er auch Undank dafür erntete.
Die galizischen Wahlgreuel.
Nach den Freisprüchen beim Schwurgericht mied der Staatsanwalt
diese unverläßlichen Richter und zog sich auf das Bezirksgericht zurück.
Am 17. April 1890 stellte er Adler wegen einer Rede, die er in einer Ver-
sammlung auf der Feuerwerkswiese im Prater am 22. September 1895, also
siel)en Monate vorher, über das gewalttätige Vorgehen der k. k. Behörden
bei den galizischen Wahlen gehalten hatte, vor das Bezirksgericht
Leopoldstadt. Zuerst hatte man die Rede als Vergehen nach § 300 inkri-
miniert, dann aber, um die Geschwornen zu vermeiden, die Anklage auf
Übertretu'ng reduziert.
Dr. Adler hatte die Vorgänge in folgenden Sätzen erörtert:
„In Galizien stehen jetzt die Landtagswahlen bevor; was da ge-
leistet wird an Unterdrückung des Rechtes (Zuruf: Schwindel!)
— Schwindel ist ein schwaches Wort — das ist bekannt. Daß
aber die Fälschung, die gemeinste Unterdrückung geradezu die
Grundlage der Wahl wird, und daß der Landtag nicht auf der
Abstimmung des Volkes, sondern auf der Abstimmung der Gen-
darmen beruht, das ist das Niederträchtigste . . ." Dann später,
vom Grafen Badeni sprechend: In allen Provinzen hatten wir
mit Bezirkshauptleuten zu tun, die eine „eiserne Hand" besaßen.
Man könnte sie brutal nennen, wenn es nicht verboten wäre.
Aber die Herren wissen auch, daß wir diese brutalen Bezirks-
16
242 Die galizischen Wahlgreuel
hauptleute Mann für Mann zur Gesetzlichkeit erzogen haben,
und wir fühlen erzieherische Kraft genug in uns, um auch
polnische Ministerpräsidenten zu erziehen." In diesen Stellen
mm erblickte die Anklage eine Beleidigung von Behörden.
Auf Befragen des Eichters, Ratssekretär Dr. Sedlaczek,
erklärte sich der Angeklagte für nichtschuldig, konstatierte aber
zugleich, daß die von ihm behaupteten Tatsachen nicht nur
wahr, sondern auch erweislich seien.
Richter: Warum haben Sie sich aber der Ausdrücke ..lüedor-
trächtig" und „brutal" bedient?
Adler; Derartige Gesetzes Verletzungen
durch Behörden lassen eich nicht mit anderen Ausdrücken
I ezeichnen.
Richter: Wen haben Sie denn eigentlich gemeint?
Adler: Wer sich beleidigt fühlt, soll sich melden,
f^brigens kann ich konstatieren, daß ich alle Organe in ihrer
Gesamtheit, vom Statthalter bis zum Bezirkskommissär, und
zwar ausschließlich in ihrer Amtsführung, kritisiert habe, ihre
„Ehre" ist mir ganz gleichgültig.
Richter; Wie haben Sie die Stelle mit den brutalen Bezirkshaup!-
Iputen gemeint?
Adler: Ich habe an dieser Stelle den Bezirkshaupt-
leuten das Kompliment gemacht, daß unter unserem Einfluß ihre
Amtsführung eine legale geworden ist, und daß es uns wohl ge-
lingen wird, auch den Badeni dazu zu erziehen.
Der Zeuge Polizeikommissär Dr. N a t k i s kann den Eindruck, den die
Rede auf ihn machte, nicht mehr schildern, weil seitdem ein halbes Jahr
\ergangen sei.
Adler erklärte nun, bezüglich der Ungeeetzlichkeiten
fleu Wahrheitsbeweis antreten zu wollen. ITauptsächlich
könne er sich hiebei auf das M e m o r a n d u m stützen, das die
in jener Versammlung anwesenden ruthenischen Bauern dem
Ministerpräsidenten Grafen Kielniansegg überreichen
wollten. Als der Sektionschef, der die Bauern empfing, dieses
Memorandum gelesen hatte, sagte er, daß hier offenbar das Ver-
brechen des Mißbrauchs der Amtsgewalt vorliege.
Ferner lege er eine Depesche vor, aus der hervorgehe, daß der
Bezirkshauptmann Dobrowolski einen Wahlmann in
Ketten schlagen ließ, weil er unzufrieden mit seiner Ab-
Die galizisc'hen Wahlgreuel 243
ötimmung war. Ich bin in der Lage, alles zu erweisen, und das
Gericht braucht nur den damaligen Statthalter von Galizien,
Grafen Badeni, vorzuladen, der die Dinge genau kennt.
Verteidiger Dr. Harpner: Wenn eine Ehrenbeleidigung vorliegt, so
muß auch der Wahrheitsbeweis zulässig sein. Ich beantrage daher
die Verlesung dieses Memorandums, dann die des anderen Memorandums,
das die ruthenische Massendeputalion dem Kaiser überreichte, Verlesung der
Iiiterpellation des Abgeordneten Romanczu?, die noch unbeantwortet ist, und
die Einvernehmung der betroffenen Personen und schließlich Einver-
nehmung des Grafen Badeni.
Der Richter erklärte, den Wahrheitsbeweis nicht zuzulassen, weil bei
IBeschimpfungen wie „niederträchtig'" und -hrutar kein Wahrheitsbeweis zu-
lässig sei.
Nachdem der Staatsanwalt die Bestrafung beantragt und der
Verteidiger für den Freispruch eingetreten war, sagte
Dr. Adler:
Nur ganz kurz konstatiere ich. daß die Geschichte
der galizi sehen Land tags wählen eines der
schmutzigsten Blätter in der österreichischen Verwaltungs-
geschichte ist. Die Regierung weiß das ganz genau, und ich habe
sie wiederholt in Versammlungen und in der Presse provoziert,
um einmal eine Erörterung hierüber vor den Geschwornen
durchzusetzen. Die Regierung ist dem aber ausgewichen, und
aus diesem Grunde sind drei Prozesse gegen mich
eingestellt worden. Auch hier wird der Wahrheits-
beweis nicht zugelassen. Die Ursache alle.^ dessen ist klar. Graf
Badeni hat Butter am Kopf und will daher nicht an
die Sonne des Schwurgerichtes gehen. Ich hoffe, daß der u n a b-
h ii n g i g e Richter dies würdigen wird.
Der Richter verurteilte den Angeklagten zu zweihundert
G\ilden Geldstrafe, im Nichteinbringungsfalle zu acht Tagen
Airests, und zwar mit folgender „Begründung": Es seien offenbar die Be-
hörden beleidigt, die beauftragt waren, die Wahlen zu leiten. Die Ausdrücke,
deren sich der Angeklagte bediente, seien aber offenkundige Beschimpfungen,
für die auch kein Wahrheitsbeweis erbracht werden könne.
Bezüglich der zweiten inkriminierten Stelle wurde Adler
fieigesprochen.
Der Verteidiger erhob die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung
gegen das Strafausmaß. Auch der staatsanwaltschaftliche Funktionär meldete
die Nichtigkeitsbeschwerde und die Benifung an. („Arbeiter-Zeitung" Nr. 108
vom 19. April 1896.)
16*
244 Die galizischen Wahlgreuel
Bei der Berufungsverhandlung freigesprochen.
Gegen das Urteil legte Adler die Berufuag ein. Die Verhandlung dar-
über fand am 2. Juli 1896 statt. Der Verteidiger Dr. H a r p n e r wiederholte
lien in der ersten Verhandlung gestellten Antrag auf Zulassung des Wahrheits-
beweises, Verlesung der Interpellation Romanczuk, Einvernehmung der
betroffenen Person und schließlich Einvernehmung des Grafen B a d e n i. --
Der Gerichtshof lehnte den Antrag ab, mit der Begründung, daß für Be-
schimpfungen ganz allgemeiner Naiur ein Wahrheitsbeweis nicht zulässig
.' ei. — Der Staatsanwalt Dr. v. Sauer erklärt, daß er auch den Frei-
spruch bezüglich der :,Beleidigung" der früheren Bezirkshauptleute an-
fechte. Der Freispruch sei aus formalen Gründen unrichtig. Eine Behörde
sei etwas kontinuierlicii Fortwirkendes, und in den früheren Bezirkshaupt-
leuten seien die bestehenden Bezirkshauptmannschalten mitgetroffen. Es sei
unzweifelhaft, daß dem Angeklagten der „animus", die Absicht der Be-
leidigung zuzuschreiben sei. Bei seinen Ausführungen unterlief dem Staats-
anwalt der Irrtum, daß unter den „brutalen Bezirkshauptleuten, die man
erzogen habe", die galizischen gemeint seien.
Nach den Ausführungen Harpners und des Staatsanwalts
erklärte
Adler:
Ich hätte die Führung meiner Sache ganz meinem Ver-
teidiger überlassen, wenn der Staatsanwalt nicht über den
Animus der Beleidigung gesprochen hätte. Darüber kann ich
nur selbst Auskunft geben. Nun bin ich verpflichtet, zu sagen,
daß uns die Ehre der Beamten ganz gleichgültig ist. Nicht von
unserem Animus kann hier die Eede sein, sondern bloL5 vom
Animus des Gerichtes, das nicht wünscht, daß die galiziselien
Wahlen vor den Geschwornen besprochen . . .
(Unterbrechung des Vorsitzenden: Ich bitte, nicht an der Objeklivitiil
der Staatsanwaltschaift in dieser Weise Kritik zu üben . . .)
Adler: Ich bin der Ehre dieser Herren in keiner Weise
nahegetreten, es war meine Absicht, das öffentliche Gewissen
wachzurütteln, und nichts anderes. Es wird uns immer der
Wahrheitsbeweis abgeschnitten aber die Wahrheit läßt sich
nicht auf die Dauer unterdrücken; zum Teil sind die gali-
zischen Wahrheiten auch schon im Parlament öffentlich fest-
gestellt worden. Es hat sich also durchaus nicht um die Ehre ge-
liandelt, wozu mir auch jeder Animus fehlt; wenn ich etwas
getan habe, so habe ich „aufgereizt". Ein Mißverständnis muß
ich noch berichtigen, das dem Herrn Staatsanwalt unterlaufen
ist. Der Staatsanwalt mutet mir nämlich zu, daß ich gemeint
habe, es seien die galizischen Bezirkshauptleute, die früher
brutal waren und von uns erzogen worden sind. Da muß ich
Adler wegen Mißhandlung eines Arbeiters angeklagt I . . 245
nun konstatieren, daß ich unter den bereits e r z o g- e n e n
Bezirkshauptleuton die o- a 1 i z i s c h e n leider nicht meinen
konnte.
Nach kurzer Beratuiig verwarf der Gerichtshof die Berufung des Staats-
anwalts, gab dagegen der Berufung Adlers statt und sprach ihn frei.
Die Begründung besagt folgendes: Nachdem die Anklage nicht nach
•? 300 erhoben wurde, blieb allerdings nur der Artikel V übrig, aber der Tat-
bestand deckt sich nicht mit 'dem Wortlaut dieses Gesetzes. Die Äußerungen
des Angeklagten waren ganz allgemeiner Natur und hatten keine bestimmte
Behörde zum Ziel. Der Artikel V setzt aber voraus, daß e i n (>
licstimmte, näher bezeichnete oder wenigstens mit einer
jeden Zweifel über ihre Identität ausschließenden
Deutlichkeit gekennzeichnete Behörde beleidigt wor-
»i nn ist. Das hat der Angeklagte nicht getan, und er hätte daher nur nach
ij 80(1 verfolgt werden können. ..Arbeiter-Zeitunsr" Nr. 181 vom 3. .luli 1896.
Adler wegen Mißhandlung eines Arbeiters
angeklagt ! . . .
.Ja wer hätte das von ihm erwartet? Die Christlichsozialen haben c-
i;-i zahllosen Versammlungen erzählt, ihr „Witzblatt" hat Adler abgebildet,
wie er einen christlichen Arbeiter mit dem Stocke prügelt, der getaufte Jude
und Antisemit Dr. Anton Low (an der Kralle erkennt man den Löwen'
hat die Strafanzeige erstattet, die Staatsanwaitschaft erhob tatsächlich die
Anklage und am 26. Februar 1897 stand Adler vor dem Bezirksgericht Alser-
■trund. Wahrhaftig, Victor Adler, wegen .Mißhandlung eines Arbeiters!
Bei der Verhandlung stellte sich natürlich sofort heraus, daß es sich
um einen frechen Bubenstreich der Christlichsozialen handelte. Die Verhand-
lung ergab folgendes:
Am 23. Jänner stand ein Haiidlungsdienor namens Franz Josef K n o I l
vor Gericht, weil er einen jüdischen Hausierer mißhandelt haben sollte. Die
Szene, die sich in der Inneren Stadt, in der Nähe des erzbischöflicheii
Palais abspielte, erregte unliebsames Aufsehen. Es nahmen sich mehrere
Pa,ssanten des geschlagenen Hausierers an und vörfolgten den Knotl.
K i n e r von den Verfolgern schlug ihn mit einem Stock über den Kopf, so
daß er einen Moment halbbetäubt stehen blieb. Dieser schlagfertige Passant
soll nun, wie ein Herr .Anton Reis und der Wachmann Graf erzä-hlt
haben sollen, der Dr. Victor Adler gewesen sein. Auf dieses „Soll'
hin erstattete nun Dr. Low, der in der ersten Verhandlung 'den Knott ver-
trat, gegen Dr. Adler die Strafanzeige und führte den Reis und den
Wachmann Graf als Zeugen. Dann aber wurde die Sache sofort ausgetrommelt,
in christlichsozialen Versammlungen besprochen und breitci-treten, im
„Kikeriki" illustriert.
Zur Verhandlung erschienen nur der Privatbeteiligte Knott und der
Buchhalter Anton Reis. Der Kronzeuge, Wachmann (i r a f, war
246 Adler wegen Mißhandlung eines Arbeiters angeklagt !
merkwürdigerweise nicht erschienen, und Dr. Low beeilte sich, ihn mit
Krankheit zu entschuldigen. Jedenfalls kam ihm die Krankheit des Herrn
Graf sehr gelegen.
Adler erklärte, nachdem er die Anklage gehört hatte,
daß er von der ganzen Geschichte nichts wisse und ihr absolut
fernstehe. Er bleibe bei dieser Erklärung stehen und lasse sich
nicht einmal auf einen Alibibeweis ein, weil er sich gar nicht
die Mühe machen wolle, nach so langer Zeit zu konstatieren,
wo er sich damals aufgehalten habe.
Es wird nun festgestellt, daß sich die ganze Prügelszene zwischen
9 und 10 Uhr vormittagsi abspielte.
Adler: Nun, da würde es mir auch nicht einmal schwer,
ein Alibi nachzuweisen. Um diese Zeit kann ich nicht in der
Inneren Stadt gewesen sein, denn schon seit mehr als einem
Jahre komme ich nicht vor halb 10 Uhr vom Hause weg.
Ich komme nämlich nie vor 3 Uhr früh ins Bett, und es
ist daher begreiflich, daß ich auch nicht vor 9 I^hr vormittaüs
ausgehe.
Der Privatbeteiligte K n o 1 1 weiß gar nichts. Er ging
zirka vierzehn Tage, nachdem er den Schlag bekommen
hatte, durch die Köllnerhofgasse. Da klopfte ihm plötzlich
jemand rückwärts auf die Schulter und sprach ihn an. Es war
der Buchhalter Anton Reis, der am 1. Dezember Zeuge des
Vorfalles war. D e r habe ihm nun gesagt, daß der schlagfertige
Herr der Dr. Adler gewesen sein soll. Wenigstens be-
haupte dies der Wachmann G r a f. Knott erzählt weiter,
daß er sich dann beim Wachmann Graf erkundigte, und der
sagte, er g lau b e, der Täter sei der Dr. Adler gewesen.
Merkwürdig war, daß der gute Wachmann diesen seinen
Glauben durch vierzehn Tage als Geheimnis in seiner Brust
bewahrt haben sollte, während er docli pflichtgemäß hätte die
Anzeige machen müssen.
Der staatsanwaltschaftliche Funktionär wartete gar nicht, bis der
zweite Zeuge vernommen war, sondern sah ein, daß er düpiert w^ordon sei,
erhob sich und erklärte, daß er die Ankla.ge mangels jeglichen Tat-
bestandes zurückziehe.
Der Richter Adjunkt Dr. Langer verkündete nun das frei-
sprechende Urteil, worauf der Vertreter des Angeklagten, Doktor
IFarpner, bekanntgab, daß sich Adler die Verfolgung, insbesondere audi
des Herrn Dr. Low, wegen Verbreitung einer falschen Be-
schuldigung vorbehalte.
Er darf kein Verbrechen begangen haben I 24 t
Auf dem Gange trat vor allem Herr Reis auf Adler zu und sagte:
„Herr Doktor, ich sehe Sie heute zum erstenmal. Sie waren es b e-
stimmt nich t.'"
Dr. Adler: Warum haben die Herren dann so etwas
verbreitet?
Inzwischen trat Dr. Low hinzu und wollte erzählen, daß er mit der
Sache in gar keinem Zusammenhang stehe und sehr loyal vorgegangen sei.
Dr. Adler: Na freilich. Deswegen ist der Kronzeuge
auch krank geworden. Und warum haben Sie die G'schicht'
in allen Versammlungen erzählt? Wir kennen Sie geuMU.
AVir werden aber schon noch sprechen miteinander. Merken
Sie sich das.
Dr. Low versuchte noch einige Beteuerungen und schlich, als er ^ai1,
daß er damit keinen Effekt erziele, sehr kleinlaut und verzagt ab.
Adler erhob dann gegen Dr. Low die Ehrenbeleidigungsklage, doch
konnte der beleidigende Wortlaut der in einer Versammlung gehaltenen Rede
nicht festgestellt werden, weshalb der christlichsoziale Ehrenmann frei-
'üesprochen wurde, wenn er und seine Partei auch moralisch ver-
urteilt blieb.
Er darf kein Verbrechen begangen haben!
In einer Versammlung des Sozialdemokratischen Wahlvereines am
8. November 1897, als die Erbitterung gegen das Ministerium Badeni vor d;M-
Explosion stand, hatte Adler eine Rede über die politische Lage gehalten
und den polnischen Ministerpräsidenten scharf angegriffen. Da Adler voraus-
gesehen hatte, daß eine Verfolgimg eintreten werde, hatte er absichtlich sr»
gesprochen, daß nur eine Verfolgung wegen Verbrechens der Aufreizung
gegen die Staatsgewalt erfolgen könnte, worüber das Schwurgericht zu
entscheiden hätte. Aber es nützte nichts, die Anklage wurde auf eine Über-
tretung der „'Amtsehrenbeleidigung" redressiert, um Adler vor den tisicheren"
Bezirksrichter zu bringen.
Nach dem Bericht des Regierungsvertroters, der die Versammlung auch
während der Rede Adlers auiflöste, hatte
Adler
unter anderem gesagt: „Solange Badeni am linder ist, werden
Sie »Brot« nicht bekommen . . . Badeni steht an der Spitze von
Verbrechern und man muß eine solche verbrecherische Re-
gierung hassen."
In diesen Äußerungen erblickte der P o 1 1 z e i k o n z i p i s l den Tat-
bestand des Verbrechens der Aufreizung zu Haß und Verachtung gegen üe
Staatsverwaltung nach § 65 a Strafgesetz. Dir Staat-anwaltschafl fand sicli
24 K Er darf kein Verbrechen begangen haben !
aber nicht veranlaßt, die Auffassung des noch unerfahrenen, jungen Beamten
7.U teilen, und meinte: Besser eine sichere Ehrenbeleidigung als die sichönstc
Aufreizung zu Haß und Verachtung, die aber vor die Geschwornen muß.
Es wurde also nach bewährter Praxis vorgegangen, und Adler hatte sicli
daher am 9. Dezember 1897 vor dem Bezirksgericht Hernais wegen
--Beleidigung von Beliörden" zu verantworten.
Adler
machte alle Anstrenguug, zu verhindern, daß er seinem ordent-
lichen Richter, in diesem Falle dem Schwurgericht, entzogen
werde, und stellte gleich zu Beginn der Verhandlung fest, daß
er unverhohlen dem H a ß u n d d e r V e r a c h t u n g gegen
die Regierung Radeni Ausdruck gegeben habe. Er habe in
seiner Rede die Sünden dieser Regierung aufgerollt und aus-
führlich dargelegt, und schließlich in wörtlich folgendem Satz
resümiert : „D i e Regierung, an deren Spitze
Radeni steht, hat sich somit einer Reihe von
Verbrechen schuldig gemach t." Nun erfolgte eine
Mahnung des Regierungsvertreters, worauf er fortfuhr: „Ja,
o h n e Z w e i f e 1, jeder, der die Taten B a d e n i s
k 0 11 11 1. m u ß H a ß u n d Vera c h t u n g gegen diese
Regierung empfinden."
Der als Zeuge vernommene Polizeikunzipist Ludwig R a z e y v. R a z a.
tier die Rede nicht mitstenographiert, sondern bloß burrent mitgeschrieben
Jiatte, gibt die Möglichkeit zu, daß dies der genaue Wortlaut der inkrimi-
nierten Äußerung sei. Der Vorsitzende der Versammlung, G r ö b n e r,
erinnerte sich genau, daß der Redepassus, auf den hin die Versammlung auf-
gelöst wurde, gelautet habe: .,Wer 'die Taten Badenis kennt, muß Haß und
V e r a c h t u n g gegen diese Regierung haben."
Verteidiger Dr. H a r p n e r (zum Zeugen Razey) : Warum haben Sie die
Versammlung aufgelöst? — Zeuge: Weil ich seine Worte für eine Auf-
reizung zum Haß hielt.
Verteidiger: Es steht fest und es ist nicht zu bezweifeln, daß die
inkriminierte Redewendung eine „Aufreizung zu Haß und Verachtung" ist.
K> ist unmöglich, in dieser klaren Äußerung etwas an-
(I e r e s z ii e r 1' 1 i c k e n als il a s V e r 1^ r e c h e n n ach i? 65 a, o der
wenn man sie schon auf eine bestimmte Behörde be-
ziehen will, das Vergehen n a^c h § 300. Wie die Staatsanwaltschaft
ihre Auffassung, daß nur eine Ehrenbeleidigung vorliege, rechtfertigt, kann
uns nicht interessieren, für den Richter hat nur seine tl b e r z e u g u n g.
flicht die Auffassung der Staatsanwaltschaft Bedeutung. Er ist weder Puppe
nccii ein Unteroffizier, der auf Befehl der Staatsanwaltschaft einzuschwenken
hat. Ich beantrage also die Abtretung des Aktes an das Landesgericht, damit
die Anklage wegen Aufreizung erhoben und der Angeklagte vor seine
ordentlichen Richter, vor die Geschwornen, gestellt werde.
Er darf kein \'erbrechen begangen haben 1 2'4S(
Nun erhob ~ich der staatsanwaltschaftüche Funktionär Dr. H a u s f- r,
um diesen Antrag in folgender, höchst einleuchtender Weise zu bekämpfen:
„Ich spreche mich gegen die Abtretung aus, denn ich habe meine Weisung
von der Staatsanwaltschaft, die den Tatbestand nach § 6.5 in den inkrimi-
nierten Worten nicht finden kann. Warum sie das nicht kann, weiß ich nicht,
sie hat es aber jedenfalls genau ausgetüftoll. und ihre
Meinung ist für mich maßgebend."
Der Richter Dr. G a u n e r s d o r f e r lehnte den Antrag ab mit
der seltsamen Begründung, daß er den Akt nicht zurückleiten könne, da nun
einmal die Staalsanwaltschalft das Verfahren nach § 65 oder § 300 ein-
gestellt habe.
Nach dem kurzen Plädoyer des staatsanwaltschaftlichen Funktionärs
fühlte der Verteidiger Dr. Harpner folgendes aus: Der Vertreter der An-
klage sagt, er wisse nicht die Gründe, die den Staatsanwalt bewogen haben,
diesen Fall, der eine aufgelegte Aufreizung zu Haß un'd Vorachtung beinhalte,
an das Bezirksgericht zu \-erweisen. Ich kenne diese Gründe aber ganz genau
und werde sie offen darlegen. Man will einfach den Angeklagten nicht wegen
,.Aufreizung" vor die Geschwornen bringen, weil eine Verurteilung wegen
„Beleidigung" vor dem Bezirksgericht sicherer zu erzielen ist. Es ist eine
aite Geschichte, doch blcilit sie ewig neu — und wenn
sie just passieret — dann bricht das Recht entz w.e i . . .
Richter (unterbrechend): Ich kann eine Kritik der Staatsanwaltschaft
nicht zulassen! — Dr. Harpn er: Daß hier keine Beleidigung, sondern eine
Aufreizung vorliegt, ist klar und kann nicht bezweifelt werden. Würde der
-Angeklagte wegen Beleidigung einer Behörde verurteilt, so wäre das, w i e
Avenn man einen, der seinen Gegner mit der Hacke tot-
schlägt und ihm dabei zuruft: Pfui, Schuft! wegen tät-
licher Ehrenbeleidigung verfolgen wollte. Was der Staatsanwalt
meint, ist gleichgültig, er hat nur das Recht, anzuklagen oder nicht anzu-
klagen, die Qualifikation der Tat ist aber Sache des Richters. Er ist
nicht verpflichtet, sich einer unrichtigen Auffassung des Staatsanwalts zu
fügen, am allerwenigsten in einer Sache, wo die Absicht des Angeklagten so
klar zutage liegt. Es ist lächerlich, in einer so bewegten Zeit, wo alles auf-
reizend wirken muß, in einem Schulbeispiel von „Aufreizung" ehre Beleidi-
gung von Behörden erblicken zu wollen. Der Verteidiger wei^t noch nacb,
daß nach dem Sinne der Entscheidungen des Kassationshofes die Regierung
überhaupt nicht als eine Behörde angesehen werden kann, wie etwa ein
Gendarmeriepostenkoramando oder eine Bezirkshauptmannschaff.
Adler:
Ich liiiho daiiial.- mit vollem Bewußtsein gesprochen, und
ich rechne es mir zum Verdienst an, die Ee^ierun^ Badcni al>
das bezeichnet zu haben, was sie gewesen ist. Den Badeni aber
zu ..beleidigen" ist mir nicht eingefallen, das wäre tief unter
der AVürde meiner Aufgabe gewesen. Jeder, der das Verdienst in
Anspruch nehmen kann, an der Beseitigung Badenis mitgewirkt
250 Er darf kein \'er brechen begangen haben !
zu haben, kann auf flie angebliche „Milde" verzichten, die darin
liegen soll, sein Handeln zu einer Beleidigung zu degradieren.
Ich verlange nichts anderes als mein Recht.
Der Richter verurteilte nun Adler zu vierzehn Tagen mit
einmaligem Fasten verschärften Arrests, mit der Begrün-
dung, daß 'die Verfolgung wegen Beleidigung von Behörden, einer zulässigen
milderen Auffassung des Tatbestandes der Aufreizung geg^n Bebörden
entspreche. („Arbeiter-Zeitung" Nr. 339 vom 10. Dezember 1897.
Dr. Adler meldete die Berufung an.
Das Urteil aufgehoben.
Die Verhandlung über die Berufung fand am 23. März 1898 vor dem
Landesgericht statt. Vorsitzender war Landesgerichtsrat F e i g 1.
Der Verteidiger Dr. Harpner trat für die Aufhebung des Urteil?,
Staatsanwalt Coulon für die Bestätigung ein. Dann sprach
Adler:
Die Anklage sagt, ich hätte ohne An f ü h r u n g h e-
s t i m m t e r Tatsachen die Regiernng beleidigt. Das ist
nicht richtig, was schon aus dem Referat des Reg'ierungs-
vertreters hervorgeht. Ich habe nicht „beleidigt", sondern auf
Grund einer ganzen Reihe von Tatsachen ein politisches
Urteil über diese Regierung gefällt. Eine Beleidigung war
das nicht, und darüber zu urteilen, ob das Aufreizung
war, ist dieser Gerichtshof nicht kompetent. Ich bitte, mit dies-.n-
seit einiger Zeit geübten Methode, bloß um das Schwurgericht zu
umgehen, das Amt des Politikers herabzuwürdigen, indem man
ihn wie einen schimpfenden Buben behandelt, endlich zu
brechen. Ich bitte den Gerichtshof nicht, mich freizusprechen,
sondern sich für i n k o m p e t e n t zu erklären.
Nach längerer Beratung kam der Gerichts h u f zu folgender E n l-
scheidung: Das angefochtene Urteil des Bezirksgerichtes Hernais wird
anigehoben und der Akt an das Bezirksgericht zurückgeleitet, damit dieses
die weitere gesetzliche Veranlassung treffe.
In der Urteilsbegründung wird ausgeführt, daß in der inkriminierten
Stelle nicht die einzelnen Minister in bezug auf ihre Amtsführung, sonder?)
die Regierung als solche, die Staatsverwaltung, angegriffen sei. Unter
Regierung könne man eine bestimmte Behörde nicht verstehen, wie
sich schon aus dem Gegensatz ergibt zwischen § 65, der vom Verbrechen
der Störung der öffentlichen Ruhe, begangen durch Aufreizung wider
die Staatsverwaltung, handelt, und § 300, der die Aufreizung gegen
einzelne Organe der Regierung oder Behörden als Vergehen verfolgt;
Kr darl kein Verbrechen begangen haben ! 251
sei aber die Regierung nicht identisch mit einer bestimmten Behörde, so
könne von einer Verfolgung nach § 491 Str.-G. und Artikel V keine Rede sein.
Die Regierung sei unter den viel ausgiebigeren und kräftigeren Schutz des
§ 65 Str.-G. gestellt, vergleichbar dem, den die Person des Monarchen genießt.
Wenn der vom Angeklagten angegebene Wortlaut richtig sei, liege also das
Verbrechen nach § 65 a vor.
Bezüglich der Verfolgung nach § 65 lit. a liege nun allerdings ein
Antrag der Staatsanwaltschaft nicht vor. .'Vber nach dem Geist unserer
Strafprozeßordnung könne kein Gericht gezwungen werden,
eine von der Staatsanwaltschaft unter Anklage gestellte Tat anders zu
qualifizieren, als dies der Überzeugung des Gerichtes
entspreche. Es sei, sobald eben nach Ansicht des Gerichtshofes der Tat-
bestand des vor die Geschwornen gehörigen Verbrechens nach § 65 vorliege,
Sache des Gerichtes, die Zuständigkeit ohne Rücksicht auf die
Qualifikation der Tat seitens der Staatsanwallschaft zu wahren. Aus diesem
Grunde habe der Gerichtshof, nachdem er eben den Tatbestand einer Amts-
I hrenbeleidigung nicht vorfinde, das Urteil aufgehoben, und es sei
nun Sache des Bezirksgerichtes, die weitere Veranlassung zu
I r e I f e n, die eventuell zur Verfolgung nach § 65 lit. a führen könne.
..Arbeiter-Zeitung" Nr. 82 vom 2i. März 1898.>
Die Aufhebung wieder aufgehoben.
Gegen diese vernünftige Entscheidung flüchtete sich die Staatsanwalt-
schaft zum Obersten Gerichts- als Kassationshof, und siehe
da, dies-e oberste Gerichtsbehörde hatte ein Einsehen mit den politischen
Bedürfnissen der Regierung, hob am .3. Mai die Entscheidung des
Landesgerichtes auf und tnig dem Landesgericht die neuerliche
Verhandlung auf.
Das Landesgericht spricht auf einem Umweg frei.
Das Berufungsgericht verhandelte also unter ilem Vorsitz des Landes-
aerichtsrates Dr. Trinks am 6. Juni. Es wurde die Entscheidung des
Kassationshof'Cä verlesen, die diese neuerliche Verhandlung notwendig machte.
Sie besagt, daß die Aufhebung des erstrichterhchen Urteils und die Zurück-
ieitung behufs eventueller Verfolgung wegen Verbrechens der Störung der
Offeatlichen Ruhe eine vei-pönte :,Reformatio in peius" sei, das heißt, der
Angeklagte, der zu seinen Gunsten die Benifung ergriffen habe, sei n >i n
in Gefahr, unter eine noch schwerere Anklage gestellt
/; u werden. Hiezu konstatierte der Verteidiger Dr. H a r p n e r, daß er
leim Bezirksgericht den Antrag gestellt habe, den Akt an das Landos-
gericht behufs Verfolgung des Angeklagten wegen Verbrechens nach § 65 a
abzutreten, und daß er sowohl wegen der .Abweisung dieses Antrages als auch
gegen Schuld und Strafe die Berufung anmeldete. Daran anknüpfend beschloß
der Gerichtshof die Vertagung der Verhandlung.
Am 11. Juli 1898 wurde die Verhandlung fortgesetzt.
Rührend war es, wie der Staatsanwalt den Angeklagten gegen den
Angeklagten selbst verteidigte. Sein berufener Verteidiger konnte sich
Bei den sti-eikenden Toxtilaiheitern in Brunn
nämlich nicht entschließen, in den inkriminierten Äußerungen etwas anderes
zu erblicken als die gewollte und bewußte Störung der öffentlichen Ruhe
und Ordnung. „Nimmermehr!'' entgegnete der Staatsanwalt. „So was tut der
Dr. Adler nicht. Er ist ein ernster Politiker, ein milde und human denkender
Mann, dem es fernliegt, Haß und Verachtung säen zu wollen." Andere Staats-
anwälte haben das Gegenteil behauptet und recht schwarz gemalt, aber in
diesem Falle war merkwürdigerweise die Verurteilung desto leichter zu
erzielen, je weißer das Unschuldskleid des Sünders erglänzte.
Sie erfolgte schließlich doch nicht, und der Appellsenal sprach Adler
frei mit der Begründung, daß ihm der animus injuriandi (Absicht zu belei-
digen; gefehlt habe. Die Auffassung, daß die Regierung eine Behörde sei.
die man beleidigen könne, müsse zwar festgehalten werden, und es liege
der Tatbestand der Ehrenbeleidigung vor, aber der Angeklagte habe die Worte
„Verbrechen" und „verbrecherisch'" nicht im .Sinne ehrenrühriger Handlungen
gebraucht, sondern damit sagen wollen, daß die Regierung schwere poli-
tische Sünden begangen habe. r,,Arlieiter-Zeitnng" Xr. 190 \oni
12. .Juli 1898.)
Damit war zwar vom Gericht -das Prinzip'" festgehalten, aber in der
Praxis hatte Adlers Hartnäckigkeit, lieber ein „Verbrecher"" zu sein als ein
Ehienbeleidiger, gesiegt.
Adler übernimmt sofort die Verantwortung.
Im April 1898 hatte die „Zeit" einen Vertrag zwischen dem Minister-
präsidenten Badeni und dem Eigentümer und Herausgeber der „Reichswehr'',
Gustav David, verüffentlicht, wodurch diesem patriotischen Blatt nach-
gewiesen war, daß es von der Regierung bezahlt war. Die ..Arbeiter-Zeitung"
druckte den Artikel ab und erklärte den Herrn David für einen „aus-
gepichten Lumpen" und sein Verhalten als „Abgrund sittlicher Fäulnis". Dv
dieser Herr in seiner Zeitung erklärte, er werde die Ehicnbeleidigungsklage
einreichen, teilte die „Arbeiter-Zeitung" sofort mit, daß der Redakteur Fritz
Austerlitz die Artikel geschrieben und A'dler sie voi' der Drucklegung
gelesen habe, so daß beide vor dem Schwurgericht zur Verantwortung ge-
zogen werden konnten. Der Ehrenmann hütete sich aber davor, er brachte
zunächst scheinhalber nur eine Ehrenbeleidigungsklage beim Bezirks-
gericht ein, und zwar nur gegen Austerlitz und mit der „Begründung",
daß die Artikel in der Redaktion vorgelesei^ worden seien, also
eine mündliche Ehrenbeleidigung vorliege. Als die Verhandlung vor dem Be-
zirksgericht für den f). .Tuli ausgeschrieben war, zog der Herr aber auch diese
Klage zurück.
Bei den streikenden Textilarbeitern in Brunn.
Um eine Stunde Schlaf traten im April 1899 die Sklaven von
55 Textilfabrikanten in Brunn und Umgebung in den Streik. Der elf-
stündige Arbeitstag sollte um eine Stunde verkürzt werden. Über zwei
Bei (Ion streikenden Textilarbeitern in Brünu '2o3
Monate dauerte der Kampf, bei dem sich die gesamte k. k. Staatsgewalt in
hrutalster Weise in den Dienst der Unternehmer stellte. Gendarmerie und
Bezirkshauptmannschaft übten den denkbar größten Druck auf die hungern-
den Weher. Im Juni begab sich Victor Adler in? Streikgebiet, um mitzuraten
und mitzuhelfen und auf die Behörden einzuwirken. Am 21. Juni kam es
zu aufregenden Szenen vor dem Brünner Arbeiterheim. Die Streikenden
waren versammelt und warteten auf die zwei Kilo Mehl, die sie als
Streikunterstützung erhielten. Adler, Dr. Czech, Habermann sprachen über
den Stand des Streiks. Als einige erregte Zwischenrufe gegen die Streik-
brecher fielen, verhaftete ein Detektiv einen Arbeiter mitten aus den
6000 erbitterten Menschen. Die Umstehenden drangen auf den Detektiv
ein, die weiter Stehenden glaubten, es handle sich um einen „Fabrikspitzel"
und er wurde geprügelt, konnte aber durch das Eingreifen der Ordner noch
rasch genug weggebracht werden, ohne ernstlichen Schaden zu erleiden.
Alles war schon wieder ruhig, als zur Sühnung der Tat zwei Züge Wachleute
mit dem Polizeikommissär Zoubek an der Spitze vor dem Arbeiterheim
aufmarschierten. Dr. Czech hatte die Geistesgegenwart, die Tore rasch
schließen zu lassen, um der Menge den aufreizenden Anblick zu entziehen.
Der Polizeikommissär drang mit vier Wachleuten in den Hof, um die Ver-
sammlung aufzulösen und als er sah, daß sie bereits beendet sei, wollte
'■r feststellen, daß das Versammlungsgesetz übertreten worden sei, weil die
Versammlung nicht bei der Behörde angezeigt sei (und dann wahrscheinlich
verboten worden wäre). Es wurden ihm die Redner genannt und ihm frei-
gestellt, die Amtshandlung einzuleiten. Gleichzeitig wurde er auf die
ungeheure Verantwortung aufmerksam gemacht, die er auf sich lade, wenn
er die Wachleute nicht sofort wegbringe. Nach längeren Verhandlungen mit
.\dler, Czech und anderen Vertrauensmännern zog er mit der Wache ab,
Adler und Genossen gelang es, die Arbeiter dabei zur Ruhe zu verhalten,
so daß kein Schimpfwort fiel. Adler und Czech wurden dann zum
Polizeidirektor vorgeladen, der ihnen die Strafanzeige wegen Verletzung des
Versammlungrgesetzes in Aussicht stellte, während sie ihm ernsthafte Vor-
stellungen über das provokatorische Verhalten der Polizei machten, mit
dem Erfolg, daß sie beruhigende Zusicherungen erhielten.
Ein feudaler Bezirksrichter.
Am 1. August 1899 standen von dem Bezirksgericht in Brunn
Dr. Adler, Dr. Czech und Habermann, angeklagt der Übertretung
des Versammlungsgesetzes, begangen dadurch, daß sie am 21. Juni im
Arbeiterheim gesprochen hatten.
Die Verhandlung bot ein sehr seltsames Bild. Als Bezirksrichter
fungierte Landesgerichtsrat Baron Za wisch, der Sprosse eines feudalen
Geschlechts, ein Herr, der zwar die ererbte Höflichkeit vergessen, aber
nicht gelernt hatte, die Gegenwart zu verstehen. Ein Richter, der sich
herausnimmt, die Mahnung an die Textilarbeiter, a u s z u h a 1 t e n, als
Hetzerei zu bezeichnen, gehörte selbst damals in Österreich zu den
seltensten Raritäten. Der Verlauf der Verhandlung war folgender:
254 Bei den streikenden Textilarbeitern in Brunn
Adler
erklärte zunächst, er sowie seine Mitbeschuldigten hätten aller-
dings damals zu den angesammelten Arbeitern gesprochen,
jedoch hätten sie keineswegs eine Versammlung v e r a n s t a 1-
t € t, was allein eine strafbare Handlung sein könnte. Schon
Adler wurde während seiner Veranwortung vom Richter
mehrfach angeschnauzt.
Dr. C z 8 c h verantwortete sich in derselben Weise und erkläile
die schriftlich vorliegende Aussage des Polizeikommissärs Zoubek als
unrichtig. Zoubek hätte nämlich berichtet, auf die Frage, wer das Präsi-
dium geführt und die Ordner aufgestellt habe, habe Dr. Czech geantwortet :
Das machen wir uns alles selber.
Habermann sagte, es seien keine eigentlichen Reden gehalten
worden, aber die Arbeiter wären begreiflicherweise begierig gewesen, Neue?
über den Stand des Streiks zu hören.
Baron Za wisch: Und was haben Sie ihnen gesagt?
Habermann: Daß alles noch beim alten sei, und daß sie noch
weiter aushalten müssen.
Za wisch: Und das nennen Sie eine Neuigkeit? Das nenne ich eine
Aufhetzung! Neuigkeit, das ist, wenn etAvas gestohlen wird oder
ein Hund einen beißt. Das ist Hetzerei!
Habermann: Ich verwahre mich gegen diese Bezeichnung.
Zawisch: Hier rede ich, was ich will! Angeklagter Czech, Sic
bezeichnen die Aussage des Kommissärs als unrichtig. Dann werde ich die
Verhandlung vertagen, um ihn einzuvernehmen.
Czech: Vor allem ersuche ich, die Äußerungen des A'^orsitzenden.
unsere Reden seien Hetzereien, zu protokollieren!
Zawisch: Hier wird nichts protokolliert, ich rede, was ich will:
jetzt geht's nicht mehr so beim Bezirksgericht wie früher einmal! . . .
Adler: Aber wir sind doch nicht wehrlos hier, wie
kommen wir dazu , . . ?
Zawisch: Meinen Sie, daß Sie im Arbeiterheim sind?
Czech: Aber auch nicht im gräflichen Kasino!
Zawisch: Die Verhandlung ist vertagt.
Diese Art Verhandlungsführung scheint aber doch „oben'" unangenehm
l^erührt zu haben, denn bei der zweiten Verhandlung am 28. August war
der feudale Richter durch den Genchtssekretär Rein h alter ersetzt. Die
Angeklagten waren durch Dr. Weizmann vertreten. Der Kronzeuge Polizei-
kommissär Dr. Zoubek mußte zugeben, daJß derartige Ansammlungen
von Streikenden im Arbeiterheim täglich, und zwar durchaus nicht heimlich
oder ohne Wissen der Polizei stattgefunden haben, daß also die damalige
Versammlung nicht erst veranstaltet worden sei. Die Verteidigung machte
Wegen Auflaut verurteilt ! — Steckengebliebene \'erfolgungen 255
geltend, daß das Versammlungsgesetz nur die Veranstalter einer Ver-
sammlung, nicht aber die Redner für deren Anmeldung bei der Behörde
verantwortlich mache.
Der Richter konnte sich diesem klar zutage liegenden
Sachverhalt nicht verschließen. Adler, C z e c h und Habe r-
]n a n n wurden freigesprochen.
Wegen Auflauf verurteilt!
Die letzte Anklage und Verurteilung Adlers erfolgte am 21. Juli 1899
beim Landesgericht Wien wegen Vergehens des ^Auflaufs", „begangen" bei
der Arbeiterdemonstration gegen den christlichsozialen Schwindel mit der
Oemeinderatswahlreform. Adler wurde zu einem Monat strengen
Arrests verurteilt. Die Vorgeschichte und der Verlauf der Verhandlung sind
im Kapitel „Adler bei Demonstrationen" geschildert. Allgemein
wurde es als eine Schande empfunden, daß die Richter noch zu dieser Zoll
gegen Adler solch ein gehässiges Urteil fällten.
Steckengebliebene Verfolgungen.
Die Diskussion über den Generalstreik zur Erringung des all-
gemeinen Wahlrechts erregte das Mißfallen der Regierung, und die Staats-
anwälte hatten viel zu tun. Wegen eines Artikels am 8. September 1893
„Zur Wahlrechtsbewegung'" wurde gegen Dr. Adler und Bret-
schneider die Anklage auf Störung der öffentlichen Ruhe und Ordnung
erhoben. Die Anklageschrift war vom 10. Oktober 1893 datiert, aber am
19. Jänner 189^ („Arbeiter-Zeitung") beschwerte sich Adler, daß
noch immer keine Verhandlung ausgeschrieben sei, während die später
erhobene Anklage gegen Schrammel wegen eines gleichen Artikels im
Fachblatt der Drechsler rasch betrieben und zu einer Verhandlung vor dem
Schwurgericht (mit Verurteilung Schrammeis zu drei Monaten strengen
Arrests) führte. Aber der Staatsanwalt hatte trotz dieses Erfolges keine
Lust, es mit Adler zu versuchen, und der Prozeß kam nicht zustande.
Wegen einer Rede, die Adler am 31. Mai 1895 in Reichenberg im
Fachverein der Textilarbeiter hielt, leitete die Staatsanwaltschaft beim
Reichenberger Kreisgericht die Verfolgung nach §§ 300 und 302 (Vergehen
gegen die öffentliche Ruhe und Ordnung) ein. Doch hat man es sich überlegt,
weil man an dem ersten Schwurgerichtsprozeß doch genug hatte, und Adler
hörte nichts mehr von der Verfolgung.
Am 31. Juli 1899 hielt Adler in Brunn eine Rede gegen den Regierungs-
absolutismus und die mit dem § 14 erfolgte Erhöhung der Zuckersteuer.
Wegen dieser Rede leitete das Landesgericht in Brunn die Voruntersuchung
gegen Adler wegen Verbrechens der Aufreizung gegen die Staatsgewalt
(§ 65) und wegen Vergehens der Aufreizung gegen Behörden (§ 300) ein.
Man überlegte sich's aber, und Adler hörte nichts mehr davon.
256 Rechtsanwälte über Adler
Rechtsanwälte über Adler.
Von den Rechtsanwälten, die Adler bei seinen Prozessen vertreten
haben, sind nur mehr einige am Leben. Auf meine Bitte, mir einiges über
ihre Erinnerungen an Adler mitzuteilen, sind mir die folgenden Briefe, wo-
für ich hier den besten Dank ausspreche, zugekommen. Ich drucke die betref-
fenden .Stellen mit ihrer Erlaubnis hier ab.
Dr. Haipner.
Die an mich gerichtete Frage, welche Erfahrungen ich in meiner Eigen-
schaft als Verteidiger des unvergeßlichen Victor Adler gemacht habe —
und ich habe in den neunziger Jahren recht oft Gelegenheit gehabt, ihn zu
verteidigen — kann ich nur mit dem etwas seltsam klingenden Salze be-
antworten: Es war ein Vergnügen, Victor Adler zu verteidigen! Er hatte,
möchte ich sagen, alle Eigenschaften, die sich ein Verteidiger an seinem
Klienten wünscht; Er war ehrlich, klug und furchtlos. Seine Ehrlichkeit
veranlaßte ihn, auch vor Gericht niemals etwas zu beschönigen, was er
getan hatte, niemals seine Gesinnung zu verleugnen, die in seinen Reden
oder in seinen Artikeln zum Ausdruck gekommen war, niemals zu posieren
oder sich, wie das so manche Politiker vor Gericht tun, in der Rolle des
Märtyrers zu gefallen. Bewundernswert war seine Furchtlosiigkeit und Kalt-
blütigkeit. Auf die Delikte, derentwegen er so oft angeklagt war — ich nenne
hier nur die damals so häufig vorkommenden Delikte: Hochverrat, Störung
der öffentlichen Ruhe und dergleichen mehr — waren die S'Chwersten
Kerkerstralen gesetzt; und wer an die damaligen Verhältnisse denkt — ich er-
innere da an die damalige Gesinnungsart der Geschwornen und den Vorsitzen-
den Holzinger — mußte sich im Falle einer Verurteilung auf schwere
Strafen gefaßt machen. Das machte aber auf Victor Adler nicht den geringsten
Eindruck. So ruhig wie er in einer Parteiversammlung sprach, verantwortete
t-r sich vor den Geschwornen oder den gelehrten Richtern, und ich habe
niemals bemerkt, daß er nur eine Sekunde lang an die ihm drohende Strafe
dachte. Im Gegenteil: Für ihn war jede Verhandlung eine ihn überaus inter-
essierende Gelegenheit, seine Ansichten vor einem anderen als dem gewohnten
Forum vorzutragen und zu vertreten. Er dachte nie an etwas anderes, als
daran, wie er durch sein Auftreten vor Gericht seiner geliebten Partei nützen
könnte, und es war ihm ganz gleichgültig, ob er durch seine Äußerungen
dem gefürchteten Holzinger gefiel oder nicht. Seine Klugheit, die natürlicli
auch vor Gericht nie versagte, hielt ihn nicht ab, gelegentlich in der
schärfsten Weise gegen Angriffe des Staatsanwalts oder des Vortilzenden zu
reagieren, wenn er diese Angriffe mehr gegen die Partei oder deren Pro-
gramm, als gegen ihn selbst gerichtet glaubte. Ich erinnere mich da folgender
Szene: Holzinger, der bestrebt war, Victor Adler in den Augen der
Geschwornen zu diskreditieren, auf die dieser durch seine klugen und ruhigen
Ausführungen offenbar Eindruck gemacht hatte, richtete an Adler, der den
Ge&chwornen auseinandergesetzt hatte, welcher Unterschied zwischen gewalt-
samer Revolution und Revolution der Geister sei, die Frage: „Halten Sie
also unter allen Umständen Gewalt zur Durchsetzung revolutionärer Forde-
rungen für ausgeschlossen?", eine Frage, wodurch er Adler in Verlegenheit
Rechtsanwälte über Adler
^u bringen glaubte. Dieser aber zögerte nicht eine Sekunde und antwortete
einfach: „Ich kann natürlich für die Weltgeschichte keine Garantie über-
r.ehmfn." Auch wenn, was ja hie und da vorkam, Victor Adler mehrere
Wochen Arrest verbüßen mußte, trug er das mit der größten Seelenruhe.
Er erklärte mir öfters, wenn ich ihn im Arrest besuchte, das <ei eigentlich
.-^eine schönste Zeit, denn da hätte er Ruhe, zu studieren und nachzudenken.
Mit einem Worte: das Bild, das sich jeder, der den großen Mann
gekannt hat, von ihm machte, verändert sich auch nicht, wenn man an
Adler als Angeklagten denkt. Sein Verteidiger hatte eigentlich nur
■eine schwere Aufgabe: Er mußte, da ja Adler kein Kompromiß kannte
und sich auf die Gefahr hin, verurteilt zu werden, vor den Geschwornen
gar kein Blatt vor den Mund nahm, trachten, eine Brücke zu der Auf-
fassung der Geschwornen zu finden, die ja damals fast ausschließlich der
rein bürgerlichen Klasse angehörten. In der Erfüllung dieser Aufgabe zog
ich mir nicht selten gutmütig-ladelnde Bemerkungen Adlers zu, der mich
manchmal in seiner gemütlichen Art im Privatgespräch nach einer Ver-
liandlung einen -,Schwindler" nannte, weil ich mich bemüht halte, den
■Ceschwornen klarzumachen, daß doch die inkriminierten Äußerungen oder
Artikel Adlers eigentlich gar nicht so gefährlich seien. Diese Äußerungen
hörte ich immer sehr gern, denn sie erfolgten zum Glück immer nur, wenn
Adler freigesprochen worden war.
Ich komme also auf meine Eingangsworte zurück: Es war ein Ver-
gnügen, Adler zu verteidigen, und es ist ein wehmütiger Genuß, sich an die
heute fast vergessene Zeit zu erinnern, da auch im Gerichtssaal die Kämpfe
.um die Zukunft ausgefochten wurden.
Dr. Karl Ornstein:
Ich habe Herrn Dr. Victor Adler \or ungefähr 30 Jahren in mehreren
kleineren Prozessen wegen Beleidigung verschiedener Behörden vertreten.
Derlei Anklagen waren bekanntlich damals stets auf der Tagesordnung, so
daß die — meist bezirksgerichtlichen — Verhandlungen kein Aufsehen mehr
erregten. Es bot sich dabei selbst für einen Dr. Victor Adler keine Gelegen-
heit, seine Persönlichkeit zur Geltung zu bringen. In einigen von mir ver-
tretenen Fällen erfolgten Freisprüche, in einigen Verurteilungen. Beides
nahm Adler mit Gleichmut entgegen. Nur bezüglich des Strafvollzuges
äußerte er einmal den Wunsch, nicht in den Arrest eines Bezirksgerichts,
ich glaube Leopoldstadt, zu kommen, da der dortige Arrest, wie er aus Er-
fahrung wußte, verlaust war. Es gelang, die von Adler gewünschte Dele-
giening des Bezirksgerichts Rudolfsheim zu erwirken. Ich besuchte ihn dort,
er erzählte, daß ihm die Ruhe des Arrests nach den großen Mühen des
Tages gar nicht unerwünscht sei, da er Zeit und Muße zum Studieren finde.
Er brachte zu der Unterredung, die in der Wohnung des Gefangenaufsehers
•stattfand, das -Kapital" von Marx mit, und wir unterhielten uns längere Zeit
ober eine spezielle Stelle des Buches.
258 Rechtsanwälte über Adler
Dr. Emil Postelberg:
Als junger, frischgebackener Anwalt lernte ich Victor Adler, den ich
als Versamnilungsredner natürlich schon oft gehört hatte, auch persönlich
kennen. Es geschah dies etwa im Jahre 1895. Die „Arbeiter-Zeitung" — die
bekanntlich als kleines Wachenblatt begann — hatte damals ihre Redaktion
in einem Kellerlokal der Schwarzspanierstraße. Herr Dr. Adler hatte ge-
wünscht, daß ich ihn dort aufsuche, um das Nötige über die Führung von
Rechtsangelegenheiten der Partei zu besprechen. Wenn es sich auch nur um
eine Unterredung mehr oder minder gewöhnlichen Inhaltes handelte, war der
Eindruck, den der kleine oder kaum mittelgroße Mann mit dem dichten Haupt-
haar, dem buschigen Schnurrbart, dem forschenden Auge hinter den scharfen
Brillen und dem ungewöhnlichen Gesicht, dieser Mann in dem unvermeidlichen
schwarzen Gehrock auf mich machte, ein mächtiger. Der Gedanke, daß ein
Kampfmensch solchen Zuschnittes, daß der Führer der revolutionären Partei
Österreichs — und Sozialdemokrat sein, hieß damals in vollem Sinne des
Wortes Kämpfer sein — vor mir stehe, machte mich ein wenig befangen.
Dr. Adler, der Menschenkenner, mußte sich w^ohl nicht zu sehr anstrengen, um
zu erraten, wieviel jugendliche Begeisterung mich erfüllte, eine Begeisterung,
welche damals gerade durch lokale Vorgänge, durch unglaublich rohes Benehmen
der Polizei gegenüber Arbeitermassen — ich glaube nach Abhaltung einer
Versammlung im Ronacher-Saale — zu hellen Flammen entfacht war. Das
Ende der Unterredung w^ar, daß sich der junge Advokat mit dem Hochgefühl
entfernen konnte, daß die Parteileitung ihm die Verteidigung angeklagter
Genossen- übertragen hatte. Die Prüfung, welcher seine Person durch diese
scharfen und doch gütigen Augen unterzogen worden war, war zu seinen
Gunsten ausgefallen. Von Strafverhandlungen politischer Färbung regnete es
ja nur so — war es doch die Zeit, in welcher Worte und Ausrufe wie „Bel-
gisch reden" oder „Hoch die internationale, revolutionäre Sozialdemokratie"
sogleich mit der Verhaftung, Voruntersuchung und Anklageschrift beantwortet
wurden, war es doch die Zeit des Triumphes der Haß- und Aüfreizungs-
Kautschuk-Paragraphen unseres uralten Strafgesetzbuches.
Ich habe nie die Ehre genossen, Victor Adler selbst zu vertreten und
zu verteidigen, wohl aber hatte ich auch in der Folge in Rechtsangelegen-
heiten wiederholt mit ihm zu tun. Ich erstattete Bericht über diese oder jene
Verhandlung und so sehe ich noch sein amüsiertes Gesicht vor mir, als ich
aus Steyr zurückgekehrt, wo ich die Verteidigung der Arbeiterführerin Char-
lotte Glas vor dem dortigen Schwurgericht, das in einer alten, düsteren
Fronfeste tagte, geführt hatte, von einem mir widerfahrenen, komischen
Abenteuer erzählte — der Gendarmeriegewaltige des Bahnhofes in St. Valen-
tin hatte mich nämlich, als ich auf den Zug wartete, vorführen lassen und
mich verhört.
Im „Anarchisten"-Prozeß contra Haspel und II a h n e l, bei weldiem
Dr. II a r p n e r, i c h, merkwürdigerweise auch der damals noch nicht
•:Schwarze" Dr. Porzer, der spätere christlichsoziale Vizebürgermeisler,
eine ganze Schar von .angeklagten vertraten — .\rbeiter, welche unter der
Rechtsanwälte über Adler 259
Führung eines gewissen Valenta und unter dem Einfluß tran-satlantischer
Mostscher Lehren standen, — Jiarrte Dr. Adler während der mehrtägigen
Verhandlung unermüdlich im Saale aus, um mit herzlicher Anteilnahme die
Dinge zu verfolgen und befreit aufzuatmen, als die Geschwornen wenigstens
einen Großteil der Angeklagten freisprachen.
E.s i?t ja eine bekannte Tatsache, daß sich, gewiß aus unerklärlichen
Gründen, gerade Kleinigkeiten mit besonderer Zähigkeit im Gedächtnis
festzunageln verstehen. So blieben mir denn einige Worte Victor Adlers be-
sonders haiten. Ich hatte die Broschüre über den Reichenberger Prozeß
Adlers gelesen und ihm meine Bewmiderung über den Mut ausgesprochen,
mit welchem er sich vor der Jury verantwortet hatte. Mit einem unwider-
legbaren, aus Bescheidenheit und Überlegenheit gemischten Lächeln meinte
Dr. Adler: ,.Man tut, was man kann." Sicher ein an sich unbedeuten-
ios Wort und docJi scliwang allerlei Eindrucksvolles, Nachhaltiges mit.
•-Man tut, was man kann" — es klingt mir heute noch wie ein unscliein-
uares und doch so gehaltreiches Motto von Victor Adlers Leben. Es scheint
mir als das Wort eines Mannes der Tat und des Geistes, eines Mannes, in
welchem der Geist die Umbildung zur Tat restlos vollzog. Dr. Adler hat in
Wirklichkeit zeitlebens getan, was er konnte-
Dr. J, Rosner:
Was den P^indiuck seiner Persönlichkeit auf die Richter betrifft, so
bleibt mir eine kleine Episode unvergeßlich.
Adler war während der Wahlrechtsdemonstrationen wegen Ver-
gehens nach § 284 Strafgesetz angeklagt, w^eil er anläßlich einer Demon-
stration in einer Diskussion mit einem Polizeirat Jefabek die Menge durch
sein Verhallen zum \yiderstand aufgereizt haben soll. Den Vorsitz führte ein
mehr strebsamer als tüchtiger Landesgerichtsrat Namens Neubauer. Victor
Adler hatte den Sachverhalt so dargestellt, daß er darauf bedacht gewesen
sei, ein Unglück zu verhüten und unmöglich die Menge zu einem aussichts-
losen Widerstand gegen die bewaffneten Wachleute habe aufreizen wollen.
Dann kam die Aussage des Polizeirats, der natürlich durch maßlose Über-
treibungen auf eine Verurteilung Adlers hinarbeitete. Mit seiner gewohnten
iionischen Überlegenheit sftzte Adler seinen Standpunkt nochmals über-
zeugend auseinander. So dachten wenigstens die Zuhörer, als der Vor-
sitzende kühl erklärte: „Aber Herr Doktor, das kann auf uns doch gar keinen
Eindruck machen." Diese Worte klingen mir noch heute im Ohr, weil sie
zeigen, bis zu welchem Maß die Richter unfähig waren, einer Persönlich-
keit wie der des Dr. Victor Adler gerecht zu werden. Dennoch wurde in
diesem Prozeß Adlers Intelligenz in der Weise anerkennend hervorgehoben,
daß über ihn die Ji ö c h s t e zulässige Strafe in der Dauer von einem
Monat strengen Arrests verhängt wurde, weil ebendiese Intelligenz ihm
hätte das Gefährliche .seiner Handlungsweise vor Augen führen müssen!
17*
260
Adlei's Strafregister
Adlers Straf register.
Dr. Victor Adler wurde verurteilt :
Zahl
Datum
Gericht
Delikt
Strafe
Anmerkung
1
li». De-
zember
ISST
Polizei-
direktion
Wien
Polizeiwidriges
Verhalten bei
einerVersamm-
lung. § 11 kai-
serliche Yer-
(M-dnung vom
Jahre 1854
(Prügelpatent)
50 Gulden
Geldstrafe
-
13. De-
zember
isss
Bezirks-
gericht
Aisergrund
Vei'breitung
von Zeitungen.
§ 23 Preßgesetz
31) (iulden
Geldstrafe
■>
2T. Juni
ISS!)
Landes-
gericht WiiMi
( Au^nahme-
gerirlitsjint)
Aulreizung
gegen Behör-
den usw. §§300.
305 St.-G. und
Artikel V des
Gesetzes vom
IT. Dezember
1S(;2
4 ]\Ionate
strengen Arrest,
verschärft durch
einen Fasttag
und 100 Gulden
Kautionsverlust
Haft im
l.andes-
gericht
Wien
bis 21. Juni
1S90
l
2T. Seji-
tr-raber
ISS!)
Bezirks-
gericht
Margareten
Beleidigung
eines Regie-
i'ungsvertreters.
§ 312 St.-G.
3 Tage Arix'st
liafv im
Bezirks-
gerichl
Neubau
.)
1!). Sep-
tembei'
isoi
Bezirks-
gi? rieht
l\eirlu>nberg
Beleidigungdei'
Regierungs-
behörden. §491
St.-G. be-
ziehungsweise
Artikel V § 23
Pi'eßgesetz
S Tage Arrest
und 50 Gulden
Geldstrafe
(;
n. Mai
1S!)2
Bezirks-
gericht
Korneuburg
Kinniengungin
eine Amtshand-
lung. §314 St.-G.
4S Stundoi
Arresi
Haft im
Bezirks-
gericht
Korneuburg
Adlers Strafregister
2<il
Zahl
Datum
Gericht
Delikt
Strafe
Anmerkung
1
4. De-
zember
1892
Landes-
gericht
Wien
Vergehen gegen
das literarische
Eigentum. ^467
3U Gulden
Geldstrafe
\\egen Ab-
ilrucks des
Disziplinar-
urteils gegen
Landes-
gerichtsrat
Schmiedel!
s
lO. April
1S93
Be/.irks-
hauptmann-
schalt
Rnmburg
I'olizeiAvidriges
Verhalten bei
einerVersaram-
luug. § 11 kai-
serliche Ver-
ordnung vom
Jahre 1854
3U Gulden
Geldstrafe
i(
-.1. .No-
vember
189::!
Bezirks-
gericht
Warnsdiirf
Uebertretung
des Versamm-
lungsgesetzes,
i; 14 \ers.-Ges.
lu (iulden
Geldstrafe
Kl
28. De-
zember
1893
Kreisgericht
Böhm.-Leipa
Beleidigung
eines Regie-
rungsvertreters.
§ 312 St.-G.
14 Tage Ai-rest
Haft in den Bezirksgerichten
.Neubau und Rudolfsheim
April IS'M bis 29. Juli 1894
11
18. Jänner
1894
Bezirks-
gericht
Rudolfsheim
Beleidigung der
Regierung u. a.
i; 491 St.-G. und
Artikel \-
1 Monat Arrest
1_'
17. März
1894
Bezirks-
gericht
Rudolfsheim
Beleidigung des
Reichsgerichts.
^5 491, Artikel V
1 Monat Arrest
i;;
2().Angu-t
1894
Landes-
trcri'-ht Wien
Verbreitung■
verbotener
Druckschriften.
§ 24 Preßgesetz
.')() (iulden
r; ..1,1 ^ traf.-
14
18. De-
zember
1894
Bezilks-
ger i eh t
ottakrini:
Beleidigung
einer Behörde.
^491 St.-G. und
Artikel X'
1 Monat .\rrest
Haft im
Hezirks-
gerichl
Rudolfsheim
18. April
1894 bis 18.
Mai 1894
262
Adlers Strafregister
Zahl
Datum
Cierichl
Delikt
Straf.'
Anmerkun.ü-
15
17. April
1896
Bezirks
gericht
Leopoldstadt
Beleidigung
von Behörden.
§ 491 u. Art. ^■
200 Gulden
Geldstrafe
Vom Landes-
gericht auf-
gehoben
k;
10. De-
zember
1897
Bezirks-
gericht
Hernais
Beleidigung der
Regierung.
§ -491 und Ar-
tikel V •
14 Tage ver-
schärften Arrest
Vom Landes
gericht auf-
gehoben
17
21. JuÜ
1809
Landes-
gericht Wien
Auflauf,
ij 284 St.-(i.
1 Moual
strengen Arrest
Haft im
Landes- .
gericht
Wien vom
7. Nov. bis
7. Dez. 1899
Die rechtski'äftig gewordenen und von Adler abgebüßten oder be-
zahlten Strafen betragen insgesamt : 8 Monate und 27 Tage Arrest
und 2 Tage Untersuchungshaft (6.--8. Juli 1899). 250 G u 1 d e n Gel d-
s t V a f e u n d 1 Ofl G u 1 d e n K a u t i o n s v e r 1 u s t.
Gesamtergebnis :
Siebzehn Verurteilungen; davon wurden zwei aufgehoben. Frei-
sprüche erfolgten neun, davon vier beim Schwurgericht; zwei Verurtei-
lungen beim Bezirksgericht wurden vom Landesgericht aufgehoben, e i n
Freispruch ebenfalls aufgehoben und die Verurteilung ausgesprochen;
drei bezirksgerichtlicbc Urteile wurden vom Lamlesgericlit best.-itifft, oinf
Verurteilung bestätigt und die Strafe erhöht.
Von den eingeleiteten Untersuchungen wurrlen neun p i u g e s 1 p 1 1 t.
II.
Adler als Ankläger.
Gegen die schlechten Kichter 21)5
Gegen die schlechten Richter.
Die sittliche Empörung, die Victor Adler über die Blutrichter der
Ausnahmegerichte empfand, diese willfährigen Werkzeuge der jeweiligen.
Machthaber, die ohne Wimperzucken selbst offenkundig von Polizeilock-
spitzeln zu anarchistischen Verbrechen verleitete Arbeiter auf Jahre und
Jahrzehnte in den Kerkern begruben, machte sich wiederholt in scharfen
Artikeln Luft. Holzinge r, Lamezan, Schmiedet — nie konnte er
diese Namen nennen, ohne erregt zu werden. Er war sich beim Schreiben
dieser Artikel stets bewußt, daß sie nicht bloß konfisziert würden, sondern
auch die persönliche Verfolgung vor Gericht zur Folge haben könnten. Ei
zeichnete diese Artikel mit seinem vollen Xamen oder seinen Anfangs-
buchstaben, um so von Anfang an die Verantwortung dafür zu übernehmen.
Die Richter und die Polizei.
In der Nummer 33 der „A r b e i t e r - Z e i t u n g" vom IT). .\u|iusl JS'.ti»
schrieb Adler unter diesem Titel folgenden Artikel:
V. a. Fast in jeder JTu'imiier jedes in Österreicli er-
scheinenden Arbeiterblattes sind Beschwerden über das Vor-
gehen der Polizei zu finden. Alljährlich bringen die Abge-
ordneten K r o n a w e 1 1 e r und P e r n e r s t o r f e r eine Fülle
von Klagen über die Behandlung der Arbeiter durch die Polizei
zur Kenntnis des Parlaments und der Öffentlichkeit. Das Parla-
ment, mitunter ziemlich erregt unter dem unmittelbaren Ein-
druck des Gehörten, ist froh, sich durch einige leere mehr oder
weniger zur Sache gehörige Sätze des Polizeipräsideuten oder
irgendeines Ministerialrates zur lieben Euhe und zu seineni
gewohnheitsmäßigen Vertrauen zur Regierung zurückbringen
lassen zu dürfen und sich um diese „zuwideren Geschichten"
nicht weiter kümmern zu müssen. Was „Öffentlichkeit'' heißt,
die Bourgeoispresse kümmert sich um diese Dinge erst recht
nicht; handelt es sich doch nur um Arbeiter und überdie.->
um deren Recht auf politische Freiheit und Orgauisati(»n. Ks
ist uns nicht gestattet zu sagen, daß die l*olizeibehördeu als
Organe der Klassenlierrschaft funktionieren; augenfällig aber
ist, daß sie von der herrschenden Klasse als solche betrachtet
werden und daß hierin allein der Grund liegt, warum es keine-
366 Die Richter und die Polizei
1 inzige Beliörde im uanzen Verwaltungsorgauismus des iStaates
uibt, welcher man ganz allgemein jene Immunität zubilligen
^\'iirde, welche die Polizeibehörde genießt. Eine öffentliche
Kritik der Polizei gibt es nicht in Österreich. In Versamm-
lungen schützt sie sich selbst — und zwar ganz ungeniert —
in der Presse schützt sie der Rotstift des Staatsanwalts, der
t-mpfindlicher ist, wenn man den Verdacht ausspricht, ein
Polizeikommiesär habe einigermaßen willkürlich gehandelt, als
wenn man Minister des Hoeliverrats beschuldigt. Man könnte
sagen, die Polizei handelt unter Aufsicht der ihr vorgesetzten
Behörden und schließlich unter Verantwortlichkeit des Mi-
nisters. Wer aber je die Geduld gehabt hat, den Beschwerdeweg
anzutreten nnd bis ans Ende zu gehen, der hat die Erfahrung
gemacht, daß Statthalterei und Ministerium sich ausschließlich
von der Polizei über die Polizei informieren lassen und daß der
Bescheid der zweiten nnd dritten Instanz nichts anderes ergibt
als ein Echo aus dem Polizeipräsidium. Sollte einer aber soviel
Energie und Vertrauen zu seiner Langlebigkeit haben, um ein
Erkenntnis des Reichsgerichtes herbeizuführen, so wird er im
besten Falle ein Urteil erreichen, welches schwarz auf weiß er-
klärt, auch das Reichsgericht sei der Ansicht, das staatsgrund-
iicsetzlich gewährleistete Recht des Klägers sei durch die Polizei
verletzt worden. Daran kann nun ein Liebhaber von Unter-
schriften hoher Herren eine Freude haben und unter Glas und
Rahmen nimmt sich ein solches Dokument recht stattlich aus —
aber weiter hat die Sache keinen Zweck. Das Urteil des Reichs-
gerichtes nützt dem in seinem Recht Verletzten nichts, es
schadet dem Verletzer des Rechtes nicht; oder hat etwa je-
mals jemand gehört, daß ein solches Urteil für den betreffenden
Polizeibeamten irgendwie unangenehme Folgen gehabt hätte?
•oder daß das Vorgehen der Polizei in künftigen Fällen irgend-
wie beeinflußt worden sei ? ?
In den letzten Wochen hat dieses Kapitel eine ebenso an-
mutige wie bezeichnende Fortsetzung erhalten. Ein junger,
richterlicher Funktionär (einem alten wäre derlei nie passiert)
kommt im Zwischenraum weniger Tage zur Kenntnis folgender
Tatsachen: Eine alte Frau erhält Suppe aus einem Kloster; sie
wird wegen Betteins arretiert, später entlassen und auf den
nächsten Tag beschieden. Sie erscheint pünktlich, wird aber in
Haft behalten und ihre Tochter gibt vor Gericht an, die Greisin
Die Richter und die Polizei 267
und sie selbst seien bei dieser Gelegenheit mißbandelt worden.
Der Eichter (Dr. Pofiska im IL Bezirk) nimmt die Polizei in
Scliutz. meint, derlei könnten sicli. wenn es wahr sei, nur unter-
.üeordnetc Polizeiorgane haben zuschulden kommen lassen,
doch sei das n i c Ii t S a c li o des G e r i c li t e s. Wessen
Sache das eigentlich sei, weiß er natürlich el)enso wenig aD
irgendein ^lensch in Österreich.
Die Greisin wird freigesprochen und darf hoffentlich
künftig ihre Suppe unbehelligt vor der Klostertür abwarten. In
einem anderen Falle beschuldigt ein Mann einen andern, er habe
in seine, übrigens leere Handtasche gegriffen. Der Beschuldigte
will, nachdem er sich gerechtfertigt, die Ehrverletzung verfolgen
und zwingt den andern, mit ihm auf das Polizeikommissariat
zu gehen, wo er gegen denselben klagbar auftritt. Der Geklagte
gibt irgendeinen falschen Namen und eine falsche Adresse an
und verduftet auf Nimmerwiederfinden. Der Kläger wird fünf
Tage in Haft behalten, schließlicli vor denselben Richter,
I»r. Pofiska, gestellt und „Mangels jeden Tatbestandes frei-
gesprochen". Der angeklagte Kläger führte bei der Ver-
handlung gegen den diensthabenden Polizeikommissär Be-
>chwerde, und es scheint, daß der junge Eichter diese Klage als
nicht ganz gegenstandslos angeseben habe. Daß nun in kurzen
Zwischenräumen indemeelbenBezirke mehrfach Dinge
vorgekommen, die mindestens den leisen Verdacht erwecken, daß
der Polizei ab und zu „Mißgriffe" passieren, mußte auffallen.
In jedem zivilisierten Lande wird in solchen Fällen, wo die Ver-
mutung rege wird, es gäbe irgendwo erhebliche Mißstände, ein«»
I) i s z i p 1 i n a r u n t e r s u c h u n g eingeleitet. Auch Öster-
reich ist ein zivilisiertes Land, auch hier wurde eine solche
I>isziplinaruntei'suchung eingeleitet. Freilich, Österreich ist
nicht nur ein zivilisiertes Land, sondern hat auch sonstige Eigen-
tümlichkeiten. Es wurde also die Disziplinaruntersuchung nicht
etwa gegen jene Polizeiorgane, sondern gegen den
Eichter erhoben, der, jung wie er ist, das "Unglück
gehabt, diese Dinge zu bemerken. — Das Eesultat war, daß der
Herr Auskultant Dr. Pofiska vom Bezirksgericht Leopold-
stadt strafweise zum Bezirks- als Strafgericht Ottakring
versetzt wurde. — Damit sind bis auf weiteres die Be-
wohner der Leopoldstadt vor den T'bergriffen — der Eichter
gegen die l'olizei geschützt.
268 Die Richter und die l'olizei
Hatte nun auch das Polizeipräsidium für die ihm angetane
l'nbill gerechte Sühne erhängt, so konnte es sich billigerweise
damit nicht beruhigen. Mutmaßlich hat das Polizeipräsidium
Kenntnis davon, daß Fälle, wie die jener Greisin an der Kloster-
pforte oder jenes ale Kläger fünf Tage im Bezirksarreste ge-
sessenen Mannes häufiger auch in anderen Bezirken vorkommen,
o-der es ahnt, daß weiterhin dergleichen vorkommen könne,
jedenfalls will es dem für alle Zukunft vorbeugen, daß Richter
sich unterfangen, das Verfahren von Polizisten zu kritisieren.
Die Aufgabe der Polizei ist ja wesentlich eine präventive, eine
vorbeugende. Das Polizeipräsidium setzte seine Sache durch :
Unter dem 7. August meldeten die Wiener Blätter :
„Den richterlichen Funktionären bei d e u
Wiener B e z i r k s g e r i c h t e n (Adjunkten, Auskultanten
und staatsanwaltschaftlichen Funktionären) wurde heute, wie
man uns mitteilt, ein als „vertraulich" bezeichneter Erlaß des
Wiener Landesgerichtspräsidiums intimiert, in welchem die ge-
nannten Funktionäre mit Rücksicht auf einen speziell vor-
gekommenen Fall eindringlich angewiesen werden, sich
jeder das Verhalten der S i c h e r h e i t s w a c h-
(I r g a n e kritisierenden B e m e r k u n g zu e n t-
halte n, da derartige Bemerkungen im Gerichtssaale geeignet
seien, d a s A n s e h e n dieser O r g a n e in ihrer ohnehin
schwierigen Stellung zu u n t e r g r a b e n.
Alle richterlichen Funktionäre mußten die Kenntnisnahme
dieses Erlasses durch ihre Unterschrift bestätigen."
Von der vielleicht auch einigermaßen „schwierigen
Stellung", in der sich Leute in der Lage jener alten Frau und
jenes alten Mannes befinden könnten, ist weiter nicht die Rede.
Mit diesem „vertraulichen Erlaß" ist nunmehr die
Krönung des Gebäudes, welches die I m m u n i t ä t der
Polizei bedeutet, erreicht. Kein Richter wird künftig „kriti-
sierende" Bemerkungen gegen Sicherheitsorgane", geschweige
l*olizisten hölierer Grade riskieren. An die Tierren vom Landes-
gericht war der Erlaß gar niclit gerichtet, das sind ältere „er-
fahrene" Männer, welche genau wissen, was der Artikel (•
des S t a a t s g r u n d g e s e t z e s vom 2 \. De/ e m b e r
1 8 (3 7 1) e d e u t e n soll, w e 1 c h er lautete: „D i (^
\l i c h t e r s i u d i n ,V u s ü b u n g i h r e s r i c h t e r-
1 i c h e n A m t e .s selbständig und unabhängig." Zudem bedient
I>ie Kicliter uiul die Polizei 269
man sieh seit längerer Zeit einer ei^entümlielien. aber selir
wirksamen Methode, nm die Eichter zur ..l'nabhänoi^keit und
Selbständigkeit" zu erziehen. Man läßt sie nämlich, bevor sie
Richter werden, viele Jahre als Staatsanwälte fungieren,
was bekanntlich die beste Schule für unabhängig- und ■selbständig
denkende Männer ist. Aber auch als Eichter können sie sich
dieser wahrhaft erleuchteten Pädagogik nicht entziehen. Nur
Eichter von .,nnabhängiger" Gesinnung werden zum Avance-
ment, nur solche von rücksichtsloser „Selbständigkeit" zur Ver-
leihung von hohen Orden vorgeschlagen. Das sind ja allbekannte,
oft rühmend hervorgehobene Dinge, die wir nur zur Beleuch-
tung des Erlasses, welcher wahrscheinlich die Unterschriften
L a m e z a n und H o 1 z i n g e r trägt, nebenbei erwähnen.
Wir wissen ganz genau, daß wir den Zustand, welcher
durch diese Immunität der Polizei geschaffen wird, keiner
Kritik unterziehen dürfen. So weit geht eben die Preßfreiheit
in Österreich nicht. Und es ist bezeichnend, daß die Tagesblätter
bereits zu solcher Feigheit herabgekommen sind, daß sie ge-
legentlich der Erwähnung jenes Erlasses sich keinerlei Be-
merkung erlauben, sondern nur das „Aufsehen" erwähnen,
welches er in den ])oteiligten Kreisen hervorgerufeii haben soll.
Außerdem wird angekündigt, daß irgendein Al^geordneter sich
das harmlose Vergnügen einer Interpellation an das ^Ministerium
machen will, sobald Ende September der Eeichsrat wieder zu-
sammentritt. Wir wünschen ihm besten Erfolg, und daß er die
Antvx-ort noch erlebe 1
Wenn uns also die Kritik versagt und nur die Konsta-
tierung von nackten Tatsachen möglich ist, so wollen wir doch
ganz akademisch die Frage erörtern, ob es ein wünschens-
werter Zustand sei, wenn in einem Lande die Polizeiverwaltung
jeder Aufsicht, jeder Ixiltik durch die ()ffentlichkeit entzogen
ist, wenn kein noch so berechtigter Tadel weder im Parlament
Beachtung, noch in der Presse, ja selbst nicht im Gerichtssaale
auch nur zu Gehör gebracht werden darf. Wir sprechen dabei
nicht von Osterreich. Wir nehmen an, es bestehe in irgendeinem
Lande eine Polizeivcrwaltung, welclier nicht nur die Verhinde-
rung von Verbrechen, die Ergreifung der Verbrecher, die Hand-
habung aller möglichen ^Maßregeln zur Aufreclitcrhaltuug der
Ordnung im öffentlichen Verkehr, sondern auch eine
ganz bedeutsame, ja maßgebende Eolle in der Beeinflussung
270 * L)ie Richter und die Polizei
des politischen Lebens zugewiesen sei. Dieser Polizei-
behörde seien zu diesem Zwecke die ungeheuersten Be-
fugnisse eingeräumt; sie habe nicht nur das Recht, nach
ihrer Einsicht und nach ihrem Verständnis jeden einzelnen
Staatsbürger und alle insgesamt in der Ausübung ihrer
politischen Rechte zu behindern, ihre Versammlungen zu ver-
bieten, ihre Vereine aufzulösen, ihre Plakate zu zensurieren,
ihre Presse zu unterdrücken, es sei ihr auch die persönliche
Freiheit der Bürger ganz und gar ausgeliefert, sie könne alle
Menschen überwachen, alle Wohnungen durchsuchen, schließlich
in Haft nehmen, wen immer sie für gefährlich hält; sie besitze
einen eigenen Fonds, um Leute anzuwerben, die in ihrem
Dienste unter den harmlosesten Masken die Überwachung aus-
üben, welche jene Privatbriefe lesen, die sie selbst nicht er-
öffnen will, und sie habe endlich das Recht, mit Ausnahme
weniger Ansässiger jeden Bürger, der ihr gefährlich erscheint,
von seinem Wohnsitze zeitlich oder dauernd zu entfernen.
Wir nehmen weiter an, jene Polizeibehörde habe die tüch-
tigsten, ehrlichsten Beamten, es liege ihnen jede Streberei, jede
Wichtigtuerei, jedes Bestreben, sich unentbehrlich zu machen,
ferne; sie seien weiter, vom Präsidenten angefangen bis zum
letzten Polizeiagenten lauter Ausbünde von Rechtssinn, Un-
befangenheit und Menschenkenntnis, sie alle seien aber auch
mit jenem hohen Grade juridischen und sozialpolitischen
Wissens ausgestattet, der notwendig ist, um ihre Beobachtungen
objektiv machen und aus ihnen die richtigen Schlüsse ziehen zu
können. Sie besäi3en durch irgendein Wunder auch alle soviel
angeborenen Takt, daß sie sich nie und nirgends zu einer Äuße-
rung oder Handlung hinreißen ließen, welche den Pflichten
ihres Amtes zuwiderliefe. — Wir wiederholen, wir sprechen
nicht von Österreich. Aber wir behaupten ganz allgemein, daß
eine Polizeiverwaltung, welche die Macht, welche wir an-
deuteten, hätte, und wären ihre Träger lauter solche Erzengel,
wie wir sie schilderten — daß auch eine solche Polizei stets der
öffentlichen Kontrolle im höchsten Grade bedürftig sein müßte.
In dem bloßen Besitze einer solchen furchtbaren Machtfülle
liegt die unüberwindliche Versuchung, sie zu mißbrauchen aucli
für den wohlwollendsten Mann. Wenige Gehirne gibt es, welche
die unbeschränkte Gewalt nicht dem Schwindel überantwortet,
und wer einst die Kulturgeschichte unserer Zeit schreiben wird,
Die Richter und die Polizei 271
dürfte als Analogou des Zäsarenwahnsinnes vom Polizeiwahn-
sinn zu erzählen haben. Um nur eines zu erwähnen: man stelle
sich vor, daß die Polizeibeamten jenes Staates ja gezwungen
wären, beständig die Kriminalpolizei von der Staatspolizei zu
trennen; daß sie die Pflicht hätten, es ängstlich zu vermeiden^
jene Methode der Präventivmaßregeln, welche sie als Kriminal-
polizisten zu üben hüben, auf das Gebiet der politischen Polizei
zu übertragen; daß sie sich sorgfältig hüten müßten, politisclf
mißliebige Ehrenmänner wie Spitzbuben, und iSpitzbuben mit
Titel und Orden wie Ehrenmänner zu behandeln; daß sie nicht
nur Bildung, sondern Puhe und Objektivität genug haben
müßten, dasjenige, was für die öffentliche Ruhe und Ordnung
wirklich gefährlich ist, zu erkennen, abzuwägen und geeignet
zu behandeln ; daß sie zu unterscheiden wissen müßten zwischen
unbequemen und zwischen gefährlichen Personen, zwischen Ur-
sachen sozialer Übel und ihren Resultaten. Vollständig ohne
andere Richtschnur alö die Meinung ihrer von ihr selbst aus-
schließlich beratenen und beeinflußten Vorgesetzten, ohne Mög-
lichkeit, ihr Urteil an dem Urteil der Öffentlichkeit zu messen,
müßte unausweichlich eine solche Polizeibehörde im Gefühle
ihrer Allmacht Fehler auf Fehler, Gewalttat auf Gewalttat
häufen, sobald sie den kleinsten, fast unvermeidlichen Mißgriff
getan; und sie müßte schließlich zu der größten, öffentlichen
Gefahr im Staate werden.
Der Liberalismus, der heute im wesentlichen das herr-
schende Staatsprinzip ist, hat seinerzeit sehr viel Lärmens, nach
unserer bescheidenen Ansicht allzuviel Lärmens, von der Un-
fehlbarkeit des katholischen Papstes gemacht. Und doch ist
dieses Dogma nur verbindlich für diejenigen Menschen, die mit
ihrem Denken innerhalb der Kirche stehen. Und doch ist weiter
die Unfehlbarkeit dem Papste vorbehalten und der Versamm-
lung der Kirchenfürsten. Was hätte der Liberalismus gesagt,
wenn das Dogma die Unfehlbarkeit jedem Diener der Kirche
bis herab zum letzten Mesner zugesprochen und dieselbe auf
alle Lebensverhältnisse aller Staatsbürger ausgedehnt hätte?
Nun wohl, dieselbe Bourgeoisie nimmt willig und geduldig die
praktische, allen fühlbare, alles beherrschende Unfehlbarkeit
und Allmacht der Polizei auf sich. Nicht nur daß eie keinen
Widerspruch wagt, sie betet diesen selbstgeschaffenen Götzen
an, sie duldet keinen Zweifel an seiner Weisheit. Woher nun
272 <ii"af l.amfzaii und die Advokaten
<liesei' Wandel, woher diese Hiindedenmt, dieses Scherwenzeln
■der Polizei? Die Antwort liegt nahe. Die Bourgeoisie
fürchtet sich, das ist das hervorstechendste Motiv aller
ihrer Tresinnungen und ihrer Handlungen. Der heutige Philister
..ein leerer Schlauch mit Furcht und Hoffnung angefüllt" —
^las ist der Erbe jenes stolzen Bürgers, der die Welt erobert und
mit seinen Idealen erfüllt hat. Der Philit^ter fühlt, daß er alt
wird: er ahnt, daß es ans Sterben geht. In seiner Todesangst
vor dem Erben kennt er kein anderes Mittel als die Grewalt.
Damit nur das Proletariat vergewaltigt werde, läßt er sich willig
-elbst vergewaltigen. Um das Proletariat unter Polizeiaufsicht
zu bringen, stellt er sich und den ganzen Staat unter Polizei-
.: Ulf sieht.
Und nun zurück aus dem Wolkenkuckucksheim jenes
Idealstaates zu unseren öi^terreichischen Zuständen. Wir denken,
<laß die Zeit nicht mehr gar zu fern ist, wo die Macht, welche
■der Ausnahmezustand der Polizei einräumt, von ihr selbst ad
.:d)surdnm geführt sein wird.
"• Der Artikel wurde bis auf den Tilcl, die ersten vier und ilie leizleu
üinf Worte k o n f i s z i e r l.
Graf Lamezan und die Advokaten.
Am 30. Jänner :!S95- erzälilte die ..Arbeilcr-ZeitunK" :
Graf Sctrönljorn, welclier aus dem Zusammenbruch des Ministeriums
"la-affe sein Justizministcrportefeuille ins Ministerium Windischgrätz hinüber-
ii'ttele, hat vor ungefähr einem .Jahre den Präsidenten der Strafgerichte einen
lü'laß zugesendet. In diesem Erlaß beschäftigte sicli der Juslizminister mit der
Stellung der Verteidiger im Strafverfahren und ihrem Verhalten gegenüb'3r
der Disziplinargewalt des Vorsitzenden. Als- Entgegnung auf diesen Erlaß
überreichte Graf I^amezan. der Präsident des Wiener Straifgerichts, dem
Justizministerium ein Expose, welches allgemeines Interesse erregte. Und
'ües mit Recht; denn noch niemals hat man von „maßgebender" Stelle den
Verteidigern so unverblümt Strebertum, Reklamcsucht und andere schöne
Dinge vorgeworfen, wie es Graf Lamezan in seinem Expose tat.
„Es ist leicht zu erraten," heißt es in dieseJB Schriftstück, „welches
Interesse diese Männer (die Verteidiger nämlich) zu solch scheinbar uneigen-
nützigem Verhalten bestimmt. Ihr Streben geht selbstverständlich nur dahin,
:s i c h u m jeden Preis bemerkbar zu machen. Bringt dies der
-sensationelle Fall« nicht an sich zustande, so muß es die scharf(> Haltung
•des Verteidigers, sei es gegen den öffentlichen .Ankläger, sei es auch gegen
Graf Lamezan und die Advokaten 2/3
den Vorsitzenden, wenn er seiner Disziplinargewalt Raum gibt. Solche Vor-
kommnisse schaffen ein »Renommee« und machen den Mann zu einem
gesuchten Verteidiger."
Und an anderer Stelle sagt Graf Lamezan:
„Ich will auch gar nicht behaupten, daß ein solches Vorgehen in
heutiger Zeit, wo der Sieg über die Konkurrenz im »Kampf ums Dasein<
die einzige »Parole« ist, verwerflich sei. Ich wollte nur andeuten, daß und
warum die »objektive Rechtsfindung« für den Verteidiger nur eine durchaus,
sekundäre Rolle spielt."
Am 2. Februar schrieb Adler darüber eine längere Glosse:
Herr Graf Lamezan, Präsident des Wiener Strafgerichts,
hat in dem Memorandum, welches bereit.s besprochen wurde,
den Wiener Advokaten einige recht bittere Dinge gesagt und
insbesondere diejenigen von ihnen, welche häufig am Ver-
teidigertisch zu sehen sind, bezeichnet als „jüngere strebende
Herren, die sich mit größter Bereitwilligkeit ohne jedes
Honorar zur Verfügung stellen", und von welchen es leicht zu
erraten sei, „welches Interesse sie zu solch scheinliar uneigen-
nützigem Verhalten bestimmt . . .'"' ..Ihr Streben geht selbst-
verständlich nur dahin, sich um jeden Preis bemerkbar zu
machen . . ." Wir haben nicht leugnen können, daß es allerdings
eine Anzahl von Strebern ebenso unter den Advokaten gebe
wie unter den Richtern, und das aus ganz gleichen Ursachen.
Wie die letzteren angewiesen sind auf das Avancement, so die
ersteren auf die Klientel und hiemit auf die Reklame.
Aber wir haben gegründeten Verdacht, daß Herr Graf
Lamezan nicht einzig und allein von dem Bestreben geleitet
ist, die Verteidigung würdig vertreten zu sehen, sondern daß
seine Ausführungen auch in persönlicher Kanküne ihre Wurzel
haben. Es gibt eine, allerdings leider kleine Anzahl von Advo-
katen in Wien, die in w i r k 1 i c h uneigennütziger Weise sich
des verletzten Rechtes annehmen und die das tun, nicht nur
nicht um dadurch eine Klientel zu erlangen, sondern häufig
unter der Gefahr, diese Klientel zu verlieren. Es gab allerdings
•eine Zeit, wo junge Advokaten durch die Übernahme der Ver-
teidigung von Sozialisten sich einen Ruf machen konnten und
wo .sie sich dadurch für das zahlungsfähige Publikum
empfahlen. Diese naive Zeit ist vorbei. Heute ist die organi-
sierte Arbeiterschaft, insbesondere die Sozialdemokratie, nicht
mehr von dem Zauber der Romantik umgeben wie vor Jahren,
heute ist sie für die besitzende Klasse einfach der Feind, und
18
274 Graf Lamezan und die Advokaten
wer mit ihr in Verbindung steht, wird mehr oder weniger ver-
femt. Daß die prozeßführende Bourgeoisie das tut, versteht
sich von selbst; daß aber Gerichtshöfe diesen Advokaten wenig
geneigt sind, sollte nicht sein, aber es ist so. Insbesondere sind
Advokaten, welche die Interessen der Klienten mit Eifer,
Konsequenz und Schärfe auch dann wahren, wenn es zufällig
nicht reiche Kridatare oder Militärschwindler, sondern arme
Arbeiter sind, durchaus nicht beliebt im grauen Haus. Das
begreifen wir, aber wir meinen, daß der Ausdruck dieser sub-
jektiven Neigungen denn doch eine Grenze haben muß und
daß die Einflußnahme auf die Wahl des Verteidigers von selten
der Gerichte immer ungesetzlich ist, in welche Form sie sich
auch kleide. Man höre nun folgenden Fall:
Der Hof- und Gerichtsadvokat Dr. K a r 1 O r n s t e i n
hatte bekanntlich gelegentlich der Verhandlungen über die
Favoritener „Exzesse" einen Konflikt mit dem Staatsanwalt
und dem Vorsitzenden. Herr Dr. Ornstein wurde nun, wie
in sehr vielen anderen Fällen, in letzter Zeit auch von der
Redaktion der „Freien Schuhmacher-Zeitung" angegangen, die
Verteidigung unseres Genossen Josef Bydzowsky zu
üb6rnehmen, der anläßlich des Schuhmacherstreiks bei der
Fabrik Löwenstein in Untersuchungshaft genommen
wurde. Mit dankenswerter Bereitwilligkeit sagte er zu und
suchte sich bei dem Untersuchungsrichter mündlich mit dem
Verhafteten in Verbindung zu setzen, was nicht gelang. Nun
richtete Herr Dr. Ornstein über Weisung des Unter-
suchungsrichters an den Untersuchungshäftling Bydzow-
sky einen Brief, in welchem er ihm mitteilte, daß er zu seinem
Verteidiger bestimmt sei, und ihm anheimstellte, für den Fall
der Zustimmung das beigelegte Vollmachtsformular zu unter-
zeichnen. Als Antwort erhielt er folgenden Bescheid:
„Zahl 1013.
Das k. k. Landesgericht zu Wien in Strafsachen.
An Sr. Wohlgeboren Herrn Dr. Karl Ornstein, Hof- und
Gerichtsadvokat in Wien.
Der von Euer Wohlgeboren eingelangte Brief an den Inquisiten
Josef Bydzowsky (nicht Bydschofsky) wurde in Gemäßheit des
§ 187 St.-P.-O. durch den Untersuchungsrichter geöffnet und gelesen, und
infolge des Bedenkens des Untersuchungsrichters, dem darin enthaltenen
Ansinnen zu entsprechen, hat die Ratskammer des k. k. Landesgerichts
in Wien gemäß § 94 St.-P.-O. beschlossen, daß dieser Brief dem genannten
Graf Lamezan und die Advokaten
Inquisiten nicht ausgefolgt, sondern Euer Wohlgeboren rückgestellt werde,
weil der gewünschte Vorgang das dem Beschuldigten nach § 39 St.-P.-O.
eingeräumte Recht, sich den Verteidiger zu wählen, beeinträchtigen würde,
und zu dem Zwecke dieser Wahl die im § 39, Abs. 3 St.-P.-O. vorgesehene
Verteidigerliste auch dem Inquisiten Josef Bydzowsky auf dessen Ver-
langen zur Verfügung stünde.
In Gemäßheit dieses Beschlusses erhalten Euer Wohlgeboren in der
Anlage •/• Ihren Brief zurück.
Wien, am 19. Jänner 1894.
Der k. k. Präsident:
L ame zan m. p."
Es ist gewiß ungeheuer dankenswert, daß die löbliche
Eatskammer den "Cntersuchungshäftlingen die freie Wahl
ihrer Verteidiger sichern will; aber wenig Logik scheint uns
darin zu stecken, daß man dem armen Schuhmachergehilfen,
der in Wien vollständig allein steht, den Bat seiner einzigen
Freunde, seiner Genossen, vorenthalten will und ihn der „Unbe-
fangenheit" seiner vollständigen Unkenntnis sämtlicher Ver-
teidiger Wiens überläßt. Die Sache wird dadurch nicht besser,
daß die löbliche Ratskammer so genau wie wir weiß, daß ein
Schuhmachergehilfe gewöhnlich mittellos und darum auf die
ex offo-Verteidigung oder, wie der offizielle Aus-
druck lautet, auf die ,,A r m e n v e r t r e t u n g" angewiesen
ist, wodurch die Wahl des Verteidigers ihm ent-
zogen und dem sogenannten Turnus, das ist der alpha-
betischen Eeihenfolge der Advokaten, also dem Zufall über-
lassen wird. Herr Graf Lamezan, welcher um die Würde
des Advokatenstandes, um die Betätigung des Verteidiger-
berufes im hehrsten Sinne so ganz außerordentlich besorgt ist,
möge diesen Fall und dessen Folgen wohl überlegen. In 99 von
100 Fällen wird es, wo es sich um hier nicht zuständige allein-
stehende Arbeiter handelt, ein wahrer Glücksfall für den Häft-
ling sein, wenn sich jemand findet, der ihm einen tüchtigen
und ernsten Verteidiger sucht, und wenn sich ein Advokat
findet, der diese Verteidigung übernimmt. Wenn das Landes-
gericht es ablehnt, die Tatsache, daß ein solcher Verteidiger
sich gefunden hat, dem Häftling zur Kenntnis zu bringen, so
ist es nicht der Verteidiger, sondern offenbar das Gericht^
welches „das dem Beschuldigten eingeräumte Recht, sich dea
Verteidiger zu wählen", beeinträchtigt. Das ist klar. . ,
18*
276 Einer vom Holzinger-Senat
Noch eine Bemerkung- können wir nicht unterdrücken.
Herr Graf L a m e z a n hat im Memorandum darüber Klage
geführt, daß „die besten und angesehensten Namen aus der
langen Liste des Advokatenstandes sich vom Verteidigungs-
amt fernhalten". Es ist wahr, daß unter den älteren Advokaten
wenige dazu zu haben sind ; und wenn Herr Graf L a m e z a n
wissen will, warum, so findet er am vorstehenden Fall ein
Beispiel für die Gründe. Es ist nicht jedermanns Sache, die
Behandlung, wie sie der Verteidigung sehr häufig von seiten
des Gerichtshofes und der Staatsanwaltschaft zuteil wird, zu
ertragen oder Schriftstücke entgegenzunehmen wie das ol)en
abgedruckte. Dazu gehören gute Nerven und ein Kampfmut,
den leider nicht jeder hat.
Dieser Artikel wurde — ausnalimsweise — nicht konfisziert.
Einer vom Holzinger-Senat.
Einen furclitbaren Hieb versetzte die „Arbeiter-Zeitung'" am -1. No-
vember 1892 den Gerichtsbehörden, und speziell dem berüchtigten
II olzinger- Senat beim Wiener Landesgericht, indem sie eine authen-
tische Abschrift des Disziplinarurteils des k. k. Oberlandes-
gerichtes in Wien gegen den Landesgerichtsrat Edmund Schmied el
veröffentlichte. Das umfangreiche Alvtenstück zählte 25 Fälle von
schweren Pflichtverletzungen im Amte auf. Er hatte in
einer ganzen Anzahl von Fällen die Erledigung von Nichtigkeitsbeschwerden
über ein Jahr hinausgeschoben, hatte „wissentlich unwahre Auskünfte"
gegeben, Referate hinterher „korrigiert", Strafgelder über ein Jahr, und zwar
so lange „bei sich behalten", bis sein Disziplinarprozeß schon im Gange war.
Indem er Akten liegen ließ, hatte er die Untersuchungshaft von Beschuldigten
tun Monate verlängert. Das Aufreizendste war aber das Urteil: Der Richter
wurde, obwohl seine Taten als Verbrechen des Amtsmißbrauches zu bestrafen
gewesen wären, von seinen Kollegen nur mit der Versetzung nach
S l e y r unter Belassung seines Ranges und seiner Bezüge bestraft. Die
Mitschuld wegen mangelhafter Überwachung der Arbeiten Schmiedeis traf
aber auch den Landesgerichtsvizepräsidenten Ritter v. H o 1 z i n g e r, mit dem
Schmiedel im „Ilolzinger-Senat" gesessQn hatte, und den Präsidenten
L a m e z a n .
Der Artikel, der dem Wortlaut des Disziplinarurteils als Einleitung
diente, war von Adler vejfaßt und lautete:
Einer vom Holzinger-Senat 277
Ein verurteilter Landesgerichtsrat.
Wir sind leider sehr häiifip; in der Lage, Tatsachen ans
Licht zu ziehen, welche beweisen, wie mangelhaft unsere Justiz-
pflege und politische Verwaltung ist, wie insbesondere die
Arbeiter ihnen auf Gnade und Ungnade ausgeliefert sind. Vom
Abgeordneten P e r n e r s t o r f e r stammt das bekannte
Wort: „Hat man in Österreich jemals einen Polizeikommissär
erlebt, der wegen seiner Amtsführung bestraft worden wäre?"-
In der Tat sind alle Anklagen, welche von selten der Arbeiter-
schaft über ungesetzliches Vorgehen von Beamten vorgebracht
werden, nur geeignet, diese Beamten in den Augen ihrer
Oberen zu empfehlen, und man weiß, daß gerade diese Beamten
am raschesten avancieren. Sind aber schon politische Beamte
in Österreich vollständig immun, so gilt das noch viel mehr
vom Richter. Wir meinen damit nicht jene berühmte in den
Staatsgrundgesetzen ausgesprochene Immunität: „Die Richter
sind in Ausübung ihres richterlichen Amtes selbständig und
unabhängig." Dieser Paragraph ist auf demselben Papier ge-
druckt Avie der Rest unserer Staatsgrundgesetze und erfährt
durch Ordensauszeichnungen und Avancement seine ent-
sprechende Einschränkung. Aber dem Volke gegenüber Avird
die Unabhängigkeit und Unverantwortlichkeit der Richter in
so strenger Weise aufgefaßt, daß sogar die gesamte Presse,
allerdings fälschlich, meint, daß ein richterliches Urteil einer
öffentlichen Kritik nicht unterzogen werden dürfe. Allerdings
gibt es Fälle, wo die liberale Presse den gewohnten Respekt
vor dem Richter, welchen sie ihrem Lesepublikum einzubleuen
bestrebt ist, auf einen Moment beiseite setzt, und wir erinnern
uns, welches Geschrei gegen den Landesgerichtsrat G i o n i m a
erhoben wurde, als er einige, allerdings wenig geschmackvolle
Bemerkungen gegen einen jüdischen Roßtäuscher machte.
Damals waren die „Freiheit und die Menschenrechte" natürlich
in Gefahr. Die Sache B i z o kontra Wagner, welche wir in
letzter Nummer erzählt haben und welche bedeutet, daß ein
junger Herr, der zufällig staatsanwaltschaftlicher Funktionär
ist, einen ehrenhaften Mann, welcher sich nur um sein Recht
gewehrt hat, im Gerichtssaal beschimpft, und zwar unge-
straft, diese Tatsache hat natürlich die Presse vollständig
ignoriert. War es ja doch nur ein Arbeiter, um den es sich
handelte, und war es doch ein in den „besten Kreisen Wiens"
278 Einer vom Holzinger-Senat
gern gesehener junger Mann, den man hätte tadeln müssen.
Aber nicht immer bleiben Gerichtsbeamte, welche ihre Pflicht
vernachlässigen, unbestraft. Vor einigen Wochen wurde
bekannt, daß ein Wiener Landesgerichtsrat im Disziplinarweg
versetzt worden sei, aber die Presse, welche pikante Details
mit Begierde aufgreift, verschwieg in dieser Sache nicht nur
den Namen, sondern alle Details. Durch einen anonymen Ein-
sender, welchem wir auf diesem Wege unseren Dank aus-
sprechen, sind wir in den Besitz einer authentischen
Abschrift des Disziplinarurteils über den
Landesgerichtsrat Schmiedel gelangt. Wenn wir
es trotz seines Umfanges mit wenigen Kürzungen vollinhaltlich
veröffentlichen, so geschieht dies durchaus nicht aus einer
besonderen Voreingenommenheit gegen die Person des Landes-
gerichtsrates Schmiedel. Man sagt dem Manne nach, daß
er zu den besseren Leuten im Wiener Landesgericht gehört
habe, und wir wollen dies im Hinblick auf andere Herren
durchaus nicht bezweifeln, obwohl der Umstand, daß er als Bei-
sitzer des bekannten H o 1 z i _n g e r - S e n a t s beim Wiener
Ausnahmegericht sowie anderen politischen Prozessen,
zum Beispiel beim Prozeß Schönerer, zugezogen wurde,
annehmen läßt, daß er zu den „absolut verläßlichen" Unter-
gebenen des Baron Holzinger gehörte. Aber darauf kommt
es uns gar nicht an. Man lese das unten abgedruckte Erkenntnis
des Oberlandesgerichtes als Disziplinargericht und man wird
finden, daß Herr Schmiedel in einer ganzen Anzahl von
Fällen die Erledigung von Nichtigkeitsbeschwerden über ein
Jahr hinausgeschoben liat, daß er „wissentlich unwahre" Aus-
künfte gegeben hat, daß er Referate hinterher korrigierte, daß
€r Strafgelder, die ihm im Sommer 1891 übergeben wurden, in
etwa einem Dutzend von Fällen bei sich behielt und sie merk-
würdigerweise erst insgesamt auf einmal am 5. März 1892
}ierauszahlte, offenbar zu einer Zeit, wo sein Disziplinarprozeß
entweder schon im Gange war oder drohte.
Unter den von ihm zurüekgelialtenen Geldern war ein
Betrag von 31 Gulden, den die Geschwornen für die minder-
jährige Theresia Hoff mann gesammelt hatten und welcher
von Herrn Schmiedel weder abgeführt noch auch im
Protokoll ersichtlich gemacht wurde. Wir meinen, daß es ein
Landesgerichtsrat allerdings nicht notwendig hat, sich mit so
Einer vom Holzinger-Senat 271)
kleinen Beträgen abzugeben, und da die gesamte Summe aller
zurückbehaltenen Gelder 200 Gulden nicht viel übersteigt, so
muß es nicht absolut Gewinnsucht sein, welche ihn dazu
veranlaßte. Aber Herr Schmiedel hat mehr auf dem Ge-
wissen! Er hat in einer Reihe von Fällen die Untersuchungs-
oder Strafhaft dadurch verlängert, daß er die Akten liegen ließ.
In dem einen Fall hat er die Untersuchungshaft eines gewissen
Wollenstein ohne jeden gesetzlichen Grund um mehr als
sieben Monate verlängert!
So weit die Fakten, welche zu einer Erörterung wohl
nicht Anlaß bieten würden, wenn nicht das Urteil ein so
merkwürdiges wäre. Dieselbe Behörde, welche den Mann, der.
im Wechsel von Überbürdung an Arbeit und Hunger durch
Arbeitslosigkeit an die Grenze des Wahnsinns gebracht, ein
Stück Brot nimmt, unnachsichtlich straft; derselbe Staat,
welcher Tausende von Menschen dem Schubwagen, dem
Kerker, den Korrektionshäusern überliefert, weil sie nicht die
„sittliche Kraft" haben, frierend und mit leerem Magen an
wohlgenährten und satten Menschen vorüberzugehen, ohne sie
aufzufordern, von ihrem Überfluß ihnen ein wenig zukommen
zu lassen; ein Staat, welcher die leiseste Meinung und das Aus-
sprechen eines entferntesten Verdachtes, daß ein Beamter seine
Pflicht nicht erfüllt oder die Grenzen des Gesetzes über-
schritten habe, als Amtsehrenbeleidigung und Wachebelei-
digung streng bestraft; ein Staat, welcher jeden in der Öffent-
lichkeit ausgesprochenen Zweifel an der durchgängigen Ehr-
barkeit und Vertrauenswürdigkeit seiner Beamten unnachsicht-
lich konfisziert — ein solcher Staat, meinen wir, hätte allen
Grund, das eigene Haus rein zu halten. Nun sehen wir uns das
Urteil an. Die Dinge, welche sich Herr Landesgerichtsrat
Schmiedel hat zuschulden kommen lassen, sind in drei
Gruppen zu bringen. Die versäumte Abfuhr des an ihn erlegten
Geldes ist wohl nicht leicht anders als eine V e r u n t r e u u n g
zu qualifizieren, und wenn auch wahrscheinlich nicht Gewinn-
sucht, sondern Leichtfertigkeit vorliegt, so ist es doch sehr
merkwürdig, daß die Herbeiführung der Straflosigkeit durch
den Eintritt „tätiger Reue" und Ersatz der Gelder in allen
Fällen gerade auf den 5. März 1892 fällt. Eine zweite Gruppe
von Tatsachen fällt unter den Begriff der Vernach-
lässigung pflichtgemäßer Obsorge, welche.
280 Einer vom Holzinger-Senat
wenn sie zum Beispiel in einer Apotheke durch Verwechslung
von Arzneien passieren würde, bis zu drei Monaten ver-
schärften Arrests nach sich ziehen würde. Die dritte Gruppe,
welche die Verlängerung der Untersuchungshaft, in einem
Falle im Ausmaß von sieben Monaten, betrifft, fällt je nach
der Auffassung unter den Begriff des Verbrechens der öffent-
lichen Gewalttätigkeit (§ 93 des Strafgesetzes) oder des Miß-
brauches der Amtsgewalt (§ 101 St.-G.), in jedem Falle ein
Delikt, auf welchem ein bis fünf Jahre schweren Kerkers
stehen. Nun wollen wir ja alle mildernden Umstände, auf die
wir noch zurückkommen werden, gelten lassen; aber daß das
Urteil so weit geht, die mildeste Disziplinarstrafe zu ver-
hängen, die überhaupt im Gesetz vorgesehen ist, das scheint
uns denn doch ein ganz unerhörter Vorgang. Die aus-
gesprochene Strafe ist nämlich im Gesetz vom 21. Mai 1868,
§ 6 a, vorgesehen: .,Die Versetzung mit gleichem Range in
einen anderen Dienstort ohne Anspruch auf die Übersiedlungs-
kosten." Herr S c h m i e d e 1 wurde mit B e 1 a s s u n g
seines Ranges und seiner Bezüge als Landes-
ger i c h t s r a t nach S t e y r versetzt und wird dort ungestört
seines Amtes walten, wozu wir die dortige Bevölkerung
beglückwünschen.
Unter solchen Umständen ist es begreiflich, daß Beamte,
die sich leichtere Schädigungen des Publikums zuschulden
kommen lassen, sich vollständig sicher und straflos fühlen.
Und es ist klar zu ersehen, daß Herr S c h m i e d e 1, wenn
nicht insbesondere der eine Fall, welcher eine Verlängerung
der Untersuchungshaft um sieben Monate nach sich zog, denn
doch einiges Aufsehen erregt hätte, vollständig straflos
geblieben wäre. Wir verweisen darauf, daß wir in der letzten
Nummer konstatierten, daß bei der Bezirkshauptmannschaft
T e p 1 i t z unter der Ägide des Grafen T h u n Eingaben ver-
lorengehen und monatelang unerledigt bleiben; wir zweifeln
nicht daran, daß, insbesondere da die Beschädigten Arbeiter
sind, kein Hahn danach krähen wird. Es muß eine solche
Summe von Vergehen gehäuft werden, wie im Falle
S c h m i e d e 1, bis es überhaupt zu einer Disziplinarverhand-
lung kommt. Das milde Urteil läßt schließen, daß etwas
geringere Vergehen eben alltäglich sind.
Einer vom Ho]zinger-Senat 281
Freilich, Herr Schmiedel hat Milderungs-
gründe. Erstens: die Überhäufung mit Arl)eiten. Zweitens:
die' mangelhafte Überwachung seiner Amtstätigkeit. Da&
Urteil sagt ausdrücklich, daß die oben erwähnten Vorfälle „bei
einer genauen Überwachung der Amtstätig-
keit keinen so bedeutenden Umfang hätten annehmen
können". Wer sind nun die Herren, welche die genaue Über-
wachung unterließen ? Herr Landesgerichtsvizepräsident H o 1-
z i n g e r in erster Linie und Herr Landesgerichtspräsident
L a m e z a n in zweiter Linie, zwei wohlbekannte Namen. Der
dritte Milderungsgrund, welchen Herr S c h m i e d e 1 anführt.
ist, „daß die ihm zugewiesenen Hilfskräfte ihrer Qualität nach
minder befähigt" waren, daß seine t ' Ij e r 1 a s t u n g-
gerade dadurch so gestiegen sei, daß er „die
von den Schriftführern gearbeiteten un-
brauchbaren Urteile vollständig umarl^ei-
ten mußte". Nun wirft diese vom Oberlandesgericht in
seiner Urteilsmotivierung bestätigte Tatsache kein besonders^
günstiges Licht auf unseren jungen juristischen Nachwuchs
überhaupt. Aber es wird unsere Leser interessieren, zu erfahren»
daß unter den Schriftführern, welche die ..unbrauchbaren
Urteile" konzipierten, der Herr Auskultant ,,Herr" Dr. Julius
Josef Wagner war, derselbe Herr, welcher wahrscheiniicli
wegen Unfähigkeit, Urteile zu konzipieren, zum staatsanwalt-
lichen Funktionär befördert wurde und als solcher unsere
Parteigenossen insultiert.
So sieht es bei den Justizbehörden aus, welche über uns
zu Gericht sitzen. Es fällt uns durchaus nicht ein, verallge-
meinern und alle Richter der Vernachlässigung ihrer Pflicht
beschuldigen zu wollen oder auch den Richterstand so zu über-
schätzen, daß wir ganz besonders erstaunt wären, daß sich auch
unter den Richtern solche Dinge ereignen. Aber wir müssen
zwei Dinge konstatieren. Erstens ist es höchst bezeichnend, daß
in dieser Sache Namen von Beamten die erste Rolle spielen,
welche sich in ihrem Vorgehen gegen die Arbeiterschaft in der
Sache durch eine unerhörte Härte der Urteile auszeichneten
und welche in der Form wie Holzinger und W a g n e r
in der Schroffheit ihres Auftretens ihresgleichen suchen.
Zweitens ist es bezeichnend für den Geist, welcher bei
den österreichischen Behörden herrscht, daß man derartige-
282 Einer vom Holzinger-Senat
Vorkommnisse nicht nur mit der gelindesten Strafe belegt, die
noch anwendbar ist, sondern daß man, was das wichtigste ist,
den ganzen Vorgang geheimhält und vertuscht. Man irrt sich
in den betreffenden Kreisen sehr, wenn man meint, daß das
Gefühl der Rechtssicherheit und das Vertrauen zu den Be-
hörden auf diese Weise gewinnt. Im Gegenteil, gerade der
Umstand, daß jeder weiß, daß von Beamten gehäuftes Unrecht
verübt werden kann, ohne daß man je von einer Bestrafung
derselben hört, gerade das erzeugt jenes Gefühl absoluter
Rechtlosigkeit, jenes Gefühl des Ausgeliefertseins an eine
fremde, feindselige und in geheimnisvolles Dunkel gehüllte
Macht, welches beim österreichischen Volk, insbesondere bei
der Arbeiterklasse, immer mehr wächst. Die Arbeiter Öster-
reichs werden mit Erstaunen vernehmen, wie milde öster-
reichische Richter zu sein vermögen, freilich in einem Falle,
wo nicht von österreichischen Polizeispitzeln verleitete „An-
archisten", sondern ein — Mitglied des Anarchistengerichts-
hofes der Angeklagte ist.
Das Aufsehen war riesig, die Verblüffung im Landesgericht so groß,
daß die Nummer nicht konfisziert wurde, was dann überaus peinliche Folgen
für die Justizbehörde hatte. Denn da die Nachfrage nach der Nummer weit
größer war als die Auflage des Blattes, wurde sofort ein Separat-
abdruck gemacht, der bloß den Disziplinarakt und den Artikel der
..Arbeiter-Zeitung" enthielt. Jetzt setzte die Behörde zu spät mit der
Konfiskation wenigstens des Artikels ein. Die veranstaltete zweite Auf-
lage wurde ebenfalls konfisziert, und zwar mit einer Begründung, welche
die furchtbare Verlegenheit dartat: Dadurch, daß zwei unbedruckte Seiten
mit der Bezeichnung „konfisziert" versehen seien, werde die behörd-
liche Konfiskationsverfügung herabzuwürdigen gesucht! Als in der dritten
.■\uflage auch dieses Vergehen vermieden wurde, fand die Konfiskation wogen
fines neu erdachten Delikts statt: Da die Herausgeber Dr. Adler und
Rudolf Pokorny „nicht die Verfasser dieses Urteils" (gegen
Schmiedel!) sind, haben sie kein Recht, einen Separatabdruck von dem
i'rteil zu veranstalten — welch ein Witz der grausamsten Verlegenheit!
Tatsächlich erfolgte nicht bloß die Konfiskation der dritten Auflage, sondern
auch die Vermteilnng Adlers und Pokoinys zu je 30 Gnlden Geldstrafe —
wegen Verletzung des Gesetzes zum Schutz des geistigen Eigentums, jeden-
falls eine der lustigsten Verurteilungen!
Natürlich ließ sich Adler die Gelegenheit nicht entgehen, die Ver-
legenheit der IIolzinger-Leute zu vermehren. Er erhob gegen die
Konfiskationen Einspruch. Das Wiener Landesgericht, der Ritter
v. Hol z in g er, hätte darüber zu entscheiden gehabt, aber das ging doch
Einer vom Holzinger-Senat 283
nicht an, so wurde das Landesgericht Linz zur Verhandlung delegiert
und Adler fuhr nach Linz.
Die Einspruchsverhandlung.
Nachdem der Staatsanwalt Kopfinger die Verwerfung des Ein-
spruchs beantragt und der Vertreter Dr. Karl Katzer ihn begründet hatte,
sprach in Vertretung der „Arbeiter-Zeitung"
Dr. Adler.
Er konstatierte vor allem, daß das Erkenntnis nicht, wie
der Staatsanwalt zu glauben scheine, durch Bruch des Amts-
geheimnisses in seine Hände gekommen sei, und bedauerte,
daß man einen armen Diurnisten in Steyr, welcher, wie er ver-
sichern könne, der Sache absolut fernstehe, wegen des un-
gerechtfertigten Verdachtes entlassen habe. In zweiter Linie
konstatierte er, daß nur der Artikel der Konfiskation verfallen
sei, nicht aber, wie der Staatsanwalt meine, auch das Diszi-
plinarerkenntnis. Weiters führte er den Widerspruch aus, der
darin liege, daß der Artikel in der „Arbeiter-Zeitung", die vom
Staatsanwalt sehr genau gelesen werde, ohne Anstand ge-
blieben sei, erst die Sonderausgabe wurde konfisziert, offenbar
wieder „mit Rücksicht auf den Leserkreis". Der Staatsanwalt
möge diesen Widerspruch in der Handhabung der Justiz lösen,
daß ein und derselbe Artikel von einem und demselben Staats-
anwalt das eine Mal unbeanstandet blieb, das andere Mal kon-
fisziert wurde. Der Einspruchswerber sei in der Lage, gegen
das Vorgehen des Wiener Staatsanwalts die Autorität des
Wiener Staatsanwalts selbst ins Feld zu führen. Was aber
der Linzer Staatsanwalt in Vertretung der Konfiskation her-
vorgehoben habe, sei ja zum Teil richtig.
Der Artikel wende sich in der Tat durchaus nicht im
wesentlichen gegen den Landesgerichtsrat Schmiede 1,
welcher uns vielmehr vollständig gleichgültig sei, sondern er
konstatiere allerdings, wie der Staatsanwalt ganz richtig her-
vorhob, daß ein Ausnahmegerichtshof, von besonders dazu
geeigneten, absolut verläßlichen Beamten zusammengesetzt, be-
standen habe, und es werde weiter im Artikel behauptet, daß
man aus diesem Grunde die Anarchistenprozesse und den
Prozeß Schönerer diesem Gerichtshof zugewiesen habe.
Der Staatsanwalt habe vollständig recht, daß das in dem
Artikel behauptet werde, nur sei das keine Entstellung der
284 Einer vom Holzinger-Senat
Tatsachen, im Gegenteil, es wisse jeder der Herren vom hohen
Gerichtshof, ja selbst der Staatsanwalt selbst viel besser als
der Einspruchswerber, wie wahr das alles sei.
Bei diesen Worten machte der Vorsitzende, Herr Oberlandesgerichtsrat
Hocke, den Redner aufmerksam, daß er sich auf ein Gebiet zu begeben
scheine, wo Gefahr vorliege, daß er sich in seinen weiteren Ausführungen
strafbarer Handlungen schuldig machen könnte.
Dr. Adler fuhr fort, er nehme die Warnung dankbar
zur Kenntnis und werde vom Holzinger-Senat nicht weiter
sprechen. Er konstatierte aber zum Schluß, daß in diesem
Artikel durchaus nicht zum Haß und zur Verachtung gegen
das Richteramt aufgereizt worden sei, sondern im Gegenteil^
daß jeder Richter, der von der Würde seines Amtes durch-
drungen sei, nur dafür dankbar sein müsse, wenn die Würde
des Richteramtes gegen Mißbräuche verteidigt und diese Miß-
bräuche energisch kritisiert werden. Die Geheimnistuerei über
sei ebensowenig im Interesse des Richteramtes; im Gegenteil:
gerade der Umstand, daß das Volk fühle, daß an ihm gehäuftes
Unrecht verübt werde, daß aber niemals eine Sühne erfolge^
verursacht die wachsende Rechtsunsicherheit im arbeitenden
Volke.
Schließlicb gibt Dr. Adler der Genugtuung Ausdruck,,
daß die Delegierung nach Linz stattgefunden habe, weil da-
durch das Wiener Landesgericht in seiner
Gänze seine eigene Befangenheit in dieser Sache
konstatiert habe.
Der Staatsanwalt Kopfinger erklärte nunmehr, daß er absolut
nicht in der Lage sei, zu wissen, warum der Artikel beim ersten Erscheinen
nicht konfisziert wurde, hingegen erst beim Separatabdruck mit Beschlag
belegt worden sei. Es sei auch nicht seines Amtes, darüber ein Urteil zu
geben. Er erklärt weiters, daß Dr. Adler selbst gesagt habe, daß sich der Artikel
nicht sowohl gegen den verurteilten Landesgerichtsrat Schmiedel, sondern
geigen hohe Funktionäre des Wiener Landesgerichtes gerichtet habe, gegen
welche eben in offenbarer Weise zum Haß und zur Verachtung aufgereizt
worden sei. Er wendet sich auch gegen die Ausführungen des Dr. Katzer,
welcher vom Landesgerichtsrat Schmiedel als einem ehrgeizigen Streber
gesprochen habe, und bittet um Abweisung des Einspruches.
Dr. Katzer ergriff noch einmal das Wort, nur um zu konstatieren,,
daß der Herr Staatsanwalt ihn vollständig mißverstanden habe, wenn er
meinte, daß er mit seinem ganz allgemeinen Beispiel vom ehrgeizigen Streber
den Landesgerichtsrat Schmiedel gemeint habe. Gerade an diesen Herrn habe-
er dabei am allerwenigsten gedacht.
Die Verurteilung zweier Rednerinnen 285
Nach kurzer Beratung erklärte der Gerichtshof den Einspruch,
soweit er den Artikel betreffe, für abgewiesen und hob nur die
Konfiskation des Disziplinarerkenntnisses auf, welches gar nicht
konfisziert war.
Die Verurteilung zweier Rednerinnen.
Das Landesgericht hatte am 4. Jänner 1894 unter dem Vorsitz des
Ritter v. H o 1 z i n g e r die Sozialdemokratin Amalie R y b a*) wegen
„Schmähung und Verächtlichmachung der Behörden und des Reichsrates" zu
drei Wochen Arrest, die Sozialdemokratin Charlotte Glas**)
wiegen „Verbrechens der Beleidigung von Mitgliedern des kaiserlichen
Hauses" zu vier Monaten schweren Kerkers verurteilt; beide'
Delikte wurden angeblich in Versammlungsreden begangen. Die Verurteilung
erfolgte auf Grund der aus einzelnen Notizen der die Versammlung über-
wachenden Regierungskommissäre nachträglich zusammengestoppelten
Relationen; unbedingt lag im Falle Glas ein bewußter Justizmord vor.
Adler schrieb am 9. Jänner in Nr. 3 der „Arbeiter-Zeitung"
folgende geharnischte „Glosse":
Herr Ritter v. Holzinger hat seiner Karriere wieder
einmal einen Justizmord geleistet. Die Verurteilung der Ge-
nossin Glas ist ein neuer Stoß, welchen dieser Herr der
Hechtssicherheit in Österreich versetzt. Er hat es bereits zu-
wege gebracht, daß das Vertrauen in die Justiz nicht etwa nur
bei den Arbeitern, sondern bei allen Klassen der Bevölkerung
im raschen Schwinden begriffen ist, daß jedermann weiß, daß
ein politischer Prozeß, bei dem Holzinger präsidiert, ent-
schieden ist, bevor die Verhandlung begonnen.
Es muß einmal offen herausgesagt werden, wer dieser
Holzinger ist, da es scheint, daß es in maßgebenden Kreisen
unbekannt ist, wie die wohlunterrichtete öffentliche Meinung
über ihn urteilt. O, wir wissen, der Mann hat Verdienste: er
hat als Präsident des Ausnahmegerichtshofes mit
kaltblütiger Grausamkeit das Verurteilungsgeschäft besorgt
und dabei den Lockspitzeleien des F r a n k 1 die Mauer ge-
macht; er hat den verhaßten Schönerer zu Fall gebracht,
indem er dessen dummen Streich zu einem Verbrechen um-
urteilte ; er versteht es vortrefflich, heikle Prozesse „diskret**
*) Jetzt Seidel, Mitglied des Nationalrates.
**) Jetzt Pohl, Übersetzerin beim Internationalen Gewerkschafts-
bund in Amsterdam.
286 Die Verurteilung zweier Rednerinnen
zu führen; er ist überhaupt ein Beamter, der brauchbar, zu
allem brauchbar ist.
Aber ist denn wirklich das Interesse des Staates, daß
unbequeme Menschen beseitigt werden, so groß, daß ihm selbst
um den Preis der schwersten Verletzungen des öffentlichen
Rechtsgefühls genügen muß? Meint man die Sicherheit des
Staates wirklich zu fördern, wenn an Stelle der Ehrfurcht
vor dem Eichter die Furcht vor dem Henker tritt?
Der Fall Glas ist nicht der schwerste, der auf dem
Gewissen Holzingers lasten würde, wenn er eines hätte. Aber
dieser Fall zeichnet sich aus durch die seltene Klarheit und
objektive Gewißheit der Unschuld der Verurteilten
und durch die kalte Roheit des Urteils. Die Sozial-
demokraten heulen nicht, wenn sie verurteilt werden, wo sie
im Bewußtsein ihres guten Rechtes irgendeinen Para-
graphen des Gesetzes übertreten haben, was oft nicht zu
vermeiden ist; und wenn einer von uns aus Unvorsichtigkeit
etwa oder gar aus Renommisterei sich Abstrafungen zuzieht,
so erfährt weit eher er Tadel aus den Reihen der Genossen als
der Richter, der seiner Amtspflicht, wie wir sehr wohl wiss(yn,
rücksichtslos genügen muß. Wenn aber, wie im Falle der Ge-
nossin G 1 a s, die Unschuld auf der Hand liegt, ein Schnld-
beweis nicht einmal dem voreingenommensten Richter glaub-
haft sein kann, wenn der Richter nicht seiner wenn auch
noch so harten Amtspflicht, sondern lediglich seinem Bedürf-
nis nach Befriedigung der Grausamkeit und nach Karriere
genügt, dann muß jedermann empört aufschreien.
Gegen die Genossin Glas zeugte eine Relation, die ein-
gestandenermaßen von zwei Polizisten nach der Versammlung
zusammengeflickt worden. Nur einer dieser Polizeikonmiis-
säre behauptet, den inkriminierten Satz gehört zu haben; der
zweite weiß nur, daß die zwei Worte „Erzherzoge" und „Herz''
gefallen sind, aber er kann den Zusammenhang nicht angeben.
Dieser Zusammenhang wurde ganz ungezwungen und sinn-
gemäß von der Angeklagten hergestellt, während der inkrimi-
nierte Satz an dieser Stelle geradezu sinnlos wäre. Drei
weitere Zeugen konstatierten, daß jener Satz nicht ge-
sprochen wurde trotzdem Verurteilung, trotzdem vier
Monate Kerker für ein harmloses Mädchen von zwanzig
Jahren, eine Strafe, die eine empörende Roheit wäre, selbst
Drei vielsagende Zeilen 287
wenn der verbrecherische Satz von ihr wirklich gesprochen
worden wäre.
Genossin Glas hat aber jenen Satz nicht
gesprochen; sie w.urde unschuldig verurteilt,
und Herr Holzinger weiß, daß er eine Unschuldige ver-
urteilt hat.
Das Obergericht wird dieses Urteil kassieren, denn
Dutzende von Zeugen stehen zur Verfügung, die zu beeiden
in der Lage sind, daß jener Satz in der Tat nicht gesprochen
wurde.
Verurteilt aber bleibt unter allen Umständen Herr H o 1-
zinger; geschädigt bleibt die Rechtssicherheit der Staats-
bürger und die Achtung vor der Justiz in Österreich. Das Un-
heil, das ein „Richter" wie Holzinger anrichtet, beschränkt sich
keineswegs auf die Opfer seiner eigenen Urteile. Er steigt un-
aufhaltsam empor auf der Eangleiter und darum macht er
Schule. Seine Kollegen wissen, was sie von ihm zu halten
haben, aber sie wollen vorwärtskommen; sie beißen die Zähne
zusammen, sie schlucken die Verachtung hinunter, sie
schwingen sich auf zur Selbstverachtung und sie folgen ihm
nach. Der Name Holzinger bedeutet für die österreichische
Justiz die Herrschaft der glatten Routine, und des brutalen
Zynismus. Wir meinen, daß es hohe Zeit sei, daß das auch
öffentlich ausgesprochen werde, was seit längst alle wissen, die
sich um die Rechtspflege in Österreich kümmern. V. A.
* *
Der Artikel wurde in seiner Gänze konfisziert. Das Aufseilen, das
er, da er ja trotzdem überall gelesen wurde, hervorrief, war unbesclireiblich.
Allgemein wurde die Erliebung der Anklage gegen Adler erwartet, aber —
Holzinger wagte nicht vor die Geschwornen zu gehen und ließ die Schande
auf sich sitzen. So mächtig war die Wirkung, daß der Oberste Gerichts- als
Kassationshof der Berufung gegen das Schandurteil Folge gab und
es aufhob.
Drei vielsagende Zeilen.
Als der Ritter v. Holzinger zur Belohnung für seine Schergen-
dienste zum k. k. H 0 f r a t avancierte, schrieb Adler in der „Arbeiter-
Zeitung" (Nr. 173 vom 26. Juni 189.5) folgende Zeilen:
Die letzte Tat des Grafen Schönborn war die Ernennung
des Holzinger zum Hof rat. Nun, wenn den Hof raten der
neue Kollege genehm ist . . .
288 Der Selbstmord Holzingers
Der Selbstmord Holzingers.
In der Sonntagsnacht auf den 30. Dezember 1901 erschoß sich
^ler Vizepräsident des Wiener Landesgerichtes Hofrat Ritter v. H o 1 z i n g e r.
Wie es offiziell hieß, wegen drohender Erblindung, in Wahrheit, weil er die
Entdeckung und A'erfolgung einer Kinderschändung fürchten
mußte. Nachdem in der Montagnummer der „Arbeiter-Zeitung" Austerlitz
einen scharfen Artikel geschrieben hatte („An seinem Sarg erscheint das
Heer der unschuldig Verurteilten und klagt den toten Richter
schlimmsten und verderblichsten Unrechts an!"), erschien tags darauf
(Nr. 359 vom 31. Dezember) an der Spitze des Blattes ein Artikel von
Adler:
Der schlechte Richter.
Man soll dcu Toten nur Gutes nachreden. Das ist eine
Lillige Mahnung, die man für harmlose Privatleute gerne
gelten lassen mag. AVen man aber, als er lebte und mächtig
war, als das Böse bekämpfte, den nach Gebühr zu beurteilen,
wenn sein Leben abgeschlossen, ist Recht und Pflicht. Denn
liöher als die sentimentale Tradition der Rücksicht auf Tote
.steht die Pflicht gegen die Lebenden. Neben dem offiziellen
Kandukt von mehr oder minder bewußt erlogenen Trauer-
reden an Holzingers Bahre darf die Stimme der Wahrheit
nicht fehlen.
In Frankreich wird ein Mann verehrt, den sie „le bon
juge", den guten Richter nennen, weil er sucht, das enge,
alte Gesetz zu dehnen, zu sprengen, wenn es sein muß, weil er
seine Richtersprüche entgegen der juristischen Fiktion auf
die sozialen Tatsachen, die soziale Wirklichkeit gründet, weil
er seine Urteile schü]^ft aus dem lebendigen, sozialen Rechts-
bewußtscin. Holzin g er war der schlechte Richter.
Nicht seine Strenge, nicht seine Härte klagen wir an. Zu allen
Zeiten hat es beschränkte Justizfanatiker gegeben, die ver-
meinten, mit Galgen und Kerker das Verbrechen ausrotten
zu können. Nicht die Spur von solcher Leidenschaft war in
Holzinger; kaltblütig betrieb er sein Verurteilungsgeschäft
und richtete im Auftrag, wie der Henker im Auftrag henkt.
Vielleicht sogar war ihm Menschenhaß ebenso fremd wie
Menschenliebe. Er wollte hinaufkommen und er wußte, daß
das dem am besten gelingt, der tut, was verlangt wird. Für ihn
hatten Justiz und Recht nichts miteinander zu tun, sondern Justiz
war ihm ein Apparat, der Gesetzesparagraphen zu Herrscliafts-
Der Selbstmord Holzingers 289
zwecken verwendet. Er war, was man einen guten Juristen
nennt, und verstand den Apparat elegant zu handhaben, so daß
äußerlich alles klappte ; darum war er so verwendbar für die
schwierigsten Aufgraben. Es gibt Dinge, die der Unverfrorenste
nur mit der Zange angreifen möchte: Holzingcr war diese
Zange, ein unentbehrliches Justizwerkzeug.
So wurde Holzinger mehr als ein streberischer Beamtej'.
er wurde eine Einrichtung. Als in den achtziger Jahren die
österreichische Arbeiterbewegung unter tätiger Mitschuld ein-
zelner Polizisten auf Abwege gelenkt wurde, um dann er-
drosselt zu w^erden, war Holzinger ein notwendiges Glied
dieser Maschinerie. Ohne den Eichter Holzinger wäre der
Polizist Frankl unmöglich gewesen. Die Sistierung der Ge-
schwornengerichte für „anarchistische" Delikte hatte nur den
Sinn, die Möglichkeit eines Ausnahmesenats zu schaffen, den
dessen Vorsitzender, Holzinger, zusammenstellte nach seinem
Ebenbild. Nur die kalte Skrupellosigkeit Holzingers ver-
mochte es, Dutzende von armen Menschen der trockenen
Guillotine zu überweisen, deren schlimmste Schuld die Blind
heit war, mit der sie den Lockspitzeln des Frankl ins Garn
gingen. Es hat Fälle gegeben, wo dieser Zusammenhang akten-
mäßig klar war; Holzinger hat stets verhindert, daß er im
Gerichtssaal festgestellt werde, und ohne mit der Wimper zu
zucken, mit vollem Bewußtsein, in genauer Kenntnis des Sach-
verhalts hat er die Urheber des Systems gedeckt und seine
Opfer dem Zuchthaus überantwortet, wo sie an Tuberkulose
und Skorbut zugrunde gegangen sind. Man muß das erlebt
haben, man muß diesen Eichter und diese Angeklagten gesehen
haben, um zu begreifen, daß Holzinger und Frankl keineswegs
die Vernichter des Terrorismus waren, sonck'rn die furcht-
barsten Hindernisse für seine Bekämpfung.
Wie Holzinger die notwendige Ergänzung des SystcufS
Frankl gewesen, so war er auch die notwendige Ergänzung des
objektiven Verfahrens in Preßsachen. Wenn gegen eine Kon-
fiskation Einspruch erhoben wurde, so hatte er die Begrün-
dung für die Bestätigung der Konfiskation und die Abweisung
des Einspruches zu formulieren. Das besorgte er völlig auto-
matisch, in den letzten Jahren sogar ohne Anspruch auf
Juristische Findigkeit. Auch liier besorgte er einfach, was num
von ihm verlangte. In seiner ganzen Tätigkeit war er der
19
290 Der Selbstmord Holzingers
Gleichmut selbst. Nichts schien ihm erstaunlicher zu sein, als
wenn Verteidiger oder Angeklagter so töricht waren, an sc:n
Rechtsgefühl zu appellieren. Dann pflegte er seine innere
Kälte durch affektierte Übertreibung der Gleichgültigkeit
auch äußerlich zu markieren.
Es wäre schwer, den vollen Umfang des Schad-ens fest-
zustellen, den ein Richter wie Holzinger anrichten kann, and
jedenfalls ist er durch das Maß des Leidens keineswegs er-
schöpft, das er über seine Opfer gebracht hat. Es wäre kein
Wunder, wenn die schwächeren Elemente der nachstrebenden
jüngeren Generation von Richtern dadurch verführt würben,
daß sie sehen, wie die mit kaltem Zynismus dargebotene Ver-
wendbarkeit zvmi Erfolg führt; daß sie begreifen, wie jede Spur
von dem, was richterlichem Gewissen ähnlich sieht, nur ein
Hindernis für diese glänzende Karriere gewesen wäre. Mag
Selbstachtung davor bewahren, seinem Beispiel zu folgen; un-
heilbaren Schaden hat Holzinger der Rechtssicherheit in
Österreich gebracht. Mag man heute seine glatte Routine be-
wundernd preisen, im Bewußtsein aller Wissenden war er der
Vertreter der schlechtesten Seite der österreichischen Justiz,
war er der schlechte Richter.
in.
Adler als Verteidiger.
Weshalb damals konfisziert wurdu 293
Weshalb damals konfisziert wurde.
Die Nummer 16 der „Gleichheit" vom 0. April 1887 war wegen der
folgenden Stellen konfisziert worden :
1. Wien. Dienstag den 5. April beehrte die Polizei den Genossen
Franz Wedral um halb 6 Uhr früh in seiner Wohnung, während derselbe
noch in tiefem Schlaf lag, um eine Hausdurchsuchung vorzunehmen. Ge-
funden wurde nichts Nennenswertes. Mit großem Eifer durchsuchte man alle
Möbel, Kleider, und sogar der Herd in der Küche mußte sich eine gründ-
liche Untersuchung gefallen lassen. Genosse Wedral, welcher nichts
weiter als Mitglied des Arbeiter-Bildungsvereines in Wien ist, erscheint
also deshalb schon für staatsgefährlich.
2. Aus der m der Volksversammlung iii Schwenders Kolosseum
• Tagesordnung : Die politischen Forderungen der Arbeiter)
lieschlossenen Resolution die Einleitung:
In Erwägung, daß die kapitalistische Gesellschaftsordnung ihrem
Höhepunkt und damit ihrem Untergang entgegengeht;
daß die Begleiterscheinungen und Folgen dieser Wirtschaftsform: Ver-
einigung der Produktionsmittel in immer weniger Händen, Massen-
elend und Arbeitslosigkeit in immer kolossalerem Umfang
wachsen;
daß somit die Entwicklung zu einer neuen Wirtschaftsform mit
ausschließlichem Eigentum der Gesellschaft an sämt-
lichen Produktionsmitteln geschichtlich notwendig ist und zu-
gleich vom Standpunkt der Menschlichkeit mit allen Mitteln erstrebt
werden muß;
in Erwägung, daß die Unkenntnis der Bedingungen der ökono-
mischen Entwicklung von den herrschenden Klassen gewaltsam aufrecht-
erhalten wird;
daß aber die Klarheit und Einsicht in dieselben auf beide n
Seiten die einzige Möglichkeit bieten, daß sich der Klassenkampf rasch
und mit möglichst wenig Opfern vollzieht ;
3. femer die Ausführungen des Redners
Krapf: Kollegen! Nach der Annahme dieser Resolution erübrigt mir
nur noch wenig zu sagen; trotzdem möchte ich die heutige Tagesordnung
auch von meinem Standpunkt aus beleuchten. Diese Forderungen stellen die
Arbeiter an die Regierung — die Regierung besteht heute aus Abgeordneten
der Bourgeoisie und infolgedessen können wir die ganze Regierung nur als
einen Extrakt der heutigen Bourgeoisie betrachten. Daß unsere Regierung
nicht arbeiterfreundlich ist, das wird allen einleuchten; es ist in unzähligen
Versammlungen gesagt worden, wie konträr die Ansichten der Arbeiter und
der Bourgeoisie auseinandergehen. Wir stellen die Forderungen nach poli-
294 Weshalb damals konfisziert wurde
tischer Freiheit, wenn ich absehe von unserem Rechte, deshalb, weil wir
die eigentlichen Steuerzahler sind und die Steuern der Bourgeoisie auch
nur aus unserem Sack, aus unserer Arbeit gezahlt werden. — Vor Jahren,
als das zuerst zum Bewußtsein kam, da wußte die Bourgeoisie nichts anderes
zu sagen, als: Arbeiter, zuerst bildet euch und dann bekämpft uns. —
Wenn wir Freiheit der Propaganda verlangen, so wird uns gewöhnlich ent-
gegengehalten, das Abhalten von Versammlungen und die Verbreitung von
sozialistischen Ideen sei staatsgefährlich. Unterscheiden wir zwischen
Volk und Staat, so haben wir wieder Bourgeoisie und Arbeiter, und da
glaube ich, wenn alle die Freiheiten, welche die Arbeiterpartei fordert, ge-
währt würden, sie wären lange nicht so staatsgefährlich, als die An-
schaffung von Repetiergewehren volksfeindlich ist. (Unterbrechung durcli
den Regierungsvertreter.) Ich habe ohnedies nicht mehr viel hinzuzufügen.
Wo in irgendeinem Lande eine freiheitliche Gesetzgebung existiert, wurde
sie vom Volk selbst erkämpft. Die Freiheit, die wir verlangen, wird uns
die Bourgeoisie ebensowenig jemals freiwillig geben, sondern wir müssen
sie uns selbst erkämpfen. Daß kern unnützes Blutvergießen stattfindet, das
überlassen wir der Bourgeoisie, sie soll sich mit Bildungsmitteln befassen
und dann daraus ihre Folgerungen ziehen. (Beifall.^)
Die Einspruchsverhandlung.
Die Verhandlung über den Einspruch gegen diese Konfiskation fand
vor dem k. k. Landes- als Preßgericht unter dem Vorsitz des Landesgerichts-
rates Dr. v. Holzinger statt: Dr. Adler und Dr. Wolf-Eppinger ver-
traten, den Einspruch. Wir bringen hier die Reden des Staatsanwalts und
Adlers. (-Gleichheit" Nr. 23 vom 28. Mai 1887.)
Staatsanwalt Dr. Soos: Die erste von der Staatsanwaltschaft
inkriminierte Stelle begründet nach meiner Auffassung den Tatbestand des
Vergehens gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung nach § 300. Dieser
normiert es als ein Vergehen, wenn durch Schmähungen oder Verspottungen,
unwahre Angaben und Entstellungen Verordnungen und Entscheidungen
herabzuwürdigen versucht werden. Es ist nun an dieser Stelle eine Haus-
durchsuchung, die bei Genossen Wedral vorgenommen wurde, zum
Gegenstand einer Besprechung gemacht worden. Dieselbe behandelt An-
ordnungen der Behörden, die seitens der Partei, welche dieses Blatt vertritt,
selbstverständlich niclit mit liebevollen Augen angesehen werden. Ich
glaube aber, daß diese Notiz über den Rahmen einer gestatteten Kritik
liinausgeht, denn es kommen Ausdrücke vor, die nach meiner Meinung die
Behörden verspotten. Es heißt da, daß die Polizei den Genossen Wedral
.,beehrt", der Genosse Wedral ist auf jeden Fall nicht vom Besuch der
Polizei erfreut gewesen, selbst wenn er unschuldig war. Es ist also eine
Ironie in diesem Ausdruck gelegen, und eine Ironie, welche mit Rücksicht
auf den Leserkreis, für welchen dieses Blatt berechnet ist, auf fruchtbaren
Boden fallen würde, denn es wird der Leser gegen die Polizei aufgestachelt,
da die Sache so dargestellt wird, als ob die Polizei schon wieder eine
Amtshandlung vorgenommen hätte, welche nicht nur überflüssig, sondern
auch den Gesetzen widersprechend sei, denn am Schlüsse wird gesagt, daß
Weshalb damals kontisziert wurde 295
das Resultat Null war und daß man einen Menschen nur deshalb für staats-
gefährlich hält, weil er Mitglied des Arbeiter-Bildungsvereines ist, besonders
da nichts vorgefunden wurde. Ich bin daher der Ansicht, daß diese Stelle
geeignet ist, den Tatbestand des von mir bezeichneten Vergehens zu be-
gründen.
Was die zweite Stelle betrifft, die nach § 302 und § 305 inkriminiert
ist, so erlaube ich mir nur zu verlesen, daß im Sinne dieser Paraphen
als ein Vergehen stigmatisiert ist, wenn die Rechtsbegriffe über das Eigen-
tum verwirrt werden, denn nach unserer noch bestehenden Rechtsordnung
ist das Eigentum gesetzlich geschützt durch Bestimmungen des Bürger-
lichen Gesetzbuches. Dem diametral entgegengesetzt ist die Idee des
Kommunismus, und diese Stelle predigt den Kommunismus, weil der Gegen-
satz des Kommimismus Massenelend hervorbringe und es notwendig sei,
daß eine kommunistische Eigentumsform auftreten muß. Es mag sich ja
vom wissenschaftlichen und nationalökonomischen Standpunkt gewiß dar-
über debattieren lassen, ob der Kommunismus eine wünschenswerte Wirt-
schaftsform sei, aber tatsächlich ist durch unsere gegenwärtige Gesetzgebung
das Privateigentum geschützt, und wenn jemand die gegenteilige Theorie
verbreitet, so begeht er eben das, was der § 305 des Strafgesetzes ver-
bietet, und es ist dabei nicht zu vergessen, wo diese Resolution geschöpft
wurde. Nach derselben Gesetzesstelle hat der Staatsanwalt die kurze
Apostrophe, welche damals Krapf in der Versammlung an seine Ge-
nossen gerichtet hat, inkriminiert. Es knüpft diese ganze Ansprache an
die Idee der vorangegangenen, zur Verlesung gelangten Resolution an, sie
betont den Unterschied zwischen Arbeitern und Steuerzahlern.
In der Resolution wird schließlich hingewiesen auf die Möglichkeit
des Eintritts eines Blutvergießens und das scheint mir über das Maß des
Erlaubten hinauszugehen — ■ denn wenn die besitzenden Klassen nicht nach-
geben, und ich glaube kaum, daß sie sich freiwillig ihres Besitzes entäußern,
so muß nach der Ansicht des Krapf dies Blutvergießen hervorrufen und
dasselbe ist als eine unausweichliche Folge des Verhaltens der besitzenden
Klassen anzusehen. Diese Ausführungen sind im Sinne des § 305 als eine
.Aufreizung gegen bestimmte Klassen der bürgerlichen Gesellschaft anzu-
sehen.
Teil mache hier wieder auf die Zuhörer, für welche diese Worte be-
rechnet waren, aufmerksam. Was den letzten Passus der inkriminierten
Stellen betrifft, so sind das die Forderungen der Resolution, welche ich nach
§ fi5 beanständet habe. Ich bin auf die Einwendung von selten des Herrn
Cegneis gefaßt, daß das Petitionieren in einem konstitutionellen Staat
niemand verboten werden kann und daß das Bitten und Begehren nicht
als ein strafbarer Vorgang dargestellt werden darf. Um was hier gebeten
wird, ist aber nichts anderes als eine Beseitigung aller gesetzlichen Maß-
nahmen, welche bisher getroffen wurden. Es wird auch die Aufhebung des
Vagabundengesetzes verlangt, und ich muß gestehen, daß es mich
wundert, daß die Partei der Arbeiter sich mit, den Vagabunden
und Schübling3n identifiziert, denn ich muß anerkennen, daß sich unter den
sozialistischen Arbeitern, wie die Gerichtsverhandlungen schon oft ergeben
haben, nicht gemeine Verbrecher finden, aus denen sich die Vagabunden
296 Weshalb damals konfisziert wurde
meistens rekrutieren. Denn die Arbeiter sind Leute, die arbeiten wollen, aber
nicht können, im Gegensatz zu den Vagabunden, die nichts arbeiten wollen
und oft wegen Diebstahl, Brandlegung und Gott weiß was verurteilt wurden.
Diese Forderungen sind meiner Ansicht nach solche, welche, wenn sie mit
Nachdruck und vielleicht mit Gewalt verfochten werden, geeignet wären, eine
Störung der öffentlichen Ruhe herbeizuführen, denn niemand im ganzen
Land könnte sich nach Aufhebung des Vagabundengesetzes heimisch fühlen,
selbst nicht die Arbeiter. Alle anderen Begehren, welche gestellt werden, und
der Schlußpassus, daß die Erfüllung dieser Forderungen als unerläßlich hin-
gestellt wird, soll sich der Übergang zur sozialistischen Wirtschaftsordnung
ohne allzu große Opfer vollziehen, ist wieder ein Hinweis auf allenfallsige
Gewaltakte und künftiges Blutvergießen, was mit Rücksicht auf die
Elemente, aus denen die Versammlung bestanden hat, welche für dergleichen
Dinge äußerst empfänglich sind, nach meiner Meinung geeignet ist, zu
Auflehnung und Widerstand aufzureizen. Wenn der hohe Gerichtshof aber
iliese meine Anschauungen akzeptiert, dann wird er auch den Tatbestand
der angeführten Paragraphen darin erkennen und ich erlaube mir daher den
Antrag zu stellen, daß dem Einspruch nicht stattzugeben sei.
Nachdem Dr. Wolf-Eppinger die juristische Seite der Konfis-
kation besprochen hatte, sprach
Dr. Adler:
Hoher Gerichtshof! Ich habe mich umvillkürlieh, als ich
eintrat, auf die Anklagebank gesetzt, denn nach meiner
Meinung gehöre ich dahin. Es ist ein eigentümliches Gefühl für
jemand, der diese Resolution hier abgefaßt hat, der sie in der
Versammlung eingebracht, und der soundso viele Menschen
dazu verleitet hat, diesen Dingen zuzustimmen, daß er nun frei
ausgehen soll und es auf ihm lasten bleibt, alle diese Leute zu
Vergehen und Verbrechen verleitet zu haben. Entweder es ist
ein Verbrechen, dann muß ich zur Verantwortung gezogen
werden, oder es ist keines, dann begreife ich die Konfiskation
nicht. In diesem Falle liegt die Sache nicht so wie bei einer
anderen Konfiskation. Vom Herrn Staatsanwalt ist selbst, und
wie ich glaube mit Recht, hervorgehoben worden, daß es un-
gemein wichtig ist, daß dies in einer Versammlung gesprochen
und beantragt wurde, daß das so viele Leute gehört haben, und
wie ich Sie versichern kann, auch im übrigen Österreich viele
iiiidere Leute dieser Ansicht sind und ihr Ausdruck geben wer-
den. Wenn der hohe Gerichtshof meint, daß er durch Unter-
drückung dieses Preßerzeugnisses das Verbrechen, das hier
vorliegt, gesühnt hat, und daß eine Wiederholung dieses Ver-
brechens damit aufgehalten werden kann, so befindet er sich in
Weshalb damals konflsziert -wurde 297
einem Irrtum. Sie wissen ja, meine Herren vom hohen Gerichts-
hof, daß es in Österreich zwei Ansichten darüber gibt, ob es
möglich ist, die sozialdemokratischen Prinzipien auf dem Wege
der offenen Propaganda zu verbreiten oder nicht. Wir hahtm
i^ehört und gehören noch und werden in Zukunft zu denen
gehören, welche sagen, es liegt nicht nur im Interesse aller
Ivlassen im Staate, daß diese Prinzipien auf offene Weise ver-
treten werden können, sondern wir halten es auch für möglich.
Es gibt aber andere, welche es für unmöglich halten, und wenn
der hohe Gerichtshof diese Konfiskation bestätigt, wird er nur
für diese Ansicht den Wahrheitsbeweis geliefert haben; alter
die Verbreitung dieser Ideen wird er nicht aufgehalten haben.
Ich weiß ja sehr wohl, daß zu dem, was ich gesagt liabe, nicht
der geringste Mut gehört, denn man müßte mich vor die Ge-
schwornen bringen, und vor die Geschwornen will nuui uns
ja nicht bringen.
Es wird uns vom Staatsanwalt vorgeworfen, daß wir die
liechtsbegriffe über das Eigentum erschüttern. Diese Rechts-
begriffe erscliüttern wir nicht, sondern die Geschichte; wir
liaben in der maßvollen Form dieser Resolution nicht nur diese
Rechtsbegriffe als bestehend anerkannt, sondern wir halten
alle diese Gesetze, Avelche dazu bestimmt sind, das Privnr-
figentum aufrechtzuerhalten, als heute noch rechtsbestehend
hingestellt. Wie man dazu gelangen kann, in dem Wunsche
nach A \i f h e b u n g dieser Gesetze eine Verleitung zur A u f-
lehnung gegen diese Gesetze zu sehen, ist mir um so
weniger erfindlich, als ich nicht wüßte, wie wir uns gegen
solche Gesetze überhaujit auflehnen könnten. Sollen wir da.s
Wahlrecht ausüben, ohne daß wir es habend Oder sollen wir
<lie Ausnahmegesetze einseitig aufheben:!
Ich mache Sie noch einmal, meine Herren \om Jiohen
Gerichtshof, aufmerksam, tun Sie das nicht, erschweren Sie
nicht die Möglichkeit, sozialdemokratische Prinzipien auf
offene Weise zu verbreiten: Sie leisten damit weder der Ge-
sellschaft noch den Gesetzen einen Dienst und Sie verlängern
die Frist durchaus nicht dadurch, innerhalb welchei' diese v'^e-
setze ihre Geltung haben. Aber Sie machen es viel schwerer
und Sie werden es, wie in der Resolution gesagt wurde, und
darin liegt niclits Aufreizendes, sondern nur eine klare Ein-
sicht in die Verhältnisse, nur zuwege bringen, daß große und
298 Die Konfiskation wegen Beleidigung der l^olizeilockspitzel
schwere Opfer notwendig sein werden; nnd gerade den Herron
dieses hohen Gerichtshofes brauche ich diese Dinge nicht
ins Gedächtnis zurückzurufen. Sie wissen es alle, wie große und
wie schwere Opfer dies kosten könnte!
Nach längerer Beratung verkündet Landesgerichtsrat v. H o 1-
z 1 n g e r das Erkenntnis, daß dem Einspruch n i c li t Folge gegeben werde
und die Konfiskation in allen Punkten aufrecht bleibe. Die schriftliche
Begründung schließt sich eng an die Ausführungen des Staatsanwalts an.
Die Konfiskation wegen Beleidigung der
Polizeilockspitzel.
Gegen die Konfiskation der beiden Artikel der .rGleichheit" im De-
zember 1887 über den M ü n z v e r f ä 1 s c h u n g s p r o z e ß und Polizei-
rat Frankl (den Wortlaut siehe im Abschnitt „Adler als An-
geklagte r") hatte Adler beim Landesgericht Einspruch erhoben.
Bei der Verhandlung am 10. Jänner 1888 (Vorsitz Dr. R. v. H o 1-
z i n g e r) verteidigte der Staatsanwalt Dr. v. S o o s die Konfiskation ebenso
wie den Polizeirat Frankl, den er einen „pflichtgetreuen Beamten" nannte.
Dr. Wolf-Eppinger bekämpfte die Konfiskationen, Adler sprach zu beiden
Einsprüchen zum Schluß:
Dr. Adler:
Krlauben Sie mir, meine Herren vom hohen Gerichtshof,
noch ein paar Worte hinzuzufügen.
Der Redakteur eines Arbeiterblattes ist bekanntlich in
einer ziemlich schwierigen Position. Sie wissen es ja, daß die
Arbeiterschaft mit keiner Behörde fortwährend in eine so uahe
und eine so enge Berührung gebracht wird wie mit der hohen
Polizei. Die Arbeiter können nicht den geringsten Schritt
machen, ohne mit der Polizei in die allerdirekteste Berührung
zu kommen ; nun, von den Arbeitern wird ja diese Berührung
nicht aufgesucht, sondern von der andern Seite. Es wird mii,
als dem Schreiber dieses Artikels, zum Vorwurf gemacht, daß
wir Feindseligkeit, Mißgunst, Haß und Verachtung gegen die
Polizei und speziell gegen den Herrn Polizeirat Frankl hegen.
Von alledem ist, wenigstens was Feindseligkeit, Mißgunst und
Haß anlangt, nichts der Fall. — Die Person des Herrn Polizei-
rats Frankl ist uns vollständig gleichgültig. Wir haben auch
mit diesem Artikel, insofern der Haß und die Verachtung etwa
vorhanden sind, dieselben nicht schüren wollen, wie der Herr
Die Konfiskation wegen Beleidigung der Polizeilockspitzel 299
Gegner gesagt hat, sondern wir wollen isie nur b e g r ü n J e n,
und dies ist mit dem Artikel geschehen. Wo soll denn das
eigentlich ausgesprochen werden, wenn ein Beamter sich her-
ausnimmt, indirekt Leute, welche bis dahin nicht „Verbrecher"
waren, zu Verbrechern zu machen; wenn er Leute aufstellt,
welche durch ihre bloße Gegenwart in der Partei überall Miß-
trauen und Demoralisation hinbringen. Wenn man es absicht-
lich dahinbringen will, daß das Mißtrauen in Arbeiterkreisen
so groß wird, daß kein Mensch mehr weiß, wo ein Parteimann
aufhört und ein Spitzel anfängt; wenn Leute, wie Schreger,
beauftragt werden, leichthin gesprächsweise von Münzverfäl-
schung und dergleichen zu reden ; und derlei zum mindesten
liegt in der Natur dieses Auftrages, er muß das alles als leicht
und verlockend hinstellen; wenn ihre Phantasie so w-eit geht,
von Putschen beim Blumenkorso zu sprechen — eine Idee, die
auch kaum im Gehirn Schregers ihren Ursprung hat.
Wenn Sie nun die Rolle, welche der Herr Polizeirat ge-
spielt hat, als „pflichtgetreu" bezeichnen, nun, Ihring-Mahlow
wurde ja auch als „pflichtgetrener Beamter" in Schutz genom-
men. Wenn also ein Polizeibeamter seine Pflicht verletzt oder
— sagen wir, in Ihrem Sinne — über seine Pflicht hinaus-
schießt, wo soll denn die Sache vorgebracht werden? Bei der
Gerichtsverhandlung wird er von den Behörden in Schutz ge-
nommen, es wird verhindert, daß er überhaupt vorgeladen wird ;
die Bourgeoisblätter bringen überhaupt nichts, denn der
Polizei ist man begreiflicherweise nicht gern unangenehm,
und wenn w i r es bringen, werden wir konfisziert. Wir werden
konfisziert wegen Ausdrücke, wegen derer wir nicht konfisziert
werden würden, wenn wir uns ganz derselben, ja viel schärferer
über andere Behörden bedienten. Ich mache mich erbötig, dies
aus dem nichtkonfiszierten Teil dieser selben Nummer zu be-
weisen. Nur die Polizei genießt diese Immunität, und
sie genießt sie, weil sie dieselbe braucht, weil sie die Kritik
nicht verträgt. Dies wollten wir nur konstatieren, und dazu
wollten wir die Einspruchsverhandlung; ich weiß, wir
werden abgewiesen werden.
Präsident: übrigens möchte ich den Herrn Einspruchswerber er-
malinen, sich in Hinkunft eines maßvolleren Tones zu bedienen und den
Anstand nicht dadurcji zu verletzen, daß er erklart, er wisse den Beschluß
des Gerichtshofes schon im voraus.
300 Ein konlisziertes Lied und ein „konfisziertes" Gesicht
In der gleicli anschließenden Einspruchsverhandlung gegen die Kon-
fiskation des Artikels über Polizeirat Frankl in Nr. 53 der „Gleichheit" sagte
Dr. Adler:
Wir haben in der vorigen Verhandlung gesehen, daß
daÄ Hauptgewicht darauf gelegt wurde, es müsse konfis-
ziert werden, weil die Beschimpfung eines Regierungs-
organs, des Herrn kaiserlichen Rates Frankl, vorliegt. Hitn*
in diesem Artikel und bei dieser Konfiskation ist es nun
klar, daß man über alles schreiben kann ^- nur über den
Herrn Polizeirat Frankl nicht. In diesem selben Artikel,
welcher konfisziert wurde, ist unter anderem gesagt, daß das
Recht der freien Meinungsäußerung in Österreich nur a n-
geblich besteht; es kommt hier vor, daß die Gesetze Öster-
reichs elastisch sind und daß diese Verordnung unter allem
das Elastischeste ist. Es ist hier weiter gesagt, daß die Ab-
neigung gegen die Regierung eine so allgemeine ist, daß man
das Defizit ausgleichen könnte, wenn man alle die, welche
eine solche Abneigung liegen, auf Grund dieser Verordnung
mit Geldstrafen belegen würde. Aber all dies ist nicht bean-
standet worden. Die Staatsgrundgesetze darf man kritisieren,
nur den Herrn Polizeirat Frankl nicht. Herr Frankl ist
eben immun, und ich glaube, daß der hohe Gerichtshof
auf diese Immunität des Herrn Polizeirats Frankl aufmei'k-
sam werden und prüfen sollte, ob sie auch wirklich weiterhin
aufrechtzuerhalten sei.
Beide Einsprüche wurden .-Tuitürlit'ir" abgewiesen („Gleichliril"" iNr. 2
vom 14. .Jänner 1888).
Ein konfisziertes Lied und ein „konfisziertes"
Gesicht.
Am 8. Dezember 1888 hatte der Arbeiieibijdungsverein in Schwendeis
Kolosseum sein 21. Gründungsfest gefeiert. Dr. Edmund Wengraf (der
seither ganz bürgerlich geworden ist) hatte dazu ein Arbeiterlied
'„In Reih und Glied geschlossen . . .") gedichtet, das Josef Scheu ver-
tont hatte. Dieses Gedicht hat auf dem Programm die staatsanwaltschaft-
liche Zensur überstanden. .\ls dir -(ileicbheit" es at>druckte, wurde i's
konfisziert.
In der Nr. 2 der ..(ilfichheil" vom 12. .lünner 1889 war ein Heis'.;-
abenteuer des deutschen Sozialdemokraten A u e r, .der den Hainfelder
^\'lrt^Mtag als Beiichterstatter einiger Partiildätter besucht hatte, erzählt
Ein konfisziertes Lied und ein „konfisziertes" Gesicht ."{Ol
worden, worin seine Überwachung durch Polizeispione in Salzburg launit;
geschildert wurde.
„Schon als unsere Reiseeffeklen von den Zollbeamten revidier!
wui^den, bekundete ein Herr, der mit der Zollrevision si-chtlich nichts
zu tun hatte, ein sehr großes Interesse für den Inhalt unseres Reise-
koffers, und als wir uns nachher auf den Weg in die Stadt machten,
glaubten wir uns in die Zeit des Attentatsjahres 1878 versetzt, so auf Schritt
und Tritt folgte uns in einem Abstand von knapp zehn Schritten ein Herr,
dessen Beruf man aus seinem scheuen Blick und konfiszierten
Gesicht schon auf hundert Schritte erkennen konnte. Natürlich versagten
wir uns das Vergnügen nicht, zunächst von der uns gewordenen Auszeichnung,
sehr lange Beine zu besitzen, den ausgiebigsten Gebrauch zu machen, dann
aber ging es außerdem noch kreuz und quer durch die winkeligen Straßen
der alten Hauptstadt des Salzkammergutes. Nachdem wir auf diese Weisv
unseren Begleiter gut zwei Stunden spazieren geführt haben, wobei wir in
entsprechenden Pausen plötzlich stehen blieben, so daß unser Begleiter
regelmäßig pustend an uns vorbeistürzte, um sich dann wieder scheu in
die Ecke zu drücken und abzuwarten, nach welcher Himmelsrichtung die
Spritztour wohl jetzt beginnen werde, landeten wir endlich im Gasthof »Zum
goldenen Hörn«, wo wir unserem Begleiter die Tür vor der Nase zu-
schlugen."
Diese Schilderung wurde konfisziert, ebenso in der gleichen Nummer
folgende Mitteilung:
-Die beiden Genossen Raab und Haader sind bekanntlich aus
Wien ausgewiesen worden, nachdem sie sich .das Verdienst erworben
liatten, die Zustände in den Wienerberge r Ziegeleien aufzu-
decken. Beide gingen in ihre Heimat nach Mähren, Raab nach Hombok,
Haader nach Gewitsch. Aber die Rache ruht nicht. Der beleidigte Gott des
Kapitals ist der richtige alte Judengott, der Gott der Rache und des Zornes.
Unsere tapferen Freunde sind ihm verfallen! Beide werden mit Haus-
suchungen geplagt und dadurch bei den Einwohnern des kleinen Ortes in
Verruf gebracht, welche noch in dem naiven Glauben leben, Polizei und
Gendarmerie stellen nur Schurken nach. Besonders die Gewaltigen der Ge-
meinde Hombok leisten an frecher Übertretung der Gesetze das Äußerste
gegenüber Genossen Raab. So hat der Bürgeimeister von Hombok, Jähnel
heißt dieser Ehrenmann, über Raab die „Polizeiaufsicht" verhängt und sich
herausgenommen, ihm zu verbieten, außerhalb der Ortsgrenzen Arbeit zu
suchen. Dabei erhält Raab seine Briefe vier bis fünf Tage später als andere
Leute.
So werden Leute verfolgt, welche die »Ruhe und Ordnung« am
Wienerberg zu stören gewagt haben. Die Stützen dieser »Ordnung« aber,
die den Profit aus den blutigen Erpressungen, die an den Arbeitern verübt
wurden, eingesteckt haben, schlafen warm in weichen Betten, sind hoch-
geehrt, und wenns halbwegs gut geht, erhalten sie die Orden, die sie nicht
schon haben.
Schinde und schände die Menschheit, so bist du ein Ehrenmann und
die gesamten Dreckseelen beugen sich vor dir in Demut; bäume dich auf
302 Ein konfisziertes Lied und ein „konfisziertes" Gesicht
gegen Ungerechtigkeit, kämpfe gegen Gewalttat, und das ganze Geschmeiß
ist dir auf den Fersen zu blindwütender Hatz! — Wie lange noch?"
Gegen diese Konfiskationen wurde nun Einspruch erhoben und
am 7. Februar fanden die Verhandlungen vor dem Landesgericht (Vorsitz:
R. V. Holzinger) statt. In der „Gleichheit" vom 22. Februar berichtet
Adler darüber:
So wenig Hoffnungen wir auf das Einspruchsverfahren setzen, schien
doch der Fall, daß ein und dieselbe Behörde innerhalb 14 Tagen zwei ent-
gegengesetzte Entscheidungen trifft, mindestens des Festnageins wert. Wir
waren begierig auf die Ausführungen des Staatsanwalts. Er entschuldigte
sich, daß er das Lied nicht schon das erstemal konfisziert habe, mit dem
Umstand, daß es damals nur in „wenigen hundert Exemplaren'" für „eine
geschlossene Gesellschaft" gedruckt worden sei. Objektiv aber trage das Lied
alle Kennzeichen einer „Störung der öffentlichen Ruhe und Ordnung" an
sich. Dr. Wolf-Eppinger drückte vor allem seinen Dank aus, daß der
Staatsanwalt ausdrücklich konstatiert habe, es seien nicht etwa d i e
Noten, die das Vergehen begangen hätten, und konstatiert, daß in dem Er-
kenntnis absolut keine Begründung enthalten war. Er weist nach, daß die
nunmehr beanstandeten Stellen dem Begriff dieses Vergehens nicht ent-
sprechen, und fügt hinzu, es sei doch eigentlich von der Logik nicht zu ver-
langen, daß sie an den Pforten des Landesgerichts stehen bleibe.
Dr. Adler
sagt, wir seien an verschiedene Auffassungen verschiedener
Staatsanwälte gewohnt; daß aber ein und dieselbe Behörde
verschieden urteile, sei neu. Das wenigstens könne verlangt
werden, daß der Staatsanwalt seiner eigenen Meinung sei. Die
Höhe der Auflage sei ein sonderbares Kennzeichen für die
Gesetzesübertretung durch die Presse und übrigens schwer
anwendbar, da der Staatsanwalt die Höhe der Auflage eben
nicht kenne. Bis jetzt waren wir gewohnt, die Konfiskabilität
in der Qualität des Druckwerks zu suchen, nun werden
wir belehrt, daß die Quantität entscheidend sei. Übrigens
unterscheide sich die Auffassung des Staatsanwalts vom Feste
des Arbeiterbildungsvereines erheblich von jener der Polizei,
welche es durchaus nicht als „geschlossene Gesellschaft" an-
gesehen, sondern durch sorgfältige Überwachung aus-
gezeichnet habe.
Nach kurzer Beratung erklärte der Landesgerichtsrat v. H o 1-
zinger den Einspruch für abgewiesen. Gründe: Die Vorgeschichte
gehe den Gerichtshof nichts an; der Inhalt des Gedichts aber begründe
das Vergehen der Störung der öffentlichen Ruhe.
Hieran schloß sich eine zweite Verhandlung über die Kon-
fiskation der Nr. 2, zu deren Herbeiführung wir dadurch veranlaßt wurden,
Ein konfisziertes Lied und ein „konfisziertes" Gesicht 303
ilaß das Erkenntnis sagte, der Aufsatz „suche die von Raab und H a a d e r
verübte verbotene Handlung zu rechtfertigen*". Wir hofften vom Staats-
anwalt endlich diese verbotenen Handlungen zu erfahren.
Der Staatsanwalt verteidigt zunächst die Konfisliation der Reise-
abenteuer des Genossen Auer in derselben Nununer und behauptet, die
Schilderung eines Mannes mit „scheuem Blick" und „konfisziertem
n e s i c h t" beziehe sich auf ein österreichisches Polizeiorgan. In bezug
auf die zweite, Raab und Haader betreffende Stelle gesteht er zu, daß „er
aus Erfahrung wisse, die Veröffentlichungen in der »Gleichheit« hätten die
-Vbschaffung des Blechsystems am Wienerberg herbeigeführt'". Wenn die
beiden Männer aber gegen das Gesetz gefehlt hätten und wenn die ,,Gleich-
iieit" dies angepriesen hätte, so wäre das allerdings § 305. Der § 300 sei
übrigens durch die gegen den Bürgermeister von Hombok gerichteten
Stellen verwirkt.
Dr. Wolf-Eppinger sagt bezüglich der ersten Stelle, es sei durch
nichts bewiesen, daß gerade ein österreichischer Polizist den Herrn Auer
in Salzburg verfolgt habe. Deutschland sei Österreich in der Kultur gleich-
stehend, wenn nicht gar über, und habe daher auch genug Geheimpolizei.
Der Umstand, daß der Mann ein „konfisziertes Gesicht'" gehabt habe, sei
(loch an und für sich kein absoluter Beweis, daß er gerade der österreichi-
schen Polizei angehöre. Hierauf konstatiert er zunächst, daß der Staats-
anwalt selbst den § 305 fallen gelassen habe, und daß anerkannt werden
müsse, daß Raab und Haader sich geradezu ein Verdienst erworben
haben durch Aufdeckung der fürchterlichen Verhältnisse am Wienerberg.
Xun seien sie ausgewiesen. Ein Recht, sie unter Polizeiaufsicht zu halten,
sei nicht vorhanden. Der Schluß des konfiszierten Aufsatzes wende sicli
übrigens nicht gegen den Homboker Bürgermeister, sondern sage nur ganz
allgemein, daß man heutzutage mit Egoismus und Kriecherei weiter komme
als mit Selbstverleugnung und Menschenliebe, was ja unzweifelhaft
richtig sei.
Dr. Adler
konstatiert, daß auch der Staatsanwalt die Ausweisung der
Genossen Raab und Haader zu rechtfertigen nicht einmal
versucht habe. Die Polizei weist aus; es gibt keine Motive,
keine Berufung. Wir wissen heute noch nicht, warum es ge-
schehen. Die Ungesetzlichkeiten am Wienerberg seien nur
möglich, weil die Arbeiter dort gänzlich eingeschüchtert und
wehrlos seien. Endlich sei es gelungen, sie ein wenig aufzu-
rütteln; da lähme die Polizei durch die Verfolgung und Aus-
weisung die beginnende Möglichkeit der Besserung. Die
..Kolportage" der „Gleichheit" wird bestraft, die von anderen
Blättern geschah vor wenigen Tagen nach Hunderttausenden
von Exemplaren unter den Augen der Polizei, ohne daß irgend-
eine Strafe oder gar Ausweisung erfolgte. So gehe man eben
304 Die konfiszierte Wahlrechtsbioscliüre
den Arbeitern gegenüber vor. Die Handlungsweise des Bürger-
meisters von Hombük sei ja möglicherweise im „übertragenen
Wirkungskreise", jedenfalls aber gesetzwidrig, und nur das
sei ausgesprochen worden.
Der Gerichtshof erklärte: Dem Einspruch wird Folge gegeben, das
heißt insofern, als die eine Stelle nicht nach § 300 und § 305, sondeiii
„n u r" nach § 300 konfisziert bleibt. In bezug auf die .,Vorspollun<i
der Polizei" wird der Einspruch abgewiesen.
Die konfiszierte Wahlrechtsbroschüre.
Am 1. August 1893 war im Verlag Bretschneiders, des treuen Kampl-
genossen Adlers, eine Broschüre Adlers: „Das allgemeine, gleiche und
direkte Wahlrecht und das Wahlunrecht in Österreich'" erschienen und un-
beanstandet geblieben, bis am 20. August im Prater eine große Versammlung
für das Wahlrecht stattfand, wo die Broschüre stark verbreitet wurde.
Nächsten Tag wurde sie konfisziert, und zwar zunächst in ihrer
Gänze, dann an 32 Stellen. Gegen die Konfiskation erhob Adler E i n-
Spruch, worüber am 7. Oktober die Verhandlung beim Landes- als Preß-
gericht unter dem Vorsitz des Landesgerichtsrates Dr. Gionima stattfand. Eine
zahlreiche Zuhörerschaft hatte sich eingefunden, die der glänzenden
Agitationsrede Adlers lür das allgemeine Wahlrecht
mit Spannung und Freude folgte.
Nachdem das Konfiskationserkenntnis und sämtliche 32 konfiszierten
Stellen vorgelesen waren, nahm Staatsanwalt Dr. H a w 1 a t h zur Be-
gründung der Komfiskalion das Wort, beschränkte sich aber im wesentlichen
Liarauf, die Ausführungen des Erkenntnisses wiederzugeben und zu um-
schreiben. Hierauf ergriff zur Begründung des Einspruchs das Wort
Dr. Adler:
Hoher Gerichtshof! Die Konfiskation, über welche zu
entscheiden ist, hat zunächst eine höchst eigentümliche Vor-
geschichte, welche unbedingt beleuchtet werden muß, um über
die Begründung der Konfiskation ein Urteil zu geben. Die
Broschüre erschien und wurde an die Staatsanwaltschaft ein-
gereicht am 1. August dieses Jahres. Sie blieb unbehelligt
durch mehrere Wochen, bis am 20. August, an einem Sonntag,
eine große Versammlung auf der Feuerwerkswiese im Prater
stattfand, eine Versammlung zur Durchsetzung und Agitation
für das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht, und wobei
auch diese Broschüre ziemlich energisch vertrieben wurde.
Am 21. August nach diesem Sonntag wurde die Broschüre
konfisziert, und zwar zunächst ihrem ganzen Inhalt nach. Der
bie konfiszierte Wahlrechtsbroschüre 30.")
Herr ^Staatsanwalt hat sowohl mir als auch dem Gerichtshof
erklärt, er betrachte die Broschüre vom Anfang bis zum Ende
als dem Gesetz widersprechend, zu konfiszieren. Es wäre daher
von Wichtigkeit, wenn nicht nur der Schluß des Konfiskation--
crkenntnisses, sondern auch das Erkenntnis vom Oberlandes-
gericht verlesen würde, wo der diesfällige Antrag des Staats-
ajiwalts, die Broschüre vollständig zu konfiszieren, abgelehnt.
v\-urde. Ich darf das aber als bekannt voraussetzen und "\ er-
zichte darum auch, dies als Autrag zu stellen, behalte mir aber
vor, daß ich mich auf diesen Teil des Erkenntnisses wie auf
<las Urteil berufen kann. Es ist ohne Zweifel, daß diese
Broschüre durch drei Wochen in der Hand der Staatsanwalt-
schaft war, daß sie gelesen und geprüft und von der Staats-
anwaltschaft als unbedenklich angesehen wurde. Es ist Tat-
sache uml erwiesen, daß erst auf Einfluß und durch Ein-
greifen anderer Faktoren, nicht im Interesse des Rechtes, des
Gesetzes ...
Präsident (unterbrechend): Ich bitte, sich auf das zu be-
schränken, was Gegenstand der Verhandlung ist. Gegenstand sind die inkrimi-
nierten Stellen.
Dr. Adler: Es ist naturgemäß, daß alle diese Stellen
erst als ungesetzlich erkannt wurden, als man Gründe hatte,
-die Broschüre unterdrücken zu lassen. Gründe, die nicht in
der Broschüre, sondern außerhalb derselben zu suchen sind.
Wir haben es hier, wie bei jeder Konfiskation, mit einer p o 1 i
tischen Aktion zu tun.
Es ist schwer, auf die völlig leidenschaftslose Bede des
verehrten Herrn Staatsanwalts, die sich darauf beschränkt
hat, bloß zu reproduzieren, was im Erkenntnis gesagt ist, zu
antworten. Er begründete es ebensowenig wie das Erkenntnis.
Allerdings, und hier muß ich für den Staatsanwalt eintreten.
hat er vollständig recht gehabt. Diese Broschüre ist entweder
vom Anfang bis zum Ende zu konfiszieren oder überhaupt
nicht. Die Heraushebung einzelner Stellen mußte eine höchst
undankbare Aufgabe sein, von der ich vollständig begreife,
daß der Herr Staatsanwalt für sie nicht besondere Begeisterung
-aufbrachte. Die Hervorhebung einzelner Stellen müßte natur-
gemäß mit allen Stellen, die nicht konfisziert, in Widerspruch
treten, und ich werde Stellen nachweisen, die nicht konfisziert
wurden und die weit schärfer sind als die konfiszierten.
20
306 Die konfiszierte Wahliechtsbroschüre
Es ist selbstverständlich, daß ich mich vor dem Er-
kenntnisgerichtshof nicht darauf einlassen werde, auf das
objektive Verfahren zu kommen, auf die Frage, ob das eia
vernünftig-er Zustand ist, daß man überhaupt konfiszieren
kann.
Präsident: Also dann bitte icli, das überhaupt beiseite zu lassen.
Dr. Adler: Dazu bin ich eben vollständig entschlossen.
Aber gefragt muß werden : Hat man das Recht in Österreich»
eine bestehende Institution anders zu wollen, als sie ist; zu
sagen: eine Institution sei ungerecht und verwerflich, sie
müsse geändert werden, oder hat man dieses Recht nicht, oder
vielmehr, ist das ein Recht, das die einen haben und die an-
deren nicht, oder das man in diesem Moment hat und in einem
anderen nicht? Die Broschüre hat eine ausgesprochcneTendenz.
Sie soll Material für die Wahlrechtsbewegung bieten, und der
Herr Staatsanwalt ebenso wie der hohe Gerichtshof werden
sich wohl klar sein, daß die Konfiskation der Broschüre den
Gang der Wahlrechtbewegung nicht ändert. Der Sinn der
Broschüre ist kurz ausgedrückt in einer Stelle, die zu meinem
Erstaunen nicht konfisziert ist. Diese Stelle steht auf Seite-
22 und lautet : „Die Ungleichheit und U n g e r e c h-
tigkeit des Wahlrechtes ist das ei g' entliche
Grundgesetz des Staates, sie ist seine Ver-
f a s s u n g." Ich begreife wirklich nicht, warum nicht auch
das unter das Verbrechen des Artikel II subsumiert wurde.
Denn wenn man Dinge unter Artikel II subsumiert hat wie die
Stelle auf Seite 45, wo es gegenüber den Konservativen, die vom
Schutze der Minoritäten sprechen und sagen, man dürfe nicht
die Minoritäten vergewaltigen und der rohen Masse ausliefern^
heißt, es handle sich um den Schutz des Rechtes der Majo-
rität, diese Vergewaltigung der Majorität durch eine kleine
Minorität sei noch weit ärger, so ist das nichts anderes, als
wenn hier gesagt wird, die Ungleichheit und Ungerechtigkeit
des Wahlrechts sei die Verfassung des Staates, so ist das
ebenfalls ein Angriff, ein bewußter Angriff auf die Ver-
fassung. Durcli das ganze Erkenntnis geht ein Gedanke: Auf-
reizung, Verleitung zu Haß und Verachtung gegen die Ver-
fassung. Nun frage ich: Kann jemand, der ein Gesetz, eine
Verfassung ändern will, etwas anderes tun, als Tatsachen vor-
bringen, welche zeigen, daß der heutige Zustand ein un-
Die konfiszierte Wahlrechtsbroschüre 3U7
gerechter, ein uuiiiöglicher ist, daß der heutige Zustand, wie
es ja faktisch geschieht, zwei Drittel der Bevölkerung rechtlos
machte Wenn das Aufreizung zu Haß und Verachtung ist, dann
müßten die Ziffern, die das klar belegen, so wie der Herr
Staatsanwalt es ja wollte, konfisziert werden. Denn diese
Ziffern, diese Tatsachen sind in der Tat aufreizend, diese Tat-
sachen verleiten in der Tat zu einer, ich sage nicht zu Haß und .
Verachtung, aber zu einer V e r u r t e i 1 u n g dieses Zustau-
des, zu einer Abänderung. Haß und Verachtung ist nicht das-
selbe wie Verurteilung. Wenn ich die Ehre habe, vor den
Schranken des Gerichtshofes zu stehen, und wegen einer
Äußerung vom hohen Gerichtshof verurteilt werde, dann bin
ich überzeugt, daß der Gerichtshof, der mich v e r u r t e i 1 1,
nicht Haß und Verachtung gegen mich hegt; aber er verurteilt
mich trotzdem. Sehen Sie, die heutige Verfassung ist verurteilt,
nicht nur von der Masse des Volkes, sondern auch von dem
Urteil jedes Denkenden, jedes, der die politischen Verhältnisse
kennt. Sie steht da als die Wurzel aller Wirren, die in Oster-
reich herrschen, aller Zurückgebliebenheit, und das Schluß-
nrteil von Tausenden ist, diese Zustände seien hinwegzuräumen,
wenn auch einige kleinere Interessengruppen das größte
Interesse daran haben, sie festzuhalten. Dann aber ist es eine
sehr subjektive Auffassung des Herrn Staatsanwalts, wenn
er das in den weiten Rahmen unserer Haß- und Verachtungs-
paragraphen bringen will. Er mußte sich so bemühen, eine
Gruppe von konfiszierten Stellen in einer gewaltsamen Weise
in diese Paragraphen einzuzwängen, daß ich mir eigentlich eine
kleine Sammlung anlegen müßte unter dem Titel: Mon-
strositäten.
Präsident: Ich bitte, nicht in einer solchen Weise ein Erkenntnis
anzugreifen.
Dr. Adler: Es ist auch juristisch etwas Ungeheuer-
liches, wenn dieser Ausdruck passender erscheint. Ich begreife
ja vollständig, daß der Herr Staatsanwalt in größter Ver-
legenheit ist. Die Broschüre soll weg, muß weg, man erlaubt
ihm aber nicht, die ganze Broschüre zu konfiszieren, und er
muß hineingreifen und da findet er genug. Da ist zum Beispiel
eine Stelle auf Seite 21, wo auf Belgien hingewiesen ist;
diese Stelle ist nach § 305 konfisziert, und zwar soll zu durch
die Gesetze verbotenen Handlungen aufgefordert, angeoifert
;;(js Die konfiszierte Walih-eclit.sbroschüre
lirler zu Aerleiten gesucht werden, oder es sollen, was wahr-
scheinlich der Staatsanwalt meinte, durch die G e s e t z c v e r-
1) o t e n e Handlungen angepriesen wer d c n. Ich
frage nun den Herrn Staatsanwalt, welche durch die Gesetze
verbotene Handlungen angepriesen wurden. Die belgischen
Ereignisse haben sich durchaus auf dem Boden der in Belgien
bestehenden Gesetze AoUzogen. Der Aufmarsch der Brüsseler
Arbeiter \ur dem rai-lament war ein durchaus erlaubter,' es
besteht dort ein etwas anderes Versammlungsgesetz als bei
uns. Selbstverständlich haben sich auch Fngcsetzmäßigkeiten
vollzogen, aber dieselben sind begangen worden von jenen,
welche die belgischen Arbeiter liindern wollten, von dem
ihnen gewährleisteten Versanmilungsrecht und dem Recht den-
freien Meinungsäußerung Gebrauch zu machen, und selbst der
Herr Staatsanwalt wird zugeben, daß ich diese Ungesetzlich-
keiten der belgischen l^ohörden nicht gutheißen oder recht-
fertigen "wollte.
Präsident: ]■] s w \ r d d a e i n e r fr e m d (> n B e li n r d e U n g e-
s^ e t z 1 i c Ii k c i t vorgeworfen, das kann i c li n i cli t zulassen.
Ich bin dazu da, ich kann Abwesende niclit angreifen lassen. Das gehört nicht
zur Sache.
Dr. .V il 1 e r : Ich seilest halie ja nicht angefangen, irgend
jemand Ungesetzlichkeiten vorzuwerfen, noch weniger Ab-
wesenden, die sich nicht Acrteidigen können. Es war der Herr
StaatsauAvalt, welcher behauptet hat, daß in Belgien ungesetz-
liche Dinge geschehen sind, und wenn der hohe Gerichtshof
.sich verpflichtet fühlt, abwesende Behörden zu schütz<Mi, die
ungesetzlich handelten, wird es auch mir erlaubt sein, die
belgische Arbeiterschaft in Schutz zu nehmen, die ebenftUs
abwesend und ohne Schutz ist und der vom Stantsanwnlt un-
gesetzliche Handlungen Aorgeworfen werden.
Es wurden also ungesetzliche Handluugen nicht gut-
geheißen und gerechtfertigt, denn die Arbeiter, welche der
Herr Staatsanwalt meint, haben sie niclit begangen, und die
■Behörden, welche Ungesetzlichkeiten begangen haben, meinen
M'ir nicht und halben sie nicht angepriesen. Das ist ein P>eispiel,
in welcher Weise das Erkenntnis gemacht wurde. Es gibt noch
andere Dinge, die gleichfalls in das Gebiet der Ungeheuerlich-
keiten gehören.
Präsiden l: Ich bitte, solche Ausdrücke zu lassen, sie sind eine
Beleidigung für das Erkenntnis. ''
Die konfiszierte Waliirechtsbrüscliüre -"{itH
Dr. Adler: Ich werde künftighin „sonderbar" sagen.
Wir kommen mm auf das Gebiet eines jener Paragra])hen, mit
ilenen wir fortwährend zu tun haben, wo es sicli angeblich um-
V'erleitung zu Feindseligkeiten gegen einzelne Klassen und
Stände der bürgerlichen Gesellschaft handelt. Das Kapitel,
welches die diesbezügliche Stelle enthält, heißt: die Alters-
ii:renze für Wahlrecht. Es wird hier die Bestimmung bekämpft,
daß das Wahlrecht mit dem 24. Lebensjahr beginnt. Es wird
ausgeführt, daß allerdings die Söhne der besitzenden Klasse
später reif werden und länger leben, daß aber die Proletarier
früher reif sind und kürzer leben; daß aus diesem Grunde die
Altersgrenze herabgesetzt werden muß. Es ist dies eine so alte,
bekannte Tatsache, daß darüber ein Wort zu verlieren nicht
notwendig gewesen wäre.
' Nachdem die Broschüre aber auch in die Hände von Leuten
kommt, welche über die bekanntesten Tatsacben nicht ge-
nügend unterrichtet sind, habe ich eine große Anzahl von
Ziffern, die noch hätten vermehrt werden können, über die
Altersgrenze der besitzlosen Klasse zitiert und fahre dann fort,
Seite 34: ,,Das Proletariat muß also..." Diese Stelle wurde
konfisziert.
Daß das Leben des Proletariats abgekürzt ist durch die
wirtschaftliche Ausbeutung, insbesondere in der Großindustrie,
durch das, was war Kapitalismus nennen, darüber ist in der
gebildeten Welt Zweifel nicht vorhanden, das ist wissenschaft-
lich erhärtete Tatsache, und ich würde glauben, den hohe7i
(lerichtshof zu verletzen, wenn ich darüber weiter ein Wort
spräche. Und da muß es doch erlaubt sein — und es ist der
Herr Staatsanwalt selbst, der es erlaubt; wir haben uns zwar
seiner besonderen Xachsicht nicht zu erfreuen, aber wenn
solche Stellen in der ..Arbeiter-Zeitung" stehen, werden sie
nicht konfisziert — zu sagen, daß diese Ausbeutung von Men-
schen betrieben wird, und zwar von denselben, welche s;ieh
dem widersetzen, daß diese Ausgebeuteten das Walilrecht er-
halten. Dieselbe Kapitalistenklasse, welche auf ökonomischem
Wege den Arbeiter zu einem frühen Tode verurteilt, die ihm
einen Teil seines Lebens nimmt, nimmt ihm in böser Absicht
und auf dem Wege einer ständigen Unterdrückung das Wahl-
recht. Das ist nicht nur Tatsache, sondern auch eine Tatsache,
die in so einfacher unl uiäßisTU' T-\irni gesagt wurde, daß e^^
310 Die konfiszierte Wahlrechtsbroschüre
wirklich ein Lapsus calami des Staatsanwalts sein muß, iliesc
Stelle zu beanständen. Auf der nächsten Seite 35 wird gesagt:
Die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft . . . aus-
gebeutet, genau bis zu dieser Stelle ist konfisziert worden, und
das soll eine Aufreizung und Aneiferung und Verleitung zu
Feindseligkeiten wider einzelne Klassen sein? Der Herr
Staatsanwalt war so vorsichtig, den nächsten Satz nicht in die
Konfiskation einzubeziehen, in welchem es heißt: „in Öster-
reich zälilt man SVo Millionen erwerbstätiger Frauen" — ich
kann wirklich nicht einsehen, warum diese Stelle nicht auch
unter den § 302 fallen soll, so wie die andere.
Wenn diese Stelle reif ist für § 302, dann ist es so
ziemlich das Alphabet oder das Einmaleins auch.
Die ganze Broschüre ist hauptsächlich der Besprechung
der heute geltenden Verfassung gewidmet. Es wurden aber
auch die Abänderungsanträge, welche diese Frage angehen,
insbesondere der jungtschechische x\ntrag auf Einführung des
allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts und der
liberale Antrag auf Erteilung des Wahlrechts durch Arbeiter-
kammern, einer Kritik unterzogen. Der Herr Staatsanwalt er-
laubt aber auch nicht, daß man diese Anträge einzelner
Parteien irgendwie scharf kritisiert; er konfisziert Seite 58
•die Stelle von: „Grcwiß ist der vorliegende Gesetzentwurf..."'
bis ,,... Arbeit lebt", eine Stelle, die sich ausschließlich mit
der Kritik des Antrages beschäftigt.
Klassisch aber für diese Art der Konfiskation ist die
Stelle auf Seite (55: „Vom eigentlichen politischen Standpunkt
— Abschlagszahlung", wo es sich um den Antrag der Liberalen
auf A r b e i t e r k a m m e r n handelt, wo nachgewiesen wird,
daß die Arbeiterkammern der Liberalen ein Schwindel sind.
Es ist mir nun nicht l)ekauut, daß liberale Anträge bereits
ein Bestandteil der Verfassung sind; und trotzdem hat der
Herr Staatsanwalt jene Kritik als ein Verbrechen bezeichnet,
es subsumiert unter Artikel II des Verbrechens der Störung
der öffentlichen Ruhe, dessen sich derjenige schuldig macht,
der öffentlich zum Hasse und zur Verachtung des Staates auf-
zureizen sucht. Unter diesen Umständen, glaube ich, obwohl
ich alle Milderungsgründe zu schätzen weiß, welche dieses
Erkenntnis für sich hat, insofern es ein Produkt der Verlegou-
heit ist, insofern es sehr schwer ist. pefxcn seine T'^ber/ougimg
Die konfiszierte Wahlrechtsbroschüre 311
Stellen aus dem Zusammenhang herauszureißen; trotzdem ich
es schließlich für den Staatsanwalt begreiflich finde, daß er
konfiszierte, glaube ich, daß es für einen Gerichtshof nicht
gerechtfertigt und nicht zu rechtfertigen wäre, wenn er die
Konfiskation bestätigen würde. Denn der Verlegenheit, in
der sich der Staatsanwalt sah, einen gegebenen Auftrag voll-
ziehen zu müssen, ist der Gerichtshof nicht ausgesetzt. Ich
gehe weiter, der Artikel III, welcher mit Strafe denjenigen
belegt, welcher zu Haß und Verachtung gegen eines oder beide
Häuser des Eeichsrates aufreizt, spielt selbstverständlich eine
große Eolle. Das Höchste ist aber darin geleistet, wenn die
Stelle am Schlüsse, Seite 68, konfisziert wird, in welcher aus-
i;eführt wird, daß Baron Chlumetzky den jungtschechi-
schen Antrag auf die Tagesordnung werde setzen müssen. Der
Herr Baron Chlumetzky ist, meines Wissens, kein un-
veräußerlicher Bestandteil des Eeichsrates, und selbst wenn
ich zugeben wollte, daß zu Haß und Verachtung gegen Baron
C h 1 u me t z k y und seine Amtsführung aufzureizen versucht
worden sei, selbst dann hat das mit dem Abgeordnetenhans
an sich gar nichts zu tun. Auch die Konfiskation dieser Stelle
ist lediglich ein Produkt der Verlegenheit und beweist, daß
man sich sehr wohl bewußt ist, wem zuliebe konfisziert wird.
Präsident: Ich bitte das zu unterlassen. Der Herr Staatsanwalt
hat ursprünglich die Konfiskation der ganzen Broschüre beantragt und
ursprünglich nicht die Stellen aus dem Zusammenhang gerissen, sondern
durch das Erkenntnis ist das geschehen.
Dr. Adler; Ich gebe mich keiner Täuschung hin, daß
der Gerichtshof wohl die Gründe des Herrn Staatsanwalts
zuerst anhörte. Die Auslese dürfte wohl von Seiten des Staats-
anwalts getroffen worden sein, er dürfte die Stellen bc-
:zeichnet haben, die er für berufen hielt, und der hohe
Gerichtshof hat dann die gefunden, die aus er wählt sind.
Ich wiederhole noch einmal: Ich stehe in dieser Beziehung auf
dem Standpunkt des Herrn Staatsanwalts, daß die ganz c
Broschüre hätte konfisziert werden müssen, wenn diese Stelle
konfisziert wurde. Alle jene Stellen, welche nachweisen, daß
heute in Österreich zwei Drittel des Volkes rechtlos sind, was
ungerecht, als verwerflich auf jeder Seite bezeichnet wird,
hätten konfisziert werden müssen. Es müßte die Stelle kon-
fisziert werden, wo es heißt, daß 63 Großgrundbesitzer den-
312 Die konfiszierte Wahlrechtsbroscliüie
selben politischen Einfluß liahen wie 2918 städtische Wähler
und wie 10.592 Wähler in den Landgemeinden, oder die Stelle^
wo es heißt, daß durch diesen Wahlmodus die 5000 Familien
der GroßgTundhesitzer nicht nur das l^arlament, sondern auch
durch das Parlament die Verwaltung beherrschen. Hoher Ge-
richtshof, wenn es möglich ist, zu Haß und Verachtung gcgan
die Verfassung aufzureizen, dann geschieht das durch diese
Tatsachen und Ziffern weit mehr als durch alles, was man
dazufügen könnte. Der Herr Staatsanwalt hatte rollkonmien
recht: die Tatsachen mußten konfisziert w-erden, und
wenn man die Tatsachen nicht konfiszieren wollte, dann blieb
nichts übrig, als in der Verlegenheit einzelne Stellen heraus-
zuklaubcn und dabei ein Erkenntnis zu machen, das vielleicht
bestätigt werden, das aber in der Meinung aller nicht als
logisch angesehen werden kann.
Präsident: Ich muß den Anwuri entschieden zurückweisen. Nicht
nur das frühere Erkenntnis, sondern auch wir, wenn wir es wagen würden,
dasselbe zu bestätigen, werden da im vorhinein angegriffen. Ich kann einen
Angriff gegen ein Gericht, gegen eine Beliörde, die mit der Sache zu tuß.
iiat, nicht zulassen.
Dr. Adler: Ist mir nicht eingefallen . . .
Präsident: Sie haben sich in verächtlichster "Weise ausgesprociien-
gegen das Erkenntnis und auch gegen uns. Wir wordeh uns in der richter-
lichen Freiheit nicht einschränken lassen.
Dr. Adler: Das weiß ich. Weiters hat das Erkenntui!>
noch eine Eigentümlichkeit. Wir sind gew'ohnt in Österreich^
das objektive Verfahren dem subjektiven Ermessen einer jeden
zur Konfiskation berechtigten Behörde überlassen zu selicn^
und es ist begreiflich, daß, naclidem das objektive Ver-
fahren . . .
Präsident: Aber, Herr Doktor, wozu diese Angriffe? Damit wird.
Ihnen nicht gedient. Ihre Sache ist darzustellen, daß die inkriminierten
.Stellen nicht den Tatbestand des betreffenden Paragraphen begründen.
Dr. Adler: Ich bedaure, daß ich unterbrochen wurde^
hevor ich den Satz vollendet. Es ergibt sich aus dem Gesagten-
naturgemäß der TTmstand, daß ein und derselbe Artikel nach
dem .subjektiven Ermessen des einen Herrn Staatsanwalts
'•bjektiv zu behandeln und zu konfiszieren ist, während er
nach dem Ermessen des anderen nicht zu konfiszieren ist, das
sind ganz häufige Dinge. Anders aber stellt sich die Sache^.
wenn ein und dieselbe Staatsanwaltschaft über ein und den-
Die konfiszierte Wahlrechtsbroschüre 31:5
selben Punkt und ein und denselben Gegenstand zu ver-
schiedenen Zeiten verschiedene Ansichten hat, und wenn die
Beurteilung eines und desselben Gegenstandes zu verschie-
denen Zeiten ganz entgegengesetzt ist. Am 9. Juli d. .1. hat
jene Rathausversammlung stattgefunden, welche in der Ge-
schichte Österreichs denkwürdig bleiben wird, welche die
Volksbewegung zur Erringuug des allgemeinen W^ahlrechts'
auch zur Kenntnis jener Leute gebracht hat, die außerhalb
des Volkes stehen und nicht wissen, was da unten vorg-^ht. An
diesem Tage wurde eine Eesolution gefaßt, wurde vorgeleseir
vor etwa 30.000 Menschen in Gegenwart von zwei Polizei-
kommissären im Arkadenhof und zwei in der Volkshalle. Sie
wurde überdies, da sie schon bei Beginn der Versammlung
vorlag, dem Präsidium der Polizei übersendet zur Prüfung.,
nicht von uns, sondern von den amtierenden Kommissären.
Das Präsidium hat drei Stellen herausgefunden, die es in der
Resolution als gesetzwidrig erkannt, welche hier durch Punkt-e
bezeichnet sind, aber für jeden leicht ergänzt werden können.
Über diese Resolution wurde nicht nur abgestimmt und
ihr zugestimmt, sie wurde in einer großen Anzahl von Ver-
sammlungen in ganz Österreich anstandslos verlesen, über sic-
abgestimmt und ihr zugestimmt. Sie wurde am darauffolgen-
den Tage in sämtlichen Wiener Blättern, nicht nur etwa in-
Bourgeoisblättern, sondern auch in der „Arbeiter-Zeitung''
abgedruckt. Alle diese Blätter liest der Herr Staatsanwalt und
die Resolution hat nicht nur vor den Augen der Polizei, son-
dern auch vor denen des Herrn Staatsanwalts Revue passiert
und ist ohne Fehl befunden worden. Und nachdem Millionen
von Menschen sie gelesen und ihr zugestimmt haben, dann
kommt sie in diese Broschüre, welche in 5000 Exemplaren
gedruckt wurde. Und hier wird sie konfisziert und in ihr das
Verbrechen nach § 65a gefunden. Es wird gefunden, daß gegen
die Staatsverwaltung aufgereizt wird, daß gegen die besitzen-
den Klassen aufgereizt wird, daß gegen die Behörden und
deren Amtsführung aufgereizt wird. Der hohe Gerichtshof
wird sich schon die Frage vorlegen müssen: ist es gerecht, ist
es klug und entspricht es dem geunden Sinne, daß man die
in der Resolution ausgesprochene, die Rechtsüberzeugung von
Millionen von Menschen, eine Rechtsüberzeugung, die ebenso^
tiefbegründet ist als jene, welclie die lieutige Verfassung ver-
314 Die konfiszierte Wahlrechtsbroschüre
teidigt, eine Eechtsüberzeugung, für welche Millionen etwas
einzusetzen gewillt sind, während jene, welche die heutige
Verfassung verteidigen, bloß aus ihr Vorteil ziehen, als Ver-
brechen und Vergehen zu brandmarken?
Präsident: Das ist ein Angriff gegen den Staatsanwalt und das
Gericht; das heißt, das Erkenntnis ist unvernünftig und ungerecht.
Es steht Ihnen frei, das Erkenntnis anzugreifen, aber es ist nicht notwendig,
es ungerecht und unvernünftig zu nennen.
Dr. Adler: Wenn ich das Erkenntnis nicht für un-
gerecbt und unvernünftig hielte, sondern für gerecht und ver-
nünftig, wie hätte ich mir erlauben dürfen, Einspruch zu
erheben? Das wäre ja eine Behelligung des Gerichtes.
Präsident: In eine Diskussion kann ich mich nicht einlassen.
Alles liegt in der Wahl der Worte. Sie können das Erkenntnis anfechten, aber
in statthafter Weise. Man kann es als unbegründet hinstellen, aber un-
vernünftig, das ist eine Beleidigung, wie es für Private eine Beleidigung wäre.
Ich spreche nur gegen die Wahl der Worte.
Dr. Adler: Ich konstatiere also, daß das Erkennt-
nis diese Resolution vom 9. Juli konfisziert hat und sie als
Verbrechen und Vergehen bezeichnet. Es wimmelt von Ver-
brechen und Vergehen in der Broschüre.
Es sind nicht weniger als 32 Stellen hier herausgehoben,
und die ziemlich große Anzahl von Leuten — es sind viel-
leicht Tausende von Menschen, die in den drei Wochen
zwischen Veröffentlichung und Konfiskation die Broschüre in
die Hand genommen haben — ist wahrscheinlich recht erstaunt,
in welchen Sumpf von Verbrechen sie da hineingestiegen ist
und ich muß es von selten der Staatsanwaltschaft als kaum
begreiflich bezeichnen, daß man so lange die arglosen Leser
:n diese Verbrecherhöhle hat hineingehen lassen, ohne einzu-
greifen. Die ganze Broschüre dient, wie gesagt, dem Kampfe.
Und was ich dem Erkenntnis gegenüber sage, daß icli es nicht
für gerechtfertigt ansehe — und es muß mir erlaubt sein, das
zu konstatieren — das gilt auch in bezug auf den Inhalt der
Broschüre — vom Anfang bis zum Ende wird die Verfassung
als ungerechte und als Folge der Verfassung die Gesetz-
gebung als einseitige bezeichnet, und wird weiter gesagt :
daß diese Zustände nicht nur eine Ungerechtigkeit, son-
dern auch die Wurzeln unserer Wirren sind. Es wäre sehr
verlockend, heute am Vorabend der Debatte über den Aus-
nah mozu stand in Prag die konfiszioi'tc Stelle auf Seite 5 zu
Die konfiszierte Wahlrechtsbroschüre 315
beleuchten, wo es heißt: Jetzt eben stockt infolge der
böhmischen Wirren Auch das soll ein Verbrechen sein.
Ich bin genügend auf einzelne Stellen eingegangen.
Der Einspruch ist gegen die sämtlichen Stellen gerichtet
und ich habe nur wenige Stellen herausgegriffen, um zu
zeigen, daß die Konfiskation eine unlogische ist, daß sie eine
ungerechtfertigte ist und mit dem Gesetz in Widerspruch
steht. Aber eine Gruppe muß ich noch hervorheben, das bin
ich mir und meiner Partei schuldig. Der § 305 ist einer unserer
unangenehmsten Paragraphen. Es ist sehr leicht, mit ihm in
Konflikt zu kommen, und es ist für den Staatsanwalt sehr ver-
lockend, zu sagen, hier ist zu ungesetzlichen Handlungen auf-
gereizt worden. Aber trotzdem bleibt es mir unerklärlich, wie
er die Stelle auf Seite 53 nach § 305 konfiszieren konnte, wo
unter dem Titel „Bisherige Versuche einer Wahlreform" an-
geführt wird, daß die Arbeiterschaft das Petitionieren auf-
gegeben, sich auf andere Weise Gehör verschafft habe and
ihren Willen durchsetzen werde. Dies wird als eine Aufforde-
rung zu verbotenen Handlungen bezeichnet und der Herr
Staatsanwalt hat damit im Zusammenhang die Schlußstelle
der Broschüre gebracht, wo gesagt wird, daß für das allge-
meine Wahlrecht eine Zweidrittelmajorität, wenn nicht im
Abgeordnetenhaus, so außerhalb desselben vorhanden sei,
welche ihre Stimme zur Geltung bringen werde.
Ich frage den Staatsanwalt oder das Erkenntnis: Welche
durch das Gesetz verbotene Handlung ist es, zu welcher an-
geeifert und zu verleiten gesucht wird? Es ist der Zweidrittel-
majorität im Volke in keiner Weise vorgegriffen, was sie tun
solle, mit keinem Worte ist gesagt, daß es sich um ungesetz-
liche Mittel handelt. Der Mittel, auf ein hartnäckiges Par-
lament zu wirken, gibt es sehr viele, und es wäre sehr traurig,
wenn durch ein gerichtliches Erkenntnis konstatiert würde,
daß es nur ungesetzliche Mittel, auf das Parlament einzu-
wirken, gibt. Xicht wir sind es, nicht die Broschüre ist es, die
behauptet: Wenn das Parlament, wenn die Vertreter der be-
sitzenden Klassen, die im Parlament sitzen, wenn die das all-
gemeine Wahlrecht nicht beschließen, wenn sie den heutigen
ungerechten Zustand aufrechterhalten wollen, dann gibt es
kein gesetzliches Mittel, um sie anders zu stimmen. Wir be-
haupten. PS gibt solche gesetzliche Mittel: wenn aber der Herr
316 Die kouttszierte Wahlrechtsbroscliünr;
Staatsanwalt durch seine Konfiskation, wenn der Gerichtshof
durch sein Erkenntnis den Nachweis führen wollen, daß es
wirklich kein gesetzliches Mittel gibt, um das Parlament zu
veranlassen, das heutige Unrecht zu beseitigen, an Stelle
eines ungerechten Zustandes einen in modernen Länderji
selbstverständlichen Zustand zu setzen, wenn es dem hohen
Gerichtshof gelingt, das Volk zu überzeuge n, daß es ein
gesetzliches Mittel nicht gibt, dann wird' der Erfolg dieser
Überzeugung den Herren nicht angenehm sein.
Präsident: Ich muß auch diese Drohung entschieden zurückweisen.
Sie haben direkt gedrohf, das ist eine Äußerung, die ich nicht ungerügt
hissen kann.
Dr. A d 1 er : Ich konstatiere, daß es keine größere
Herabsetzung des Parlaments, und zwar beider Häuser des
Keichsrates, gibt, also nach Artikel II des Strafgesetzes straf-
bar, als die Behauptung: Wenn das Parlament zur Änderung
der Verfassung im Sinne der Gerechtigkeit gezwungen werden
soll, geht es nur durch den Weg der Gewalt. Das wird aber
nicht in der Broschüre gesagt, das behauptet durch sein Er-
kenntnis der Gerichtshof. Ich schließe. Ich hoffe noch immer,
daß der hohe Gerichtshof finden wird, es sei unlogisch, eine
Broschüre in einzelnen Stellen zu konfiszieren, deren wichtig-
sten Teile unbeanstandet bleiben. Durch die Konfiskation
leidet der Zweck, dem die Broschüre gewidmet war, keinen
Schaden. Geschädigt wird nur das Eechtsgefühl. Es handelt
sich um die Verletzung des Rechtes der freien Meinungs-
äußerung, und zwar jener Leute, die gar kein Mittel haben^
ilire politische Überzeugung zum Ausdruck zu bringen. Den
Millionen von Menschen in Österreich, die politisch rechtlos
sind, die kein Wahlrecht haben, wird durch die Konfiskation
gesagt: Ihr seid nicht nur rechtlos, ihr habt auch nicht das
Kecht, einen Versuch zu macheu, diese Rechtlosigkeit zu be-
heben, ihr dürft gar nicht sagen, daß dieser Zustand ungereclit
ist, ihr dürft die Ziffern lesen, aber nicht die Konsequenzen
daraus ziehen. Daß das nicht von politischem Erfolg sein kann,
wird der hohe Gerichtshof begreifen. Wie aber das Urteil
über die Konfiskation ausfällt, die Bewegung wird weiter-
gehen, die Absicht der Konfiskation wird nicht erreicht
werden, die Bewegung für das allgemeine Wahlrecht wird
)iicht eingedämmt werden.
Bin verurteilter Laudesgerichtsrat 317
Nach ]/{'stündiger Beratung dos Gerichtshofes verkündet der Vor-
sitzende, daß dem Plinspiiich in allen Teilen nicht Folge gegeben werde;
die konfiszierten 32 Stellen bleiben also konfisziert.
Ein verurteilter Landesgerichtsrat.
Der Artikel, den Adler in der „Arbeiter-Zeitung" vom i. November
J892 dem Disziplinarurteil über den Landesgerichtsrat S c h m i e d e 1 vor-
ausstellte sowie der Bericht über die Einspruchsvcrhandlung vor dem dele-
gierten Linzer Landesgericht ist im Kapitel »Adler als Änklägei", Abschnitt
■•Einer vom H o 1 z i n g e r - S e n a t'", wiedergegeben.
IV.
Adler als Zeuge.
Als Entlastungszeuge in einem Anarchistenprozeß 321
Als Entlastungszeuge in einem Anarchisten-
prozeß.
Die „theoretischen Anarchisten" K r c a 1, R i s m a n n und Barth
hatten in Graz im Jahre 1893 eine Broschüre erscheinen lassen „Zur Ge-
schichte der Arbeiterbewegung Österreichs", die eigentlich nichts anderes
war als eine Polemik gegen das Wahlrecht (das die Arbeiter nicht hatten) und
gegen die Sozialdemokratie, deren Vertrauensmänner, Adler an der Spitze,
verdächtigt und beschimpft wurden. Der Grazer Staatsanwalt Dr. Steiner
suchte aber eine Gelegenheit, sich durch Anarchistenhatz billige Lorbeeren
zu verschaffen, konfiszierte die Broschüre, die nur in wenigen Exemplaren
herausgekommen war, verhaftete die drei „Anarchisten'" und erhob die An-
klage wegen Hochverrats und anderer schwerer Verbrechen. Sechs Monate
'Barth vier Monate) ließ man sie vorerst in Untersuchungshaft sitzen, bis
am 1. und 2. Dezember 1893 die Verhandlung vor dem Schwurgericht statt-
fand. Um den Geschwomen die „besondere Gefährlichkeit" der Angeklagten dar-
zutun, wurde sofort der Ausschluß der Öffentlichkeit beschlossen. Von den
Angeklagten wurde nun Adler als Entlastungszeuge geführt. Die Grazer
Sozialdemokraten schickten ihm ein Exemplar der Broschüre zur Information,
doch ließ er bei der Verhandlung nichts davon merken, daß er sie kenne,
da sonst der Staatsanwalt sofort erklärt hätte, die Broschüre sei doch in die
Öffentlichkeit gekommen.
Bei der Verhandlung erklärte
Adler
die ganze Harmlosigkeit und Ungefährlichkeit dieser .,theo-
retischen Anarchisten", -welche gegen die Sozialdemokraten
viel stärker losgehen als gegen die herrschende Klasse.
Als ihm einzelne Stellen der Broschüre vorgelesen wurden,
wies er ihre Bedeutungslosigkeit nach, und der Eindruck der
Zeugenaussage des Mannes, dessen Partei und Person in
dieser Broschüre so heftig angefeindet wurde, auf die Ge-
schwomen war so groß, daß ihm von den Zuhörern das Ver-
dienst an dem Urteil, das auf Freisprechung aller Ange-
klagten in allen 23 Fragen lautete, zugesprochen wurde.
Der Staatsanwalt, der offenbar eine ganz andere Zeugenaussage des
stärksten Gegners des Anarchismus erwartet hatte, war außer sich über die
Enttäuschung, die er erlitt. Der Vorsitzende, ein bösartiger Schwätzer. Ober-
322 Nicht auf der Tagesordnung
landesgenchlsi'at Freiherr v. I^' e u g e h a u e r, hatte vergebens versucht, der.
Eindruck der Aussage Adlers auf die Gescliwornen durch ebenso zahl-
reiche als dumme Fragen zu vermindern.
Krcal wankte gebrociien aus der in Graz besonders barbarisch
durchgeführten und absichtlich verlängerten Untersuchungshaft und starb
einige Wochen später an Lungentu])erkulose, die durch die sechsmonatige
Haft unheilbar geworden war.
Nicht auf der Tagesordnung.
Die Anwesenheit Adlers wurde sofort benutzt, um ihn in einer
Versammlung zu den Grazör Arbeitern sprechen zu lassen. Sie fand in der
Puntigamer Bierhalle, einem großen, nunmehr in ein Variete umgebauten
Saal, am Abend des letzten Prozeßtages statt. Der Saal war überfüllt.
R e s e 1 war Eiiil)enifei-, ^1 i t t e 1 m e i e i', D r ö ß 1er, G s c h i e 1 im
Vorsitz.
Adler wurde stüimisch begiüßt, als er kam, und sprach zur ab-
sichtlich elastisch gewählten Tagesordnung: „Die gegenwärtige wirtschaft-
liche und politische Lage der Arbeiter", verwies auf den bevorstehender,
ersten Gewerkschaftskongreß zu Weihnachten und über das neue Mi-
nisterium Windischgrätz, „an dessen Namen eine unangenehme Erinnerung
seit dem Jahre 1848 haftet" und das für die Arbeiterschaft nichts erwarten läßt.
Daher werden die Arbeiter mit aller Kraft für ihre Forderungen eintreten.
Nachdem Adler unter stürmischem Beifall geschlossen hatte, sprachen
Resel und Mravinc, worauf Adler das Schlußwort nahm. Als er ge-
rade die Forderung des Achtstundentages besprach, brachte ilim ein Ar-
beiter einen Zettel aus dem Schwurgerichtssaal.
Adler verlas sofort den Zettel: „Die drei Angeklagten sind in allen
Punkten freigesprochen wo r d e n." Unbeschreiblicher Jubel brach
los, und als sich der Beifall gelegt hatte und Adler die Anklage und die Ver-
handlung in geheimer Sitzung zu besprechen begann, unterbrach ihn der
Polizeikonzipist P e s e c.
Regierungs vertretet: Der Prozeß steht nicht auf dei- Tages-
oidnung!
Adler: O ja, politische Prozesse sind l)ei uns inuuer
nuf der Tagesordnung!
Stürmische Heiterkeit und Beifall. Der arme Puiizeikommissär
schwieg von da an und Adler konnte ungehindert reden.
Adle r erklärte unter stürmischeni Beifall zum Schluß:
l)urcli den Freispruch der drei Angeklagten haben sich die
Ankläger nur selbst gerichtet!
Mit einem dreifachen Hoch auf die internationale Arbeiterbewegung
schloß die Versaiumluns und der Arbeiter-Sängerbund stimmte das „Lied der
Arbeit" an.
Die militärgerichtliche Untersuchung gegen Dr. Soukup 323
Die militärgerichtliche Untersuchung gegen
Dr. Soukup und Genossen.
Während des Krieges wuide beim Wiener Militärgericht ein Hoch-
vtira.sprozeß segen die zwei Redakteure des „Cas", .loliann Hajek und
Cyrill Dusek, gegen den Arbeiter Bohumil Mar es und die Schriften-
malersfrau Aloisia L i n h a r t, gegen den k. k. Hofrat Wenzel 0 1 i c uiid
Anna B e n e s, die Frau des damaligen Professors (und jetzigen Ministers
der Tschechoslowakei) sowie gegen den sozialdemokratischen Abgeordneten
Dr. J'ranz Soukup eingeleitet. Die in die Schweiz geflüchteten Tschechen,
die, von M a s a r y k geleitet, auf den Zusammenbruch Österreichs rechneten
und für ihn arbeiteten, unteiliielten eine geheime Korrespondenz mit ihren
Gesinnungsgenossen in Österreich und schifteten wiederholt in Regen-
schirmen versteckte chiffrierte Botschaften nach Prag. Am' 5. Oktober
1915 brachte eine solche Botin, Frau Linhart, in einem Stoffknopf ihres
Kleides eingenäht, einen chiffrierten Zettel zu Hayek und schickte ihn, da
dieser abwesend war, durch den Arbeiter Mares zu Dr. Soukup. Da
Mares in der Redaktion des «Cas" viel von einer Botschaft aus der Schweiz
herumredete, war, wie der Militärstaatsanwalt meinte, die Gefahr groß, daß
die Polizei da\'on erfahren haben konnte, außerdem habe die soziald.'.'mo-
kratische Parteiici'ung oie geheimen \or3chv.-r)rjngen und die Beteiligung
von Sozialdemokraten daran entschieden mißbilligt, und Soukup habe daher
gefürchtet, in Widerspruch zu seiner Partei zu geraten. Wie Dr. Soukup
angab, hatte er und sein Konzipient Dr. S c h rh e r a 1, der bei dem Besuch
des Mares als Zeuge anwesend v/ar, den Verdacht, daß es sich um eine von
der Polizei gestellte Falle handelte. Dr. Soukup erstattete bei der Polizei
die Anzeige, was aber nicht hinderte, daß auch er wegen Hochverrates ange-
klagt wurde. Am 1. August 1916 wurde den Beschuldigten die Anklagesciirift
(A 3641/15; derzeit im Landesv-rteidigungisministerium in Prag befmdlich)
zugestellt; unterfertigt von Oberleutnant-Auditor Dr. Frank, nachher Bundes-
vizfkanzler in öslerreicn. Im Laufe der Untersuchung war auch Victor
Adler als Zeuge einvernommen worden. (O.-Z. Nr. 247.)
Adler
bestätigte, daß die tschechische sozialdemokratische Partei
ebenso wie die deutsche Sozialdemokratie die autonome
politische Verwaltung der Völker im Rahmen Ö s t e r-
r e i c h .s angestrebt hat.
Zur Verhandlung wurden Victor Adler sowie Friedrich Adle r, der
ebenfalls als Zeuge einvernommen worden war (O.-Z. Nr. 252),
nicht geladen, sondern es war bloß die Verlesung ihrer Aussagen be-
antragt. Doch kam es nicht mehr zur Hauptverhandhing, weil inzwischen
die Amnestie erflossen war. .
324 AJs Zeuge im Prozeß gegen Friedrich Adler
Als Zeuge im Prozeß gegen Friedrich Adler.
Am 21. Oktober 1916, ungefähr zweieinviertel Jahre nach der habs-
burgischen Kriegserklärung, hatte Friedrich Adler im Speisesaal des Hotels
Meißl u. Schadn auf dem Neuen Markt den Ministerpräsidenten Grafen
Slürgkh erschossen. Am 18. und 19. Mai 1917 fand gegen ihn beim Wiener
Landesgericht als Ausnahmegerichtshof unter dem Vorsitz des Vizepräsidenten
Dr. V. H e i d t die Verhandlung wegen Mordes statt. Als Zeugen wurden
Pernerstorf er, Austerlitz, Skarct und Dr. Viktor Adler
einvernommen. Die Zeugenaussage Victor Adlers lautete nach dem
stenographischen Protokoll*) :
Präsident: Ich bitte, den Herin Dr. Victor Adler! (Zeuge
Dr. Victor A d 1 e r tritt in den Saal und gibt die Generalien ab.) Sie sind
der Vater des Angeklagten?
Dr. Victor Adler: Jawohl !
Präsident: Ich habe Ihnen daher nach dem Gesetze vorzuhalten,
daß Sie berechtigt sind, sich der Aussage zu entschlagen.
Adler: Ich habe das in der Voruntersuchung unter-
lassen und unterlasse es auch ietzt. Ich bin auch bereit, einen
Eid zu leisten.
Präsident: Herr Zeuge sind in der Voruntersuchung über Ihre
Wahrnehmungen über den Gesundheitszustand Ihres Sohnes seit frühester
Jugend vernommen worden und ich bitte, dies auch vor dem Gerichtshof zu
wiederholen.
Adler:
Mein Sohn kommt aus einer Ehe und hat einen Vater,
der in seiner Verwandtschaft sehr viel psychische Krankheits-
fälle gehabt hat. Er war von vornherein ein gesundes, aber
etwas schwächliches Kind, und ich habe — ich spreche nur von
den Dingen, die für die Verhandlung interessant sein
können — von vornherein, von seiner Jugend an immer die
Sorge gehabt, daß seine Nerven nicht fest genug sind. Er war
nicht ausnehmend begabt, aber immer sehr fleißig und von der
Pubertät an hat sich auch seine Begabung gezeigt und sehr
gesteigert. Ich habe — um zu charakterisieren, sage ich alles,
wie es mit ihm ausgesehen hat — von Anfang an die Sorge
gehabt, ihn ein Leben leben zu lassen, das eingeschränkt ist,
das seine Nerven nicht allzusehr belastet. Ich wollte darum,
daß er erst das Unterrealgymnasium macht und dann an die
*} Friedrich Adler vor dem Ausnahmegericht. Die
Verhandlungen vor dem §-]4-Gericht am 18. und 19. Mai 1917 nach dem
stenographischen Protokoll. Verlegt bei Paul Cassirer. Berlin 1919.
Als Zeuge im Prozeß gegen Friedrich Adler 325
technologische Lehranstalt gehe, um als Techniker einen Beruf
zu finden, der ihm sowohl für seine geistige Betätigung die
Möglichkeit gibt, als ihn auch doch nicht überlastet
Nachdem er die Unterrealschule absolviert hat, hat er mir
eröffnet, daß er ohne höhere Mathematik nicht leben
könne, daß er also die Mittelschule zu Ende machen müsse
und er dann an die Universität gehen wolle. Nach einer kurzen
Diskussion konnte man sich dem nicht widersetzen. Er ist an
die Universität gegangen, sollte erst Chemie studieren, hat
dann die Physik gewählt, immer mit einem sehr besonderen
Hang zu rein theoretischen Dingen. Das war die eine
Leidenschaft.
Die andere Leidenschaft war die Politik, die in meinem
Haus, da mein Lebensberuf ein politischer ist, immer auf der
Tagesordnung stand.
Er ist dann in die Schweiz gegangen und ist dort
geblieben. Gewünscht habe ich, daß er akademischer Lehrer
werde, und ich habe die beste Hoffnung dazu gehabt; denn er
ist schon im dritten Semester Assistent geworden, hat sich
außerordentlich fleißig betätigt, wie ich überhaupt seinen Fleiß
rühmen muß — ich bitte um Entschuldigung, wenn ich Gutes
über den Augeklagten, obwohl er mein Sohn ist, sagen muß.
Er war ganz außerordentlich fleißig, und das einzige Laster,
das ich ihm in seiner Jugend nachsagen kann, ist die Über-
treibung der Tugend. Er hat nie getrunken, nie ein Glas Bier,
nie geraucht, nie in Gesellschaft von Studenten gekneipt, wie
ich es selbst getan habe, sondern hat sich immer den ernstesten
Arbeiten gewidmet. Auch in der Auswahl seiner Freunde; er
hat nur solche Freunde gehabt, mit denen er über rein tlieore-
tische, sehr schwierige Fragen in endlosen Diskussiouen die
Nächte oft verbracht hat. Ich habe — und das sage ich wieder
zur Charakteristik seiner Physis — gewünscht, daß er
akademischer Lehrer werde, damit er Ferien hat und er einige
Monate im Jahre ferji von Verantwortung und von Arbeit sei.
Auch das hat sich nicht machen lassen, denn seine andere
Leidenschaft, die politische Leidenschaft, die Leidenschaft, für
die Arbeiterklasse und ihre Ziele zu kämpfen, ist neben seiner
theoretischen Leidenschaft gegangen.
Über sein physisches Befinden kann icli folgendes sagen:
Er war, wie gesagt, immer sehr fleißig, hat sich mitunter über-
326 Als Zeuge im Prozeß gegen Friedrich Adler
arbeitet, uud ich muß sagen, daß er oft Zeiclien von Ermüdung
gezeigt hat, wo kräftigere Menschen sie noch nicht gezeigt
hätten. Und die Gefahr der Ermüdung und die Gefahr des
Zusammenbrechens des Nervensystems — ich bin Arzt gewesen
und war speziell durch viele Jahre Irrenarzt — diese Gefahr
hat mir immer vor Augen geschwebt und ich habe gesucht, ilni
mit allen Mitteln vor Überlastung zu schützen und ihm abzu-
reden. Aber das war umsonst. Es ist vorgekommen, es ist sehr
häufig vorgekommen — kann ich sagen — daß seine Arbeits-
wut weiter gegangen ist, als seine physische Kraft gereicht hat.
Es sind dann wieder Perioden gekommen, wo er sich nicht
zuviel zugetraut hat, wo eine gewisse Depression eingetreten
ist, ohne daß das — das will ich gleich sagen — zu jener Zeit
irgendwie einen pathologischen Eindruck gemacht hat. Aber
mir als Vater und Arzt war immer die Gefahr eines solchen
Nervenzusammenbruches von ieher nahe. Ich weiß nicht, ob
ich weiter gehen soll in meinen Auseinandersetzungen?
Es ist dann die Zeit gekommen, wo er sich zu entscheiden-
hatte zwischen Wissenschaft und Politik. Es war in Frage eine
Professur in Zürich. Auf der anderen Seite hat man ihn als
Redakteur bei unserem dortigen Parteiorgan, ])eim „Volks-
recht" gebraucht. Mein Wunsch wäre gewesen, daß er bei der
akademischen Karriere geblieben wäre, abgesehen von anderen
Gründen, hauptsächlich aus dem Grunde, weil ich sein Nerven-
system nicht der Belastung aussetzen wollte, die der politische
Kampf jedem auferlegt und insbesondere dem. der es sehr ernst
mit der Sache nimmt, wie es mein Sohn immer genonnnen hat.
Er ist nach einiger Zeit nach Wien gekt)mmen \ind er hat —
es ist das in seinem Wesen gelegen — jede Arbeit genuicht, die
zu machen war, ohne Rücksicht auf das Ressort; er war in
unserem Parteisekretariat tätig, hat ohne Rücksicht auf das
Ressort gearbeitet, unbekümmert ob Tag oder Nacht. Die
Nerven haben wiederholt versagt, oft in der Form einer ner-
vösen Depression, mitunter in der Form einer Herzaffektion.
Ich habe hier kein medizinisches Plädoyer zu halten; ob diese
FTerzaffektion eine autochthone, vom Herzen ausgehende war
oder ob sie im letzten Grunde eine nervöse war, das hat das
Urteil der Fachmänner zu entscheiden, aber jedenfalls sind
seine schweren Herzschwächen in sehr intimem Z\isammenhang
mit seinen Nerven gestanden.
Als Zeuge im Prozeß gegen Friedrich Adler 327
Xuu kommt das Jahr 1914. Im Jahre 1914 sollten wir
hier unseren internationalen Kongreß abhalten. Ihm waren die
Vorbereitungen obgelegen. Er hat das ganze Frühjahr und den
Sommer über diese Vorbereitungen organisiert, hat sie mit
einem Eifer organisiert — da spreche ich als sein vorgesetzter
Chef — der ihm alle Ehre macht. Er hat dadurch mit allen
unseren ausländischen Genossen Verkehr gehabt — er
beherrscht mehrere Sprachen — er hat sich ganz hineingelebt
und hat sich überarbeitet.
Nun kommt der Krieg. Der Krieg war ein Zusammen-
bruch für uns alle, ein innerer Zusammenl)ruch für mich nicht
minder wie für ihn. Dazu ist aber ein Moment gekommen, das
erschütternd in der Erschütterung war, da unsere Meinungen
darüber, wie sich die Partei im Kriege zu benehmen habe,
welche Verpflichtungen sie habe, was sie leisten könne, wesent-
lich auseinandergingen. Wir sind dadurch in Konflikte ge-
kommen. Ich darf aber sagen: nicht einen Moment hat sich
trotz dos ärgsten Konfliktes unser persönliches Verhältnis
getrübt, nicht einen Moment! Aber es war ein tragischer
Zustand in der allgemeinen Tragik des Krieges.
Was der Krieg für die ganze Welt war, das brauche ich
dem hohen Gerichtshof nicht vorzuführen, das wissen Sie alle;
aber der hohe Gericlitshof möge sich vor Augen halten, was er
für uns ganz besonders war. Da spreche ich nicht als Partei-
mann, sondern spreche als Mensch, der so wie sein Sohn mitten
unter der Arbeiterschaft und \inter den Leuten gelebt und der
das durch den Krieg hervorgebrachte Elend so plastisch, per-
sönlich, ich möchte sagen am eigenen Leibe immer vor sicJi
gehabt hat.
In dieser Zeit — ich wurde über seinen Nervenzustand
gefragt — ist zunächst natürlich das Nervenleben meines
Sohnes ein anderes geworden. Er ist ernster, einsilbiger, er-
regter geworden, ohne es zu äußern, eine verhaltene Erregung,
die niemand gemerkt hat. Das ist so fortgegangen durch die
ganze Kriegszeit, bis es zur Katastrophe gekonunen ist, und hat
sich immer mehr gesteigert. Gesteigert wurde' diese Nerveu-
atmosphäre für uns alle und für ihn insbesondere auch
dadurch, daß jede Äußerung übeu das, was man empfunden hat,
unmöglich war. Für die Partei hat es keine Presse gegeben,
weder mündlich noch schriftlich ein Wort. Wir sind alle unter
328 Als Zeii.ue im Prozeß gegen Friedricli Adler
den Ausuahmeg'esetzen gestanden, militärisclien und zivilen,
wir haben uns alle gefesselt und geknebelt gefühlt, und es ist
kein Zweifel, daß auch das einen besonderen Druck auf seine
Nerven ausgeübt hat.
Während dieser Zeit sind auch, wenn ich nicht irre, zwei-
mal, vielleicht auch dreimal Zusammenbrüche besonderer Art.
also besonders ausgesprochener Art vorgekommen, avo er auf
Wochen seine Arbeit aussetzen mußte. Die Gegensätze haben
sich zugespitzt, und es ist kein Zweifel, daß diese Gegensätze
der Auffassung, die sich in allen Ländern gezeigt haben, bei
ihm, der mit ganzer Seele an der Sache gehangen hat und für
den es eigentlich nichts anderes gegeben hat wie das, auf ihn
höchst aufregend und auf seine Nerven höchst ermüdend ge-
wirkt haben. Aufregung und Ermüdung sind hier nicht Gegen-
sätze, wie ich betonen möchte, sondern im Gegenteil, eines hat
das andere noch gesteigert. So kann ich nur sagen, daß diese
Erregung bis in die letzte Zeit sich immer gesteigert hat.
Sie hat sich auch gesteigert — ich weiß nicht, ob ich
darüber eine besondere Frage erwarten kann oder ob ich
weiterreden soll — sie hat sich auch gesteigert durch die ganz
besondere Behandlung, die nicht nur unserer Partei, sondern
der ganzen Öffentlichkeit in Österreich zuteil wurde. Sie hat
sich besonders dadurch gesteigert, daß Österreich ganz anders
behandelt wurde als jedes andere Land, nicht etwa in Europa,
sondern auf dem Erdball. Wir haben kein Parlament gehabt
und es ist selbstverständlich — ich werde keine politische Rede
halten, ich spreche nur davon im Zusammenhang mit der
Stimmung meines Sohnes und meiner eigenen — es ist begreif-
lich und der hohe Gerichtshof wird es verstehen, daß unsere
L'nterhaltung, unser tägliches Gespräch und unsere tägliche
Erörterung immer diese furchtbare Lage war, in der wir
uns von Tag zu Tag nicht nur über die Nadelstiche, wie sie
sich in den Zensurübergriffen äußerten, sondern auch über das
ganze System der Mundtotmachung der Öffentlichkeit bis ins
letzte ausgesprochen haben.
Wir haben mit Neid gesehen, wie im Deutschen Reichstag
gesprochen wird. Wir sind nicht entzückt über die Zustände
im Deutschen Reich, wir sind keine Verehrer des dortigen
Systems. ab(M- im Vergleich zu unseren Verhältnissen er-
schienen lins die Verhältnisse in Deutschland unerhört schön.
Als Zeuge im Prozeß gegen Friedrich Adler '^2^
Unsere Presse ist einer Präventivzensur unterlegen, von der
man sich gar keinen Begriff macht. Versammlungen wurden
nicht geduldet bis zu einem Grade, der weder mit der Vernunft
noch etwa gar mit dem Gesetz — von diesem gar nicht zu
sprechen — vereinbar ist.
Und nun gestatten Sie, hoher Gerichthof, daß ich
vielleicht gleich auf die letzten Tage zu sprechen komme. Die'
Luft in Österreich war nicht mehr aus-
zuhalten. Man hat gespürt, es geht nicht mehr f)hne
Parlament, man hat aber gewußt, daß das Hindernis für dieses
Parlament das System des Ministerpräsidenten Grafen
S t ü r g k h ist, der allmächtig war, der alleMinisterien
beherrscht hat, allen Mi niste rienjedeSelbstä n-
d i g k e i t genommen hat, der nach oben eine Barriere ge-
bildet hat, die unübersteiglich war, und der, wie wir sehr wohl
wußten, n u r e i n e n H e r r n gekannt hat : den Grafen Tisza.
Wir haben gewußt, daß die für den Staat wichtigsten Dinge, wie
der Ausgleich mit Ungarn usw. vorbereitet und fertig-
gemacht werden — das haben wir im einzelnen ganz genau
gewußt — ohne daß das Parlament, das darüber verfassungs-
gemäß zu entscheiden hatte, ohne daß die Bevölkerung auch
nur im geringsten befragt worden wäre oder die Möglichkeit
gehabt hätte, ihre Meinung zu äußern. Wir haben aber auch
noch etwas anderes gewußt, worauf ich besonders Ihre Auf-
merksamkeit lenken möchte. Wir waren schon damals wie jetzt,
noch viel mehr durch die E r n ä h r u n g s f r a g e gequält.
Die Ernährungsfrage hat den Gegenstand der besonderen Sorge
unserer Partei gebildet. Wir haben schon in den ersten Monaten
und Wochen des Krieges ein ausführliches Memorandum an
die Regierung überreicht, worin wir Forderungen gestellt
haben, die jetzt ungefähr zu 50 Prozent erfüllt worden sind —
zu spät.
Wir haben damals das E r n ä h r u n g s a m t verlangt,
das man eineinhall) Jahre später errichtet hat. Wir
haben gewußt, daß das Hindernis für dieses Ernährungsamt,
das notwendig war, einzig und allein der Wille oder, wenn Sie
wollen, der N i c h t w i 1 1 e d e s M i n i s t e r {) r ä s i d e n t e n
S t ü r g k h war. Wir haben gewußt, daß alle diese Schwierig-
keiten, in jeder einzelnen Frage, diese Kumulierungen der ver-
schiedenen Ministerien, wodurch diese zu keiner praktischen
330 Als Zeuge ira Prozeß gegen Friedrich Adler
Wirksamkeit küiiimen konnten und förmlich einander in die
Beine gelaufen sind, wir haben gewußt, sage ich, daß dieses
absolute Versagen der Bürokratie nicht allein
Schuld der Bürokraten und des bürokratischen Systems war,
sondern vor allem die Schuld des Mannes war, der absolut nicht
geduldet hat — und es nicht geduldet hat, weil der G r a f
T i s z a es nicht wollte — daß an Stelle dieses Systems ein
anderes trete. Das alles wurde tagtäglich an meinem Tische,
wo auch mein Sohn gesessen ist, mit ilim besprochen, und es
wird sich niemand darüber wundern, daß die Erregung über
diese Dinge eine chronische war. Da kommt nun die Zeit, wo
der Becher fast zum Ü ]) e r 1 a u f en war, und wir
erfahren, daß ein paar Professoren eine Versammlung
einberufen wollten und dazu das Präsidium d e s A b g e-
ordnetenhauses nehmen, eine Versammlung, die also
unter solchen Umständen veranstaltet werden sollte, daß die
Behörden und die Begierimg darin unmöglich e i n e G e-
f a h r sehen konnten und daß anderseits die Unmöglichkeit
gegeben war, sie zu verbieten, weil doch die Leute, die sie ver-
anstalteten, alle möglichen Garantien dafür geboten haben.
Diese Versammlung war nun deu Gegenstand vieler Er-
örterungen durch etwa 14 Tage, ob sie nämlicli bewilligt
werden solle oder nicht. Zunächst haben sich rein polizeiliche
Erwägungen daran geknüpft, wie man den § 2 des Ver-
sammlungsrechtes auslegen solle usw. Es ist nun natürlich
und liegreiflich, daß der Umstand, daß eine solche Ver-
sammlung, unter solchen Umständen einberufen, nicht ge-
stattet wird, während in Deutschland draußen Hunderte
von Versammlungen an einem Tage abgehalten werden, wo
man alles von oben bis unten kritisiert und offen bespricht —
von Frankreich und England rede ich gar jiicht — ja in Kuß-
hmd früher gesprochen und geschrieben wurde als in Öster-
reich; es ist begreiflich, sage ich, daß dies den Gegenstand
unserer Erörterungen nicht nur im Parteihaus, sondern auch
im Familienhaus gebildet hat. ich möchte nur eines erwähnen,
ich habe es meinem Sohne (Uimals erzählt, ich weiß nicht, ol»
er sich daran erinnert. Drei Tage vor der Versanunlung, am
Donnerstag — die Versammlung sollte am Sonntag sein — war
ich beim Herrn Polizeipräsidenten eingeladen, um
über die Versammlung Auskunft zu geben. Es handelte sich
Als Zeuge im Prozeß gegen Friedrich Adler 831
um eine strittige Frage, über die wir seit 20 bis 30 Jahren mit
der Polizei streiten, nämlich wie der ^ 2 des Versammlungs-
rechtes auszulegen sei. Da sollte ich nun einvernommen werden,
und es hat sich dabei um die Frage gehandelt: Soll die Ver-
sammlung verboten werden oder nichts! Ich habe es meinem
Sohne erzählt, daß ich dem Herrn Polizeipräsidenten
folgendes gesagt habe : ,,H üten Sie sich, Herr
Präsident, dem Herrn ]\I i n i s t e r p r ä s i d e n t e u
anzuraten, diese V e r s a m m 1 u n g z u v c r b i e t e ii !
Hüten Sie sich davor! In Österreich wird alles aus den
Zeitungen gestrichen, wo es heißt, dort ist zu wenig Zucker
oder zu wenig Kartoffeln, weil uns daraus eine Blamage gegen-
über dem Ausland entstehen könnte. Wenn man aber im Aus-
land erfahren wird — und das können Sie nicht unterdrücken
— daß eine Versammlung, die von fünf Universitätsprofessoren
und dem Präsidenten des Abgeordnetenhauses einberufen wird
und wo nur diese Herren reden können und sonst kein Mensch,
verboten wurde, dann tun Sie dem Staate Österreich d i e
größte Schmach und Schande an, die ihm überhaupt
zugefügt werden kann. Man wird Ihnen vielleicht heute folgen,
aber die Schande wird a u f k o m m e n, und dann
werden Sie die Schuldigen sein!" So habe ich zum Herrn
Polizeipräsidenten gesprochen, s o • h a b e n wir es alle
e m p f u n d e n, und so war es. Meine Herren vom hohen Ge-
richtshof, ich bin ein alter Mann, ich habe viel mitgemacht, icli
lün gewohnt, Erregungen zu ertragen und Erregungen ab-
laufen zu lassen, aber das darf ich sagen, der Gipfel der Er-
regung ist nicht durch das Verbot an sich, ob Stattfinden oder
nicht einer an sicli gleichgültigen Versammlung entstanden.
sondern durch das S y m p t o m für den politische n Z u-
stand und die Ge w a 1 1 h e r r s c h a f t eines e i n-
z i g e n M a n n e s, der u n v e r a n t w o r t 1 i c h war n a c h
o h e n und n a c h u n t e n, uns allen greifbar und fühlbar.
AVir waren alle machtlos. Wir hal)en — und der hohe Gerichts-
hof wird darüber nicht in Unkenntnis sein — als sozialistische
Abgeordnete unsere Pflicht während des Krieges getan, wir
haben mit allen Behörden genuünsam die Not zu lindern
gesucht, zu organisieren gesucht und ha))en dadurch vielfach
Einblick gewonnen in die Zustände, die vielleicht in der
Öffentlichkeit nicht so bekannt waren. Aber ich kann Ihnen
382 Als Zeuge im Prozeß gegen Friedrich Adler
sagen, wir haben uns oft an das Wort erinnert: Wer bei ge-
wissen Dingen den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu
verlieren I Das war der Zustand, in dem wir gelebt haben, das
waren die Gedankengänge, in denen ich — w^enn es eine Schuld
war, will ich sie bekennen — mit meinem Sohne nicht einmal,
sondern wiederholt gesprochen habe, aber freilich verschiedene
Schlüsse daraus zogen.
Präsident: Haben Sie in den letzten Tagen, von denen Sie ge-
sprochen haben, eine besondere Erregung Ihres Sohnes auch in den äußeren
Symptomen wahrgenommen ?
Adler: Mein Sohn ist ein kühler Mensch. Es äußert
sich seine Erregung in einer gewissen Verschlossenheit und
Verstörtheit, möchte ich beinahe sagen. Das war allerdings der
Fall. Er war in den letzten Wochen, w^o wir auch Partei-
diskussionen gehabt haben, die aufregender Natur für uns
beide waren, besonders erregt, ungewöhnlich erregt.
Präsident: Ihr persönliches Verhältnis als Vater zum Sohn ist
üurch den politischen Gegens:atz eigentlich nicht getrübt gewesen?
Adler: Er war und ist mir der liebste Mensch. Was
haben wir uns für Dinge gesagt! Aber ich habe nie einen poli-
tischen Gegner für einen persönlichen Feind angesehen.
Warum sollte ich es bei meinem besten Freund plötzlich
tun, weil er eine andere Meinung hat als ich'^
Präsident: Vielleicht eine Frage noch, weil es von Ihrem Sohne
auch erwähnt wurde. Sein Gegensatz, in den er zum Schluß zur Partei ge-
kommen ist, hätte eine Beendigung in der Richtung, daß er gewissermaßen
ausgeschlosssen worden wäre, nicht nach sich ziehen können?
Adler: Herr Präsident, das ist eine schwere Sache.
Ausgeschlossen wäre er, glaube ich, nicht worden; ich bin
nicht der Parteitag, der darüber zu entscheiden hat, aber nach
meiner Überzeugung wäre er nicht ausgeschlossen worden.
Nach meiner Überzeugung haben sich trotz des schroffsten
Gegensatzes in bezug auf diese eine Frage alle diese Meinungs-
verschiedenheiten noch in dem großen Rahmen der sozialisti-
schen Gedankengänge bewegt. Gestatten Sie, daß ich hinzu-
füge, ich war überzeugt und bin es noch, daß wenn der Krieg
vorbei ist, manche dieser Meinungsverschiedenheiten auch
wieder verschwinden ward. Ich glaube nicht, daß es zu einer
Ausschließung geführt hätte, wir schließen nicht gerne aus.
Präsident: Wäre für ihn die Lage eine solche gewesen, daß er
j;eine politische Zukunft infolge des Gegensatzes zur Partei gefährdet
gesehen hätte?
Als Zeuge im Prozeß gegen Friedrich Adler 333
Adler: Absolut nicht; das kann man nicht sagen; er
wollte ja wiederholt in die Schweiz zurückkehren. Ich war
immer der Ansicht, er solle nur bleiben, es wird schwer gehen,
nebeneinander zu arbeiten, aber es gibt eine Menge Dinge, die
dieses Gebiet gar nicht berühren. Er hat eine sehr schwere
Arbeit zu leisten gehabt, eine sehr harte Arbeit, und ich habe
gemeint, daß nach dem Kriege sich alles wieder einrenken wird,
wie ich auch heute noch überzeugt bin, nicht nur für diesen
Fall, sondern auch für die ganze Welt.
Präsident: Herr Zeuge haben in Ihrer Vernehmung beim Unter-
suchungsrichter von einigen Erkrankungsfällen in Ihrer Familie gesprochen.
Es sind die diesbezüglichen Krankheitsgeschichten beigeschafft.
Adler: Es sind ia alle verarbeitet.
Landesgerichtsrat Dr. Ehrenreich: Ihr Sohn hat sich selbst
heute als vorsichtigen, nüchternen und kühlen Menschen bezeichnet. Ist er
vielleicht leidenschaftlicher und impulsiver, als er- es zeigt?
Adler: Er ist ein nüchterner kühler Mann, wie er ein
Mathematiker eigentlich seiner Natur nach ist und kein Poli-
tiker. Nüchtern und kühl. Aber wenn ein Mathematiker seine
Linien zieht, dann glaubt er fest an seine Linien. Er hält sich
für kühl, nüchtern, er ist aber von der innersten Leidenschaft
verzehrt, ohne es zu wissen, und mit dem besten Willen, es zu
dämpfen, oft nicht imstande, sich zu beherrschen. Das
Schlimmste, was ich ihm gesagt habe, wenn er ein Delikt
begangen hat, war, daß er zügellos sei. Doch das ist sehr
selten passiert. Er hat sich gezügelt, aber es hat ihn schwere
Mühe gekostet. Die Leidenschaft, insbesondere in politischen
Dingen, war so groß, daß selbst wir beide in unsern Aus-
einandersetzungen an eine Grenze gekommen sind, wo es nicht
mehr möglich war, zu diskutieren. Da hat man gesehen, da ist
etwas Festes, etwas, woran sich nicht mehr rütteln läßt, wo
alle Argumente abprallen, wo er unter einem gedanklichen
Zwange steht, daß man ihm stundenlang predigen kann, ohne
einen Effekt zu erzielen, während er dabei in der Form immer
möglichst zivilisiert war, möglichst sich beherrschend, aber
sonst leidenschaftlich.
Landesgerichtsrat Dr. Ehren reich: Haben Sie bemerkt, daß er
besonders ehrgeizig ist. Hat er gerne von sich reden gemacht, wollte er eine
Rolle in der Partei spielen?
Adler: Das in keiner Weise. Er hat anonyme Arbeit
geleistet, zehnmal soviel als solche, von der man gewnißt hat.
331 Als Zeuge im Prozeß gegen Friedrich Adler
Ehrgeiz — das ist ein weiter Begriff — den will ich ihm nicht
absprechen.
Präsident: Sich zur Gellung bringen !
Landesgerichtsrat Dr. Ehrenreich: Eitelkeit!
Adler: Eitelkeit — nein, Ehrgeiz — ja!
Präsident: Xocli eine Frage?
Dr. Harpner: Herr Doktor haben in der Voruntersuchung gesagt:
„Der Stimmungswechsel bei meinem Sohne hat sich schon in jungen Jahren
mitunter empfindlich bemerkbar gemacht, in Zeiten, wo er schwer arbeitete ;
es waren auch Zeiten einer gewissen Überschätzung seiner Kraft, dann
folgten wieder meist Monate, wo er nur mit Aufgebot aller Energie sich über
die Zweifel an seiner eigenen Leistungsfähigkeit hinwegsetzen konnte." Ist
das richtig?
Adler: In Zürich hat er naturwissenschaftliche Ar-
beiten gemacht, insbesondere theoretische. Er ist ein solcher
Theoretiker, daß er bei seinem Rigorosum — oder wie die
Prüfung dort heißt — sich, als er drei Fächer zu wählen hatte,
Mathematik und Physik ausgesucht und sich dann, als man ihm
gesagt hat, er soll sich noch ein praktisches Fach wählen —
wie er mir geschrieben hat — als „praktisches Fach" die
Astronomie gewählt hat. Ich meine das nur zur Charakte-
ristik. Aber das ist richtig; er hat Zeiten gehabt, wo er an der
Universität — das hat mir übrigens sein Professor, der seitdem
gfestorben ist, auch gesagt, und Kollegen von ihm haben es
gesagt und noch vor kurzem hat es mir Professor Einstein,
der berühmte Physiker, der sehr befreundet mit ihm ist, wdeder-
iiolt gesagt — sich zugetraut hat, er könne die Bäume aus-
reißen, geradezu wie ein Wilder sich alles zugetraut und ülicr
das Maß gearbeitet. Dann sind wieder Zeiten gekommen, wo er
zu seiner Frau, wie sie mir später — - nicht jetzt gelegentlich
des Prozesses, sondern schon viel früher — gesagt hat, äußerte :
Das Gehirn ist mir wie verstopft, ich kann nichts machen.
Das sind so kleine Dinge, die ich natürlich zu werten
gewußt habe und die das Motiv gebildet haben für das, was
ich eingangs vorzutragen mir erlaid)t habe, warum ich ein
schonenderes Leben für ihn gewünscht hätte. Schweren Be-
lastungen war dieses feine, aber gebrechliche Hirn nach meiner
Überzeugung von Kindheit an nicht gewachsen.
Dr. Harpner: Ihr Sohn hat doch eine Tat volüührt — er nimmt
einen Revolver, geht auf einen Mann, den er nicht gekannt hat, der ihn
perönlich nicht gekannt liat. zu. erschießt ihn. also etwas, wozu eine
AlvS Zeuge im Prozeß gegen Friedrich Adler 385
gewisse SeelenslärJie — manclie Leute werden vielleiclit sagen Grausamlceit
— gehört. Hat er etwas Derartiges sonst im Leben gezeigt?
Adler: Nie! Nie! Nicht nur das nicht, sondern er war
das zartfühlendste Kind, das mir je untergekommen ist. zart-
fühlend gegen seine Geschwister — seine Schwester, die leider
so krank ist, hat er gehütet wie seinen Angapfel — er war
gegen seine Mntter nnd gegen mich der zartfühlendste Sohn-
und wenn er jetzt ... — so kann ich nur sagen, ich habe ja
das gar nicht glauben wollen, daß ein s(»leher Exzeß des Mathe-
matischen möglich ist.
Dr. Ilarpner: Nur noch eine Frage, Herr Doktor: Ich habe aus den
Akten entnommen, daß Ihr Sohn in der Zeit vor dem Attentat, ich meine
die Monate September und Oktober, ungefälir folgende Fvinktionen in sich
\ereinigt hat. Ich frage Sie darüber, weil Sie . . .
Adler (einfallend) : Ich war mit sein Chef!
Dr. Harpner (fortfahrend): ... als sein Chef es wissen müssen.
Kach der Akten läge war er damals Parteisekretär, und zwar während der
Beurlaubung des Abgeordneten Skaret, der sonst neben ihm war, im Monat
September der alleinige Parteisekretär, er war dann ...
Adler (unterbrechend) : Und war, vergessen Sie nicht,
Herr Doktor . . .
Dr. Harpner fortfahrend : Ich wollte gerade sagen, allein Vor-
bereiter des internationalen Kongresses.
Adler: Ich bitte, noch mehr! Es war damals noch
Abgeordneter Winarsky sein Kollege. Er war erst krank, durch
lange Zeit eingerückt und ist gestorben, ein Mann, der uns
sehr abgegangen ist. Es sind uns natürlich auch andere Leute
abgegangen, die im Parteisekretariat Funktionen hatten, ohne
daß sie gerade angestellt waren.
Dr. Harpner: Dann hatte er den Kongreß vorbereitet, von dem Sie
uns schon erzählt haben, dann hatte er den „Kampf", wie es scheint, beinahe
allein redigiert, weil Dr. Bauer in Kriegsgefangenschaft geraten ist.
Adler: Seit Dr. Bauer eingerückt war, hat mein Sohn
den ,,Kampf" redigiert.
Dr. Harpner: Dann hat er, wie ich aus dem Protokoll ersehe, in
verschiedenen Arbeitervereinen Vorträge gehalten.
Adler: Jede Woche ein paarmal!
Dr. Harpner: Ist es richtig, daß, während Sie in Nauheim waren —
wann war das?
Adler: Wie alle Jahre, vom halben Juli bis Ende
August, Anfang September.
Dr. Harpner (fortfahrend): ... er während dieser Zeit auch Ihre
Korrespondenz besorgt hat?
336 Als Zeuge im Prozeß gegen Friedrich Adler
Adler: Er hat das alles gemacht bei Tag und bei Nacht.
Dr. Harpner: Er war nacli Ihrer Meinung sehr überlastet!
Adler: Er war schwer überlastet. Ich weiß nicht, was
Herr Doktor daraus deduzieren wollen, aber es wäre unmöglich
gewesen, ihm ein Stück dieser Arbeit aus den Klauen zu reißen.
Präsident: Er hat alles an sich gerissen!
Adler: Er hat alles an sich gerissen. Wir haben im
ersten Stock unseres Gebäudes das Sekretariat, im zweiten
Stock die Redaktion, im dritten Stock die Gewerkschafts-
kommission und außerdem eine große Druckerei. Er hat gewußt,
was im ganzen Hause vorgegangen ist, auch was weit über
seine eigentlichen Funktionen hinausgeht.
Präsident: Ich danke sehr, Herr Zeuge.
V.
Adler bei Demonstrationen.
Adler als Standartenträger 339
„Wir lassen uns nicht ein-
schüchtern und nicht provozieren !''
Nach dieser Parole, die Adler mit der ihm einzig eigenen Prägnanz aus-
gegeben hat*) und die wahrhaftig Wunder gewirkt hat, hat er selbst gehandelt,
wenn er in Tumulte hineingeriet. Er kam dabei wiederholt selbst in Gefahr,
von den Polizeirossen niedergeritten oder von den Polizcisäbeln nieder-
geschlagen zu werden. Bewundernswert war in so kritischen Augenblicken
seine Selbstbeherrschung, sein überblicken der Situation, seine Klugheit,
mit der er den bis zur Siedehitze erregten Arbeitern zuredete, seine Energie
und imponierende Entschlossenheit gegenüber den Wachorganen. Meistens
genügte seine Anwesenheit, daß ein „Wirbel", den avancementslüsterne
Polizeibeamte provoziert hatten, rasch zu Ende kam. Einmal wurde er selbst
verhaftet und wegen Einmengung in eine Amtshandlung angeklagt und
verurteilt.
Adler als Standartenträger.
Am 1. Mai 1895 wurde, um dem Kampf um das Wahlrecht mehr
Nachdruck zu verleihen, beschlossen, die feiernden Arbeiter am Parlament
vorbeimarschieren zu lassen, um der polnisch-deutschnational-pfäffischen
Koalition den festen Willen der Arbeiterklasse, die Wahlreform zu erringen, vor
Augen zu führen. Man sammelte sich in den Bezirken. In M a r i a h i 1 f hatten
die Bürstenmacher versucht, eine Standarte mitzunehmen, damals ein Akt,
der mit Gefahren aller Art verbunden war. Sie wurde konfisziert, eine halbe
Stunde darauf auch noch die Stange, weil sie rot angestrichen war.
Die Schneider hatten aus ihrem Versammlungslokal eine Standarte mit-
genommen, auf der die damals lebensgefährlichen Worte standen: „Hoch
der Achtstundentag!" auf der einen Seite, „Hoch das allgemeine Wahlrecht!"
auf der Rückseite. Ein Arbeiter hielt sie unter dem Rock verborgen, und
entfaltete sie erst auf der Ringstraße. Als das Auge des Gesetzes sie erblickte,
wurde sie konfisziert und ein besonders gescheiter Kommissär lehnte
sie an eine Annoncensäule, so daß sie von allen Vorübergehenden gesehen
werden mußte. Das Verlangen nach der verbotenen Frucht verursachte
immer wieder Aufregung. Als Adler mit den Mariahilfer Arbeitern dort
vorüberkam, interpellierte er deshalb den Polizeikommissär, warum er die
Standarte so frei lehnen lasse, das gebe Anlaß zu aufgeregten Szenen. Er
forderte den Kommissär auf, die Standarte ins Vereinslokal der Schneider
zurücktragen zu lassen. Der Kommissär weigerte sich, dies zu tun.
^) In der -^Arbeiter-Zeitung" Nr. 15 vom II. April 1890.
22*
340 Die gestörte Maifeier
gab aber schließlich Adler die Standarte, damit er sie versorge. Adler
trug sie in das nächste Haus, deponierte sie dort und brachte so das
gefährliche Ding aus den Augen der Polizei und der Arbeiter. Als sich hiebei
eine Anzahl von Arbeitern nachdrängte, ritten bereits die Wachleute bis
aufs Trottoir und trieben die Arbeiter auseinander.
Die gestörte Maifeier.
Fünf Jahre hintereinander war die Maifeier der Wiener Arbeiter im
Prater ohne Zwischenfall verlaufen; am 1. Mai 1895 kam es in einem von
der organisierten Arbeiterschaft gemiedenen Gasthaus zu einem Kon-
flikt, der das Einschreiten der Polizei veranlaßte. Fünfzig Berittene sprengten
beim Restaurant Swoboda in die Masse hinein und es kam zu einem
Zusammenstoß, wobei es auf beiden Seiten zu Verletzungen kam. Adler,
Pernerstorfe r, Schuhmeier, Ellenbogen, Winarsky und
andere Genossen erschienen, sobald sie von dem Tumult erfahren hatten,
und verlangten die Zurückziehung der Wache. Obwohl dies verweigert wurde,
gelang es ihnen im Verein mit Ordnern, einen Teil der Masse vom Platz
wegzuführen. Die Unorganisierten blieben und es kam zu neuen blutigen
Zusammenstößen, als schon die große Masse auf dem Heimmarsch
begriffen war.
Als Adler bei der Intervention zu den Wachleuten gehen wollte, um
mit ihren Vorgesetzten zu verhandeln, wurde er heftig zurückgedrängt. Er
ließ sich nicht abweisen, und ein Wachmann bewog die anderen, ihn
passieren zu lassen. Er wollte nun durch eine abgesperrte Allee gehen, um den
Pülizeikommissär aufzusuchen. Da drangen, einige Wachleute mit ge-
schwungenen Säbeln auf ihn ein. Adler wehrte mit vorgehaltenen Händen
ab und schrie ihnen zu, daß er den Polizeikommissär suche. Sie hörten
nicht und drangen weiter gegen ihn vor, so daß er einige Schritte zurück-
weichen mußte und wahrscheinlich einen Säbelhieb bekommen hätte, wenn
ihn nicht ein Wachmann erkannt und von vorne her gerufen hätte: „Laßt
ihn passieren, das ist der Herr Adler!" Nun eilte ein Polizeikommissär hinzu
und nahm Adler in Empfang. Von der Seite her, wo die Ordner den Ab-
ziehenden den Weg gesichert hatten, sah es so aus, als ob Adler verhaftet
worden wäre, was neue Erregung und Stauung der Menge hervorrief.
Adler hatte indessen den Kommissär ersucht, den Wachleuten den
Befehl zu erteilen, daß sie die Säbel einstecken, um die Aufregung der Masse
zu mildern. Dazu ließ er sich von Ordnern auf ihre Schultern heben und hielt
von dort eine Ansprache. Wo er der Menge zuredete, trat Ruhe ein, aber
es strömten stets neue zu und darunter Unorganisierte und Betrunkene, so
daß es immer wieder zu neuen Konflikten kam.
Aus Kaubecks Restauration flog ein Stein auf die vorüberreitende
Wache. A d 1 e r eilte mit einem Ordner den Gasthausgarten entlang und
forderte zum ruhigen Fortgehen auf, allerdings mit wenig Erfolg, obwohl
sich viele entfernten. In Grandauers Gasthaus erreichte Adler, daß die or-
ganisierten Arbeiter fortzogen, ehe die Wache kam und das Lokal mit Gewalt
Bei der Polizeiattacke am Praterstern 341
räumte. So war Adler fortwährend daran, einerseits die Polizisten, anderseits
die Arbeiter zu beruhigen und er war an diesem Tage sehr unglücklich,
daß die Maifeier, deren ruhiger und würdiger Verlauf ihm eine Ehrensache
der Arbeiter war, gestört wurde, daß Polizei und schließlich Militär eingriff,
Blut geflossen, Zerstörungen vorgefallen und zahlreiche Verhaftungen vor-
genommen worden waren.
Bei der Polizeiattacke am Praterstern.
Die Wellen des Kampfes um das allgemeine Wahlrecht schlugen im
September des Jahres 1895 sehr hoch, als eine Massenversammlung auf der
Feuerwerkswiese im Prater stattfand, um die neue Regierung Badeni zu
„begrüßen"', von dem berüchtigten galizischen Wahlmacher die Wahlreform
zu fordern. Dreißigtausend Arbeiter waren beisammen, Adler, Nemec,
Nötscher, Reumann hatten gesprochen, die Massen zogen ab. Schon auf dem
Wege zur Versammlung waren die Favoritener und Ottakringer Arbeiter von
der Polizei angegriffen worden, auf dem Praterstern kam es zu Reiterattacken,
als die Praterslraße abgesperrt worden war und die Massen seitwärts
abgedrängt wurden. Eine Anzahl Verletzungen und Verhaftungen ereignete
sich bei dem Tumult, der aus der Strategie der Polizeibeamten, besonders
des durch seine Brutalität berüchtigten Oberinspektors Anger, verursacht
wurde.
Als Adler in dem ärgsten Tumult zu diesem Herrn zu gelangen
suchte, der an der Spitze von etwa 80 Berittenen das Treffen leitete, ver-
wehrte ihm ein Polizeibeamter den Übertritt. Ein Stellwagen fuhr gerade durch,
Adler: So gut wie der Wagen muß ich auch passieren
können.
Inspektor: Das werden wir sehen. Jetzt werden Sie erst recht nicht
durchgelassen.
Dr. Adler: Ich bin i m D i e n s t wie Sie, ich muß durch !
Inspektor: Und Sie dürfen nicht durch!
Dr. Adler: Ich bitte um Ihren Namen.
Inspektor: Den sag' ich nicht... (zu einigen Wachleuten: Lassen
Sie den Herrn durch).
Dr. Adler: Xa, warum geht's denn jetzt?
Als Adler den Oberinspektor Anger aufgefunden hatte, forderte er ihn
auf, die Freigabe der Praterslraße zu veranlassen und Anger sagte zu, wenn
Adler für ruhiges Weiterziehen sorge.
Auf der Ringstraße kam es wieder zu Reiterangriffen. Am Schwarzen-
bergplatz sperrte Anger die Straße und den Zugang zum Hotel Imperial.
Als Adler dort passieren wollte, stellte sich ihm die Wache entgegen und
schrie: „Im Namen des Gesetzes über die Schwarzenbergbrücke!"
Adler: Ich wohne in ^Mariahilf, und übrigens können
Sie mir nicht vorschreiben, wo ich zu gehen habe.
Wa'^che: Hier dürfen Sie nicht passieren!
342 Beim Einbruch der Polizei ins Favoritener Arbeiterheim
Adler: Dann werde ich mich beim Oberinspektor
Anger erkundigen, welches Gesetz mir den Weg über die Eing-
straße verbietet.
Adler ging nun zu Anger, der nach einigem Parlamentieren das „ein-
zelne" Durchgehen durch den Pohzeikordon gestattete.
Beim Einbruch der Polizei ins Favoritener
Arbeiterheim.
Bei der Landtagsstichvvahl in Favoriten aus der fünften Kurie am
7. November 1902 war Adler mit 6223 gegen den Christlichsozialen
Prochazka (6262 Stimmen) unterlegen. Er hielt sofort im Arbeiterheim
in Favoriten eine Versammlung ab, um die über die christlichsozialen Wahl-
schwindeleien und die Niederlage furchtbar erregte Masse zu beruhigen. Die
Situation war um so gefährlicher, als sechshundert Wachleute
Favoriten besetzt hatten und dadurch die Gefahr von Zusammenstößen ver-
größert war,
Adler
beschwor die Genossen, sich nicht provozieren zu lassen: „Sie
haben Ihre Nächte, Ihren Verdienst, Ihre Arbeit geopfert.
Opfern Sie nicht auch noch Ihre geraden Glieder den Hun-
derten von berittenen und unberittenen Polizisten! Unsere
Schädel sind zwar stark, aber die Polizistensäbel sind noch
stärker. L u e g e r hat veranlaßt, daß sechshundert
Polizisten nach Favoriten dirigiert wurden, tun Sic es
mir zuliebe und gehen Sie ruhig und langsam nach Hause.
Singen wir das »Lied der x\rbeit« und gehen wir nach Hause."
Dies geschah. Hochrufe auf Adler, Pfuirufe auf Prochazka. Noch einmal
sprach
Adler:
„Entladen Sic hier Ihre Entrüstung! Eufen Sie
draußen nicht Pfui! Ich ergreife jetzt den Vorsitz und schließe
die Versammlung. Gehen wir ruhig nach Hause."
Diese von dem ungeheuren Verantwortlichkeitsgefühl Adlers zeugenden
Worte taten ihre Wirkung, die Arbeiter zogen langsam ab. Um auch auf
die vor dem Arbeiterheim stehenden Massen beruhigend zu wirken, trat
Adler an ein Gassenfenster im ersten Stock und forderte auch von dort
aus die Arbeiter auf, ruhig nach Hause zu ziehen. Langsam setzte sich der
Zug in Bewegung.
In der Eugengasse war es inzwischen zu einer Säbelattacke der Wach-
leute gekommen, und ohne daß bis heute ermittelt werden konnte, wie das
gekommen war, marschierten die Wachleute zum Arbeiterheim zurück und
Beim Einbruch der Polizei ins Favoritener Arbeiterheim 343
drangen in das Haus über die Freitreppe hinauf, zerschlvigen die
Fenster und hieben mit den Säbeln auf die weggehenden Arbeiter ein.
Fünfzehn Schwers-erletzte und eine große Anzahl Leichtverletzter blieben
auf der Strecke. Ärger als die Kosaken haben damals die zum Teil betrunkenen
Wachleute gehaust.
Adler
hat darüber selbst in der „Arbeiter-Zeitung" vom 8. November
1902 berichtet:
„Nachdem die Versammlung geschlossen war und sich
die Massen langsam entfernten, bildete sich vor dem Arbeiter-
heim einen Moment lang eine Stauung, so daß die Massen die
^anze Breite vom Kolumbusplatz bis ziemlich weit hinauf in die
Laxenburgerstraße erfüllten. Sie riefen: »Hoch Adler! Pfui
Prochazka!« Um sie zu beruhigen, öffneten wir im Mezzanin
ein Fenster und ich sprach einige Worte zu der Menge. Ich
forderte die Genossen im Namen der Partei auf, ruhig nach
Hause zu gehen, sich nicht provozieren zu lassen und jeden
Zusammenstoß zu vermeiden. Darauf entfernten sich die Leute
mit Hochrufen. In ein paar Minuten hatte die Masse, die sich
hier eben erst gestaut hatte, bis auf wenige Gruppen den Platz
verlassen. Um nun zu vermeiden, daß die Leute etwa erwarten,
es werde noch einmal eine Ansprache gehalten werden,
löschten wir die Lichter im Mezzanin aus und zogen uns
zurück.
Die Straße war so ruhig, daß wir die Sache für erledigt
hielten. Plötzlich gab es unten wieder eine Bewegung, Was
war geschehen? Ein Zug von etwa 200 Wachleuten machte
vom Kolumbusplatz her eine Schwenkung gegen das Arbeiter-
heim. Genosse P ö 1 z e r, der auf der Straße war, ging auf
den Revierinspektor zu und sagte ihm: „Ich bin Obmann des
Wahlkomitees und übernehme die volle Verantwortung für die
Ruhe! Ziehen Sie Ihre Leute zurück! Die Arbeiter sind schon
im Fortgehen begriffen!« Darauf zog der Inspektor seinen
Säbel und seinem Beispiel folgten die übrigen Polizisten.
Pölzer stand gerade vor einem Glaserladen und er wäre von
den Säbeln getroffen worden, wenn er nicht von den Leuten,
die sich in dem Laden befanden, durch das Fenster in den
Laden gezogen worden wäre.
Nun drangen die Polizisten gegen das Arbeiterheim vor,
drückten die nur angelehnte Tür ein und hieben mit den
344 Beim Einbruch der Polizei ins Favoriteher Arbeiterheim
Säbeln die Glasscheiben der inneren Spieltüren ein. Dann
stürmten sie über die breite Stiege des Festsaales hinauf, mit
den Säbeln auf alles, was sie gerade trafen, loshauend. Sie
drangen in den Saal ein, wo sich von der Masse von 3000 Per-
sonen, die sich dort früher befunden hatten, nur noch 500 bis
600 aufhielten, die natürlich von den Vorgängen draußen Jiicht
die geringste Ahnung hatten. Auf diese Leute wurde mit den
Säbeln losgedroschen.
Ebenso ohne Veranlassung, wie sie gekommen waren^
kehrten die Polizisten nun wieder um.
. In dem Mezzaninbüro, wo ich mich mit dem Wahlkomitee
befand, hörte man plötzlich den Euf: »Die Polizei ist ein-
gedrungen!« und schon kamen die Fliehenden durch den Ver-
bindungsgang, so daß es einige Minuten dauerte, bis ich in das
Treppenhaus gelangen konnte. Ich sah, wie die ersten Poli-
zisten bereits unten auf den Stufen waren, während die letzten
noch auf dem Stiegenabsatz waren. Alle die Säbel blank. Ein-
zelne zerrten Männer und Frauen herum und hieben wie wahn-
sinnig auf die Leute ein. So sah ich, wie zwei Wachleute
einen Mann beim Kragen hielten und wie sie mit dem Säbel
auf ihn losschlugen.
Ich stürzte nun die Treppe hinunter und rief einem
Polizisten zu: »Was macht ihr da?« Er drehte sich um und
holte mit dem Säbel aus. Da sah ich neben ihm einen Mann
in Polizeibeamtenuniform, einen kleinen, ziemlich schmäch-
tigen, ältlichen Mann. Ich stellte mich ihm kurz vor und fragte,
warum die Polizei eingedrungen sei. Er antwortete: »Ich weiß
es nicht, ich war ganz hinten!« Währenddessen entfernten sich
die Wachleute unter fürchterlichem Geheul über die Treppe
durch das große Tor.
Nachdem die noch in den Eäumen des Arbeiterheims
Anwesenden halbwegs beruhigt waren und das Haustor ge-
schlossen war, begab ich mich mit den Genossen D i e 1 1 and
Hummel auf das Polizeikommissariat. Es war nicht leicht,
hinzugelangen, denn der Polizeikordon machte es merk-
würdigerweise schwer, aus der Laxenburgerstraße in die
Seitengassen zu kommen, nachdem schon der Feldzugsplan
ebenso merkwürdigerweise dahinging, die aus der Versamm-
lung Kommenden in die Kichtung zum christlichsozialen Zen-
tralwahllokal zu drängen. Es gelang uns natürlich trotzdem.
Beim Einbruch der Polizei ins Favoritener Arbeiterheim 345
zum Kommissariat zu kommen. Durch die offene Hoftür
sahen wir neben einer Anzahl von Polizeipferden mindestens
acht leere und einige volle Bierfässer. In dem Stiegen-
haus des Kommissariats kampierten etwa zwanzig Sicherheits-
wachleute mit gefüllten Gläsern, von denen einer mich
im Vorbeigehen mit einer hämischen Begrüßung beehrte. Auf
dem Kommissariat befanden sich bereits der Zentralinspektor
der Sicherheitswache, Baron Gorup, ein Herr Englisch als
Vertreter des Polizeipräsidiums und selbstverständlich das
ganze Personal des Kommissariats.
Als ich meine Darstellung begann, legte Baron Gorup
freiwillig das Zeugnis ab, daß die Eäumung des Arbeiterheims
und der Abzug der Massen vor dem Hause in ruhiger Weise
erfolgt sei, und fügte hinzu, daß er darüber bereits dem Polizei-
präsidium mit größter Genugtuung telephonisch Bericht
erstattet habe. Es sei ihm absolut unbegreiflich, wie es plötz-
lich so weit gekommen sei. [Man dürfe eben den Tag nicht vor
dem Abend loben. Ich erzählte nun weiter, was ich gesehen.
Niemand konnte erklären, warum die Wache in das Ar-
beiterheim gekommen sei, und es entstand nun die Frage: Wer
ist der Beamte? Ich erklärte mich über Anfrage des Polizei-
rates bereit, den Herrn zu agnosziern, und wurde darauf er-
sucht, solange im Amte zu bleiben, bis er gefunden sei. Die
Zeit wurde damit ausgefüllt, daß mit mir und den beiden
anderen Genossen ein Protokoll aufgenommen wurde.
Während dieser Zeit konnten wir sehen, daß eine Peihe
von Verwundeten protokollarisch einvernommen wurde.
Trotz einstündigen Wartens wurde der Polizeibeamte,
dessen genaue Personsbeschreibung vorlag, angeblich nicht ge-
funden und die Konfrontierung unterblieb daher. Er wird
also erst vom Polizeipräsidium aufgefunden werden müssen.
Während dieser Stunde kam man beim Polizeikommissariat
zur Anschauung, der Einbruch in das Arbeiterheim sei deshalb
erfolgt, weil aus den Fenstern Biergläser auf die Wache
flogen. Ich stellte fest, daß es technisch völlig unmöglich ist.
Die Straßenfenster der Eestauration haben große Spiegel-
scheiben und lassen sich nicht öffnen. Zudem sind die Fenster-
nischen durch Vorhänge geschlossen. Im Mezzanin aber gab
es keine Biergläser und keine Menschen, die sie hätten werfen
können. Die dort befindlichen Büros waren sämtlich leer und
346 Beim Einbruch der Polizei ins Favoritener Arbeiterheim
versperrt, bis auf eines, wo ich mich mit den Mitgliedern des
Wahlkomitees befand; daß wir keine Bierkrügeln warfen,
wird man uns wohl glauben. Es wurde nun behauptet, daß die
Biergläser zum offenen Tor hinausflogen; das ist ebenso un-
denkbar, denn die Toreinfahrt war voll von den abziehenden
Leuten. Daher konnte höchstens dann geworfen werden, als
die Scheiben der Türen von der Wache zertrümmert worden
waren. Wahr ist allerdings, wie andere Augenzeugen berichten,
daß, als die Wachleute die Treppe hinaufstürmten,
die über den Hausfriedensbruch entsetzten und momentan
fassungslosen Menschen, denen der Angriff galt, ihn mit allem,
was sie eben zur Hand hatten, abzuwehren suchten, daß al.so
in diesem Moment der Wache Biergläser und sogar Sessel ent-
gegenflogen. Aber wir konstatieren noch einmal, daß das erst
geschah, nachdem die Wache den Einbruch begangen hatte.
Herr Polizeikommissär Englisch und Herr Baron Gorup
erklärten mir, daß die allerstrengste Untersuchung gepflogen
werden wird. Es wurde auch sofort ein Lokalaugenschein vor-
genommen. Der schuldtragende Beamte aber fand sich nicht
vor und die Herren waren auch nicht geneigt, ihn zu nennen."
Beschwerde beim Polizeipräsidium.
Am Tage nach der Attacke, zu deren Gedenken im
Eavoritener Arbeiterheim später eine Tafel angebracht wurde,
begaben sich Dr. Adler, Gemeinderat R e u m a n n und
P ö 1 z e r, der Obmann des Favoritener Wahlkomitees, zum
Polizeipräsidium. Außer dem Polizeipräsidenten Hofrat Habrda
nahmen auch die Herren Hofrat Friebeis und Eegierungsrat
Brzczowsky an der Unterredung teil. Die drei Genossen, die den
ganzen Vorgang des Einbruches ins Arbeiterheim als Augen-
zeugen beobachtet hatten — Pölzer auf der Straße, Reumann
im Vestibüle und Adler auf der Treppe — gaben eine genaue
Darstellung.
Die „Arbeiterzeitung" hat darüber berichtet:
Soviel stellte sich heraus: Es ist noch kein zureichender oder irgend-
ein glaubhafter Grund für das Eindringen der Polizei gefunden worden. Es
scheint, daß die Wachebeamten erklären, sie hätten kein Kommando zum
.Stürmen gegeben. Insbesondere der Beamte, der die Expedition in das
Arbeiterheim mitmachte — es ist das wahrscheinlich der Revierinspektor
Karl Liehr — und der Genesen Adler versicherte, daß er nicht wisse.
Die Arretierung- bei der Demonstration gegen Lueger 347
warum er im Hause sei, gab auch gestern an, daß er nicht der Komman-
dierende, sondern der Mitgeschleppte seiner Mannschaft gewesen sei.
Das Polizeipräsidium glaubt bereits die Namen der Wachleute, die
eingedrungen sind, zu kennen, und will eine umfassende Untersuchung
führen. Daß es sich einfach um einen unmotivierten Exzeß brutaler Gewalt-
tätigkeit handelt, will das Präsidium zunächst nicht gelten lassen. Man wird
ja sehen, was bei der Untersuchung durch die Polizei herauskommt.
•
Im Jänner 1903 hieß es, daß die Untersuchung eingestellt sei,
weil die Verwundeten nicht feststellen konnten, welche Wachleute auf sie
losgeschlagen hatten. Adler, P ö 1 z e r und R e u m a n n erhielten vom
Staatsanwalt Dr. K 1 e e b o r n die Versicherung, daß die Untersuchung fort-
geführt werde. Aber herausgekommen ist nichts, der Frevel ist u n g e-
sühnt geblieben.
Die Arretierung bei der Demonstration gegen
Lueger.
Die christlichsoziale Partei hatte sich (1899) unter Führung ihres
Bürgermeisters Dr. Lueger eine Wahheform für den Wiener Gemeinderal
zurechtgemacht, die ihre Herrschaft für alle Zeit sichern sollte. Während
Lueger zuerst der Öffentlichkeit vorgeschwindelt hatte, daß er das allgemeine,
gleiche Wahlrecht einführen wolle, hatte der „Volksbürgermeister" an die
bestehenden drei Wahlkörper, in denen nur die Besitzenden wählen sollten,
einen vierten allgemeinen Wahlkörper angehängt, mit ganzen 2 0 Man-
daten neben den 138 sicheren Mandaten der Privilegierten. Und da in der
Arbeiterkurie nur diejenigen wahlberechtigt sein sollten, die am Tage der
Wahlausschreibung bereits fünf Jahre in Wien gewohnt hatten, wäre
jedesmal ein Teil der Arbeiter um das Wahlrecht gekommen, der Sieg der
„seßhaften" Bürger wäre auch in dieser Kurie erleichtert gewesen. Im nieder-
österreichischen Landtag war das Gesetz rasch durchgepeitscht worden, um die
Arbeiter Wiens vor eine „vollendete Tatsache'' zu stellen. Aber das mißlang,
die Sozialdemokraten erhoben sich zum Protest. Darauf beschimpfte der
„Volksbürgermeister" und sein Strohmann Strobach in einer Versammlung die
Wiener Arbeiter als Wiener Diebsgesindel, nichtsnutzige Buben, Faulenzer,
Buben, Diebe. Die Antwort darauf war die Aufforderung an der Spitze der
«Arbeiter-Zeitung'" vom 6. Juli J899: „Rendezvous der ''nichts-
nutzigen Buben« heute Donnerstag auf der Ringstraße."
Zwischen Kärntnerring und Parkring versammelten sich zwischen 7 und
8 Uhr die Arbeiter Wiens zu einem Protestspaziergang. 15.000 Arbeiter
erschienen direkt aus den Fabriken und Werkstätten, und obwohl sie sich auf
Hochrufe auf das gleiche Wahlrecht und Pfuirufe auf Lueger beschränkten.
kam es zu Attacken der berittenen Wache, die mit der größten Brutalität
vorging. 47 Demonstranten wurden verhaftet, darunter Dr. Adler, Brei-
schneider und Reumann, die wegen Vergehens des Auflaufes ins
Polizeigefängnis gebracht wurden, um nächsten Tag dem Landosgericht ein-
348 Die Arretierung bei der Demonstration gegen Lueger
geliefert zu werden. Bretschneider als Hauptordner wurde verhaftet,
als er die erregten Arbeiter zur Heimkehr bewog, R e u m a n n, weil er sich
weigerte, fortzugehen, bevor die Berittenen den Weg freigelassen hätten.
Adler
sah an der Ecke des Opernringes und der ver-
längerten Kärntnerstraße, wie plötzlich Berittene und Wach-
leute zu Fuß die dichtgedrängte, lautlose Menge auf dem
Trottoir zusammenpreßten und mit physischer Gewalt gegen
die Elisabethbrücke drängten. Adler wendete sich an den
Bezirksleiter Polizeirat J e r a b e k, der dort das Kommando
hatte, und forderte ihn auf, diese ganz unmotivierte Gewalt-
taktik einzustellen.
Herr Jerabek meinte: „Rufen dürfen die Leute nicht."
Adler: Erstens wäre das kein Grund, Leute nieder-
zureiten, zweitens aber konstatier eich, daßhier
niemand ruft!
In diesem Augenblick fährt ein W ac h i n s p e k t o r dazwischen:
Gehen Sie, sonst verhafte ich Sie!
Adler: Tun Sie, was Sie wollen. Ich konstatiere noch-
mals, daß hier ganz ruhige Leute, die nicht
rufen, v o n d e n Berittenen z u s a m m e n g e r i 1 1 e n
werde n.
Herr Jerabek sah sich einigermaßen verlegen um, der Inspektor
L 0 s s i g aber erklärte Adler für verhaftet und eskortierte ihn
persönlich unter Bedeckung von einem Detektiv und zwei Wa;chleuten auf
die Wachstube und von dort gemeinsam mit den Genossen B r e t-
schneider und Reumann auf die Polizeidirektion. Dort wurden sie
aufmerksam gemacht, daß sie längere Zeit verbleiben müssen, weshalb ein
etwaiger Wunsch nach Beschaffung eines Abendessens sofort erfüllt werde.
Nachdem diese Besorgung erfüllt war und sich die Verhafteten gesättigt
hatten, erschien der Chefarzt der Polizei, Regierungsrat Dr. Merta, der ein
persönlicher Freund Dr. Adlers war. Er ließ sich zuerst in ein Gespräch mit
ihm ein, fragte schließlich um seinen Gesundheitszustand und um den der
Mitverhafteten, dann untersuchte er ihre Augen und entfernte sich nach einer
sehr freundschaftlichen Verabschiedung. Reumann bemerkte nach diesem
Besuch: Also Landesgericht! Adler lachte darüber und behauptete, daß
davon keine Hede sein könne, da doch nichts vorliege, um eine solche Ein-
lieferung zu rechtfertigen. Es kam anders. Gegen 11 Uhr nachts kamen in
den Amtsraum, der den Verhafteten zum Aufenthalt diente, eine Anzahl hoher
Polizeibeamter, welche mit einer komisch wirkenden Feierlichkeit ver-
kündeten, daß die Verhafteten dem Landesgericht eingeliefert und vorläufig
dem PoHzeigefangenhaus in der Theobaldgasse überstellt werden. Unmittelbar
Die letzte Verurteilung Adlers 349
nach dieser Eröffnung wurde dieser Transport mittels Fiaker durchgeführt.
Dem Verlangen, ebenso transportiert zu werden wie die anderen bei dieser
Demonstration Verhafteten, wurde keine Rechnung getragen.
In der Theobaldgasse angelangt, wurde zunächst von einem alten Wach-
mann ein sehr umfangreiches Protokoll aufgenommen, dann wurden Adler,
Brets^hneider nnd Reumann gemessen und Fingerabdrücke ge-
macht... Am nächsten Tag um 11 Uhr vormittags wurden sie dem Landes-
gericht überstellt. Die Bezahlung der Rechnung für Wagenauslagen wurde
von ihnen mit dem Hinweis darauf verweigert, daß sie so befördert werden
wollten wie jeder andere Verhaftete. Die Untersuchung gegen sie führte Landes-
gerichtsrat Wach; auf Verlangen der Staatsanwaltschaft wurde über alle
die ordentliche Untersuchungshaft verhängt.
Nachmittags stellte der Untersuchungsrichter Dr. Adler, R e u m a n n
und Bretschneider im Landesgericht die Anklage nach §§ 283 und 281
zu. Sie nahmen sie zur Kenntnis, erhoben keine Einwendung dagegen und
stellten auch keine Anträge auf Einvernehmung von Zeugen. Damit
entfiel jeder Grund, sie weiter in Haft zu behalten, und Adler und
R e u m a n n wurden um 5 Uhr abends enthaftet. Dagegen mußte
Bretschneider weiter in Haft bleiben, da bei ihm „Wieder-
holungsgefahr" bestehen sollte. Diese Annahme schöpfte der Staatsanwalt aus
dem Umstand, daß Bretschneider erst vor einigen Tagen wegen Auf-
laufs zu sechs Wochen strengen Arrests verurteilt worden war.
Die letzte Verurteilung Adlers.
Am 21. Juli 1899 fand vor dem Landesgericht die Verhandlung gegen
Adler statt. Vorsitzender war Landesgerichtsrat v. Neubauer, öffent-
licher Ankläger Dr. P o 1 1 a k, Verteidiger Dr. Ingwer.
Die Anklage ging dahin, daß Dr. Adler während der Demonstration am
6. Juli der an die Menge ergehenden Aufforderung, den Platz zu räumen,
nicht Folge geleistet und sich in einen Wortstreit mit den
amtshandelnden Organen eingelassen habe. Dr. Adler soll sich nach dem
Wortlaut der Begründung unter der Menge befunden haben, an die die
Aufforderung erging. Anstatt wegzugehen, sei er hervorgetreten, auf den
Polizeirat Jerabek zugegangen, um ihm Vorwürfe wegen des Einschreitens
der Wache zu machen. Dabei habe sich eine größere Menschenmasse um
ihn geschart.
Dr. Adler:
Ich habe der Demonstration von Anfang an beigewohnt,
Anfangs ging es sehr ruhig her, und trotz des dichten Ge-
dränges vollzog sich alles in größter Ordnung. Plötzlich tauchte
Reiterei auf, und gleich darauf sprengte Herr Tobias Anger,
gefolgt von seinen Leuten, mitten in die Menge hinein. Nach
einer Weile schwenkte er auf die andere Seite und ritt dann
zurück, um dasselbe Manöver von vorn zu beginnen. Die Fuß-
350 Die letzte Verurteilung Adlers
geher mußten so rasch als möglich davonlaufen, denn das war
die einzige Möglichkeit, den Pferdehufen auszuweichen. So-
lange dazu Platz war, konnte ein schweres Unglück noch ver-
mieden werden.
Ich bin nun bei solchen Anlässen weder ein einfacher Zu-
schauer noch ein verantwortungloeer Teilnehmer. Vermöge der
Funktion, die ich in der Partei bekleide, habe ich bei solchen
Aktionen ein bestimmtes Amt zu versehen und eine schwere
Verantwortung zu tragen. Unsere Aufgabe ist es, dahin zu
wirken, daß solche Veranstaltungen möglichst wenig Opfer
fordern und daß die Menge vor ungerechtfertigten Be-
helligungen von außen geschützt sei. Ich begab mich nun in
einem gewissen Moment m Begleitung einer zweiten Person
zur Elieabethbrücke, um zu sehen, ob es richtig sei, daß die
Polizei deren Absperrung verfügt habe. Als ich zurückkam^
fand ich an der Ecke des Opernringes und der verlängerten
Kärntnerstraße folgende bedrohliche Situation: Die Menge
staute sich auf dem Gehweg und war fest einge-
schlossen von berittenen Polizisten. Über <len
Häuptern der Fußgeher sah man die Pferdeköpfe, und die
Reiter lenkten ihre Pferde auf das Trottoir. Sie
suchten nicht die Masse vom Trottoir wegzudrängen, sondern
d r ä n g t e n s i e an die H ä u s e r m a u e r, als ob sie die
Menge erdrücken wollten. Das war die Lage. Ich sah nun den
mir wohlbekannten Polizeirat J e r a b e k, trat auf ihn zu und
sagte ihm: „Aber was geschieht denn da, Herr Rat? Sehen Sie
denn nicht, daß Ihre Leute ganz ohne Grund da in die Masse
hineinreiten?" Darauf antwortete Herr Jerabek: „Aber ich
bitte Sie, was soll ich tun? Die Leute schreien und brüllen. Es^
muß doch einmal Ruhe werden!" Ich konstatierte nun, daß in
diesem Moment vollkommene Ruhe war. „Bitt' Sie, Herr Dok-
tor," sagte nun Herr Jerabek, „gehen Sie doch hin und machen
Sie Ordnung bei Ihren Leuten." Der Gerichtshof kann aus
dieser Äußerung ersehen, daß die leitenden Polizeiorgane ge-
wöhnt sind, mich bei solchen Konflikten zur Herstellung der
Ordnung in Anspruch zu nehmen. Ich sagte nun: „Solange die
Rösser da sind, bin ich ohnmächtig. Ziehen Sie erst Ihre Rösser
zurück." Während ich dieses Gespräch führte, kam ein Herr
in Uniform auf mich zu und hieß mich weggehen. Herrn
Jerabeks Aufmerksamkeit war in diesem Moment nicht mir
Die letzte Verurteilung Adlers 351
allein zugewendet. Der Herr in Uniform sagte, während ich
weitersprach: „Gehen Sie fort, oder ich werde Sie verhaften."
Darauf sagte ich: „Tun Sie, was Sie wollen, aber ich muß hier
sprechen, weil das Vorgehen der berittenen Polizieten unzu-
lässig ist." Daraufhin erfolgte die Verhaftung.
Verteidiger: Waren noch mehrere Personen am Platze?
Adler: Es war dort keine Ansammlung. Zwischen mir
und der Menge war freier Raum, dann die berittenen Poli-
zisten, die die Menge einschlössen.
Vorsitzender: Sie hätten ja bei der Verhaftung sofort den
Polizeirat anrufen können.
Es wurde nun Polizeirat Jerabek als Zeuge vernommen. Er
hatte die Aktion der Polizei geleitet und erklärt, daß er erst, als die Demon-
stranten zu schreien anfingen, einschreiten ließ. Der gesetzlichen Aufforde-
rung sei wiederholt nicht Folge geleistet worden. Der Zeuge erzählt : Doktor
Adler kam aus der Menge, gegen die die gesetzliche Aufforderung ergangen
war, auf mich zu und sagte: „Aber lassen Sie doch nicht in solcher Weise
in die Menge hineinreiten." Ich erwnderte: „Es wäre besser, wenn Sie al>
Parteiführer beruhigend wirken würden. Übrigens kann ich mich in keine
Debatte einlassen, und durch die Pferde geschieht ohnedies niemand
etwas." Darauf sagte Dr. Adler: „Es geschieht genug; bedenken Sie, daß da&
lauter Familienväter sind. Wir werden dieses Vorgehen in der 5 Arbeiter-
Zeitung« schon annageln."
Vorsitzender: Sie sagten, daß der Angeklagte aus der Menge
heraustrat?
Z e u g e : .Ja.
Verteidiger: Die war doch auf dem Trottoir von Polizistea
zusammengedrängt worden, er konnte doch nicht den Kordon der berittenen
Polizisten durchbrechen.
Zeuge: Er kam nicht vom Trottoir, sondern aus der Reitallee.
Adler: Sie .sagten doch, daß ich mich unter der !Menge
befand, gegen die die Polizei einschritt. War ich au der Spitze
von Leuten?
Zeuge: Nein, doch allein standen Sie nicht.
Adler: Ich sprach mit Ihnen, nachdem die Auf-
forderung an die Menge ergangen war?
Zeuge: Ja.
Adler: Haben Sie meine Verhaftung ver-
anlaßt?
Zeuge: Nein.
Adler: Haben Sie sie vorausgesehen ?
Zeuge (ausweichend): Die Verhaftung war Sache des Inspektors.
:}52 Die letzte Verurteilung Adlers
Adler: Wenn ich nach der gesetzlichen Aufforderung
als ein Mitglied der Gruppe, an die sie ergangen war, mich
mit Ihnen einließ, warum haben Sie mich denn
nichtverhaftenlassen?
Zeuge: Das war nicht meine Aufgabe ; ich hatte meine Aufmerk-
samkeit auch anderswohin zu richten . . .
Vorsitzender: Es war auch wenig Zeit.
Adler: Zeit hatte Herr Jerabek während des Ge-
spräches genug, um klar zu werden, wie er sich zu mir zu
stellen habe.
Der Zeuge gibt nun zu, daß er bei solchen Anlässen mit Dr. Adler
schon öfter Rücksprache hielt.
Der Revierinspektor Franz L o s s i g hat die Verhaftung vorgenommen.
Er gibt an, daß er den Wortwechsel zwischen Dr. Adler und Polizeirat
Jerabek beobachtet habe, dann hinzutrat und die Aufforderung zum Weg-
gehen an Dr. Adler richtete, doch dieser habe den Wortwechsel fortgesetzt.
Darauf habe er ihn arretiert. Daß ein Wortstreit vorliege, habe er aus den-
Gebärden und Gesten erkannt. Er habe sich aber zu gleicher Zeit auch um
andere Dinge kümmern und Umschau halten müssen. Ob zwischen der ersten
und zweiten Aufforderung der Wortwechsel fortgesetzt wurde, weiß der Zeuge
nicht genau.
Dr. Adler: Habe ich mich mit Ihnen in einen Wort-
wechsel eingelassen ?
Zeuge: Nein.
Polizeikommissär Dr. Ludwig M a r k e 1 hörte, wie Dr. Adler zum
Rat Jerabek sagte: „Ich protestiere, daß hier Gewalt angewendet wird, wo
■doch niemand gerufen hat." Darauf habe Zeuge gesagt: „Es ist vor einer
kurzen Weile gerufen worden, ich selbst habe einschreiten lassen." Dr. Adler
kam nicht aus der Menge, sondern von rückwärts; es waren aber doch auch
an diesem Ort einige Leute in Bewegung.
Zeuge Friedrich Hernfeld, Redakteur der „österreichischen Volks-
zeitung", war anwesend, als Dr. Adler mit Polizeirat Jerabek sprach und
als er arretiert wurde. Dr. Adler sagte etwa: „Ich ^nife Sie als Zeugen
an, daß die Wache ungebührlich vorgeht."
Vorsitzender: War außer Dr. Adler noch jemand am Platz?
Zeuge: Nein. Das Trottoir war von uns durch einen Polizisten-
kordon getrennt, und an dem Ort, wo Dr. Adlers Verhaftung erfolgte, war
vollsteRuhe.
Verteidiger: Waren Sie überrascht, als die Verhaftung erfolgte?
Zeuge: Ja, ich mußte mir denken, daß Dr. Adler schon zu einem
früheren Zeitpunkt etwas unternommen haben müsse, was zur
Arretierung Anlaß gab.
Zeuge Jerabek: Aber ich bitte, es waren ganz entschieden außer
Dr. Adler noch Leute da; es war eine Ansammlung.
Die letzte Verurteilung Adlers 353
Inspektor Lossig: Es war eine Gruppe von acht bis zehn
Leuten da, die mit der größeren Yolksmasse zusammenhing.
Adler: War dieser Zusammenhang nicht durchbrochen
durch den Kordon der Polizieten?
Zeuge: Nicht ganz; einzelne Bestandteile der Masse konnten schon
auf die Reitallee und zum Tramwaywartehäuschen gelangen.
Adler: Aus dieser zernierten Masse konnte kein
Mann und keine Maus heraus.
Vorsitzender: Wenn das noch öfter wiederholt wird, gewinnt der
Eindruck nicht an Stärke.
Zeuge Dr. Vinzenz v. B e r g e r sah, als er zufällig in die Menge geriet,
wie ein Wachmann einen armen Teufel in brutaler Weise stieß. Er sei
darüber sehr entrüstet gewesen. Später beobachtete er eine Attacke der
Berittenen, die in der rücksichtslosesten Weise einritten, so
daß Zeuge in große Aufregung geraten sei.
Verteidiger: Sahen Sie auch, wie die Menge an die Wand
gedrückt wurde?
Zeuge: Nein, aber ich habe später mit Geschäftsleuten gesprochen,
die sich über diesen Vorgang lebhaft beschwerten.
Universitätsdozent Dr. E. S. passierte die Ringstraße und verweilte
dort ein wenig, um den imposanten Anblick der Menschenmenge, der ihn
fesselte, einige Zeit zu genießen. Er sah, wie die Polizisten ungeniert
auf das Trottoir ritten. Zeuge habe, um Halt zu gewinnen, sich an
eine Gaslaterne klammern müssen. Ein Wachmann habe ihm zugerufen:
„Gehen Sie auseinander!" (Heiterkeit.) Die Wache sei sogar auf die
Gäste, die vor dem Caf6 Kremser saßen, eingeritten.
Damit war das Beweisverfahren geschlossen, und Staatsanwalt Doktor
P o 1 1 a k stellte nun den Strafantrag.
Dr. Ingwer wies nach, daß die Anklage nicht nach §§ 283 und 28i
erhoben werden dürfe, weil § 284 nur ein besonderer Fall des Auflaufsdelikts
nach § 283 sei. Zur Tatsache führte der Verteidiger folgendes aus: Die
Zeugen Jerabek und Lossig haben subjektiv die Wahrheit ausgesagt, sie
konnten aber nicht richtig sehen, weil sie sich vielfach auch um andere Dinge
kümmern mußten. Der einzige, der hier klar sah, weil er die Szene als
Berichterstatter verfolgte, ist der Herr Hernfeld. Das ist der maßgebende
Zeuge, um so mehr, als er gewiß auch ohne jede Voreingenommenheit das
Vorgehen der Polizei betrachtete, mit der er als Redakteur eines gemäßigten
Blattes ja in sehr gutem Einvernehmen steht. Wenn das Vorgehen Adlers
strafbar gewesen wäre, hätte es Herr Jerabek sofort als das erkennen und,
wie es einem pflichtgetreuen Beamten ziemt, auf der Stelle die Verhaftung
veranlassen müssen.
Der Verteidiger appelliert nun an den Gerichtshpf, den Fall nicht nach
der Schablone zu behandeln, sondern zu individualisieren. Das Auftreten
des Angeklagten sei nämlich nach ganz besonderen Gesichtspunkten zu
beurteilen. Dr. Adler sei ein Mann, der Verantwortung für
Tausende von Menschen trägt. Als er sah, daß das Leben
von Arbeitern bedroht sei, war es seine Pflicht, an den Polizeirat
354 Adler über das Davonlaufen
heranzutreten. „Wenn der Gerichtshof glaubt, daß solche Pflicht-
erfüllung strafbar ist, dann bitte ich, den Angeklagten schuldig
zu sprechen." (Beifall im Auditorium.)
Der Gerichtshof erkannte nach längerer Beratung, daß Dr. Adler
schuldig sei des Vergehens des Auflaufs, strafbar nach dem höheren Straf-
satz, und verurteilte ihn zu einem Monat strengen Arrests.
Der Gerichtshof hatte angenommen, daß während des Wortwechsels eine
größere Menschenansammlung gewesen war und daß der Angeklagte da
mehreren Aufforderungen, wegzugehen, nicht Folge leistete. Als erschwerend
wurde angenommen, daß der Angeklagte „seinen Einfluß nicht gebrauchte,
um die Menge zu beruhigen, sondern eher aufreizend wirkte".
Der Verurteilte meldete Berufung an und erhob die Nichtig-
keitsbeschwerde. („Arbeiter-Zeitunig" Nr. 199 vom 22. Juli 1899.)
Auf Anraten seines Verteidigers verzichtete aber dann Adler auf die
Berufung, weil sie doch bei der Gesinnung der Richter aussichtslos schien,
vielmehr die Gefahr bestand, daß dann der Staatsanwalt ebenfalls wegen
zu geringen Strafausmaßes berufen hätte, also noch eine Erhöhung der
Strafe möglich gewesen wäre. Adler trat dann im November die Haft an.
Adler über das Davonlaufen.
Auch R e u m a n n und Bretschn eider sowie Täubler, Ellen-
bogen und andere Sozialdemokraten wurden damals verurteilt. Reumann
zu zehn Tagen Arrest, Täubler zu einem Monat, Ellenbogen zu vier Wochen,
Bretschneider zu sechs Wochen strengen Arrests, und zwar weil er „durch
Handbewegungen die Menge angewiesen habe, sich fester zusammen-
zuschließen". Auf Verlangen des Staatsanwalts wurde er „wegen Flucht-
verdacht und Gefahr der Wiederholung" in Haft behalten; erst nächsten
Tag wurde er auf Beschluß des Oberlandesgerichts auf freien Fuß gesetzt.
Am Abend dieses Tages (13. Juli) fanden wieder zwei Protestversamm-
lungen gegen den Luegerschen Wahlrechtsraub statt. Beim Dreher sprach
Adler. Die Versammlung war überfüllt.
Adler,
bei seinem Erscheinen stürmisch akklamiert, teilte zunächst
mit, daß Genosse Bretschneider nachmittags enthaftet
wurde. Das Oberlandesgericht hat sich nicht der Ansicht des
Staatsanwalts angeschlossen, daß die Sozialdemokraten
flu cht verdächtig sind. Der junge strebsame Staats-
anwalt weiß nicht, daß wir Sozialdemokraten von Wien
nicht fort können, so gesund es für uns wäre, endlich
einmal reine Luft zu atmen, weil wir die Pflicht haben, hier
Ordnung zu machen, weil wir die Pflicht haben, hier zu
bleiben, um an Stelle dieser sumpfigen Luft
Adler über das Davonlaufen 355
reine Luft zu erschaffen. Das würde den Herren
passen, daß wir davonlaufen und diese unsere
Pflicht vernachlässigen wollten. (Beifall.) Wenn
wir die Luegerei hier in Wien bekämpfen, so kämpfen wir
zugleich um bessere Zustände in ganz Österreich, denn Wien
ist der Kopf dieses Staates, und wie immer, stinkt der Fisch
vom Kopfe. (Heiterkeit.) Man nennt uns schlechte Patrioten,
schlechte Wiener. Aber wir lieben die Stätte, wo wir wohnen,
wo unsere Kinder leben sollen, und weil wir sie lieben,
wollen wir nicht, daß dieses Wien verpfafft
und daß die nächste Generation kretinisiert
wird. Die Schmach der Luegerei empfinden die Herren
Bürgerlichen ebenso wie wir, das sei zu ihrer Ehre gesagt, und
sie möchten wie wir, daß dieses Joch abgeschüttelt werde, und
sie wünschen sehr, daß wir alles tun, damit das geschehe. Und
die Bürgerlichen nehmen sehr lebhaften Anteil an unserem
Kampfe, und dieser kann ihnen nicht lebhaft genug sein. Wir
sind uns der Pflicht bewußt, dem Gefühl der Erbitterung, die
die Wiener Arbeiterschaft erfüllt, nur so weit Rechnung zu
tragen, als es der Zweck erheischt, genau alles zu erwägen und
nicht mehr Opfer zu bringen, als unbedingt notwendig sind.
Wir sind gewiß nicht sentimental, und auf ein paar Verhaf-
tungen, auf ein paar Monate Zuchthaus kommt es uns schließ-
lich auch nicht an, aber wir stehen auf dem Standpunkt, daß
auch da nur so viel getan werden darf, als notwendig ist, und
wir fühlen uns verantwortlich dafür. Andere Leute, die nicht
verantwortlich sind, die können darüber anders denken. Dem
Kiebitz ist bekanntlich kein Spiel zu hoch.
Adler sprach dann über die Wahlreform Luegers und
fuhr fort:
An demselben Tage, wo ich durch die Polizei eskortiert
wurde, ist auch Bürgermeister Dr. Lueger poli
zeilich eskortiert worden. Allerdings war ich der
Gefangene der Polizei. Aber nicht um alles in der
Welt möchte ich so von der Polizei eskortiert
werden wie der Lueger. Lieber wollen wir alle im
Gefängnis verrecken, lieber den ganzen Grimm des Straf-
gesetzes auf uns niederprasseln lassen, lieber wollen wir die
Säbel der Polizei auf unseren Köpfen haben, als von Polizei
beschützt zu sein wie der Lueger. (Tosender Beifall.)
356 Adler über das Davonlaulen
Die Zeit ist eine ernste, und der Kampf, den wir zu
führen haben, wird nicht dazu geführt, damit wir uns auf eine
Katzbalgerei mit Herrn Anger einlassen. Wir haben
Wichtigeres zu tun, als uns vor Gericht darüber herum-
zuraufen, ob wir mit der Hand nach rechts oder nach links ge-
deutet haben, und Geschichten von einem Stein, die noch dazu
nicht wahr sind, zu widerlegen. Ich habe schon von Demon-
strationen und Steinwürfen viel gehört, aber daß irgendwo
ein einziger Stein geworfen wurde, das habe ich noch
nie gehört. Ich habe auch im Ausland schon große Demon-
strationen gesehen, und ich muß gestehen, daß die Wiener die
gutmütigste und geduldigste Bevölkerung sind, die es gibt.
Und wenn es uns bis jetzt gelungen ist, die Ordnung bei solchem
Demonstrationen aufrechtzuerhalten, dann mögen die Leute
acht geben, die uns heute nicht als Demonstranten, sondern
als Ordner einsperren, was geschieht, wenn wir das
O r d n e r a m t aufgeben werden. Der Kampf, der jetzt
geführt wird, ist ein schwerer Kampf; die Arbeiter müssen da
tapfer, mutig, entschlossen sein, sie müssen aber weit mehr als
das, sie müssen a u s d a u e r n d sein. Wir versprechen, mag
geschehen was will, und vor allem mag es dauern, solange es
will, die Wiener Arbeiterschaft wird nicht weichen, bis d'.ese
Wahlreform beseitigt ist.
Ein Sturm des Beifalls durchbrauste den Saal, als Adler s<5ine Rede
beendet hatte. Die Rufe: Hoch Adler! Nieder mit dem Wahlrechtsraubl Nieder
mit Lueger! nahmen kein Ende, und unter allgemeiner Bewegung schloß der
Vorsitzende M a h r die Versammlung.
VI.
Adler im Arrest.
Adler im Arrest 359
In dem rasenden Wirbel von Arbeit, der das Leben Victor Adlers dar-
stellte, wären die Wochen, die er von Zeit zu Zeit in den Bezirksgerichten
und im Landesgericht in Haft war, geradezu willkommene Erholungspausen
gewesen, wenn nicht wieder die Sorge um das, was inzwischen draußen
geschehen könnte oder sollte, an den Nerven geri&sen hätte. Aber eine
Wohltat brachte die Haft jedesmal: den Zwang, abends frühzeitig und brav
schlafen zu gehen, etwas, was draußeri unmöglich war, weil es keinen Abend
ohne Versammlung oder Sitzung gab. Die günstige Wirkung dieser un-
gestörten Nachtruhe durch einige W^ochen od'er Monate überwog die gesund-
heitlichen Schäden der Haft; denn Adler wurde bleicher, aber ruhiger und
doch gesünder. Ein zweiter wichtiger Vorteil der Haft war, daß Adler wieder
Zeit bekam, Bücher zu lesen. Im ersten Heft dieses Werkes*) ist ein Brief
von Engels abgedruckt, aus dem zu ersehen ist, daß sich Adler an ihn
wendete, damit er ihm angebe, wie er im Arrest am besten den zweiten
und dritten Band des „Kapital" studieren („ochsen") sollte, sowie ein Brief
Adlers aus dem Bezirksarrest Rudolfsheim an Engels (15. Juni 1895), der
so anfängt:
„In wenigen Tagen ist meine Haft abgesessen. Dank
meinem Entschluß, einmal auch mir zu leben und alles »Zeii-
liche« für ein paar Wochen abzuschütteln, ist mir die Zeit zu
einer so genußreichen und ersprießlichen ge-
worden wie keine andere seit vielen, vielen Jahren. Ich habe
»Kapital« II und III ganz durchgearbeitet und fast ganz den
T. Band und »Zur Kritik« repetiert."
Schlafen, studieren, lesen — das waren die Genüsse, auf die sich
Adler freute, so oft er eingesperrt werden sollte . . .
Es wäre aber ganz irrig zu meinen, daß er selbst im Arrest die Arbeit
ganz hätte lassen können. Frau Emma und wir alle schmuggelten ihm
Briefe und Zeitungen hinein, offiziell durfte er nur die amtliche „Wiener
Abendpost" und die alte „Presse" halten, von denen man voraussetzte, daß
er durch sie nicht verdorben werden würde. Oft gelang es ihm, mir kleine
^Glossen" für die „Arbeiter-Zeitung" zu diktieren, die ich mit dem Rücken
gegen den im Zimmer anwesenden Gefangenaufseher gewendet, stenographisch
aufnahm, indem Adler scheinbar gesprächsweise mir sagte, was er ins Blatt
bringen wollte. Die Handhabung der Hausordnung schwankte echt öster-
reichisch. Manchmal wehte plötzlich ein schärferer Wind, dann wieder
*) Victor Adler und Friedrich Engels. Wien 1922. Wiener Volks-
buchhandlung.
360 Zarte polizeiliche Fürsorge bei Strafantritt und Strafbeendigung
drückte der Aufseher beide Augen zu und wurde schwerhörig. In dem oben
erwähnten Briefe Adlers an Engels heißt es auch am Schlüsse:
„Wann ich den Brief hinausschwärzen kann,
weiß ich nicht. loh kriege zwar Besuche, aber neuesten«
sieht man mir auf die Finger. Die Trottel bilden sich nämlich
fest ein, ich arrangiere von hier aus alle Demonstrationen, und
ich bin stolz darauf, daß alles ohne mich so am Schnürl geht! !"
Außer der politischen Arbeit und wissenschaftlichen Lektüre legte
Adler immer großen Wert darauf, eine ständige regelmäßige Beschäftigung
für ein paar Tagesstunden im Grefängnis zu haben. Als Zweckmäßigstes er-
S'Chienen ihm hiefür Übersetzungsarbeiten. Während .seiner viermonatigen
Halft im Jahre 1890 übersetzte er Stepniaks Werk „Der russische Bauer"
aus dem Englischen und verschiedene Kapitel aus Werken des englischen
Sozialisten E. Belfort-Bax. Das erstere Buch erschien in seiner Über-
setzung 1893 bei I. H. W. Dietz, Stuttgart, einige der Artikel von B e 1 f o r t-
Bax in der „Neuen Zeit", Band Xl/2, 1893.
Zarte polizeiliche Fürsorge bei Strafantritt
und Strafbeendigung.
Den Antritt der ersten Arreststrafe, die der Holzinger-Senat über
Adler verhängt hatte, kündigte die „Arbeiter-Zeitung" Nr. 7 vom 14. Februar
1890 so an: „Dr. Victor Adler tritt am 17. Februar seine viermonatige Arrest-
strafe an und ers^ucht die Genossen, von diesem Datum an die Briefe redaktio-
nellen Inhaltes direkt an die Redaktion der „Arbeiter-Zeitung", VI, Gumpen-
dorferstraße 79, private Mitteilungen aber an Frau Emma Adler, VI, Wind-
mühlgasse 30 A, zu adressieren."
Der Strafantritt verzögerte sich aber dann um einige Tage. Am
21. Februar 1890 schrieb Adler in der „Arbeiter-Zeitung":
Überflüssige Vorsicht. Am letzten Montag war das Wiener Landes-
gericht wieder einmal im Belagerungszustand. Ganze Scharen von Detektivs
umlaigerten es und die Sicherheitswaehe der Umgebung war verstärkt. Man
erwartete nämlich irgendeine große Demonstration oder sonst eine „Störung
der öffentlichen Ruhe und Ordnung", wenn Genosse Dr. Adler seine Strafe
antritt. Nun mußte derselbe seine Vergnügungsreise dringender Privatange-
legenheiten halber um einige Tage aufschieben und so kam nicht einmal der
Sträfling selber, und die Herren Spürbeamten machten ihre Spaziergänge
ganz umsonst. Da Genosse Adler in den nächsten Ta^en wirklich seine
Strafe antritt, möchten wir im Interesse des Staatsschatzes beantragen,
solch überflüssige Ausgaben zu vermeiden. Sozialdemokraten machen nicht,
wie etwa Antis-emiten, jedesmal eine Demonstration, wenn einer von ihnen
eingesperrt wird. Es ist ihnen das ja nichts so Rares und sie würden zuviel
Arbeitslohn verlieren, wenn sie jedem Sozialdemokraten das Ehrengeleite ins
Gefängnis geben sollten. Also die „öffentliche Ruhe und Ordnung" nebst
ihren Hütern kann ganz ruhig sein; wir feiern derlei Feste ganz still und
ruhig. Wir haben nämlich Wichtigeres zu tun.
Erinnerungen 361
Über die Unastände, unter denen sich die Entlassung aus der Halt voll-
zog, schrieb Adler in Nr. 26 der „Arbeiter-Zeitung" vom 27. Juni 1890
diese lustige Glosse:
Die zarte Aufmerksamkeit, welche die Wiener Polizeidirektion unseren
Genossen gegenüber entfaltet, ist wahrhaft rührend. Als am letzten Samstag,
6 Uhr früh, Genosse Dr. Adle r das graue Haus des Landesgerichtes verließ,
wurde ihm die unverhoffte Freude zuteil, sofort den langentbehrten Anblick
von vier jener regen&chirmbewaffneten Gentlemen, die gewöhnlich so eifrig
die Wolkenbildung studieren, genießen zu können. Zwei dieser Herren, welche
darum „Defektives", Entdecker", heißen, weil ein geübtes Auge sie sofort
entdeckt, folgten dem entlassenen Sträfling, welcher in der staatsigefährlichen
Gesellschaft seiner Frau und seiner Kinder seines Weges ging, noch eine
ganze Weile, wahrscheinlich um sich davon zu überzeugen, ob die Kur
gelungen und die „Bessening" erfolgt sei. Ein Sicherheitswachinspektor an
der Spitze der ».bewaffneten Macht" erschien erst eine Stunde später und
konnte daher seinem Drange nach Höflichkeit nicht mehr genügen. Dafür
erhielt das Haus, avo Genosse Adler wohnt, eine Ehrenwache von drei Zivil-
wachleuten, welche konstatieren konnten, daß Sozialdemokraten sich ebenso-
wenig aufregen, wenn einer entlassen, als wenn einer eingesperrt wird. Der
ungewöhnliche Aufwand an Polizei machte etwas Aufsehen in den Straßen.
Sonst wurde die öffentliche Ruhe und Ordnung nicht gestört.
In der gleichen Nummer ersichien bereits ein mit v. a. gezeichneter
Artikel „Ka 1 1 e s B 1 u tl", worin er vor dem nach dem 1. Mai ausgebrochenen
Streikfieber warnte und an das Verantwortlichkeitsgefühl
aller, die in der Arbeiterbewegung standen, appellierte.
Außerdem brachte diese Nummer der ..Arbeiter-Zeilung" folgende
Danksagnng Adlers:
Allen Freunden und Genossen, die mir gelegentlich
meiner Enthaftung Grüße zukommen ließen, herzlichsten
Dank! Indem ich meinen Platz im Dienste unserer Sache
wieder antrete, hoffe ich mich der Ehre, welche die Verfol-
gung von Seiten unserer Gegner bedeutet, aucli fernerliin
würdig erweisen zu dürfen.
Hoch die internationale Sozialdemokratie!
Mit Brudergruß mid ITand.schlag
Dr. V. Adler
Erinnerungen.
Einzelne kleine Geschichten aus jener Zeit sind mir im Gedächtnis
geblieben. Adler selbst erzählte mit großem Vergnügen folgendes Erlebnis
während des Absitzens der strengen Arreststrafe im Landesgericht, die er
vom Holzinger-Ausnahmesenat wegen der Artikel der „Gleichheil" erhalten
hatte:
362 Erinnerungen
Adler ging täglich in der dazu bestimmten Stunde im Gefängnishof
auf und ab, unter Obhut der Aufseher. Im Hofe spielte ein Knabe, ein Auf-
seherskind, mit einem Reifen. Da schnellte ihm der Reifen aus der Hand
und flog auf einen Baum. Der Bub kam bittend zu dem im Kreis wandelnden
Adler: „Gehns, bitt' schön, tans mein' Reif oba, Herr Raub er!" Der
Räuber tat so und die Erinnerung machte ihm stets große Freude.
* *
Als Adler das erstemal „einrückte", behandelte ihn der Gefangen-
aufseher sehr schroff und war sehr mürrisch. Adler klopfte ihm auf die
Schulter und sagte zu ihm: „Geht's Ihnen denn gar so gut, daß Sie so
schreien?" worauf der Aufseher zusammenfuhr und sagte: :,San Se am End'
der Dr. Adler?"
* *
Einmal gegen Abend hörte Adler in der Zelle von weilem aut einem
Klavier Beethoven spielen. Er rückte den Tisch zum Fenster, stellte den
Sessel -darauf und kam so zum Fenster, um autf diese Weise besser zu hören.
Dooh schon nach wenigen Minuten wurde der Kunstgenuß durch die Stimme
des Wachtpostens im Hof unterbrochen, der hinaufschrie: „Raubersbua,
elendiger, wirst net glei obagehn!"
* *
Am 16. .luni 1890 fand eine Sonnenfinsternis statt. Den Häftlingen,
die im Hof spazieren gingen, wurde von einem Aufseher ein geschwärztes
Glias geliehen, um das Naturereignis verfolgen zu können, und Victor Adler
wurde erlaubt, ihnen im Ho»f des Land'esgerichtes einen Vortrag über das
Wesen der Sonnenfinsternis zu halten. Für viele der Häftlinge
bedeutete es" die erste theoretische Bekanntschaft mit diesem astronomischen
Ereignis.
* *
Als Adler einmal, ich glaube, es war die zweite Haft, beim Bezirks-
gericht eine Strafe abzusitzen hatte, kam ihm. die Zelle nicht genug reinlich
vor. Er machte sich eine Papiertüte, sammelte den Staub aus den Zimmer-
ecken darin und verlangte, daß diese Substanz auf Tuberkelbazillen
untersucht werde. Natürlich begnügte er sich damit, daß die Zelle
gründlich aufgewaschen wurde. Ob er dabei dem Aufseher einen Vortrag
über die Lungentuberkulose hielt, weiß ich nicht. Ausgeschlossen ist es nicht.
* *
Ein anderer Vorfall, der mit der Göfängnishygiene im Zusammenhang
stand, ereignete sich bei seiner ersten Strafe, wo der „Fazi" (der Sträfling,
der für Hausarbeiten verwendet wird) ihm stets die Blechschale mit der
Suppe in der Form brachte, daß er sie zwischen die Finger nahm und sich
so die Finger in der Suppe befanden. Adler versuchte ihm zart
nahezulegen, daß das nicht sehr appetitlich sei, indem er sagte: „Aber
Sie werden sich doch die Hände verbrennen, wenn Sie sie in die Suppe
tauchen." Worauf der gute Mann antwortete: -,0 na, dös bin i schon so
g' wohnt, dös mocht mir gor nix."
Erinnerungen 363
Adler hatte bei allen seinen Strafen die Rechte eines politischen
Gefangenen, konnte daher eigene Kleider tragen und sich selbst verköstigen.
Im Landesgericht hatte er gemäß dem Reglement das Recht, aus der Landes-
gerichtsküche um 1 fl. 5 kr. täglich auszuspeisen.
Unter besonderen Scherereien der Haft hatte er nur nach seinem
Antritt der Strafe von vier Monaten im Landesgericht zu leiden. Es wurde
ihm das Rauchen verboten und der plötzliche Nikotinentzug bewirkte einen
so starken Zusammenbruch, daß er nach einigen Tagen wieder die Erlaubnis
erhielt, eine Zigarre täglich zu rauchen, was ihm als politischen Gefangenen
zustand.
* *
*
Während Adler im Arrest des Bezirksgerichtes Neubau vier Wochen
absaß, ging wieder einmal ein „schärferer Wind", und der Cefängnisarzt ver-
weigerte ihm die eigene Verköstigung trotz eines chronischen Darmkatarrhs,
an dem Adler litt. Adler kam ziemlich herunter, und erst durch Intervention
von Freunden gelang es, ihm die Eigenverköstigung, die bei jedem politischen
Häftling selbstverständlich sein sollte, wieder zu ermöglichen.
* *
*
Adler hatte immer Einzelhaft, nur im Jahre 189-i im Bezirksgericht
Sechshaus war er einen Monat mit anderen Genossen zusammen. Zuerst mit
Ellenbogen, der dann von Schuhmeier abgelöst wurde. Bei dieser
gemeinsamen Haft, die im Sommer stattfand, richtete er eine Art Wasser-
kur ein, indem sich die beiden Häftlinge täglich, mit einem Wass^^rschaif
un<l einer Gießkanne abgössen. Adler hat aber später immer wieder gesagt,
daß die Einzelhaft doch weitaus vorzuziehen sei, da man durch die Gesell-
schaft zu sehr vom Arbeiten abgelenkt werde.
Während Adler als reueloser Sünder in ein^m Bezirksgericht eine
Arreststrafe absaß, wurde eine Verhandlung bei einem anderen Bezirksgericht
gegen ihn ausgeschrieben. Er wurde daher von einem Gefangenaufseher
aus dem Arrest in das Bezirksgericht des anderen Bezirkes geleitet. Der
Mensch war kein Unmensch und führte Adler nicht nur zum Bezirksgericht,
sondern auch in s«ine Wohnung zu seiner Familie, die über den wirklich
unerwarteten Besuch ebenso erfreut als überrascht war. Adler und! sein
Wächter aßen etwas, und dann ging es wieder zurück in den Kotter. Der
Aufseher riskierte damals wirklich etwas. Sollte er noch am Leben sein,
möge er wissen, daß er eine gute Tat vollbracht hat.
Im Wiener Landesgericht saß Adler die letzte Arreststrafe (1900)
wegen des «.Auflaufs" ab. Gleichzeitig mit ihm büßten dort R e u m a n n,
Bretschneider, Täubler die Auflehnung gegen den Luegerischen
Wahlrechtsschwindel. Beim täglichen Spaziergang im Hofe trafen sie sich und
sprachen unter Aufsicht miteinander über Parteidinge. Als Lektüre hatte
Adler, wie Täubler dem Herausgeber erzählt, damals im Gefängnis den
eben erschienenen ersten Band von Bismarcks Erinnerungen und
Die Geschichte der englischen Trade Unions von Beatrice
364 Mit Victor Adler im Arrest
und Sidney Webb; die anderen Verbrechier lasen Goethes Werther
v.nd Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre sowie Heine.
Während dieser Haft erledigte Adler aber auch die Einrichtung einer
eigenen Druckerei für die „Arbeiter-Zeitung" und die Übersiedlung des
Blattes in die Mariahiliferstraße. Ohne den „Auflauf hätte dieser längst
notwendige Schritt vielleicht noch längere Zeit gebraucht.
Eines Abends arbeitete Adler gerade in seiner Stube in der Redaktiun
der „Arbeiter-Zeitung" in der Schwarzspanierstraße. Da erschien ein Herr,
der den angesammelten Redakteuren — es war sehr eng dort in der Schwarz-
.spanierstraße, es gab noch keine „eigenen Tobzellen" — erklärte, er müsse
Herrn Dr. Adler unbedingt sprechen. Obwohl Adler sehr beschäftigt war.
ließ er sich nicht abweisen. Also kam Adler etwas verärgert heraus. Herz-
lich begrüßte ihn der ifremde Herr: „Ja, kennen S' mi denn net mehr, Herr
Doktor? Freili, wir hab'n uns ja schon so lang' net g'seh'n. Wann sehen
wir uns denn wieder?... I bin ja der G e f a n g e n a u f s e h e r".
und er nannte seinen Namen. Nun war Adler orientiert. Er begrüßte den
Herrn ebenso herzlich und gab ihm eine Zigarre. Dann nahm der freundliche
Mann Abschied und sprach die in diesem Munde etwas ominösen Worte:
■ \ u f b a 1 d i g e s Wiedersehen, Herr Doktor! "
Mit Victor Adler im Arrest.
Von Wilhelm Ellenbogen.
Die Wahlrechtskämpfe hatten Mitte der neunziger Jahre eine ganze
Reihe von schweren innerpolitischen Wirkungen gezeitigt: Taaffes Wahlrecht
und Sturz, das Ministerium Windischgrätz-Plener und dessen Sturz und
das Ministerium Badeni mit der fünften Kurie, ein Vorschlag, der von der
Arbeiterschaft zunächst aufs heftigste bekämpft wurde. Der polnische Graf.
1-isher Statthalter von Galizien, und als solcher nicht gewohnt, politische
Angriffe der Arbeiterschaft zu dulden, glaubte mit Staatsanwalt und Polizei
der rebellischen Arbeiterbewegung Herr zu werden. Ein Hagel von Anklagen
prasselte auf die Wortführer der Sozialdemokratie nieder, eine Legion von
Ehrenbeleidigungsprozessen beschäftigte die Gerichte, massenhafte Ver-
urteilungen folgten und die Staatsanwälte unterließen es nicht, in jeder
folgenden Gerichtsverhandlung durch den Hinweis auf das mehrfach be-
makelte Vorleben des Angeklagten eine Steigerung der Strafdauer herbei-
zuführen.
So waren denn alle Bezirksgerichte mit uns hartgesottenen Gewohn-
heitsverbrechern überfüllt, so sehr, daß sich die angenehme Gelegenheit
ergab, unsere Einzelhaften in kameradschaftlicher Gesellschaft abzusitzen.
Vier Wochen zum Beispiel, die ich unter anderem in Rudolfsheim zu erledigen
hatte, wurden mir dadurch erleichtert, daß ich in den ersten vierzehn Tagen
Jakob R e u m a n n, den jetzigen Bürgermeister von Wien, in der zweiten
flälfte Victor Adler zu Gefährten bekam.
Mit Victor Adler im Arrest 365
Adler erschien mit einer Fuhre von Büchern und einem Berg von
Bettzeug, das er wegen des schon damals vorhandenen Emphysems und
der dadurch nötig gewordenen aufrechten Lagerung beim Schlafen benötigte.
Sein Erstes war,, als er den schönen sonnigen Saal (es war im Juni 1894)
betrat, sich vorsichtig nach der Zeiteinteilung zu erkundigen. Nach kurzer
Besprechung wurde alles geordnet. Zwischen 8 und 9 Uhr Frühstück, hierauf
arbeitet jeder 'für sich, ohne den anderen zu stören, 12 bis 1 Uhr mittag,
hierauf Nachmittagsschläfchen. 2 bis 3 Uhr Spaziergang im Hof, hierauf Be-
suche, dann Arbeit. 8 bis 9 Uhr Nachtmahl, Lektüre, Schlaf.
Da ich mit der Ausarbeitung eines Vortrages für den Hygienischen
Kongreß in Budapest beschäftigt war („Soziale Hygiene der kleingewerblichen
Arbeiter Wiens") und zu diesem Zwecke eine Menge statistischer Arbeiten
vornehmen mußte, war mir diese Regelung höchst willkommen. Adler
benützte diese Arbeitszeit, um eine ganze Menge Lektüre, hauptsächlich eng-
lische Parteiliteratur, nachzuholen und wiederholt das „Kapital" von Marx,
das sein ständiger Begleiter in den Arrest war, zu studieren. Lautlos saßen
wir bei unserer Beschäftigung, kaum daß da und dort ein kommentierendes
Wort die Hirnarbeit verriet.
Um so lebhafter verging dann der Nachmittag. Schon der Spaziergang
war äußerst anregend, da wir dabei alle Seiten der Parteitätigkeit besprachen
und Adlers trockener Humor, der mit zwei witzigen Worten jede Person
und jede Situation plastisch zu charakterisieren verstand, die Diskussion
wunderbar belebte. Daß dabei auch ich Gegenstand seiner bissigen Be-
merkungen war, versteht sich von selbst, was aber selbstverständlich die
fröhliche Gemütlichkeit des Beisammenseins nicht im geringsten störte.
:, Gemütlichkeit!"* Er hat dieses Wort und diesen Begriff gehaßt, und doch
hat auch sein Wesen den Boden, aus dem wir alle entwachsen waren, nicht
verleugnen können, diese geheimnisvollen Säfte und Aromen, die die öster-
reichische Nuancierung unseres Charakters verursachen. Auch in seinem
kältesten Spott, in seinem härtesten Urteil lag soviel- Wärme, soviel 'freund-
liche Güte, soviel Nachsicht" und Verzeihung, kurz, alles im Endeffekt be-
trachtet, soviel „Schlamperei"!
So erzählte er, wie er unlängst in einer neuen Anklagesache zum
Untersuchungsrichter zitiert worden sei und ihm auf die Frage, was er auf
die Beschuldigung zu erwidern habe, gemütlich geantwortet habe: „Das ist
echt österreichisch!" „Was denn?" „Daß Sie mich anklagen, statt die
Polizei wegen ihrer Dummheit zur Verantwortung zu ziehen." Der Unter-
suchungsrichter war natürlich sprachlos.
Bei einem dieser Spaziergänge gesellte sich auch der Polizeibezirksleiter
von Rudolfsheim nach höflicher Anfrage, ob es gestattet sei, zu uns. Ihm
unterstand auch, wenn ich nicht irre, die Leitung unseres Arrestes. Im
politischen Gespräch mit uns auf und ab wandelnd, versicherte er, daß es
schon zu dumm sei, diese ewigen Anklagen der Herren. Er habe seine
Relationen über unsere Versammlungsreden so harmlos als möglich abgefaßt,
um keinen Anhaltspunkt für ein Verfahren zu geben. Das nächstemal werde
er überhaupt nichts mehr im Detail berichten. Adler tröstete ihn: „Machen
S' Ihnen nix draus. Das Anklagen ist Ihr Geschäft, das Sitzen das'unsrige.
Und 's geht uns beiden ganz gut dabei."
366 Mit Victor Adler im Arrest
Gegen halb 4 Uhr wurden wir gewöhnlich ins Haus gerufen, es sei
Besuch da. Das waren die vergnüglichsten Augenblicke. Und ich muß sagen,
ich wenigstens habe in meinem Leben nie soviel Besuche empfangen wie
im Arrest, insbesondere aber damals, als Adler dabei war. Die Behandlung
der politischen Häftlinge war auch in dieser Beziehung äußerst wohlwollend,
ja geradezu elegant. Unsere Freiheit war so groß, daß ich einmal sogar ruhig
auf die Gasse gehen konnte, mir beim Greißler ein Paar Frankfurter zu kaufen.
Alles, was in der Partei eine Funktion hatte, kam Adler besuchen.
Es gab keine Parterfrage, die man nicht vorher mit ihm besprechen zu müssen
glaubte, bei der man nicht seinen Rat einzuholen sich verpflichtet fühlte.
Man sah hier förmlich, wie in seiner Hand alle Fäden zustammenliefen und
wie weit über die Partei hinaus sein Einfluß tief in die Verstrickungen der
österreichischen Politik hineinreichte. Der häu-figste Gast, außer Adlers Frau,
war Engelbert Ferner storfer. Mit ihm wurde die Haltung im Reichsrat,
wo er damals mit Kronawetter der einzige Vertreter der Arbeiterinteressen
war, genau durchgesprochen. Gerade damals bereitete er eine seiner
glänzendsten Reden — wenn ich nicht irre, die über die Schießereien in
Falkenau und Ostrau*) — vor. Ihre Lektüre hat mich im Arrest furchtbar
erschüttert. Am lustigsten war es, wenn Otto Witteis höfer kam. Dieser
Mann war ein Finanzfachmann ersten Ranges, von blendendem, umfassen-
dem nationalökonomischen Wissen, durch und durch ein Genosse, wenn er
es auch offiziell nicht kundgab. Er hatte wegen irgendeiner Äußerung oder
Handlung, die ihm seine soziale und politische Überzeugung eingab, seine
Bankidirektorstelle aufgeben müssen. Adler brachte ihm eine außerordent-
liche Wertschätzung entgegen, und seine wirtschaftlichen Artikel bildeten
immer Glanzleistungen der „Arbeiter-Zeitung". Dabei ein fröhlicher Mensch
mit lebhaftem, sonnigem Temperament. Wenn er kam, scholl unaufhörliches
Lachen durchs Gefängnis. Er selbst schrie und trompetete so laut, daß die
ganze Umgebung in Aufruhr geriet. „Was sagen Sie, wie der Kerl brüllen
kann?" sagte Adler, nachdem Wittelshöfer eine Stunde lang mit gellendem
Geschrei zwischen der Erörterung der Bevorzugung der adeligen Bierbrauer
und den Aussichten des allgemeinen Wahlrechtes jüdische Anekdoten
erzählt hatte.
Abends setzten wir die Erörterungen über Parteifragen fort, bis
wir uns ins Bett legten. Adler, schon damals etwas schwerer atmend, saß
aufrecht in seinem Bett, bei seiner Petroleumlampe lesend. Mich, der zeit-
lebens an gutem Schlaf keinen Mangel gelitten hatte, umfingen Morpheus'
Arme früher.
Ich habe immer Adlers unmeßbaren, unmerklichen, aber intensiven
Einfluß auf die Denkweise und die menschliche und Parteimoral seiner Um-
gebung empfunden. Am stärksten in jenen unvergeßlichen vierzehn Tagen,
da er unmittelbar und stündlich auf mich selbst wirkte.
*) Pernerstorfer sprach am 10. Mai 1894 im Plenum und am 1. Juni
1894 im Gewerbeausschuß über diese Frage. Vergleiche „Die Ereig-
nisse von Falkenau und Ostrau vor dem Parlament". Wien, Volksbuch-
handlung, 1894.
Als der Wahlreformentwurf veröffentlicht wurde 367
Als der Wahlreform entwurf veröffentlicht
wurde ...
Von Friedrich A u s t e r 1 i t z.
Es war im Juni 1895. Der Doktor saß wieder einmal im Arrest —
damals so ziemlich jedes Jahr — und wir warteten auf den Wahlreform-
entwurf des Ministeriums Windischgrätz-Plener. Das war das Ministerium
der Koalition, die sich zur Verhinderung der Taaffeschen Wahlreform
gebildet hatte; es umfaßte die gesamte Plenerei, die sich damals die Ver-
einigte Deutsche Linke nannte, den sogenannten Zentrumsklub, den Graf
Hohenwart befehligte, und die deutschen Klerikalen, die Südslawen und
was es sonst noch an Klerikalen im Lande gab, in sich schloß, und den
Polenklub unter Führung Jaworskis. Dieses glorreiche Ministerium hatte
zwar, nachdem es den Taaffeschen Entwurf begraben, die Wahlreform als
seine „erste und vornehmste Aufgabe" bezeichnet; hatte es aber von No-
vember 1893 bis Juni 1895 nicht einmal zu einem Gesetzentwurf gebracht,
vielmehr die ganze Sache in ein Subkomitee des Wahlreformausschusses
abgeschoben. (Wie viel „Glossen" sind damals in der „Arbeiter-Zeitung"
erschienen, die anhoben : Das Subkomitee . . .) In diesem Subkomitee führte
der tirolerische Herr v. Dipauli das Wort, und die Hauptfrage war,
nachdem das gleiche Wahlrecht vorweg außer Frage stand, wie man die
Kurie der neuen Wähler einrichten solle, nämlich es verhindern könnte,
daß die braven „kleinen Leute" von den schlimmen Arbeitern nicht infi-
ziert werden. Nämlich da in den alten, leinen Kurien nur die Steuerzahler
Aufnahme fanden, die an direkter Steuer fünf Gulden zahlten, so wären
in die Kurie „der bisherigen Nichtwähler" natürlich auch Steuerzahler
gekommen, eben alle unter fünf Gulden, und mit ihnen hätten in derselben
Kurie die Arbeiter gewählt, und da wären die Steuerzahler von den Arbeitern
verdorben, wären allmählich gar selber Sozialdemokraten geworden. Das
nannte man damals — warum, weiß ich noch heute nicht — den Papinischen
Topf, und also war es das Bestreben aller Zünftler und Gewerberetter, die
steuerzahlenden Schäflein von der Berührung mit den Arbeitern fern-
zuhalten. Das sollte nun durch eine Teilung dieser neuen Kurie „der
bisherigen Nichtwähler" in zwei Unterkurien erfolgen : und daran wurde
in jenem Subkomitee anderthalb Jahre gebraut.
Inzwischen war die Stimmung unter den Arbeitern immer erregter
geworden. Kein Wunder, denn die Wahlreform, die ihnen ihr Recht geben
sollte, wurde offensichtlich verschleppt! Nun wurde angekündigt, der Ent-
wurf des Subkomitees werde am Samstag vor Pfingsten herauskommen.
Aber da man sich nicht im unklaren darüber war, was aus der Wahlreform,
die man da zurechtgekleistert hatte, herauskommen werde, verschob man
die Veröffentlichung auf Pfingstmontag; das schien ein weniger gefährlicher
Tag. Also wurde der Entwurf erst am Pfingstmontag ausgegeben. Der Ent-
wurf war wohl das Blödeste, was jemals an Wahlreformen ausgesonnen
wurde. Es sollten 47 neue Abgeordnete „kreiert" werden, von denen 34 in
eine Kurie der Steuerzahler (unter fünf Gulden) und 13 „in einer für die
krankenversicherten Arbeiter zu bildenden besonderen Wählerklasse"
368 Als der Wahlreformentwurf veröftentlicht wurde
gewählt werden sollten. Also unter 400 Mandaten 13 für die Arbeiter!
Danach hätten die Arbeiter von Oberösterreich, Salzburg, Tirol und Vorarl-
berg zusammen einen Abgeordneten (natürlich indirekt) zu wählen
gehabtl Ein Abgeordneter wäre von den Arbeitern in Dalmatien, Krain,
Istrien, Görz und Gradiska und Triest zu wählen gewesen! Kurz, es war
ein Entwurf, bei dem man nicht gewußt hat, ob die Dummheit größer ist
als die Schufterei.
Aber damals war uns gar nicht geheuer zumute, und ich weiß noch
heute, wie niedergedrückt ich war, als ich den Entwurf Pfingstsonntag bekam
und nun, ganz allein, die Stellung der Partei darlegen sollte. Damals war ich
noch ein junger Dachs; die „Arbeiter-Zeitung" als Tagblatt erst fünf Monate
alt. Die Ablehnung geschah mit den Worten: „Der Entwurf des Subkomitees
kann und wird nie Gesetz werden, er wird aber ewig zeugen für den ver-
blendeten und brutalen Geist der herrschenden Klassen dieses Landes." Man
mußte damals seine Worte wägen und wählen: denn der Zensor ging um.
Schon in derselben Woche begann das Konfiszieren: sowohl das Subkomitee
wie sein Entwurf wurden vom Staatsanwalt zu Einrichtungen erhoben, gegen
die nicht „aufgereizt" werden durfte. Wir waren also beklommenen Herzens,
denn jener Regierung und jener Koalitionsmehrheit war schon auch zuzu-
muten, daß sie den Schandentwurf beschließen könnten. Und Adler
w a r n i c h t d a; er saß im Verlies!
Aber am Dienstag machte ich mich vormittags auf und ging zu Adler
in den Arrest. Er saß, wie ich mich genau zu erinnern glaube, im Arrest
des damaligen Sechshauser Bezirksgerichtes; offenbar saß er da den Monat ab,
den er bekommen hatte, weil er, in einer Rede beim Schwender, dem Reichs-
gericht attestiert hatte, daß es ausnahmsweise ein vernünftiges Erkenntnis
zuwege bringen kann. Adler erging es in den Arresten nicht gerade schlecht:
wenn es gesichert war, daß er mittags ein Stückchen unterspickten Rind-
fleisches bekommt, wenn er was zu rauchen hatte, so war ihm im Arrest
eigentlich immer wohl: da hatte er die Ruhe, die ihm in der Freiheit nie
ward. Da hatte er seine Bücher und konnte ungestört denken. So hat er
das ganze „Kapital" erst recht und gründlich im Arrest durchgenommen;
für das eindringendste Studium hatte ihm Friedrich Engels selbst genau
die Methode angegeben. Und die Aufseher und Befehlshaber in den
(lefängnissen fanden es gleich, wer Adler sei; selbst ein roher Mensch
fühlte einen Hauch der Größe, die von Adler ausging, und fühlte die Pflicht
zur Ehrfurcht . . .
Also ging ich zu Adler, um mir einen Rat zu holen, und wahr-
scheinlich auch, um mich trösten zu lassen. Weiß Gott, Adler war nicht
betrübt und nicht erschrocken. Je dümmer der Entwurf, desto besser, meinte
er, denn so stelle er sich selbst außer Diskussion. Ich hatte ihm den ganzen
Pack mitgebracht: die zwei Gesetzentwürfe und den Bericht, den der polnische
Doktor Rutowski verfaßt hatte. Adler versprach, sich an die Sache sofort zu
machen, und am Abend war ein Prachtartikel Adlers in
meinen Händen! Er hatte den ganzen „Pack" sofort durchgearbeitet
und den Artikel sofort geschrieben! Er steht in der „Arbeiter-Zeitung" vom
5. Juni 1895 und wäre weiß Gott noch heute lesenswert. Er rückt die
Betrachtung sofort ins richtige Geleise: „Der verbrecherische Schwachsinn
Mein erster Mai 369
der zehn Herren vom Subkomitee hat einen Entwurf zutage gefördert, der,
Mißgeburt und Totgeburt zugleich, geschichtlich keine andere Bedeutung hat,
als ein Wahrzeichen des geistigen und sittlichen Verfalles der herrschenden
Parteien zu sein, deren politischer Ausdruck die Koalition ist. An Stelle des
politischen Verstandes, der Einsicht und der Klugheit ist die kurzsichtige
Dummpfiffigkeit des politisichen Beutelschneiders getreten, und ©tatt des
politischen Mutes sehen wir die freche Schamlosigkeit agieren." Und er
beschließt sie mit ebensolcher durchschlagender Bildkraft : „Der Kampf
gegen das bestehende Wahlunrecht war bisher ein Kampf gegen ein histo-
risch Gewordenes, geworden zu einer Zeit, als die Arbeitericlasse Österreichs
in den Kinderschuhen war. Die Wahlreform des Subkomitees ist eine
brennende Ohrfeige in das Gesicht des Proletariats, das zum Manne
geworden, ist eine Schmach, für die nicht die Vergangenheit, für die die
Gegenwart wird Rede stehen und büßen müssen. Die Arbeiterklasse
bekämpfen, das bringt das Klasseninteresse ihrer Ausbeuter mit sich, sie
provozieren, ist der Ausfluß verbrecherischen Schwachsinns — der Herren
vom Subkomitee."
Der Artikel hatte die Spottgeburt umgebracht, und nun ging auch Adlers
Strafe zu Ende. Adler verließ den Arrest und kam in die Schwarzspanier-
straße, wo wir damals unterirdisch hausten. Und der Schlußkampf ent-
brannte. Am 19. Juni hatte das Ministerium Windischgrätz-Plener aus-
gelitten, und die Episode, die die Wahlreform nicht aufgehalten, wohl aber
das deutschliberale Bürgertum derart kompromittiert hatte, daß es sich
davon nie mehr erholte, war zu Ende.
Adlers erste Maifeier im Arrest.
Die Justizbehörde teilte die Zustellung des Holzinger-Urteils und der
Aufforderung zum Strafantritt so ein, daß Adler am 1. Mai 1890 gerade im
Arrest saß. Was für Aufregung das für ihn bedeutete, wo doch selbst
draußen alles dem ersten Maifeste mit fiebernder Spannung entgegensah,
mit welchen Sorgen er den Tag erwartete und verlebte, stets gewärtig, die
Nachricht von einem Blutbad zu erhalten, kann nur ermessen, wer Adlers
Gefühl der Verantwortlichkeit für alles, was die Partei machte, kennt. In
der Maifestschrift des Jahres 1909 hat er diesen Tag selbst beschrieben:
Mein erster Mai,
Die erste Maifeier 1890 habe icli nicht im Prater mit-
erlebt, sondern im Wiener Landesgericht, Zelle 32, im ersten
Stock. Es war ein einsamer Tag-, einsamer als jeder andere in
den vier Monaten, die ich damals abzusitzen hatte, aber ein
Tag der tiefsten Aufregung, die ich auch heute noch in mir
zittern fühle, wenn ich an ihn denke.
370 Mein erster Mai
Natürlich war es mir recht unlieb, gerade am 1. Mai
nicht draußen sein zu können, und es war recht sonderbar, daß
es so kam. Denn Herrn Holzingers Ausnahmegericht hatte
Bretschneider und mich schon am 27. Juni wegen anarchisti-
scher Bestrebungen abgeurteilt. Der Oberste Gerichtshof ließ
sich allerdings bis zum 7. Dezember Zeit, um das Urteil zu be-
stätigen, aber noch immer hatte ich die Hoffnung, rechtzeitig
die Strafe antreten zu können, um in der zweiten Hälfte April
wieder auf freien Fuß zu kommen. Ich urgierte die Zustellung
des Urteils, aber je mehr ich drängte, desto länger dauerte es,
und erst am 24, Jänner kam ich in den Besitz des Schrift-
stückes. Wir waren damals überzeugt, daß die Trägheit des
Amtsschimmels im Dienste höherer politischer Absichten stehe.
Aber ich konnte nun nichts anderes tun, als ein paar Wochen
Strafaufschub zu fordern, um wenigstens an den Vorbereitun-
gen zur Maifeier meinen Anteil nehmen zu können, und Ende
Februar mußte ich ins Loch.
Es war meine erste Haft und sie fiel mir nach den ersten
Tagen der Anpassung wahrhaftig nicht schwer. Ich hatte mir,
was ich übrigens auch später bei allen Rückfällen prinzipiell
tat, die Einzelhaft als Begünstigung erbeten und durchgesetzt,
und da ich Bücher hatte und als „Politischer" überdies täglich
für einen Gulden und fünf Kreuzer ausspeisen durfte, war
meine Lage nicht schlecht. Wie ich überhaupt diese kurzen
Arreststrafen niemals als Martyrium empfunden habe. Trotz
mancher physischer Unbequemlichkeit habe ich damals und
später im Arrest Stunden der Ruhe, der Sammlung, ja Er-
hebung erlebt, die ich zu meinen besten Erinnerungen zähle.
Aber je näher der 1. Mai heranrückte, desto unruhiger wurde
ich, bis sich die Erregung zu einer fast unerträglichen Span-
nung steigerte. Das kann nur der ganz verstellen, der miterlebt
hat, was für uns jene erste Maifeier war, was sie für das
Proletariat Österreichs bedeutete . . .
Seit dem Hainfelder Parteitag war die Organisation der
Partei rasch gewachsen, unsere Presse gewann an Verbreitung
und Einfluß, die Absurdität des Ausnahmezustandes und seiner
dummdreisten Praktizierung wurde täglich augenfälliger. Da
holte die Staatsweisheit zu einem entscheidenden Schlag aus.
Dem „Anarchistenprozeß", den sie uns anhängten, folgte die
Einstellung der „Gleichheit" auf dem Fuße. Aber vier Wochen
Mein erster Mai 371
später hatten wir für ein neues Blatt: die „Arbeiter-Zeitung",
gesorgt und standen als Delegierte der österreichischen Sozial-
demokratie im Saale der Eue Rochechouart in Paris beim ersten
Internationalen Sozialistenkongreß. Als wir unsere Hände er-
hoben, um für den Antrag des Genossen Lavigne zu stimmen,
für die Veranstaltung einer „großen, einheitlichen Manifesta-
tion der Arbeiter aller Länder", die am 1, Mai stattfinden und
der Forderung des Achtstundentages gewidmet sein sollte, da
sahen wir einander ins Auge — ich sehe noch Popp und Hybes,
neben denen ich stand — fragenden Blickes, was wir in
unserem armen Österreich mit diesem Beschluß würden
machen können ? Der Kongreßbeschluß besagte : „In jedem
Lande sollen die Arbeiter die Manifestation in der Weise ver-
anstalten, welche die Gesetze und Verhältnisse daselbst be-
dingten, beziehungsweise ermöglichen." Was war in Österreich
möglich?? Wir hatten keine Vertreter im Parlament, unsere
Presse stand unter der Guillotine der Konfiskation und der
ausnahmegesetzlichen Sistierung; unsere Vereine wurden
unter unsäglichen Schwierigkeiten ganz langsam und all-
mählich erst wieder aufgebaut, unsere Versammlungen waren
dem Belieben jedes Polizeiidioten preisgegeben; jede Art v^on
Manifestation, wie sie in gesitteten Ländern möglich und
üblich ist, konnte in Österreich durch den Ukas jedes Büro-
kraten vereitelt werden. Und doch waren gerade damals alle
Vorbedimgungen für eine gewaltige Manifestation gegeben,
für eine Manifestation nicht allein der Partei, sondern darüber
hinaus : des Proletariats. Es war eine Zeit des Er-
wachens, des Dranges. Der lange brachgelegene Boden nahm
hungrig die Saat auf, die von der Sozialdemokratie ausgestreut
wurde. Wir waren über aüe diese dummen und boshaften
Quälereien der Staatsgewalt, über alle diese unsäglichen Bor-
niertheiten der bürgerlichen Presse hinausgewachsen. Die Ar-
beiterschaft war im Begriff zu erwachen; es bedurfte nur des
Anrufes, des Appells, daß sie sich erhebe, sich als Ganzes, als
kämpfender Körper, als eine Einheit, als Klasse gegen andere
Klassen fühle und den lähmenden Traum seiner Ohnmacht
abstreife.
Dieser Weckruf juußte für uns in Österreich die Alai-
feier sein. Wir haben, wie so oft, aus der furchtbaren Not eine
fruchtbare Tugend gemacht, und weil wir nicht simpel mani-
372 Mein erster Mai
festieren konnten, gerade darum haben wir dem Tag- die Höhe
einer Weihe gegeben, die unerreichbar war für alle Verbote
und Schikanen. Am 29. November verkündete die „Arbeiter-
Zeitung" die Parole: „Der 1. Mai 1890 soll der internationale
Arbeiterfeiertag werden. An diesem Tage soll die Arbeit
überall ruhen, in Werkstatt und Fabrik, im Bergwerk wie in
der dumpfen Kammer des Hauswebers. Der Tag soll heilig
sein, und heilig wirklich wird er dadurch, daß er den höchsten
Interessen der Menschheit gewidmet ist. Die Menschheit hat
heute kein höheres Interesse als die proletarische Bewegung,
als insbesondere die Abkürzung der Arbeitszeit." Dann wurde
als Programm vorgeschlagen: vormittags Versammlungen,
nachmittags Erholen im Freien, und weiter hieß es: „Die Ge-
nossen sehen, unsere Vorschläge sind einfach, durchführbar
und gewiß sehr h armlos, kein S t r e i k I Donnerstag am
1. Mai ist Arbeiterfeiertag, aber Freitag am 2. Mai ist jeder
wieder in seiner Schwitzbude, früher gewiß als der Herr Chef
an diesem Tage, der müde ist von der »Erholung«. Also
ganz friedlich. Aber, warum sollen die Arbeiter nicht
ihren Feiertag haben?" — Fnd von der Stunde an, da dieser
Aufruf erschien, ging eine große, von Tag zu Tag wachsende
Bewegung durch das ganze Reich. Hunderte von Versamm-
lungen mit der Tagesordnung: „Achtstundentag und 1. Mai"
wurden einberufen und wirkten, wenn sie verboten wurden,
fast noch mehr, als wenn sie stattfinden konnten. Ein Flug-
blatt über den Achtstundentag fand massenhafte Verbreitung.
Täglich erhielten wir Xachrichten aus Orten, wo es sich nie
gerührt hatte, daß Vorbereitungen für die Maifeier im Gange
seien. Wahrhaft rührende Briefe von ganz naiven, von der Be-
wegung bisher unberührt gebliel%nen Arbeitern aus den ent-
ferntesten Winkeln des Reiches zeigten, ^\ie unser Weckruf
in 'die Weite gewirkt, wie er das rechte Wort zur rechten
Stunde gewesen . . .
Und mitten in dieser fieberhaften Agitationsarbeit mußte
ich ins Loch! Zwar war ich von der Welt nicht völlig ab-
geschnitten. Ich durfte außer der „Wiener Zeitung" die alte
„Presse" lesen, ein seither verschwundenes, sehr solides, hoch-
offiziöses Blatt, und bei gelegentlichen Besuchen meiner Frau
und meiner Freunde erfuhr ich manches, was in der Welt vor-
ging, erfu'hr, wie mit dem Wachsen der Maibewegung im bür-
Mein erster Mai 373
gerlichen Publikum, in der bürgerlichen Presse, ja offenbar
auch in den ,,maßgebendeii" Regierungskreisen die Furclit
aufkam, daß dieser 1. Mai ein€ Art von jüngstem Tage sein
werde, zumindest ein Tag der Schreckensherrschaft und
Plünderung. Daß in dieser wahnsinnigen Angst eine Gefahr
lag, war klar. Alle Zusammenstöße, alle Krawalle, alles Blut-
vergießen ist noch viel öfter durch die dumme Furcht der
Behörden als durch ihre Brutalität herbeigeführt worden. Daß
die Maifeier im Polizei^^inn „liannlos" sein werde, glaubte man
uus von Tag zu Tag weniger. Der Schrecken war dem Bürger-
tum in die Glieder gefahren und nahm im April ganz unglauli-
liche Formen an. Um ein Beispiel anzuführen: der ^Yiener
Wissenschaftliche Klub, eine Körijerschaft, in der so ziemlich
die obersten Schichten der Intelligenz vereinigt waren, be-
schloß, seine gewohnte Frühjahrsreise abzusagen, weil man
doch am 1. Mai nicht Weib und Kind im Stich lassen konnte.
Andere wieder entschlossen sich, vor dem gefürc'hteten Tage
mit ihren Familien aus Wien zu flüchten. Dabei hetzte die
bürgerliche Presse in allen Tonarten, und als es anfangs April
in einigen Ottakringer Branntweinschenken zufällig zu ein
paar Exzessen des Lumpeni)roletariats kam, woran die Ar-
beiterschaft, wie offiziell zugegeben wurde, ganz unbeteiligt
war, stieg die Angst zu einer grotesken Höhe. Man erörterte
in Regierungskreisen die Einberufung der Reservisten; jeden-
falls sollte das Militär konsigniert und alle Läden gesperrt
werden. Am Morgen des 1. Mai noch war in der „Neuen Freien
Presse" zu lesen:: „Die Soldaten in Bereitschaft, die Tore der
Häuser werden geschlossen, in den Häusern wird Proviant vor-
bereitet, wie vor einer Belagerung, die Geschäfte sind veröder,
die Kinder wagen sich nichttiftuf die Gasse, auf allen Gemütern
lastet der Druck einer schweren Sorge . . ."
x\ber so gefährlich diese blödsinnigen Angstexzesse
waren, es war nichts zu befürchten, wenn die Feier gelang. Die
Crlücklichen, die draußen waren und mitarbeiten konnten, die
zweifelten nicht einen Augenblick. Aber für mich gab's manche
bange Momente. Die Haft bringt wohl für jeden hie und da
Stunden der Depression, wie man sie ja aucli draußen hat, die
aber in der Einsamkeit schwerer überwunden werden. Da
rannte ich wohl stundenlang auf und ab und erwog alle Mög-
lichkeiten. Allerdings, jede Woche ging die Bewegung höher,
374 Mein erster Mai
und alle Zumutungen der Behörde, nachzugeben, das Pro-
gramm einzuschränken, wurden höflich, aber entschieden ab-
gelehnt. Die Arbeitsruhe würde umfassend sein, das war ja
klar; und als die Zeitungssetzer beschlossen, daß sie feiern
werden, war entschieden, daß auch der Eindruck nach außen
auf das große Publikum ein bedeutender sein werde; daß es
keine Zeitungen gi'bt, ist ein Hauptmerkmal des Feiertages.
Aber wird die Polizei nicht provozieren? Werden unsere Ge-
nossen kaltes Blut bewahren? Und wenn die Versammlungen
verboten werden? Muß es dann nicht zu Zusammenstößen kom-
men? Und wie wird's draußen in der Provinz werden, auf
heißem Boden der Kohlenreviere? Und dann wollen die Unter-
nehmer uns einreden, die Maifeier sei „Kontraktbruch" ! Es
ist ja Unsinn, aber wird das nicht doch da und dort die Arbeiter
einschüchtern?... Da setzte ich mich denn 'hin und schrieb
und schrieb... polemisierte und argumentierte; so lange
Artikel habe ich weder vorher noch nachher geschrieben; und
dann sclirieb ich Aufrufe und verfaßte Instruktionen. Heute
kann ich's ja gestehen, daß es mir gelang, manches Produkt
dieser Gefängnisarbeit ins Freie zu schmuggeln, so daß ich
doch auch etwas beitragen konnte zu dem großen Werke.
In der letzten Aprilwoche hatte ich fast täglich Besuche. Es
war entschieden: unser harter Schädel 'hatte gesiegt, die Ver-
sammlungen waren nicht verboten, die Polizei hatte sich eni
vschlossen, einigermaßen vernünftig zu sein und uns gewähren
zu lassen. Als mir Popp und Bretschneider berichteten, unjere
tausend Ordner seien parat, mußten sie mir aber auch erzählen,
daß im Prater die Drähte, die die Rasenplatze umsäumen, ent-
fernt wurden, damit die Kavalleriepferde bei der eventuellen
Attacke nicht stürzen. Und ich selbst, so oft ich am 1. Mai in
die Kanzlei geführt wurde, hörte draußen den Schritt der
Soldaten, und erfuhr, daß alle Tore des Landesgerichtsgebäudos
selbst geschlossen gehalten, daß die ganze Justizwache und alle
Aufseher konsigniert seien. Ich lachte über die Dummheit,
aber das Lachen kam mir nicht von Herzen, denn ich wußte, wie
gefährlich solche Dummheit werden konnte . . . Mittags kam
Bretschneider auf eine Minute, beruhigte mich über den Ver-
lauf der Versammlungen und steckte mir seine Marschorder
und ein Maizeichen zu — das ich dann oben in der Zelle an-
steckte, wenn der „Wastl" weit vom Guckloch war — — das
Mein erster Mai 375
war ein langer, langer Nachmittag und spät abends hörte
ich endlich Signale, die mir sagten, daß das Militär in dte
Alserkaserne einrücke , . . und gegen 10 Uhr noch kam mein
Aufseher und berichtete, er habe es ganz sicher erfahren: es
ist alles ruhig abgelaufen und großartig soll's gewesen sein!!
Früh konnte ich's dann in der Zeitung lesen — denn bei
jener ersten Maifeier haben unsere braven Setzer zwar kein
Abendblatt gemacht, aber um 9 Uhr abends gingen sie das
Morgenblatt setzen, das die frohe Botschaft brachte . . . auch
mir in meine Zelle . . .
Dann aber wußte ich : eine Entscheidungsschlacht ist ge-
wonnen, nun ist der Ausnahmezustand tot! Noch mehr: Xun
ist das Proletariat Österreichs erwacht, es ist zum Bewußtsein
seiner Kraft gekommen und steht am Beginn seiner Bahn, die
zu gehen es keine Gewalt mehr hindern wird . . . Und der
zweite Mai war mein frühester Tag während jener ganzen
Haft!
(Veröffentlicht in der Maifestschrift 1909.)
Ende.
A
iBiß^banu öt^ I . h hb 1 u ly/a
PLEASE DO NOT REMOVE
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UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY
HX Adler, Victor
253 Aufsätze
A25
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Heft. 1-2
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